Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

Linien der Natur gewissenhaft wiedergiebt. Odysseus, der
typische Hellene der älteren Kunst, sank jetzt unter den
Händen der neueren Dichter zur Figur des Graeculus herab,
der von jetzt ab als gutmüthig-verschmitzter Haussclave im
Mittelpunkte des dramatischen Interesse's steht. Was Euripides
sich in den aristophanischen "Fröschen" zum Verdienst anrech¬
net, dass er die tragische Kunst durch seine Hausmittel von
ihrer pomphaften Beleibtheit befreit habe, das ist vor allem
an seinen tragischen Helden zu spüren. Im Wesentlichen
sah und hörte jetzt der Zuschauer seinen Doppelgänger auf
der euripideischen Bühne und freute sich, dass jener so gut
zu reden verstehe. Bei dieser Freude blieb es aber nicht:
man lernte selbst bei Euripides sprechen, und dessen rühmt
er sich selbst im Wettkampfe mit Aeschylus: wie durch ihn
jetzt das Volk kunstmässig und mit den schlausten Sophisti¬
cationen zu beobachten, zu verhandeln und Folgerungen zu
ziehen gelernt habe. Durch diesen Umschwung der öffent¬
lichen Sprache hat er überhaupt die neuere Komödie möglich
gemacht. Denn von jetzt ab war es kein Geheimniss mehr,
wie und mit welchen Sentenzen die Alltäglichkeit sich auf
der Bühne vertreten könne. Die bürgerliche Mittelmässigkeit,
auf die Euripides alle seine politischen Hoffnungen aufbaute,
kam jetzt zu Wort, nachdem bis dahin in der Tragödie der
Halbgott, in der Komödie der betrunkene Satyr oder der
Halbgott den Sprachcharakter bestimmt hatten. Und so hebt
der aristophanische Euripides zu seinem Preise hervor, wie
er das allgemeine, allbekannte, alltägliche Leben und Treiben
dargestellt habe, über das ein Jeder zu urtheilen befähigt sei.
Wenn jetzt die ganze Masse philosophiere und mit unerhörter
Klugheit Land und Gut verwalte, Prozesse führe u. s. w.,
so sei dies sein Verdienst und der Erfolg der von ihm dem
Volke eingeimpften Weisheit.

An eine derartig zubereitete und aufgeklärte Masse durfte

Linien der Natur gewissenhaft wiedergiebt. Odysseus, der
typische Hellene der älteren Kunst, sank jetzt unter den
Händen der neueren Dichter zur Figur des Graeculus herab,
der von jetzt ab als gutmüthig-verschmitzter Haussclave im
Mittelpunkte des dramatischen Interesse's steht. Was Euripides
sich in den aristophanischen »Fröschen« zum Verdienst anrech¬
net, dass er die tragische Kunst durch seine Hausmittel von
ihrer pomphaften Beleibtheit befreit habe, das ist vor allem
an seinen tragischen Helden zu spüren. Im Wesentlichen
sah und hörte jetzt der Zuschauer seinen Doppelgänger auf
der euripideischen Bühne und freute sich, dass jener so gut
zu reden verstehe. Bei dieser Freude blieb es aber nicht:
man lernte selbst bei Euripides sprechen, und dessen rühmt
er sich selbst im Wettkampfe mit Aeschylus: wie durch ihn
jetzt das Volk kunstmässig und mit den schlausten Sophisti¬
cationen zu beobachten, zu verhandeln und Folgerungen zu
ziehen gelernt habe. Durch diesen Umschwung der öffent¬
lichen Sprache hat er überhaupt die neuere Komödie möglich
gemacht. Denn von jetzt ab war es kein Geheimniss mehr,
wie und mit welchen Sentenzen die Alltäglichkeit sich auf
der Bühne vertreten könne. Die bürgerliche Mittelmässigkeit,
auf die Euripides alle seine politischen Hoffnungen aufbaute,
kam jetzt zu Wort, nachdem bis dahin in der Tragödie der
Halbgott, in der Komödie der betrunkene Satyr oder der
Halbgott den Sprachcharakter bestimmt hatten. Und so hebt
der aristophanische Euripides zu seinem Preise hervor, wie
er das allgemeine, allbekannte, alltägliche Leben und Treiben
dargestellt habe, über das ein Jeder zu urtheilen befähigt sei.
Wenn jetzt die ganze Masse philosophiere und mit unerhörter
Klugheit Land und Gut verwalte, Prozesse führe u. s. w.,
so sei dies sein Verdienst und der Erfolg der von ihm dem
Volke eingeimpften Weisheit.

An eine derartig zubereitete und aufgeklärte Masse durfte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0070" n="57"/>
Linien der Natur gewissenhaft wiedergiebt. Odysseus, der<lb/>
typische Hellene der älteren Kunst, sank jetzt unter den<lb/>
Händen der neueren Dichter zur Figur des Graeculus herab,<lb/>
der von jetzt ab als gutmüthig-verschmitzter Haussclave im<lb/>
Mittelpunkte des dramatischen Interesse's steht. Was Euripides<lb/>
sich in den aristophanischen »Fröschen« zum Verdienst anrech¬<lb/>
net, dass er die tragische Kunst durch seine Hausmittel von<lb/>
ihrer pomphaften Beleibtheit befreit habe, das ist vor allem<lb/>
an seinen tragischen Helden zu spüren. Im Wesentlichen<lb/>
sah und hörte jetzt der Zuschauer seinen Doppelgänger auf<lb/>
der euripideischen Bühne und freute sich, dass jener so gut<lb/>
zu reden verstehe. Bei dieser Freude blieb es aber nicht:<lb/>
man lernte selbst bei Euripides sprechen, und dessen rühmt<lb/>
er sich selbst im Wettkampfe mit Aeschylus: wie durch ihn<lb/>
jetzt das Volk kunstmässig und mit den schlausten Sophisti¬<lb/>
cationen zu beobachten, zu verhandeln und Folgerungen zu<lb/>
ziehen gelernt habe. Durch diesen Umschwung der öffent¬<lb/>
lichen Sprache hat er überhaupt die neuere Komödie möglich<lb/>
gemacht. Denn von jetzt ab war es kein Geheimniss mehr,<lb/>
wie und mit welchen Sentenzen die Alltäglichkeit sich auf<lb/>
der Bühne vertreten könne. Die bürgerliche Mittelmässigkeit,<lb/>
auf die Euripides alle seine politischen Hoffnungen aufbaute,<lb/>
kam jetzt zu Wort, nachdem bis dahin in der Tragödie der<lb/>
Halbgott, in der Komödie der betrunkene Satyr oder der<lb/>
Halbgott den Sprachcharakter bestimmt hatten. Und so hebt<lb/>
der aristophanische Euripides zu seinem Preise hervor, wie<lb/>
er das allgemeine, allbekannte, alltägliche Leben und Treiben<lb/>
dargestellt habe, über das ein Jeder zu urtheilen befähigt sei.<lb/>
Wenn jetzt die ganze Masse philosophiere und mit unerhörter<lb/>
Klugheit Land und Gut verwalte, Prozesse führe u. s. w.,<lb/>
so sei dies sein Verdienst und der Erfolg der von ihm dem<lb/>
Volke eingeimpften Weisheit.</p><lb/>
        <p>An eine derartig zubereitete und aufgeklärte Masse durfte<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[57/0070] Linien der Natur gewissenhaft wiedergiebt. Odysseus, der typische Hellene der älteren Kunst, sank jetzt unter den Händen der neueren Dichter zur Figur des Graeculus herab, der von jetzt ab als gutmüthig-verschmitzter Haussclave im Mittelpunkte des dramatischen Interesse's steht. Was Euripides sich in den aristophanischen »Fröschen« zum Verdienst anrech¬ net, dass er die tragische Kunst durch seine Hausmittel von ihrer pomphaften Beleibtheit befreit habe, das ist vor allem an seinen tragischen Helden zu spüren. Im Wesentlichen sah und hörte jetzt der Zuschauer seinen Doppelgänger auf der euripideischen Bühne und freute sich, dass jener so gut zu reden verstehe. Bei dieser Freude blieb es aber nicht: man lernte selbst bei Euripides sprechen, und dessen rühmt er sich selbst im Wettkampfe mit Aeschylus: wie durch ihn jetzt das Volk kunstmässig und mit den schlausten Sophisti¬ cationen zu beobachten, zu verhandeln und Folgerungen zu ziehen gelernt habe. Durch diesen Umschwung der öffent¬ lichen Sprache hat er überhaupt die neuere Komödie möglich gemacht. Denn von jetzt ab war es kein Geheimniss mehr, wie und mit welchen Sentenzen die Alltäglichkeit sich auf der Bühne vertreten könne. Die bürgerliche Mittelmässigkeit, auf die Euripides alle seine politischen Hoffnungen aufbaute, kam jetzt zu Wort, nachdem bis dahin in der Tragödie der Halbgott, in der Komödie der betrunkene Satyr oder der Halbgott den Sprachcharakter bestimmt hatten. Und so hebt der aristophanische Euripides zu seinem Preise hervor, wie er das allgemeine, allbekannte, alltägliche Leben und Treiben dargestellt habe, über das ein Jeder zu urtheilen befähigt sei. Wenn jetzt die ganze Masse philosophiere und mit unerhörter Klugheit Land und Gut verwalte, Prozesse führe u. s. w., so sei dies sein Verdienst und der Erfolg der von ihm dem Volke eingeimpften Weisheit. An eine derartig zubereitete und aufgeklärte Masse durfte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/70
Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/70>, abgerufen am 21.11.2024.