leidet und sich verherrlicht, und handelt deshalb selbst nicht. Bei dieser, dem Gotte gegenüber durchaus dienenden Stellung ist er doch der höchste, nämlich dionysische Ausdruck der Natur und redet darum, wie diese, in der Begeisterung Ora¬ kel- und Weisheitssprüche: als der mitleidende ist er zugleich der weise, aus dem Herzen der Welt die Wahrheit verkün¬ dende. So entsteht denn jene phantastische und so anstössig scheinende Figur des weisen und begeisterten Satyrs, der zugleich "der tumbe Mensch" im Gegensatz zum Gotte ist: Abbild der Natur und ihrer stärksten Triebe, ja Symbol der¬ selben und zugleich Verkünder ihrer Weisheit und Kunst: Musiker, Dichter, Tänzer, Geisterseher in einer Person.
Dionysus, der eigentliche Bühnenheld und Mittelpunkt der Vision, ist gemäss dieser Erkenntniss und gemäss der Ueber¬ lieferung, zuerst, in der allerältesten Periode der Tragödie, nicht wahrhaft vorhanden, sondern wird nur als vorhanden vorgestellt: d. h. ursprünglich ist die Tragödie nur "Chor" und nicht "Drama". Später wird nun der Versuch gemacht, den Gott als einen realen zu zeigen und die Visionsgestalt sammt der verklärenden Umrahmung als jedem Auge sichtbar darzustellen: damit beginnt das "Drama" im engeren Sinne. Jetzt bekommt der dithyrambische Chor die Aufgabe, die Stimmung der Zuhörer bis zu dem Grade dionysisch anzu¬ regen, dass sie, wenn der tragische Held auf der Bühne er¬ scheint, nicht etwa den unförmlich maskirten Menschen sehen, sondern eine gleichsam aus ihrer eignen Verzückung geborene Visionsgestalt. Denken wir uns Admet mit tiefem Sinnen seiner jüngst abgeschiedenen Gattin Alcestis gedenkend und ganz im geistigen Anschauen derselben sich verzehrend -- wie ihm nun plötzlich ein ähnlich gestaltetes, ähnlich schreiten¬ des Frauenbild in Verhüllung entgegengeführt wird: denken wir uns seine plötzliche zitternde Unruhe, sein stürmisches Vergleichen, seine instinctive Ueberzeugung -- so haben wir
leidet und sich verherrlicht, und handelt deshalb selbst nicht. Bei dieser, dem Gotte gegenüber durchaus dienenden Stellung ist er doch der höchste, nämlich dionysische Ausdruck der Natur und redet darum, wie diese, in der Begeisterung Ora¬ kel- und Weisheitssprüche: als der mitleidende ist er zugleich der weise, aus dem Herzen der Welt die Wahrheit verkün¬ dende. So entsteht denn jene phantastische und so anstössig scheinende Figur des weisen und begeisterten Satyrs, der zugleich »der tumbe Mensch« im Gegensatz zum Gotte ist: Abbild der Natur und ihrer stärksten Triebe, ja Symbol der¬ selben und zugleich Verkünder ihrer Weisheit und Kunst: Musiker, Dichter, Tänzer, Geisterseher in einer Person.
Dionysus, der eigentliche Bühnenheld und Mittelpunkt der Vision, ist gemäss dieser Erkenntniss und gemäss der Ueber¬ lieferung, zuerst, in der allerältesten Periode der Tragödie, nicht wahrhaft vorhanden, sondern wird nur als vorhanden vorgestellt: d. h. ursprünglich ist die Tragödie nur »Chor« und nicht »Drama«. Später wird nun der Versuch gemacht, den Gott als einen realen zu zeigen und die Visionsgestalt sammt der verklärenden Umrahmung als jedem Auge sichtbar darzustellen: damit beginnt das »Drama« im engeren Sinne. Jetzt bekommt der dithyrambische Chor die Aufgabe, die Stimmung der Zuhörer bis zu dem Grade dionysisch anzu¬ regen, dass sie, wenn der tragische Held auf der Bühne er¬ scheint, nicht etwa den unförmlich maskirten Menschen sehen, sondern eine gleichsam aus ihrer eignen Verzückung geborene Visionsgestalt. Denken wir uns Admet mit tiefem Sinnen seiner jüngst abgeschiedenen Gattin Alcestis gedenkend und ganz im geistigen Anschauen derselben sich verzehrend — wie ihm nun plötzlich ein ähnlich gestaltetes, ähnlich schreiten¬ des Frauenbild in Verhüllung entgegengeführt wird: denken wir uns seine plötzliche zitternde Unruhe, sein stürmisches Vergleichen, seine instinctive Ueberzeugung — so haben wir
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0055"n="42"/>
leidet und sich verherrlicht, und <hirendition="#i">handelt</hi> deshalb selbst nicht.<lb/>
Bei dieser, dem Gotte gegenüber durchaus dienenden Stellung<lb/>
ist er doch der höchste, nämlich dionysische Ausdruck der<lb/><hirendition="#i">Natur</hi> und redet darum, wie diese, in der Begeisterung Ora¬<lb/>
kel- und Weisheitssprüche: als der <hirendition="#i">mitleidende</hi> ist er zugleich<lb/>
der <hirendition="#i">weise</hi>, aus dem Herzen der Welt die Wahrheit verkün¬<lb/>
dende. So entsteht denn jene phantastische und so anstössig<lb/>
scheinende Figur des weisen und begeisterten Satyrs, der<lb/>
zugleich »der tumbe Mensch« im Gegensatz zum Gotte ist:<lb/>
Abbild der Natur und ihrer stärksten Triebe, ja Symbol der¬<lb/>
selben und zugleich Verkünder ihrer Weisheit und Kunst:<lb/>
Musiker, Dichter, Tänzer, Geisterseher in einer Person.</p><lb/><p><hirendition="#i">Dionysus</hi>, der eigentliche Bühnenheld und Mittelpunkt der<lb/>
Vision, ist gemäss dieser Erkenntniss und gemäss der Ueber¬<lb/>
lieferung, zuerst, in der allerältesten Periode der Tragödie,<lb/>
nicht wahrhaft vorhanden, sondern wird nur als vorhanden<lb/>
vorgestellt: d. h. ursprünglich ist die Tragödie nur »Chor«<lb/>
und nicht »Drama«. Später wird nun der Versuch gemacht,<lb/>
den Gott als einen realen zu zeigen und die Visionsgestalt<lb/>
sammt der verklärenden Umrahmung als jedem Auge sichtbar<lb/>
darzustellen: damit beginnt das »Drama« im engeren Sinne.<lb/>
Jetzt bekommt der dithyrambische Chor die Aufgabe, die<lb/>
Stimmung der Zuhörer bis zu dem Grade dionysisch anzu¬<lb/>
regen, dass sie, wenn der tragische Held auf der Bühne er¬<lb/>
scheint, nicht etwa den unförmlich maskirten Menschen sehen,<lb/>
sondern eine gleichsam aus ihrer eignen Verzückung geborene<lb/>
Visionsgestalt. Denken wir uns Admet mit tiefem Sinnen<lb/>
seiner jüngst abgeschiedenen Gattin Alcestis gedenkend und<lb/>
ganz im geistigen Anschauen derselben sich verzehrend —<lb/>
wie ihm nun plötzlich ein ähnlich gestaltetes, ähnlich schreiten¬<lb/>
des Frauenbild in Verhüllung entgegengeführt wird: denken<lb/>
wir uns seine plötzliche zitternde Unruhe, sein stürmisches<lb/>
Vergleichen, seine instinctive Ueberzeugung — so haben wir<lb/></p></div></body></text></TEI>
[42/0055]
leidet und sich verherrlicht, und handelt deshalb selbst nicht.
Bei dieser, dem Gotte gegenüber durchaus dienenden Stellung
ist er doch der höchste, nämlich dionysische Ausdruck der
Natur und redet darum, wie diese, in der Begeisterung Ora¬
kel- und Weisheitssprüche: als der mitleidende ist er zugleich
der weise, aus dem Herzen der Welt die Wahrheit verkün¬
dende. So entsteht denn jene phantastische und so anstössig
scheinende Figur des weisen und begeisterten Satyrs, der
zugleich »der tumbe Mensch« im Gegensatz zum Gotte ist:
Abbild der Natur und ihrer stärksten Triebe, ja Symbol der¬
selben und zugleich Verkünder ihrer Weisheit und Kunst:
Musiker, Dichter, Tänzer, Geisterseher in einer Person.
Dionysus, der eigentliche Bühnenheld und Mittelpunkt der
Vision, ist gemäss dieser Erkenntniss und gemäss der Ueber¬
lieferung, zuerst, in der allerältesten Periode der Tragödie,
nicht wahrhaft vorhanden, sondern wird nur als vorhanden
vorgestellt: d. h. ursprünglich ist die Tragödie nur »Chor«
und nicht »Drama«. Später wird nun der Versuch gemacht,
den Gott als einen realen zu zeigen und die Visionsgestalt
sammt der verklärenden Umrahmung als jedem Auge sichtbar
darzustellen: damit beginnt das »Drama« im engeren Sinne.
Jetzt bekommt der dithyrambische Chor die Aufgabe, die
Stimmung der Zuhörer bis zu dem Grade dionysisch anzu¬
regen, dass sie, wenn der tragische Held auf der Bühne er¬
scheint, nicht etwa den unförmlich maskirten Menschen sehen,
sondern eine gleichsam aus ihrer eignen Verzückung geborene
Visionsgestalt. Denken wir uns Admet mit tiefem Sinnen
seiner jüngst abgeschiedenen Gattin Alcestis gedenkend und
ganz im geistigen Anschauen derselben sich verzehrend —
wie ihm nun plötzlich ein ähnlich gestaltetes, ähnlich schreiten¬
des Frauenbild in Verhüllung entgegengeführt wird: denken
wir uns seine plötzliche zitternde Unruhe, sein stürmisches
Vergleichen, seine instinctive Ueberzeugung — so haben wir
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/55>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.