Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808.Dritter Abschnitt. Wie er die Naturgegenstände bloß als Object des Ana-lysirens betrachten lernt, wird ihm bald Alles ohne Unterschied zum bloßen Gegenstand der Zergliederung und der Kritik. Diese unnatürliche Tendenz, alles zu kritisiren, alles und jedes, das Gedicht wie eine ge- lehrte Abhandlung, die Rede wie den scientifischen Vor- trag, das Schauspiel wie ein gemeines Handwerkspro- duct etc. bloß zum Gegenstand der Beurtheilung zu ma- chen, dieses Unvermögen, irgend etwas rein und un- getheilt mit unbefangnem Gemüth aufzunehmen, diese heillose Verwöhnung, selbst bei den höchsten Werken der Natur und Kunst den Maßstab der Kritik nie ver- gessen und sich dem ungestörten Anschauen derselben hingeben zu können, -- ist durch die ganze Richtung unsrer Cultur so weit unter uns verbreitet, daß man überall laut genug darüber klagen hört. Und gleich- wohl will man nicht ernstlich daran denken, jene Hauptquelle davon, die in den so gerühmten Verstan- desübungen unserer modernen Unterrichtsmethode liegt, endlich zu verstopfen? So lange wir nicht diese Methode wieder verlassen, kann jener Fehler nicht wie- der ausgerottet werden. So lange wir unsre Kinder, vom frühsten Erwachen ihrer Geistesthätigkeit an, aus- schließend damit beschäftigen, Gegenstände und Begriffe in ihre Theile aufzulösen, sie in ihre Elemente zu zer- legen, ihre Beziehungen aufzufassen u. s. w. dürfen wir uns wenigstens nicht wundern, wenn wir auch je- nen Fehler bei unsern Kindern finden, wenn ihnen Nichts ganz bleibt, wenn Nichts von ihnen in seiner Ganzheit und Einheit gefaßt, mit Allem vielmehr ohne Dritter Abſchnitt. Wie er die Naturgegenſtaͤnde bloß als Object des Ana-lyſirens betrachten lernt, wird ihm bald Alles ohne Unterſchied zum bloßen Gegenſtand der Zergliederung und der Kritik. Dieſe unnatuͤrliche Tendenz, alles zu kritiſiren, alles und jedes, das Gedicht wie eine ge- lehrte Abhandlung, die Rede wie den ſcientifiſchen Vor- trag, das Schauſpiel wie ein gemeines Handwerkspro- duct ꝛc. bloß zum Gegenſtand der Beurtheilung zu ma- chen, dieſes Unvermoͤgen, irgend etwas rein und un- getheilt mit unbefangnem Gemuͤth aufzunehmen, dieſe heilloſe Verwoͤhnung, ſelbſt bei den hoͤchſten Werken der Natur und Kunſt den Maßſtab der Kritik nie ver- geſſen und ſich dem ungeſtoͤrten Anſchauen derſelben hingeben zu koͤnnen, — iſt durch die ganze Richtung unſrer Cultur ſo weit unter uns verbreitet, daß man uͤberall laut genug daruͤber klagen hoͤrt. Und gleich- wohl will man nicht ernſtlich daran denken, jene Hauptquelle davon, die in den ſo geruͤhmten Verſtan- desuͤbungen unſerer modernen Unterrichtsmethode liegt, endlich zu verſtopfen? So lange wir nicht dieſe Methode wieder verlaſſen, kann jener Fehler nicht wie- der ausgerottet werden. So lange wir unſre Kinder, vom fruͤhſten Erwachen ihrer Geiſtesthaͤtigkeit an, aus- ſchließend damit beſchaͤftigen, Gegenſtaͤnde und Begriffe in ihre Theile aufzuloͤſen, ſie in ihre Elemente zu zer- legen, ihre Beziehungen aufzufaſſen u. ſ. w. duͤrfen wir uns wenigſtens nicht wundern, wenn wir auch je- nen Fehler bei unſern Kindern finden, wenn ihnen Nichts ganz bleibt, wenn Nichts von ihnen in ſeiner Ganzheit und Einheit gefaßt, mit Allem vielmehr ohne <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p><pb facs="#f0316" n="304"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Dritter Abſchnitt</hi>.</fw><lb/> Wie er die Naturgegenſtaͤnde bloß als Object des Ana-<lb/> lyſirens betrachten lernt, wird ihm bald Alles ohne<lb/> Unterſchied zum bloßen Gegenſtand der Zergliederung<lb/> und der Kritik. Dieſe unnatuͤrliche Tendenz, alles zu<lb/> kritiſiren, alles und jedes, das Gedicht wie eine ge-<lb/> lehrte Abhandlung, die Rede wie den ſcientifiſchen Vor-<lb/> trag, das Schauſpiel wie ein gemeines Handwerkspro-<lb/> duct ꝛc. bloß zum Gegenſtand der Beurtheilung zu ma-<lb/> chen, dieſes Unvermoͤgen, irgend etwas rein und un-<lb/> getheilt mit unbefangnem Gemuͤth aufzunehmen, dieſe<lb/> heilloſe Verwoͤhnung, ſelbſt bei den hoͤchſten Werken<lb/> der Natur und Kunſt den Maßſtab der Kritik nie ver-<lb/> geſſen und ſich dem ungeſtoͤrten Anſchauen derſelben<lb/> hingeben zu koͤnnen, — iſt durch die ganze Richtung<lb/> unſrer Cultur ſo weit unter uns verbreitet, daß man<lb/> uͤberall laut genug daruͤber klagen hoͤrt. Und gleich-<lb/> wohl will man nicht ernſtlich daran denken, jene<lb/> Hauptquelle davon, die in den ſo geruͤhmten <hi rendition="#g">Verſtan-<lb/> desuͤbungen</hi> unſerer modernen Unterrichtsmethode<lb/> liegt, endlich zu verſtopfen? So lange wir nicht dieſe<lb/> Methode wieder verlaſſen, kann jener Fehler nicht wie-<lb/> der ausgerottet werden. So lange wir unſre Kinder,<lb/> vom fruͤhſten Erwachen ihrer Geiſtesthaͤtigkeit an, aus-<lb/> ſchließend damit beſchaͤftigen, Gegenſtaͤnde und Begriffe<lb/> in ihre Theile aufzuloͤſen, ſie in ihre Elemente zu zer-<lb/> legen, ihre Beziehungen aufzufaſſen u. ſ. w. duͤrfen<lb/> wir uns wenigſtens nicht wundern, wenn wir auch je-<lb/> nen Fehler bei unſern Kindern finden, wenn ihnen<lb/> Nichts ganz bleibt, wenn Nichts von ihnen in ſeiner<lb/> Ganzheit und Einheit gefaßt, mit Allem vielmehr ohne<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [304/0316]
Dritter Abſchnitt.
Wie er die Naturgegenſtaͤnde bloß als Object des Ana-
lyſirens betrachten lernt, wird ihm bald Alles ohne
Unterſchied zum bloßen Gegenſtand der Zergliederung
und der Kritik. Dieſe unnatuͤrliche Tendenz, alles zu
kritiſiren, alles und jedes, das Gedicht wie eine ge-
lehrte Abhandlung, die Rede wie den ſcientifiſchen Vor-
trag, das Schauſpiel wie ein gemeines Handwerkspro-
duct ꝛc. bloß zum Gegenſtand der Beurtheilung zu ma-
chen, dieſes Unvermoͤgen, irgend etwas rein und un-
getheilt mit unbefangnem Gemuͤth aufzunehmen, dieſe
heilloſe Verwoͤhnung, ſelbſt bei den hoͤchſten Werken
der Natur und Kunſt den Maßſtab der Kritik nie ver-
geſſen und ſich dem ungeſtoͤrten Anſchauen derſelben
hingeben zu koͤnnen, — iſt durch die ganze Richtung
unſrer Cultur ſo weit unter uns verbreitet, daß man
uͤberall laut genug daruͤber klagen hoͤrt. Und gleich-
wohl will man nicht ernſtlich daran denken, jene
Hauptquelle davon, die in den ſo geruͤhmten Verſtan-
desuͤbungen unſerer modernen Unterrichtsmethode
liegt, endlich zu verſtopfen? So lange wir nicht dieſe
Methode wieder verlaſſen, kann jener Fehler nicht wie-
der ausgerottet werden. So lange wir unſre Kinder,
vom fruͤhſten Erwachen ihrer Geiſtesthaͤtigkeit an, aus-
ſchließend damit beſchaͤftigen, Gegenſtaͤnde und Begriffe
in ihre Theile aufzuloͤſen, ſie in ihre Elemente zu zer-
legen, ihre Beziehungen aufzufaſſen u. ſ. w. duͤrfen
wir uns wenigſtens nicht wundern, wenn wir auch je-
nen Fehler bei unſern Kindern finden, wenn ihnen
Nichts ganz bleibt, wenn Nichts von ihnen in ſeiner
Ganzheit und Einheit gefaßt, mit Allem vielmehr ohne
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |