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Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790.

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Wie bald kann auch mein Name unter den Namen
derer stehen, welche man heut über ein Jahr auf den
Todtenlisten lesen wird! Wenn es mir vergönnt
wäre, den Vorhang, der von der Zukunft hängt,
einen Augenblick aufzuziehen, -- wer bürgt mir da-
für, daß ich nicht meine muntern Kräfte verzehrt,
meine Jugend verwelkt, meine Thätigkeit erschlafft,
meine Freunde um meine Krankenbette versammelt,
und mein Grab bereitet sähe! Allen meinen itzigen
Entwürfen und Aussichten, allen meinen Vorsätzen,
was ich noch thun will, kann ein Tag dieses Jahrs,
ein zu kühler Abend, ein zu hastiger Trunk, ein
fallender Stein, ein überwältigender Schreck plötz-
lich ein Ende machen."

Es würde Schwermuth, und unweislich er-
nährte Schwermuth seyn, sich immer mit diesen
Gedanken beschäfftigen zu wollen. Aber Weisheit
ist es, sie sich zuweilen nicht mit Aengstlichkeit,
aber mit ernster und tiefer Beherzigung des Lehr-
reichen, so daraus fließt, zu vergegenwärtigen.
Die Vorstellung des Todes gleicht auch nicht jeder
andern Vorstellung künftiger Uebel. Denn alle
diese sind zufällig und ungewiß; jene ist nothwendig
und unausbleiblich. Diese abzuwenden, oder zu
mindern, ist in den meisten Fällen unmöglich;

jenem
D 2

Wie bald kann auch mein Name unter den Namen
derer ſtehen, welche man heut über ein Jahr auf den
Todtenliſten leſen wird! Wenn es mir vergönnt
wäre, den Vorhang, der von der Zukunft hängt,
einen Augenblick aufzuziehen, — wer bürgt mir da-
für, daß ich nicht meine muntern Kräfte verzehrt,
meine Jugend verwelkt, meine Thätigkeit erſchlafft,
meine Freunde um meine Krankenbette verſammelt,
und mein Grab bereitet ſähe! Allen meinen itzigen
Entwürfen und Ausſichten, allen meinen Vorſätzen,
was ich noch thun will, kann ein Tag dieſes Jahrs,
ein zu kühler Abend, ein zu haſtiger Trunk, ein
fallender Stein, ein überwältigender Schreck plötz-
lich ein Ende machen.“

Es würde Schwermuth, und unweislich er-
nährte Schwermuth ſeyn, ſich immer mit dieſen
Gedanken beſchäfftigen zu wollen. Aber Weisheit
iſt es, ſie ſich zuweilen nicht mit Aengſtlichkeit,
aber mit ernſter und tiefer Beherzigung des Lehr-
reichen, ſo daraus fließt, zu vergegenwärtigen.
Die Vorſtellung des Todes gleicht auch nicht jeder
andern Vorſtellung künftiger Uebel. Denn alle
dieſe ſind zufällig und ungewiß; jene iſt nothwendig
und unausbleiblich. Dieſe abzuwenden, oder zu
mindern, iſt in den meiſten Fällen unmöglich;

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D 2
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[51[63]/0067] Wie bald kann auch mein Name unter den Namen derer ſtehen, welche man heut über ein Jahr auf den Todtenliſten leſen wird! Wenn es mir vergönnt wäre, den Vorhang, der von der Zukunft hängt, einen Augenblick aufzuziehen, — wer bürgt mir da- für, daß ich nicht meine muntern Kräfte verzehrt, meine Jugend verwelkt, meine Thätigkeit erſchlafft, meine Freunde um meine Krankenbette verſammelt, und mein Grab bereitet ſähe! Allen meinen itzigen Entwürfen und Ausſichten, allen meinen Vorſätzen, was ich noch thun will, kann ein Tag dieſes Jahrs, ein zu kühler Abend, ein zu haſtiger Trunk, ein fallender Stein, ein überwältigender Schreck plötz- lich ein Ende machen.“ Es würde Schwermuth, und unweislich er- nährte Schwermuth ſeyn, ſich immer mit dieſen Gedanken beſchäfftigen zu wollen. Aber Weisheit iſt es, ſie ſich zuweilen nicht mit Aengſtlichkeit, aber mit ernſter und tiefer Beherzigung des Lehr- reichen, ſo daraus fließt, zu vergegenwärtigen. Die Vorſtellung des Todes gleicht auch nicht jeder andern Vorſtellung künftiger Uebel. Denn alle dieſe ſind zufällig und ungewiß; jene iſt nothwendig und unausbleiblich. Dieſe abzuwenden, oder zu mindern, iſt in den meiſten Fällen unmöglich; jenem D 2

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Zitationshilfe: Niemeyer, August Hermann: Timotheus. Bd. 1. 2. Aufl. Frankfurt (Main) u.a., 1790, S. 51[63]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niemeyer_timotheus01_1790/67>, abgerufen am 24.11.2024.