Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.
dem Musiker -- der gegenüber unsre neuere Lyrik wie ein
dem Musiker — der gegenüber unsre neuere Lyrik wie ein <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><hi rendition="#i"><pb facs="#f0034" n="21"/> dem Musiker</hi> — der gegenüber unsre neuere Lyrik wie ein<lb/> Götterbild ohne Kopf erscheint — so können wir jetzt, auf<lb/> Grund unsrer früher dargestellten aesthetischen Metaphysik,<lb/> uns in folgender Weise den Lyriker erklären. Er ist zuerst,<lb/> als dionysischer Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem<lb/> Schmerz und Widerspruch, eins geworden und producirt das<lb/> Abbild dieses Ur-Einen als Musik, die wir eine Wiederholung<lb/> der Welt und einen zweiten Abguss derselben genannt haben;<lb/> jetzt aber wird diese Musik ihm wieder wie in einem <hi rendition="#i">gleich¬<lb/> nissartigen Traumbilde</hi>, unter der apollinischen Traumein¬<lb/> wirkung sichtbar. Jener bild- und begrifflose Wiederschein<lb/> des Urschmerzes in der Musik, mit seiner Erlösung im Scheine,<lb/> erzeugt jetzt eine zweite Spiegelung, als einzelnes Gleichniss<lb/> oder Exempel. Seine Subjectivität hat der Künstler bereits<lb/> in dem dionysischen Prozess aufgegeben: das Bild, das ihm<lb/> jetzt seine Einheit mit dem Herzen der Welt zeigt, ist eine<lb/> Traumscene, die jenen Urwiderspruch und Urschmerz, sammt<lb/> der Urlust des Scheines, versinnlicht. Das »Ich« des Lyrikers<lb/> tönt also aus dem Abgrunde des Seins: seine »Subjectivität«<lb/> im Sinne der neueren Aesthetiker ist eine Einbildung. Wenn<lb/> Archilochus, der erste Lyriker der Griechen, seine rasende<lb/> Liebe und zugleich seine Verachtung den Töchtern des Ly¬<lb/> kambes kundgiebt, so ist es nicht seine Leidenschaft, die<lb/> vor uns in orgiastischem Taumel tanzt: wir sehen Dionysus<lb/> und die Mänaden, wir sehen den berauschten Schwärmer<lb/> Archilochus zum Schlafe niedergesunken — wie ihn uns Euri¬<lb/> pides in den Bacchen beschreibt, den Schlaf auf hoher Alpen¬<lb/> trift, in der Mittagssonne —: und jetzt tritt Apollo an ihn<lb/> heran und berührt ihn mit dem Lorbeer. Die dionysisch¬<lb/> musikalische Verzauberung des Schläfers sprüht jetzt gleich¬<lb/> sam Bilderfunken um sich, lyrische Gedichte, die in ihrer<lb/> höchsten Entfaltung Tragödien und dramatische Dithyramben<lb/> heissen.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [21/0034]
dem Musiker — der gegenüber unsre neuere Lyrik wie ein
Götterbild ohne Kopf erscheint — so können wir jetzt, auf
Grund unsrer früher dargestellten aesthetischen Metaphysik,
uns in folgender Weise den Lyriker erklären. Er ist zuerst,
als dionysischer Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem
Schmerz und Widerspruch, eins geworden und producirt das
Abbild dieses Ur-Einen als Musik, die wir eine Wiederholung
der Welt und einen zweiten Abguss derselben genannt haben;
jetzt aber wird diese Musik ihm wieder wie in einem gleich¬
nissartigen Traumbilde, unter der apollinischen Traumein¬
wirkung sichtbar. Jener bild- und begrifflose Wiederschein
des Urschmerzes in der Musik, mit seiner Erlösung im Scheine,
erzeugt jetzt eine zweite Spiegelung, als einzelnes Gleichniss
oder Exempel. Seine Subjectivität hat der Künstler bereits
in dem dionysischen Prozess aufgegeben: das Bild, das ihm
jetzt seine Einheit mit dem Herzen der Welt zeigt, ist eine
Traumscene, die jenen Urwiderspruch und Urschmerz, sammt
der Urlust des Scheines, versinnlicht. Das »Ich« des Lyrikers
tönt also aus dem Abgrunde des Seins: seine »Subjectivität«
im Sinne der neueren Aesthetiker ist eine Einbildung. Wenn
Archilochus, der erste Lyriker der Griechen, seine rasende
Liebe und zugleich seine Verachtung den Töchtern des Ly¬
kambes kundgiebt, so ist es nicht seine Leidenschaft, die
vor uns in orgiastischem Taumel tanzt: wir sehen Dionysus
und die Mänaden, wir sehen den berauschten Schwärmer
Archilochus zum Schlafe niedergesunken — wie ihn uns Euri¬
pides in den Bacchen beschreibt, den Schlaf auf hoher Alpen¬
trift, in der Mittagssonne —: und jetzt tritt Apollo an ihn
heran und berührt ihn mit dem Lorbeer. Die dionysisch¬
musikalische Verzauberung des Schläfers sprüht jetzt gleich¬
sam Bilderfunken um sich, lyrische Gedichte, die in ihrer
höchsten Entfaltung Tragödien und dramatische Dithyramben
heissen.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |