Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

edler ausgestatteten Naturen, von denen die Last und Schwere
des Daseins überhaupt mit tieferer Unlust empfunden wird und
die durch ausgesuchte Reizmittel über diese Unlust hinweg¬
zutäuschen sind. Aus diesen Reizmitteln besteht alles, was
wir Cultur nennen; je nach der Proportion der Mischungen
haben wir eine vorzugsweise sokratische oder künstlerische
oder tragische Cultur: oder wenn man historische Exemplifi¬
cationen erlauben will: es giebt entweder eine alexandrinische
oder eine hellenische oder eine buddhaistische Cultur.

Unsere ganze moderne Welt ist in dem Netz der alexan¬
drinischen Cultur befangen und kennt als Ideal den mit
höchsten Erkenntnisskräften ausgerüsteten, im Dienste der
Wissenschaft arbeitenden theoretischen Menschen, dessen Ur¬
bild und Stammvater Sokrates ist. Alle unsere Erziehungs¬
mittel haben ursprünglich dieses Ideal im Auge: jede andere
Existenz hat sich mühsam nebenbei emporzuringen, als er¬
laubte, nicht als beabsichtigte Existenz. In einem fast er¬
schreckenden Sinne ist hier eine lange Zeit der Gebildete
allein in der Form des Gelehrten gefunden worden; selbst
unsere dichterischen Künste haben sich aus gelehrten Imi¬
tationen entwickeln müssen, und in dem Haupteffect des
Reimes erkennen wir noch die Entstehung unserer poetischen
Form aus künstlichen Experimenten mit einer nicht heimischen,
recht eigentlich gelehrten Sprache. Wie unverständlich müsste
einem ächten Griechen der an sich verständliche moderne
Culturmensch Faust erscheinen, der durch alle Facultäten
unbefriedigt stürmende, aus Wissenstrieb der Magie und dem
Teufel ergebene Faust, den wir nur zur Vergleichung neben
Sokrates zu stellen haben, um zu erkennen, dass der moderne
Mensch die Grenzen jener sokratischen Erkenntnisslust zu
ahnen beginnt und aus dem weiten wüsten Wissensmeere
nach einer Küste verlangt. Wenn Goethe einmal zu Ecker¬
mann, mit Bezug auf Napoleon, äussert: "Ja mein Guter,

edler ausgestatteten Naturen, von denen die Last und Schwere
des Daseins überhaupt mit tieferer Unlust empfunden wird und
die durch ausgesuchte Reizmittel über diese Unlust hinweg¬
zutäuschen sind. Aus diesen Reizmitteln besteht alles, was
wir Cultur nennen; je nach der Proportion der Mischungen
haben wir eine vorzugsweise sokratische oder künstlerische
oder tragische Cultur: oder wenn man historische Exemplifi¬
cationen erlauben will: es giebt entweder eine alexandrinische
oder eine hellenische oder eine buddhaistische Cultur.

Unsere ganze moderne Welt ist in dem Netz der alexan¬
drinischen Cultur befangen und kennt als Ideal den mit
höchsten Erkenntnisskräften ausgerüsteten, im Dienste der
Wissenschaft arbeitenden theoretischen Menschen, dessen Ur¬
bild und Stammvater Sokrates ist. Alle unsere Erziehungs¬
mittel haben ursprünglich dieses Ideal im Auge: jede andere
Existenz hat sich mühsam nebenbei emporzuringen, als er¬
laubte, nicht als beabsichtigte Existenz. In einem fast er¬
schreckenden Sinne ist hier eine lange Zeit der Gebildete
allein in der Form des Gelehrten gefunden worden; selbst
unsere dichterischen Künste haben sich aus gelehrten Imi¬
tationen entwickeln müssen, und in dem Haupteffect des
Reimes erkennen wir noch die Entstehung unserer poetischen
Form aus künstlichen Experimenten mit einer nicht heimischen,
recht eigentlich gelehrten Sprache. Wie unverständlich müsste
einem ächten Griechen der an sich verständliche moderne
Culturmensch Faust erscheinen, der durch alle Facultäten
unbefriedigt stürmende, aus Wissenstrieb der Magie und dem
Teufel ergebene Faust, den wir nur zur Vergleichung neben
Sokrates zu stellen haben, um zu erkennen, dass der moderne
Mensch die Grenzen jener sokratischen Erkenntnisslust zu
ahnen beginnt und aus dem weiten wüsten Wissensmeere
nach einer Küste verlangt. Wenn Goethe einmal zu Ecker¬
mann, mit Bezug auf Napoleon, äussert: »Ja mein Guter,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0113" n="100"/>
edler ausgestatteten Naturen, von denen die Last und Schwere<lb/>
des Daseins überhaupt mit tieferer Unlust empfunden wird und<lb/>
die durch ausgesuchte Reizmittel über diese Unlust hinweg¬<lb/>
zutäuschen sind. Aus diesen Reizmitteln besteht alles, was<lb/>
wir Cultur nennen; je nach der Proportion der Mischungen<lb/>
haben wir eine vorzugsweise <hi rendition="#i">sokratische</hi> oder <hi rendition="#i">künstlerische</hi><lb/>
oder <hi rendition="#i">tragische</hi> Cultur: oder wenn man historische Exemplifi¬<lb/>
cationen erlauben will: es giebt entweder eine alexandrinische<lb/>
oder eine hellenische oder eine buddhaistische Cultur.</p><lb/>
        <p>Unsere ganze moderne Welt ist in dem Netz der alexan¬<lb/>
drinischen Cultur befangen und kennt als Ideal den mit<lb/>
höchsten Erkenntnisskräften ausgerüsteten, im Dienste der<lb/>
Wissenschaft arbeitenden <hi rendition="#i">theoretischen Menschen</hi>, dessen Ur¬<lb/>
bild und Stammvater Sokrates ist. Alle unsere Erziehungs¬<lb/>
mittel haben ursprünglich dieses Ideal im Auge: jede andere<lb/>
Existenz hat sich mühsam nebenbei emporzuringen, als er¬<lb/>
laubte, nicht als beabsichtigte Existenz. In einem fast er¬<lb/>
schreckenden Sinne ist hier eine lange Zeit der Gebildete<lb/>
allein in der Form des Gelehrten gefunden worden; selbst<lb/>
unsere dichterischen Künste haben sich aus gelehrten Imi¬<lb/>
tationen entwickeln müssen, und in dem Haupteffect des<lb/>
Reimes erkennen wir noch die Entstehung unserer poetischen<lb/>
Form aus künstlichen Experimenten mit einer nicht heimischen,<lb/>
recht eigentlich gelehrten Sprache. Wie unverständlich müsste<lb/>
einem ächten Griechen der an sich verständliche moderne<lb/>
Culturmensch <hi rendition="#i">Faust</hi> erscheinen, der durch alle Facultäten<lb/>
unbefriedigt stürmende, aus Wissenstrieb der Magie und dem<lb/>
Teufel ergebene Faust, den wir nur zur Vergleichung neben<lb/>
Sokrates zu stellen haben, um zu erkennen, dass der moderne<lb/>
Mensch die Grenzen jener sokratischen Erkenntnisslust zu<lb/>
ahnen beginnt und aus dem weiten wüsten Wissensmeere<lb/>
nach einer Küste verlangt. Wenn Goethe einmal zu Ecker¬<lb/>
mann, mit Bezug auf Napoleon, äussert: »Ja mein Guter,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[100/0113] edler ausgestatteten Naturen, von denen die Last und Schwere des Daseins überhaupt mit tieferer Unlust empfunden wird und die durch ausgesuchte Reizmittel über diese Unlust hinweg¬ zutäuschen sind. Aus diesen Reizmitteln besteht alles, was wir Cultur nennen; je nach der Proportion der Mischungen haben wir eine vorzugsweise sokratische oder künstlerische oder tragische Cultur: oder wenn man historische Exemplifi¬ cationen erlauben will: es giebt entweder eine alexandrinische oder eine hellenische oder eine buddhaistische Cultur. Unsere ganze moderne Welt ist in dem Netz der alexan¬ drinischen Cultur befangen und kennt als Ideal den mit höchsten Erkenntnisskräften ausgerüsteten, im Dienste der Wissenschaft arbeitenden theoretischen Menschen, dessen Ur¬ bild und Stammvater Sokrates ist. Alle unsere Erziehungs¬ mittel haben ursprünglich dieses Ideal im Auge: jede andere Existenz hat sich mühsam nebenbei emporzuringen, als er¬ laubte, nicht als beabsichtigte Existenz. In einem fast er¬ schreckenden Sinne ist hier eine lange Zeit der Gebildete allein in der Form des Gelehrten gefunden worden; selbst unsere dichterischen Künste haben sich aus gelehrten Imi¬ tationen entwickeln müssen, und in dem Haupteffect des Reimes erkennen wir noch die Entstehung unserer poetischen Form aus künstlichen Experimenten mit einer nicht heimischen, recht eigentlich gelehrten Sprache. Wie unverständlich müsste einem ächten Griechen der an sich verständliche moderne Culturmensch Faust erscheinen, der durch alle Facultäten unbefriedigt stürmende, aus Wissenstrieb der Magie und dem Teufel ergebene Faust, den wir nur zur Vergleichung neben Sokrates zu stellen haben, um zu erkennen, dass der moderne Mensch die Grenzen jener sokratischen Erkenntnisslust zu ahnen beginnt und aus dem weiten wüsten Wissensmeere nach einer Küste verlangt. Wenn Goethe einmal zu Ecker¬ mann, mit Bezug auf Napoleon, äussert: »Ja mein Guter,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/113
Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/113>, abgerufen am 21.11.2024.