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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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Traume traten zuerst, nach der Vorstellung des Lucretius,
die herrlichen Göttergestalten vor die Seelen der Menschen,
im Traume sah der grosse Bildner den entzückenden Glieder¬
bau übermenschlicher Wesen, im Traume erfuhr der helle¬
nische Dichter an sich, was ein tiefes Epigramm Friedrich
Hebbels mit diesen Worten ausspricht:

In die wirkliche Welt sind viele mögliche andre
Eingesponnen, der Schlaf wickelt sie wieder heraus,
Sei es der dunkle der Nacht, der alle Menschen bewältigt,
Sei es der helle des Tags, der nur den Dichter befällt:
Und so treten auch sie, damit das All sich erschöpfe,
Durch den menschlichen Geist in ein verflatterndes Sein.

Der schöne Schein der Traumwelten, in deren Erzeugung
jeder Mensch voller Künstler ist, ist die Voraussetzung aller
bildenden Kunst, ja auch, wie wir sehen werden, einer wich¬
tigen Hälfte der Poesie. Wir geniessen im unmittelbaren
Verständnisse der Gestalt, alle Formen sprechen zu uns, es
giebt nichts Gleichgültiges und Unnöthiges. Bei dem höch¬
sten Leben dieser Traumwirklichkeit haben wir doch noch
die durchschimmernde Empfindung ihres Scheins: wenigstens
ist dies meine Erfahrung, für deren Häufigkeit, ja Normalität,
ich manches Zeugniss und die Aussprüche der Dichter beizu¬
bringen hätte. Wo diese Scheinempfindung völlig aufhört,
beginnen die krankhaften und pathologischen Wirkungen, in
denen die heilende Naturkraft der Traumzustände nachlässt.
Innerhalb jener Grenze aber sind es nicht etwa nur die an¬
genehmen und freundlichen Bilder, die wir mit jener All¬
verständigkeit an uns erfahren: auch das Ernste, Trübe,
Traurige, Finstere, die plötzlichen Hemmungen, die Necke¬
reien des Zufalls, die bänglichen Erwartungen, kurz die
ganze "göttliche Komödie" des Lebens, mit dem Inferno,
zieht an uns vorbei, nicht nur wie ein Schattenspiel -- denn
wir leben und leiden mit in diesen Scenen -- und doch auch
nicht ohne jene flüchtige Empfindung des Scheins: ja ich

Traume traten zuerst, nach der Vorstellung des Lucretius,
die herrlichen Göttergestalten vor die Seelen der Menschen,
im Traume sah der grosse Bildner den entzückenden Glieder¬
bau übermenschlicher Wesen, im Traume erfuhr der helle¬
nische Dichter an sich, was ein tiefes Epigramm Friedrich
Hebbels mit diesen Worten ausspricht:

In die wirkliche Welt sind viele mögliche andre
Eingesponnen, der Schlaf wickelt sie wieder heraus,
Sei es der dunkle der Nacht, der alle Menschen bewältigt,
Sei es der helle des Tags, der nur den Dichter befällt:
Und so treten auch sie, damit das All sich erschöpfe,
Durch den menschlichen Geist in ein verflatterndes Sein.

Der schöne Schein der Traumwelten, in deren Erzeugung
jeder Mensch voller Künstler ist, ist die Voraussetzung aller
bildenden Kunst, ja auch, wie wir sehen werden, einer wich¬
tigen Hälfte der Poesie. Wir geniessen im unmittelbaren
Verständnisse der Gestalt, alle Formen sprechen zu uns, es
giebt nichts Gleichgültiges und Unnöthiges. Bei dem höch¬
sten Leben dieser Traumwirklichkeit haben wir doch noch
die durchschimmernde Empfindung ihres Scheins: wenigstens
ist dies meine Erfahrung, für deren Häufigkeit, ja Normalität,
ich manches Zeugniss und die Aussprüche der Dichter beizu¬
bringen hätte. Wo diese Scheinempfindung völlig aufhört,
beginnen die krankhaften und pathologischen Wirkungen, in
denen die heilende Naturkraft der Traumzustände nachlässt.
Innerhalb jener Grenze aber sind es nicht etwa nur die an¬
genehmen und freundlichen Bilder, die wir mit jener All¬
verständigkeit an uns erfahren: auch das Ernste, Trübe,
Traurige, Finstere, die plötzlichen Hemmungen, die Necke¬
reien des Zufalls, die bänglichen Erwartungen, kurz die
ganze »göttliche Komödie« des Lebens, mit dem Inferno,
zieht an uns vorbei, nicht nur wie ein Schattenspiel — denn
wir leben und leiden mit in diesen Scenen — und doch auch
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[2/0015] Traume traten zuerst, nach der Vorstellung des Lucretius, die herrlichen Göttergestalten vor die Seelen der Menschen, im Traume sah der grosse Bildner den entzückenden Glieder¬ bau übermenschlicher Wesen, im Traume erfuhr der helle¬ nische Dichter an sich, was ein tiefes Epigramm Friedrich Hebbels mit diesen Worten ausspricht: In die wirkliche Welt sind viele mögliche andre Eingesponnen, der Schlaf wickelt sie wieder heraus, Sei es der dunkle der Nacht, der alle Menschen bewältigt, Sei es der helle des Tags, der nur den Dichter befällt: Und so treten auch sie, damit das All sich erschöpfe, Durch den menschlichen Geist in ein verflatterndes Sein. Der schöne Schein der Traumwelten, in deren Erzeugung jeder Mensch voller Künstler ist, ist die Voraussetzung aller bildenden Kunst, ja auch, wie wir sehen werden, einer wich¬ tigen Hälfte der Poesie. Wir geniessen im unmittelbaren Verständnisse der Gestalt, alle Formen sprechen zu uns, es giebt nichts Gleichgültiges und Unnöthiges. Bei dem höch¬ sten Leben dieser Traumwirklichkeit haben wir doch noch die durchschimmernde Empfindung ihres Scheins: wenigstens ist dies meine Erfahrung, für deren Häufigkeit, ja Normalität, ich manches Zeugniss und die Aussprüche der Dichter beizu¬ bringen hätte. Wo diese Scheinempfindung völlig aufhört, beginnen die krankhaften und pathologischen Wirkungen, in denen die heilende Naturkraft der Traumzustände nachlässt. Innerhalb jener Grenze aber sind es nicht etwa nur die an¬ genehmen und freundlichen Bilder, die wir mit jener All¬ verständigkeit an uns erfahren: auch das Ernste, Trübe, Traurige, Finstere, die plötzlichen Hemmungen, die Necke¬ reien des Zufalls, die bänglichen Erwartungen, kurz die ganze »göttliche Komödie« des Lebens, mit dem Inferno, zieht an uns vorbei, nicht nur wie ein Schattenspiel — denn wir leben und leiden mit in diesen Scenen — und doch auch nicht ohne jene flüchtige Empfindung des Scheins: ja ich

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/15>, abgerufen am 21.11.2024.