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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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lochus, der leidenschaftlich entbrannte liebende und hassende
Mensch nur eine Vision des Genius, der bereits nicht mehr
Archilochus, sondern Weltgenius ist und der seinen Urschmerz
in jenem Gleichnisse vom Menschen Archilochus symbolisch
ausspricht: während jener subjectiv wollende und begehrende
Mensch Archilochus überhaupt nie und nimmer Dichter sein
kann. Es ist aber gar nicht nöthig. dass der Lyriker
gerade nur das Phänomen des Menschen Archilochus vor
sich sieht als Wiederschein des ewigen Seins: und die Tra¬
gödie beweist, wie weit sich die Visionswelt des Lyrikers
von jenem allerdings zunächst stehenden Phänomen ent¬
fernen kann.

Schopenhauer, der sich die Schwierigkeit, die der Lyriker
für die philosophische Kunstbetrachtung macht, nicht verhehlt
hat, glaubt einen Ausweg gefunden zu haben, den ich nicht
mit ihm gehen kann, während ihm allein, in seiner tiefsinnigen
Metaphysik der Musik, das Mittel in die Hand gegeben war,
mit dem jene Schwierigkeit entscheidend beseitigt werden
konnte: wie ich dies, in seinem Geiste und zu seiner Ehre
hier gethan zu haben glaube. Dagegen bezeichnet er als das
eigenthümliche Wesen des Liedes Folgendes (Welt als Wille
und Vorstellung I S. 295) : "Es ist das Subject des Willens,
d. h. das eigene Wollen, was das Bewusstsein des Singenden
füllt, oft als ein entbundenes, befriedigtes Wollen Freude),
wohl noch öfter aber als ein gehemmtes (Trauer), immer als
Affect, Leidenschaft, bewegter Gemüthszustand. Neben die¬
sem jedoch und zugleich damit wird durch den Anblick der
umgebenden Natur der Singende sich seiner bewusst als Sub¬
jects des reinen, willenlosen Erkennens, dessen unerschütter¬
liche, selige Ruhe nunmehr in Contrast tritt mit dem Drange
des immer beschränkten, immer noch dürftigen Wollens: die
Empfindung dieses Contrastes, dieses Wechselspieles ist eigent¬
lich, was sich im Ganzen des Liedes ausspricht und was über¬

lochus, der leidenschaftlich entbrannte liebende und hassende
Mensch nur eine Vision des Genius, der bereits nicht mehr
Archilochus, sondern Weltgenius ist und der seinen Urschmerz
in jenem Gleichnisse vom Menschen Archilochus symbolisch
ausspricht: während jener subjectiv wollende und begehrende
Mensch Archilochus überhaupt nie und nimmer Dichter sein
kann. Es ist aber gar nicht nöthig. dass der Lyriker
gerade nur das Phänomen des Menschen Archilochus vor
sich sieht als Wiederschein des ewigen Seins: und die Tra¬
gödie beweist, wie weit sich die Visionswelt des Lyrikers
von jenem allerdings zunächst stehenden Phänomen ent¬
fernen kann.

Schopenhauer, der sich die Schwierigkeit, die der Lyriker
für die philosophische Kunstbetrachtung macht, nicht verhehlt
hat, glaubt einen Ausweg gefunden zu haben, den ich nicht
mit ihm gehen kann, während ihm allein, in seiner tiefsinnigen
Metaphysik der Musik, das Mittel in die Hand gegeben war,
mit dem jene Schwierigkeit entscheidend beseitigt werden
konnte: wie ich dies, in seinem Geiste und zu seiner Ehre
hier gethan zu haben glaube. Dagegen bezeichnet er als das
eigenthümliche Wesen des Liedes Folgendes (Welt als Wille
und Vorstellung I S. 295) : »Es ist das Subject des Willens,
d. h. das eigene Wollen, was das Bewusstsein des Singenden
füllt, oft als ein entbundenes, befriedigtes Wollen Freude),
wohl noch öfter aber als ein gehemmtes (Trauer), immer als
Affect, Leidenschaft, bewegter Gemüthszustand. Neben die¬
sem jedoch und zugleich damit wird durch den Anblick der
umgebenden Natur der Singende sich seiner bewusst als Sub¬
jects des reinen, willenlosen Erkennens, dessen unerschütter¬
liche, selige Ruhe nunmehr in Contrast tritt mit dem Drange
des immer beschränkten, immer noch dürftigen Wollens: die
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[23/0036] lochus, der leidenschaftlich entbrannte liebende und hassende Mensch nur eine Vision des Genius, der bereits nicht mehr Archilochus, sondern Weltgenius ist und der seinen Urschmerz in jenem Gleichnisse vom Menschen Archilochus symbolisch ausspricht: während jener subjectiv wollende und begehrende Mensch Archilochus überhaupt nie und nimmer Dichter sein kann. Es ist aber gar nicht nöthig. dass der Lyriker gerade nur das Phänomen des Menschen Archilochus vor sich sieht als Wiederschein des ewigen Seins: und die Tra¬ gödie beweist, wie weit sich die Visionswelt des Lyrikers von jenem allerdings zunächst stehenden Phänomen ent¬ fernen kann. Schopenhauer, der sich die Schwierigkeit, die der Lyriker für die philosophische Kunstbetrachtung macht, nicht verhehlt hat, glaubt einen Ausweg gefunden zu haben, den ich nicht mit ihm gehen kann, während ihm allein, in seiner tiefsinnigen Metaphysik der Musik, das Mittel in die Hand gegeben war, mit dem jene Schwierigkeit entscheidend beseitigt werden konnte: wie ich dies, in seinem Geiste und zu seiner Ehre hier gethan zu haben glaube. Dagegen bezeichnet er als das eigenthümliche Wesen des Liedes Folgendes (Welt als Wille und Vorstellung I S. 295) : »Es ist das Subject des Willens, d. h. das eigene Wollen, was das Bewusstsein des Singenden füllt, oft als ein entbundenes, befriedigtes Wollen Freude), wohl noch öfter aber als ein gehemmtes (Trauer), immer als Affect, Leidenschaft, bewegter Gemüthszustand. Neben die¬ sem jedoch und zugleich damit wird durch den Anblick der umgebenden Natur der Singende sich seiner bewusst als Sub¬ jects des reinen, willenlosen Erkennens, dessen unerschütter¬ liche, selige Ruhe nunmehr in Contrast tritt mit dem Drange des immer beschränkten, immer noch dürftigen Wollens: die Empfindung dieses Contrastes, dieses Wechselspieles ist eigent¬ lich, was sich im Ganzen des Liedes ausspricht und was über¬

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/36>, abgerufen am 21.11.2024.