Könnten wir denn verständigerweise, wenn auch das ganze System des Wissens vollendet da stände, als Grundsatz der wahren Methode aufstellen, den Unter- richt beim höchsten Princip anzufangen? Wie wenig muß doch der, dem dieser Weg der rechte dünken könnte, die Natur des Geistes und seiner Entwickelung kennen. Nirgend hebt das Erkennen mit dem Allge- meinen an; die natürliche Ordnung führt zuerst auf das Einzelne und Besondre, und fordert erst an diesem und durch dieses das Höhere und Allgemeinere; der Trieb, das Aehnliche zu suchen (der Trieb der Syn- thesis), ist früher als der Trieb, die Unterschiede zu erkennen (der Trieb der Analysis). Die Erkenntniß ist in ihrem Entstehen nur auf bestimmtes Einzelnes ge- richtet, und geht erst später zunächst auf eine Ver- knüpfung der Dinge ihrem äußeren Zusammenhang nach, und dann erst auf Erforschung ihres inneren Wesens und auf eine Vereinigung derselben ihrem inneren Zu- sammenhang nach. Diese Ordnung der stufenweise sich entwickelnden Erkenntniß, wie sie sich auch in der Ge- schichte der Entwickelung des menschlichen Geistes zeigt, läßt sich nicht willkürlich umändern.
Man kann dagegen etwa noch einwenden: "diesen Gang mußte die Entwickelung der menschlichen Erkennt- niß überhaupt nehmen, um unser Geschlecht zu der Ein- heit des Wissens, als zu dem Mittelpunkte, hindurch zu führen, von dem wir die ganze Sphäre der Erkennt- niß überschauen und beherrschen; nachdem aber der menschliche Geist jene Höhe der Erkenntniß einmal er-
Dritter Abſchnitt.
Koͤnnten wir denn verſtaͤndigerweiſe, wenn auch das ganze Syſtem des Wiſſens vollendet da ſtaͤnde, als Grundſatz der wahren Methode aufſtellen, den Unter- richt beim hoͤchſten Princip anzufangen? Wie wenig muß doch der, dem dieſer Weg der rechte duͤnken koͤnnte, die Natur des Geiſtes und ſeiner Entwickelung kennen. Nirgend hebt das Erkennen mit dem Allge- meinen an; die natuͤrliche Ordnung fuͤhrt zuerſt auf das Einzelne und Beſondre, und fordert erſt an dieſem und durch dieſes das Hoͤhere und Allgemeinere; der Trieb, das Aehnliche zu ſuchen (der Trieb der Syn- theſis), iſt fruͤher als der Trieb, die Unterſchiede zu erkennen (der Trieb der Analyſis). Die Erkenntniß iſt in ihrem Entſtehen nur auf beſtimmtes Einzelnes ge- richtet, und geht erſt ſpaͤter zunaͤchſt auf eine Ver- knuͤpfung der Dinge ihrem aͤußeren Zuſammenhang nach, und dann erſt auf Erforſchung ihres inneren Weſens und auf eine Vereinigung derſelben ihrem inneren Zu- ſammenhang nach. Dieſe Ordnung der ſtufenweiſe ſich entwickelnden Erkenntniß, wie ſie ſich auch in der Ge- ſchichte der Entwickelung des menſchlichen Geiſtes zeigt, laͤßt ſich nicht willkuͤrlich umaͤndern.
Man kann dagegen etwa noch einwenden: „dieſen Gang mußte die Entwickelung der menſchlichen Erkennt- niß uͤberhaupt nehmen, um unſer Geſchlecht zu der Ein- heit des Wiſſens, als zu dem Mittelpunkte, hindurch zu fuͤhren, von dem wir die ganze Sphaͤre der Erkennt- niß uͤberſchauen und beherrſchen; nachdem aber der menſchliche Geiſt jene Hoͤhe der Erkenntniß einmal er-
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Dritter Abſchnitt.
Koͤnnten wir denn verſtaͤndigerweiſe, wenn auch
das ganze Syſtem des Wiſſens vollendet da ſtaͤnde, als
Grundſatz der wahren Methode aufſtellen, den Unter-
richt beim hoͤchſten Princip anzufangen? Wie wenig
muß doch der, dem dieſer Weg der rechte duͤnken
koͤnnte, die Natur des Geiſtes und ſeiner Entwickelung
kennen. Nirgend hebt das Erkennen mit dem Allge-
meinen an; die natuͤrliche Ordnung fuͤhrt zuerſt auf
das Einzelne und Beſondre, und fordert erſt an dieſem
und durch dieſes das Hoͤhere und Allgemeinere; der
Trieb, das Aehnliche zu ſuchen (der Trieb der Syn-
theſis), iſt fruͤher als der Trieb, die Unterſchiede zu
erkennen (der Trieb der Analyſis). Die Erkenntniß iſt
in ihrem Entſtehen nur auf beſtimmtes Einzelnes ge-
richtet, und geht erſt ſpaͤter zunaͤchſt auf eine Ver-
knuͤpfung der Dinge ihrem aͤußeren Zuſammenhang nach,
und dann erſt auf Erforſchung ihres inneren Weſens
und auf eine Vereinigung derſelben ihrem inneren Zu-
ſammenhang nach. Dieſe Ordnung der ſtufenweiſe ſich
entwickelnden Erkenntniß, wie ſie ſich auch in der Ge-
ſchichte der Entwickelung des menſchlichen Geiſtes zeigt,
laͤßt ſich nicht willkuͤrlich umaͤndern.
Man kann dagegen etwa noch einwenden: „dieſen
Gang mußte die Entwickelung der menſchlichen Erkennt-
niß uͤberhaupt nehmen, um unſer Geſchlecht zu der Ein-
heit des Wiſſens, als zu dem Mittelpunkte, hindurch
zu fuͤhren, von dem wir die ganze Sphaͤre der Erkennt-
niß uͤberſchauen und beherrſchen; nachdem aber der
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Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/276>, abgerufen am 22.11.2024.
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