Unter den Römern hingegen herrschte die Einheit der Vorfahren und der Nachkommen, also daß eines Hauses Leben in der Republik war wie eines einzelnen Mannes, selbst bis in die Zeiten allgemeiner Verdorbenheit hin- ab. Ein Valerius, der Zeitgenosse und Unterthan Do- mitians, trug in seinem Gewissen die bürgerliche Religion seiner Ahnen: und als sich plebejische Geschlechter erho- ben bewahrten sie mit gleicher Treue den Charakter des Stifters ihres Adels. Der Urenkel empfing die Grund- sätze seines Ahnherrn als Gesetz, und seine großen Gedan- ken zur Ausführung. So vollendete der Dictator Q. Pu- blilius was der Tribun vier Menschenalter vor ihm begon- nen hatte, und seine Gesetze verliehen den Comitien der Tribus, die sein Ahnherr in das Leben gerufen hatte, ihre volle Freyheit: der Verfassung vielleicht die höchste Voll- endung: denn wiewohl die Gestalt worin sie bis zum Un- tergang der guten Tage, die Bewunderung des weisen Augenzeugen Polybius und auf ewig der Nachwelt, be- stand, in wesentlichen Stücken durch die Gesetzgebung des folgenden Zeitalters bestimmt worden, so ist doch an die- ser, was nicht Entwicklung der publilischen Gesetze war, mehr als unvermeidlich zu entschuldigen, als zu loben. Durch die ganze Geschichte der plebejischen Kämpfe in der Verfassung bewährt sich jene Erblichkeit der Familien- grundsätze. Mehr als vierhundert Jahre nachdem L. Si- cinius die tribunicische Gewalt für das Volk gewonnen, war es ein Tribun gleiches Nahmens der sie von Sullas Nachfolgern wieder zu fordern zuerst wagte: von einem Tribunen der ersten Zeit bis auf C. Macer sind die Lici-
Unter den Roͤmern hingegen herrſchte die Einheit der Vorfahren und der Nachkommen, alſo daß eines Hauſes Leben in der Republik war wie eines einzelnen Mannes, ſelbſt bis in die Zeiten allgemeiner Verdorbenheit hin- ab. Ein Valerius, der Zeitgenoſſe und Unterthan Do- mitians, trug in ſeinem Gewiſſen die buͤrgerliche Religion ſeiner Ahnen: und als ſich plebejiſche Geſchlechter erho- ben bewahrten ſie mit gleicher Treue den Charakter des Stifters ihres Adels. Der Urenkel empfing die Grund- ſaͤtze ſeines Ahnherrn als Geſetz, und ſeine großen Gedan- ken zur Ausfuͤhrung. So vollendete der Dictator Q. Pu- blilius was der Tribun vier Menſchenalter vor ihm begon- nen hatte, und ſeine Geſetze verliehen den Comitien der Tribus, die ſein Ahnherr in das Leben gerufen hatte, ihre volle Freyheit: der Verfaſſung vielleicht die hoͤchſte Voll- endung: denn wiewohl die Geſtalt worin ſie bis zum Un- tergang der guten Tage, die Bewunderung des weiſen Augenzeugen Polybius und auf ewig der Nachwelt, be- ſtand, in weſentlichen Stuͤcken durch die Geſetzgebung des folgenden Zeitalters beſtimmt worden, ſo iſt doch an die- ſer, was nicht Entwicklung der publiliſchen Geſetze war, mehr als unvermeidlich zu entſchuldigen, als zu loben. Durch die ganze Geſchichte der plebejiſchen Kaͤmpfe in der Verfaſſung bewaͤhrt ſich jene Erblichkeit der Familien- grundſaͤtze. Mehr als vierhundert Jahre nachdem L. Si- cinius die tribuniciſche Gewalt fuͤr das Volk gewonnen, war es ein Tribun gleiches Nahmens der ſie von Sullas Nachfolgern wieder zu fordern zuerſt wagte: von einem Tribunen der erſten Zeit bis auf C. Macer ſind die Lici-
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Unter den Roͤmern hingegen herrſchte die Einheit der
Vorfahren und der Nachkommen, alſo daß eines Hauſes
Leben in der Republik war wie eines einzelnen Mannes,
ſelbſt bis in die Zeiten allgemeiner Verdorbenheit hin-
ab. Ein Valerius, der Zeitgenoſſe und Unterthan Do-
mitians, trug in ſeinem Gewiſſen die buͤrgerliche Religion
ſeiner Ahnen: und als ſich plebejiſche Geſchlechter erho-
ben bewahrten ſie mit gleicher Treue den Charakter des
Stifters ihres Adels. Der Urenkel empfing die Grund-
ſaͤtze ſeines Ahnherrn als Geſetz, und ſeine großen Gedan-
ken zur Ausfuͤhrung. So vollendete der Dictator Q. Pu-
blilius was der Tribun vier Menſchenalter vor ihm begon-
nen hatte, und ſeine Geſetze verliehen den Comitien der
Tribus, die ſein Ahnherr in das Leben gerufen hatte, ihre
volle Freyheit: der Verfaſſung vielleicht die hoͤchſte Voll-
endung: denn wiewohl die Geſtalt worin ſie bis zum Un-
tergang der guten Tage, die Bewunderung des weiſen
Augenzeugen Polybius und auf ewig der Nachwelt, be-
ſtand, in weſentlichen Stuͤcken durch die Geſetzgebung des
folgenden Zeitalters beſtimmt worden, ſo iſt doch an die-
ſer, was nicht Entwicklung der publiliſchen Geſetze war,
mehr als unvermeidlich zu entſchuldigen, als zu loben.
Durch die ganze Geſchichte der plebejiſchen Kaͤmpfe in der
Verfaſſung bewaͤhrt ſich jene Erblichkeit der Familien-
grundſaͤtze. Mehr als vierhundert Jahre nachdem L. Si-
cinius die tribuniciſche Gewalt fuͤr das Volk gewonnen,
war es ein Tribun gleiches Nahmens der ſie von Sullas
Nachfolgern wieder zu fordern zuerſt wagte: von einem
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Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/59>, abgerufen am 25.11.2024.
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