Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

selbst auf diesem Bereich jener optimistische Geist zur Herr¬
schaft gekommen ist, den wir als den Vernichtungskeim unserer
Gesellschaft eben bezeichnet haben.

Während das im Schoosse der theoretischen Cultur schlum¬
mernde Unheil allmählich den modernen Menschen zu äng¬
stigen beginnt, und er, unruhig, aus dem Schatze seiner
Erfahrungen nach Mitteln greift, um die Gefahr abzuwenden,
ohne selbst an diese Mittel recht zu glauben; während er
also seine eigenen Consequenzen zu ahnen beginnt: haben
grosse allgemein angelegte Naturen, mit einer unglaublichen
Besonnenheit, das Rüstzeug der Wissenschaft selbst zu be¬
nützen gewusst, um die Grenzen und die Bedingtheit des
Erkennens überhaupt darzulegen und damit den Anspruch
der Wissenschaft auf universale Geltung und universale Zwecke
entscheidend zu leugnen: bei welchem Nachweise zum ersten
Male jene Wahnvorstellung als solche erkannt wurde, welche,
an der Hand der Causalität, sich anmaasst, das innerste Wesen
der Dinge ergründen zu können. Der ungeheuren Tapferkeit
und Weisheit Kant's und Schopenhauer's ist der schwerste
Sieg gelungen, der Sieg über den im Wesen der Logik ver¬
borgen liegenden Optimismus, der wiederum der Untergrund
unserer Cultur ist. Wenn dieser an die Erkennbarkeit und
Ergründlichkeit aller Welträthsel, gestützt auf die ihm unbe¬
denklichen aeternae veritates, geglaubt und Raum, Zeit und
Causalität als gänzlich unbedingte Gesetze von allgemeinster
Gültigkeit behandelt hatte, offenbarte Kant, wie diese eigentlich
nur dazu dienten, die blosse Erscheinung, das Werk der
Maja, zur einzigen und höchsten Realität zu erheben und
sie an die Stelle des innersten und wahren Wesens der Dinge
zu setzen und die wirkliche Erkenntniss von diesem dadurch
unmöglich zu machen, d. h., nach einem Schopenhauer'schen
Ausspruche, den Träumer noch fester einzuschläfern (W. a.
W. u. V. I p. 498). Mit dieser Erkenntniss ist eine Cultur

selbst auf diesem Bereich jener optimistische Geist zur Herr¬
schaft gekommen ist, den wir als den Vernichtungskeim unserer
Gesellschaft eben bezeichnet haben.

Während das im Schoosse der theoretischen Cultur schlum¬
mernde Unheil allmählich den modernen Menschen zu äng¬
stigen beginnt, und er, unruhig, aus dem Schatze seiner
Erfahrungen nach Mitteln greift, um die Gefahr abzuwenden,
ohne selbst an diese Mittel recht zu glauben; während er
also seine eigenen Consequenzen zu ahnen beginnt: haben
grosse allgemein angelegte Naturen, mit einer unglaublichen
Besonnenheit, das Rüstzeug der Wissenschaft selbst zu be¬
nützen gewusst, um die Grenzen und die Bedingtheit des
Erkennens überhaupt darzulegen und damit den Anspruch
der Wissenschaft auf universale Geltung und universale Zwecke
entscheidend zu leugnen: bei welchem Nachweise zum ersten
Male jene Wahnvorstellung als solche erkannt wurde, welche,
an der Hand der Causalität, sich anmaasst, das innerste Wesen
der Dinge ergründen zu können. Der ungeheuren Tapferkeit
und Weisheit Kant's und Schopenhauer's ist der schwerste
Sieg gelungen, der Sieg über den im Wesen der Logik ver¬
borgen liegenden Optimismus, der wiederum der Untergrund
unserer Cultur ist. Wenn dieser an die Erkennbarkeit und
Ergründlichkeit aller Welträthsel, gestützt auf die ihm unbe¬
denklichen aeternae veritates, geglaubt und Raum, Zeit und
Causalität als gänzlich unbedingte Gesetze von allgemeinster
Gültigkeit behandelt hatte, offenbarte Kant, wie diese eigentlich
nur dazu dienten, die blosse Erscheinung, das Werk der
Maja, zur einzigen und höchsten Realität zu erheben und
sie an die Stelle des innersten und wahren Wesens der Dinge
zu setzen und die wirkliche Erkenntniss von diesem dadurch
unmöglich zu machen, d. h., nach einem Schopenhauer'schen
Ausspruche, den Träumer noch fester einzuschläfern (W. a.
W. u. V. I p. 498). Mit dieser Erkenntniss ist eine Cultur

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0115" n="102"/>
selbst auf diesem Bereich jener optimistische Geist zur Herr¬<lb/>
schaft gekommen ist, den wir als den Vernichtungskeim unserer<lb/>
Gesellschaft eben bezeichnet haben.</p><lb/>
        <p>Während das im Schoosse der theoretischen Cultur schlum¬<lb/>
mernde Unheil allmählich den modernen Menschen zu äng¬<lb/>
stigen beginnt, und er, unruhig, aus dem Schatze seiner<lb/>
Erfahrungen nach Mitteln greift, um die Gefahr abzuwenden,<lb/>
ohne selbst an diese Mittel recht zu glauben; während er<lb/>
also seine eigenen Consequenzen zu ahnen beginnt: haben<lb/>
grosse allgemein angelegte Naturen, mit einer unglaublichen<lb/>
Besonnenheit, das Rüstzeug der Wissenschaft selbst zu be¬<lb/>
nützen gewusst, um die Grenzen und die Bedingtheit des<lb/>
Erkennens überhaupt darzulegen und damit den Anspruch<lb/>
der Wissenschaft auf universale Geltung und universale Zwecke<lb/>
entscheidend zu leugnen: bei welchem Nachweise zum ersten<lb/>
Male jene Wahnvorstellung als solche erkannt wurde, welche,<lb/>
an der Hand der Causalität, sich anmaasst, das innerste Wesen<lb/>
der Dinge ergründen zu können. Der ungeheuren Tapferkeit<lb/>
und Weisheit <hi rendition="#i">Kant's</hi> und <hi rendition="#i">Schopenhauer</hi>'<hi rendition="#i">s</hi> ist der schwerste<lb/>
Sieg gelungen, der Sieg über den im Wesen der Logik ver¬<lb/>
borgen liegenden Optimismus, der wiederum der Untergrund<lb/>
unserer Cultur ist. Wenn dieser an die Erkennbarkeit und<lb/>
Ergründlichkeit aller Welträthsel, gestützt auf die ihm unbe¬<lb/>
denklichen aeternae veritates, geglaubt und Raum, Zeit und<lb/>
Causalität als gänzlich unbedingte Gesetze von allgemeinster<lb/>
Gültigkeit behandelt hatte, offenbarte Kant, wie diese eigentlich<lb/>
nur dazu dienten, die blosse Erscheinung, das Werk der<lb/>
Maja, zur einzigen und höchsten Realität zu erheben und<lb/>
sie an die Stelle des innersten und wahren Wesens der Dinge<lb/>
zu setzen und die wirkliche Erkenntniss von diesem dadurch<lb/>
unmöglich zu machen, d. h., nach einem Schopenhauer'schen<lb/>
Ausspruche, den Träumer noch fester einzuschläfern (W. a.<lb/>
W. u. V. I p. 498). Mit dieser Erkenntniss ist eine Cultur<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[102/0115] selbst auf diesem Bereich jener optimistische Geist zur Herr¬ schaft gekommen ist, den wir als den Vernichtungskeim unserer Gesellschaft eben bezeichnet haben. Während das im Schoosse der theoretischen Cultur schlum¬ mernde Unheil allmählich den modernen Menschen zu äng¬ stigen beginnt, und er, unruhig, aus dem Schatze seiner Erfahrungen nach Mitteln greift, um die Gefahr abzuwenden, ohne selbst an diese Mittel recht zu glauben; während er also seine eigenen Consequenzen zu ahnen beginnt: haben grosse allgemein angelegte Naturen, mit einer unglaublichen Besonnenheit, das Rüstzeug der Wissenschaft selbst zu be¬ nützen gewusst, um die Grenzen und die Bedingtheit des Erkennens überhaupt darzulegen und damit den Anspruch der Wissenschaft auf universale Geltung und universale Zwecke entscheidend zu leugnen: bei welchem Nachweise zum ersten Male jene Wahnvorstellung als solche erkannt wurde, welche, an der Hand der Causalität, sich anmaasst, das innerste Wesen der Dinge ergründen zu können. Der ungeheuren Tapferkeit und Weisheit Kant's und Schopenhauer's ist der schwerste Sieg gelungen, der Sieg über den im Wesen der Logik ver¬ borgen liegenden Optimismus, der wiederum der Untergrund unserer Cultur ist. Wenn dieser an die Erkennbarkeit und Ergründlichkeit aller Welträthsel, gestützt auf die ihm unbe¬ denklichen aeternae veritates, geglaubt und Raum, Zeit und Causalität als gänzlich unbedingte Gesetze von allgemeinster Gültigkeit behandelt hatte, offenbarte Kant, wie diese eigentlich nur dazu dienten, die blosse Erscheinung, das Werk der Maja, zur einzigen und höchsten Realität zu erheben und sie an die Stelle des innersten und wahren Wesens der Dinge zu setzen und die wirkliche Erkenntniss von diesem dadurch unmöglich zu machen, d. h., nach einem Schopenhauer'schen Ausspruche, den Träumer noch fester einzuschläfern (W. a. W. u. V. I p. 498). Mit dieser Erkenntniss ist eine Cultur

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/115
Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/115>, abgerufen am 21.11.2024.