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Allgemeine Zeitung, Nr. 3, 3. Januar 1872.

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[Spaltenumbruch] und andern Bayern, am 7 Novbr. in der liberalen Reichspartei den Antrag auf
Einbringung einer Novelle zum Strafgesetzbuch, wodurch der Mißbrauch der Kanzel
zu politischen Zwecken bei Strafe untersagt werden sollte. Ich muß es dahin ge-
stellt sein lassen ob diesem Schritt bereits eine Verständigung mit dem Cultus-
minister v. Lutz vorangegangen war, und ob es begründet ist daß dieser sich, wie
man erzählte, zwar ebenso wie seine bayerischen Collegen im Bundesrath und angeb-
lich auch Fürst Bismarck, sehr günstig über den Vorschlag ausgesprochen, zugleich
aber der Erwartung Ausdruck gegeben habe daß die bayerischen Abgeordneten ihrer
heimischen Regierung für die Unterstützung desselben den Gegendienst leisten wür-
den gegen den Lasker-Miquel'schen Antrag zu stimmen. Gewiß ist nur daß diese
sämmtlich diesen Antrag unterschrieben hatten und später auch dafür stimmten, so-
wie daß Hr. v. Lutz erst in einem viel spätern Stadium in einer Unterhaltung mit
Hrn. Lasker über beide Anträge die mehrdeutige Aeußerung that: es werde von
dem Gebrauche welchen der Reichstag von seiner Competenz mache, abhängen ob
man diese Competenz erweitern könne.

Die liberale Reichspartei trat über den Vorschlag Barths, welchen Fischer
(Augsburg) näher formulirte, mit den andern Fractionen und verschiedenen Mit-
gliedern des Bundesraths durch Vertrauensmänner in Verhandlung. Derselbe
fand aber bei ersteren nur geringen Anklang. Vor allem gilt dieß von den Conser-
vativen und von den Freiconservativen (deutsche Reichspartei). In der national-
liberalen Fraction giengen die Ansichten weit aus einander. Einstimmig war die-
selbe nur in der Ablehnung der von der liberalen Reichspartei mit einer Mehrheit
von 15 gegen 7 Stimmen beschlossenen Formulirung der Strafrechtsnovelle. Da-
gegen erklärte sich ein Theil der Nationalliberalen gegen jede Initiative des Hauses
in dieser Angelegenheit. Andere verlangten eine schärfere Präcisirung des straf-
baren Thatbestandes, und waren zu Gunsten einer von Meyer (Thorn) versuchten
Redaction eines Zusatzartikels zum §. 338 des Strafgesetzbuches*), welcher zugleich
aufregende Hirtenbriefe der Bischöfe treffen sollte, aber gerade dadurch über das
nächste Ziel hinausgieng und offenbar in die Preßgesetzgebung eingriff. Wieder
andere stimmten einem Vorschlage Laskers bei: durch eine bei Gelegenheit der be-
vorstehenden Prüfung der (später cassirten) Wahl des Geistlichen Raths Möller zu
fassende Resolution den Reichskanzler aufzufordern "das Strafgesetzbuch durch
entsprechende Bestimmungen gegen Ausschreitungen der Geistlichkeit zu ergänzen."
Es hatte fast den Anschein als ob diese durch ihre Stimmenzahl einflußreiche Partei
theils nicht geneigt war das Ministerium durch Vorgehen in dieser Angelegenheit
indirect zu unterstützen, theils einzelne Führer derselben dem besonders eifrig da-
für eintretenden Abg. Fischer (Augsburg) nicht die Ehre gönnten als Antragsteller
zu erscheinen. Auch die Fortschrittspartei lehnte in einer, allerdings nur schwach
besuchten, Versammlung den Antrag Fischer ab, erklärte sich aber mit 9 gegen 7
Stimmen bereit für ein Verbot jeder Erörterung politischer Fragen in der Kirche
zu stimmen. Ein nochmaliger Versuch sich unter den liberalen Parteien über eine
andere Fassung zu einigen scheiterte. Man mußte auf jede Initiative des Hauses
in dieser Angelegenheit verzichten. Sobald dieß dem Minister v. Lutz am 13 Nov.
mitgetheilt wurde, erbat derselbe sich die Autorisation seines königlichen Herrn: im
Namen der bayerischen Regierung den Erlaß eines solchen Ergänzungsgesetzes zum
Strafgesetzbuch im Bundesrathe zu beantragen. Am 16 Nov. erhielt er dieselbe,
und dadurch gelangte die Sache auf den correcten Weg, indem die Verantwortlich-
keit für die Maßregel dahin verlegt wurde wohin sie in einer so wichtigen Ange-
legenheit unzweifelhaft gehört: in die Regierung. Am 19 Nov. einigte sich der
Bundesrath über die entsprechende Vorlage. Nur Sachsen und Mecklenburg er-
klärten sich dagegen, Hessen enthielt sich der Abstimmung. Am 20 Nov. kam der
"Entwurf eines Gesetzes betreffend die Ergänzung des Strafgesetzbuches für das
Deutsche Reich" zur Vertheilung. Am 23 fand die erste Berathung statt, welche
Windthorst (Meppen) vergebens hinauszuschieben versucht hatte. Die Centrums-
partei, obgleich begreiflicherweise von den übrigen Fractionen nicht consultirt, war
übrigens schon länger auf die Sache vorbereitet, da Fürst Bismarck schon vor Ein-
bringung des Gesetzentwurfs eine eingehende Besprechung darüber mit dem hoch-
würdigen Abgeordneten von Tauberbischofsheim, v. Ketteler, im Parlamentsge-
bäude gehabt hatte.

Der Abgeordnete für Meppen soll die Zurückhaltung welche seine Partei
bis dahin während der ganzen Sitzungsperiode bewiesen hatte, gesprächsweise
damit erklärt haben: daß sie von allen Seiten Schläge erwarte und eine "geprügelte"
Partei ihren Einfluß auf das Volk verliere. Jetzt trat dieselbe mit großer Ent-
schlossenheit und vollständigster Einmüthigkeit gegen das Gesetz auf, nachdem die
in ihrer Mitte einen Augenblick zur Frage gekommene Taktik, den Reichstag durch
massenhafte Entfernung beschlußunfähig zu machen, als unausführbar und als nicht
würdig rasch wieder aufgegeben worden war. Außer an den Polen, die bei dieser
Gelegenheit zum erstenmal in einer Sitzung erschienen, fand die Centrumspartei
auch an zwei Protestanten aus den extremen Parteien, dem conservativen Frhrn.
v. Maltzahn-Gülz (der eine recht gute maiden speech hielt) und Eugen Richter
von der Fortschrittspartei unerwartet Unterstützung. Sie selbst führte ihre besten
Redner, Peter Reichensperger (Olpe), Frhrn. v. Ketteler (Tauberbischofsheim),
Windthorst (Meppen), v. Aretin, v. Mallinckrodt und Dr. Moufang, ins Feuer,
während unter den nicht minder zahlreichen Fürsprechern des Gesetzes vor allen
v. Treitschke, Fischer (Augsburg), Dr. Löwe, Dr. Völk und Dr. Gneist hervor-
ragten. Wenn ich die Geduld der Leser nicht schon zu lange in Anspruch genommen
hätte, so würde ich der Versuchung auf einzelne dieser Reden näher einzugehen
schwerlich widerstehen, denn die Debatte war unbedingt die interessanteste und
bedeutendste welche überhaupt während der letzten Reichstagssession stattgefunden
[Spaltenumbruch] hat, und sie verdient vollständig in den stenographischen Berichten nachgelesen zu
werden. Ein völlig treues Bild der herrschenden Erregtheit geben allerdings auch
diese nicht; wenigstens vermißte ich darin u. a. die Erwähnung des homerischen
Gelächters mit welchem der Frhr. v. Ketteler begrüßt wurde, als er beim Betreten
der Tribüne eine unwillkürliche Handbewegung nach dem Kopf machte, die den
Eindruck hervorzubringen schien als ob er sich etwas verlegen hinter den Ohren
kratze. Mein Nachbar auf der Tribüne machte mich mit dem Bemerken darauf
aufmerksam wie verletzend ein solches Benehmen für einen Mann sein müsse der
gewohnt sei eine andächtige Gemeinde voll Verehrung an seinen Lippen hängen zu
sehen. Ich konnte ihm nur erwiedern: wie es eine alte Erfahrung sei daß eine
größere parlamentarische Versammlung, auch wenn jeder einzelne Theilnehmer ein
vollendeter Gentleman sei, keinerlei Rücksichten zu nehmen und die Unart eines
Einzelnen immer ansteckend zu wirken pflege.

Von den Vertretern der verbündeten Regierungen ergriffen nur zwei das
Wort. Der bayerische Cultusminister v. Lutz leitete die Debatte mit einer Rede
ein der man freilich hie und da den staatsmännischen Charakter abgesprochen hat,
die aber durch ihre rücksichtslose Schärfe eine politische That war, und ebenso sehr
von dem Talent wie von dem persönlichen Muthe des Redners zeugte, der seine
Schiffe hinter sich verbrannte. Seine späteren kurzen Reden bei der zweiten und
dritten Lesung zeichneten sich durch die würdige Abfertigung der gegen ihn gerichteten
persönlichen Angriffe und durch sachliche Klarheit aus. Lebhaften Beifall brachte
ihm seine Schlußbemerkung ein: "Viel war die Rede davon daß Bayern unter den
Schutz des Reichs geflüchtet sei; das Bild, glaube ich, bedarf der Berichtigung;
Bayern hat mit dem Reich einen Vertrag geschlossen daß es Gesetze wie das vor-
liegende nicht mehr allein zu erlassen versuchen wolle, Bayern hält sein Wort!"
Der preußische Bevollmächtigte zum Bundesrath, Geh. Rath Dr. Falk, beschränkte sich
darauf die Auffassung der verbündeten Regierungen über die zu dem Gesetz gestellten
Amendements kurz darzulegen. Er acceptirte den demnächst auch von der Versamm-
lung angenommenen Antrag Kastners: neben der Gefängnißstrafe auch die Festungs-
strafe als Strafart in das Gesetz aufzunehmen. Er erklärte sich mit dem Antrag
desselben Abgeordneten einverstanden: statt "in einer Weise welche den öffent-
lichen Frieden zu stören geeignet erscheint," zu sagen: "geeignet ist," und bil-
ligte ebenfalls das Amendement Windthorsts, diesen ganzen Satz durch die Worte
"in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise" zu ersetzen. Durch die
Annahme des zuerst zur Abstimmung kommenden letzten Amendements wurde der
Antrag Kastners erledigt. Alle andern -- sämmtlich von Windthorst gestellten --
Verbesserungsanträge erklärte der Vertreter des Bundesraths für unannehmbar,
und sie wurden abgelehnt. Der wichtigste derselben gieng dahin: den Zusatz hinzu-
zufügen daß die Untersuchung und Entscheidung wegen dieses Vergehens, in den-
jenigen Staaten in welchen Geschwornengerichte bestehen, durch das Schwurgericht
erfolgen solle. Wie man auch sonst über die Sache denken mag, konnte der Reichs-
tag schon deßhalb nicht darauf eingehen, weil eine solche Bestimmung offenbar nicht
in das Strafgesetzbuch, sondern in die künftige Strafproceßordnung gehört. Die
bayerischen Kammern haben dennoch so eben beschlossen in das Einführungsgesetz
zum Strafgesetzbuch eine entsprechende Vorschrift aufzunehmen, und die königl.
bayerische Regierung hat, zum Befremden vieler, ihre Zustimmung dazu erklärt.
Die Gegner des Gesetzes reiben sich vergnügt die Hände. Das badische Einfüh-
rungsgesetz enthält keine solche Bestimmung, und die großherzogl. Regierung hat
den ursprünglich vorgeschlagenen §. 9 dieses Gesetzes, welcher den §. 130a des
Strafgesetzbuchs dahin noch weiter vervollständigen sollte: daß Geistliche welche
Erlasse der Obrigkeit tadeln, mit einer Geldbuße von 50 bis 500 fl. zu belegen
seien, nachträglich wieder stillschweigend zurückgezogen.

Das durch die erwähnten beiden Amendements wesentlich verbesserte Ergän-
zungsgesetz zum Deutschen Strafgesetzbuch wurde bei der zweiten Lesung in nament-
licher Abstimmung mit 179 gegen 108 Stimmen, bei der Schlußberathung mit
einer anscheinend noch etwas größeren Mehrheit angenommen. Einzelne Abge-
ordnete machten allerdings kein Hehl daraus daß sie nur deßhalb dafür gestimmt
hatten weil die Verwerfung des Gesetzes, nachdem es einmal von der Bundes-
regierung eingebracht worden, ein Sieg für die ultramontane Partei gewesen sein
würde, welcher diese noch übermüthiger gemacht hätte, und schwer wieder gut zu
machen gewesen wäre. Manche andere folgten dem französischen Sprichwort:
"dans le doute abstienne toi," und entfernten sich vor der Abstimmung. Von
allen Fractionen stimmte nur die liberale Reichspartei geschlossen für das Gesetz,
und das Centrum nebst den Polen ebenso geschlossen dagegen. In den anderen
Parteien giengen die Stimmen in einer Weise auseinander wie es selten vorge-
kommen ist.

Man muß wünschen daß der neue §. 130 a seinen Zweck erreicht, obgleich er
unläugbar den Mangel hat daß er im Grunde nur den niedern Klerus, nicht dessen
Obere trifft, von welchen dieser seine Instructionen erhält. Mir will es scheinen
als ob die niedern Geistlichen durch das neue Gesetz in eine Lage versetzt werden
welche derjenigen ähnlich ist in der sich die Officiere der preußischen Duell-Ge-
setzgebung gegenüber befinden. Schlägt ein Officier eine Herausforderung aus, so
muß er seinen Abschied nehmen; nimmt er sie an, so verwirkt er Festungsstrafe.
Der Dorfpfarrer hat künftig zwischen dem Gehorsam gegen seine Obern und dem
Gehorsam gegen das neue Gesetz zu wählen, und in beiden Fällen die nicht leichten
Folgen seines Ungehorsams zu tragen.

Der Antrag Lasker-Miquel wegen Ausdehnung der Competenz des Reichs
auf die Gesetzgebung über das gesaminte bürgerliche Recht -- auf dessen Zusam-
menhang mit der Strafrechts-Novelle ich bereits oben aufmerksam gemacht habe --
war inzwischen schon ungefähr 14 Tage früher mit dervon vornherein gesicherten großen
Mehrheit angenommen worden. In der dem Beschlusse vorausgegangenen recht leb-
haften Debatte fesselten unter den Rednern für den Antrag hauptsächlich die beiden An-
tragsteller Dr. Schwarze, welcher seine Ansicht seit 1869 aus praktischen Gründen
geändert hatte, und v. Stauffenberg, die allgemeine Aufmerksamkeit. Unter den
Gegnern thaten sich vor allen v. Helldorf, an welchem die conservative Partei über-
haupt eine recht tüchtige Kraft gewonnen zu haben scheint, und Windthorst (Mep-
pen) hervor. Mir scheint daß die Frage der Codificirung des bürgerlichen Rechts
bei diesem Antrage durchaus in zweiter Linie steht, daß aber niemand welcher

*) Der Autrag Meyer (Thorn) lautete vollständig:

"Der Reichstag wolle beschließen:
1) hinter dem §. 338 des Strafgesetzbuches folgenden neuen §. 338 a einzuschalten:
Ein Geistlicher oder Religionsdiener welcher in Ausübung oder in Veranlassung der
Ausübung seines Berufs (eventuell Amtes) öffentlich vor einer Menschen menge oder
durch Verbreitung oder öffentlichen Anschlag oder öffentliche Ausstellung von Schrif-
ten oder andern Darstellungen Staatseinrichtungen (oder Einrichtungen des Reiches
oder eines Bundesstaats) oder Anordnungen der Obrigkeit in einer den öffentlichen
Frieden gefährdenden (oder zu gefährden geeigneten) Weise angreift (oder erörtert),
wird mit Gefängniß bis zu zwei Jahren bestraft; 2) im §. 339, Zeile 1, hinter "Be-
amter" einzuschalten: "Geistlicher oder anderer Religionsdiener."

D. E.

[Spaltenumbruch] und andern Bayern, am 7 Novbr. in der liberalen Reichspartei den Antrag auf
Einbringung einer Novelle zum Strafgeſetzbuch, wodurch der Mißbrauch der Kanzel
zu politiſchen Zwecken bei Strafe unterſagt werden ſollte. Ich muß es dahin ge-
ſtellt ſein laſſen ob dieſem Schritt bereits eine Verſtändigung mit dem Cultus-
miniſter v. Lutz vorangegangen war, und ob es begründet iſt daß dieſer ſich, wie
man erzählte, zwar ebenſo wie ſeine bayeriſchen Collegen im Bundesrath und angeb-
lich auch Fürſt Bismarck, ſehr günſtig über den Vorſchlag ausgeſprochen, zugleich
aber der Erwartung Ausdruck gegeben habe daß die bayeriſchen Abgeordneten ihrer
heimiſchen Regierung für die Unterſtützung desſelben den Gegendienſt leiſten wür-
den gegen den Lasker-Miquel’ſchen Antrag zu ſtimmen. Gewiß iſt nur daß dieſe
ſämmtlich dieſen Antrag unterſchrieben hatten und ſpäter auch dafür ſtimmten, ſo-
wie daß Hr. v. Lutz erſt in einem viel ſpätern Stadium in einer Unterhaltung mit
Hrn. Lasker über beide Anträge die mehrdeutige Aeußerung that: es werde von
dem Gebrauche welchen der Reichstag von ſeiner Competenz mache, abhängen ob
man dieſe Competenz erweitern könne.

Die liberale Reichspartei trat über den Vorſchlag Barths, welchen Fiſcher
(Augsburg) näher formulirte, mit den andern Fractionen und verſchiedenen Mit-
gliedern des Bundesraths durch Vertrauensmänner in Verhandlung. Derſelbe
fand aber bei erſteren nur geringen Anklang. Vor allem gilt dieß von den Conſer-
vativen und von den Freiconſervativen (deutſche Reichspartei). In der national-
liberalen Fraction giengen die Anſichten weit aus einander. Einſtimmig war die-
ſelbe nur in der Ablehnung der von der liberalen Reichspartei mit einer Mehrheit
von 15 gegen 7 Stimmen beſchloſſenen Formulirung der Strafrechtsnovelle. Da-
gegen erklärte ſich ein Theil der Nationalliberalen gegen jede Initiative des Hauſes
in dieſer Angelegenheit. Andere verlangten eine ſchärfere Präciſirung des ſtraf-
baren Thatbeſtandes, und waren zu Gunſten einer von Meyer (Thorn) verſuchten
Redaction eines Zuſatzartikels zum §. 338 des Strafgeſetzbuches*), welcher zugleich
aufregende Hirtenbriefe der Biſchöfe treffen ſollte, aber gerade dadurch über das
nächſte Ziel hinausgieng und offenbar in die Preßgeſetzgebung eingriff. Wieder
andere ſtimmten einem Vorſchlage Laskers bei: durch eine bei Gelegenheit der be-
vorſtehenden Prüfung der (ſpäter caſſirten) Wahl des Geiſtlichen Raths Möller zu
faſſende Reſolution den Reichskanzler aufzufordern „das Strafgeſetzbuch durch
entſprechende Beſtimmungen gegen Ausſchreitungen der Geiſtlichkeit zu ergänzen.“
Es hatte faſt den Anſchein als ob dieſe durch ihre Stimmenzahl einflußreiche Partei
theils nicht geneigt war das Miniſterium durch Vorgehen in dieſer Angelegenheit
indirect zu unterſtützen, theils einzelne Führer derſelben dem beſonders eifrig da-
für eintretenden Abg. Fiſcher (Augsburg) nicht die Ehre gönnten als Antragſteller
zu erſcheinen. Auch die Fortſchrittspartei lehnte in einer, allerdings nur ſchwach
beſuchten, Verſammlung den Antrag Fiſcher ab, erklärte ſich aber mit 9 gegen 7
Stimmen bereit für ein Verbot jeder Erörterung politiſcher Fragen in der Kirche
zu ſtimmen. Ein nochmaliger Verſuch ſich unter den liberalen Parteien über eine
andere Faſſung zu einigen ſcheiterte. Man mußte auf jede Initiative des Hauſes
in dieſer Angelegenheit verzichten. Sobald dieß dem Miniſter v. Lutz am 13 Nov.
mitgetheilt wurde, erbat derſelbe ſich die Autoriſation ſeines königlichen Herrn: im
Namen der bayeriſchen Regierung den Erlaß eines ſolchen Ergänzungsgeſetzes zum
Strafgeſetzbuch im Bundesrathe zu beantragen. Am 16 Nov. erhielt er dieſelbe,
und dadurch gelangte die Sache auf den correcten Weg, indem die Verantwortlich-
keit für die Maßregel dahin verlegt wurde wohin ſie in einer ſo wichtigen Ange-
legenheit unzweifelhaft gehört: in die Regierung. Am 19 Nov. einigte ſich der
Bundesrath über die entſprechende Vorlage. Nur Sachſen und Mecklenburg er-
klärten ſich dagegen, Heſſen enthielt ſich der Abſtimmung. Am 20 Nov. kam der
„Entwurf eines Geſetzes betreffend die Ergänzung des Strafgeſetzbuches für das
Deutſche Reich“ zur Vertheilung. Am 23 fand die erſte Berathung ſtatt, welche
Windthorſt (Meppen) vergebens hinauszuſchieben verſucht hatte. Die Centrums-
partei, obgleich begreiflicherweiſe von den übrigen Fractionen nicht conſultirt, war
übrigens ſchon länger auf die Sache vorbereitet, da Fürſt Bismarck ſchon vor Ein-
bringung des Geſetzentwurfs eine eingehende Beſprechung darüber mit dem hoch-
würdigen Abgeordneten von Tauberbiſchofsheim, v. Ketteler, im Parlamentsge-
bäude gehabt hatte.

Der Abgeordnete für Meppen ſoll die Zurückhaltung welche ſeine Partei
bis dahin während der ganzen Sitzungsperiode bewieſen hatte, geſprächsweiſe
damit erklärt haben: daß ſie von allen Seiten Schläge erwarte und eine „geprügelte“
Partei ihren Einfluß auf das Volk verliere. Jetzt trat dieſelbe mit großer Ent-
ſchloſſenheit und vollſtändigſter Einmüthigkeit gegen das Geſetz auf, nachdem die
in ihrer Mitte einen Augenblick zur Frage gekommene Taktik, den Reichstag durch
maſſenhafte Entfernung beſchlußunfähig zu machen, als unausführbar und als nicht
würdig raſch wieder aufgegeben worden war. Außer an den Polen, die bei dieſer
Gelegenheit zum erſtenmal in einer Sitzung erſchienen, fand die Centrumspartei
auch an zwei Proteſtanten aus den extremen Parteien, dem conſervativen Frhrn.
v. Maltzahn-Gülz (der eine recht gute maiden speech hielt) und Eugen Richter
von der Fortſchrittspartei unerwartet Unterſtützung. Sie ſelbſt führte ihre beſten
Redner, Peter Reichenſperger (Olpe), Frhrn. v. Ketteler (Tauberbiſchofsheim),
Windthorſt (Meppen), v. Aretin, v. Mallinckrodt und Dr. Moufang, ins Feuer,
während unter den nicht minder zahlreichen Fürſprechern des Geſetzes vor allen
v. Treitſchke, Fiſcher (Augsburg), Dr. Löwe, Dr. Völk und Dr. Gneiſt hervor-
ragten. Wenn ich die Geduld der Leſer nicht ſchon zu lange in Anſpruch genommen
hätte, ſo würde ich der Verſuchung auf einzelne dieſer Reden näher einzugehen
ſchwerlich widerſtehen, denn die Debatte war unbedingt die intereſſanteſte und
bedeutendſte welche überhaupt während der letzten Reichstagsſeſſion ſtattgefunden
[Spaltenumbruch] hat, und ſie verdient vollſtändig in den ſtenographiſchen Berichten nachgeleſen zu
werden. Ein völlig treues Bild der herrſchenden Erregtheit geben allerdings auch
dieſe nicht; wenigſtens vermißte ich darin u. a. die Erwähnung des homeriſchen
Gelächters mit welchem der Frhr. v. Ketteler begrüßt wurde, als er beim Betreten
der Tribüne eine unwillkürliche Handbewegung nach dem Kopf machte, die den
Eindruck hervorzubringen ſchien als ob er ſich etwas verlegen hinter den Ohren
kratze. Mein Nachbar auf der Tribüne machte mich mit dem Bemerken darauf
aufmerkſam wie verletzend ein ſolches Benehmen für einen Mann ſein müſſe der
gewohnt ſei eine andächtige Gemeinde voll Verehrung an ſeinen Lippen hängen zu
ſehen. Ich konnte ihm nur erwiedern: wie es eine alte Erfahrung ſei daß eine
größere parlamentariſche Verſammlung, auch wenn jeder einzelne Theilnehmer ein
vollendeter Gentleman ſei, keinerlei Rückſichten zu nehmen und die Unart eines
Einzelnen immer anſteckend zu wirken pflege.

Von den Vertretern der verbündeten Regierungen ergriffen nur zwei das
Wort. Der bayeriſche Cultusminiſter v. Lutz leitete die Debatte mit einer Rede
ein der man freilich hie und da den ſtaatsmänniſchen Charakter abgeſprochen hat,
die aber durch ihre rückſichtsloſe Schärfe eine politiſche That war, und ebenſo ſehr
von dem Talent wie von dem perſönlichen Muthe des Redners zeugte, der ſeine
Schiffe hinter ſich verbrannte. Seine ſpäteren kurzen Reden bei der zweiten und
dritten Leſung zeichneten ſich durch die würdige Abfertigung der gegen ihn gerichteten
perſönlichen Angriffe und durch ſachliche Klarheit aus. Lebhaften Beifall brachte
ihm ſeine Schlußbemerkung ein: „Viel war die Rede davon daß Bayern unter den
Schutz des Reichs geflüchtet ſei; das Bild, glaube ich, bedarf der Berichtigung;
Bayern hat mit dem Reich einen Vertrag geſchloſſen daß es Geſetze wie das vor-
liegende nicht mehr allein zu erlaſſen verſuchen wolle, Bayern hält ſein Wort!“
Der preußiſche Bevollmächtigte zum Bundesrath, Geh. Rath Dr. Falk, beſchränkte ſich
darauf die Auffaſſung der verbündeten Regierungen über die zu dem Geſetz geſtellten
Amendements kurz darzulegen. Er acceptirte den demnächſt auch von der Verſamm-
lung angenommenen Antrag Kaſtners: neben der Gefängnißſtrafe auch die Feſtungs-
ſtrafe als Strafart in das Geſetz aufzunehmen. Er erklärte ſich mit dem Antrag
desſelben Abgeordneten einverſtanden: ſtatt „in einer Weiſe welche den öffent-
lichen Frieden zu ſtören geeignet erſcheint,“ zu ſagen: „geeignet iſt,“ und bil-
ligte ebenfalls das Amendement Windthorſts, dieſen ganzen Satz durch die Worte
„in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weiſe“ zu erſetzen. Durch die
Annahme des zuerſt zur Abſtimmung kommenden letzten Amendements wurde der
Antrag Kaſtners erledigt. Alle andern — ſämmtlich von Windthorſt geſtellten —
Verbeſſerungsanträge erklärte der Vertreter des Bundesraths für unannehmbar,
und ſie wurden abgelehnt. Der wichtigſte derſelben gieng dahin: den Zuſatz hinzu-
zufügen daß die Unterſuchung und Entſcheidung wegen dieſes Vergehens, in den-
jenigen Staaten in welchen Geſchwornengerichte beſtehen, durch das Schwurgericht
erfolgen ſolle. Wie man auch ſonſt über die Sache denken mag, konnte der Reichs-
tag ſchon deßhalb nicht darauf eingehen, weil eine ſolche Beſtimmung offenbar nicht
in das Strafgeſetzbuch, ſondern in die künftige Strafproceßordnung gehört. Die
bayeriſchen Kammern haben dennoch ſo eben beſchloſſen in das Einführungsgeſetz
zum Strafgeſetzbuch eine entſprechende Vorſchrift aufzunehmen, und die königl.
bayeriſche Regierung hat, zum Befremden vieler, ihre Zuſtimmung dazu erklärt.
Die Gegner des Geſetzes reiben ſich vergnügt die Hände. Das badiſche Einfüh-
rungsgeſetz enthält keine ſolche Beſtimmung, und die großherzogl. Regierung hat
den urſprünglich vorgeſchlagenen §. 9 dieſes Geſetzes, welcher den §. 130a des
Strafgeſetzbuchs dahin noch weiter vervollſtändigen ſollte: daß Geiſtliche welche
Erlaſſe der Obrigkeit tadeln, mit einer Geldbuße von 50 bis 500 fl. zu belegen
ſeien, nachträglich wieder ſtillſchweigend zurückgezogen.

Das durch die erwähnten beiden Amendements weſentlich verbeſſerte Ergän-
zungsgeſetz zum Deutſchen Strafgeſetzbuch wurde bei der zweiten Leſung in nament-
licher Abſtimmung mit 179 gegen 108 Stimmen, bei der Schlußberathung mit
einer anſcheinend noch etwas größeren Mehrheit angenommen. Einzelne Abge-
ordnete machten allerdings kein Hehl daraus daß ſie nur deßhalb dafür geſtimmt
hatten weil die Verwerfung des Geſetzes, nachdem es einmal von der Bundes-
regierung eingebracht worden, ein Sieg für die ultramontane Partei geweſen ſein
würde, welcher dieſe noch übermüthiger gemacht hätte, und ſchwer wieder gut zu
machen geweſen wäre. Manche andere folgten dem franzöſiſchen Sprichwort:
„dans le doute abstienne toi,“ und entfernten ſich vor der Abſtimmung. Von
allen Fractionen ſtimmte nur die liberale Reichspartei geſchloſſen für das Geſetz,
und das Centrum nebſt den Polen ebenſo geſchloſſen dagegen. In den anderen
Parteien giengen die Stimmen in einer Weiſe auseinander wie es ſelten vorge-
kommen iſt.

Man muß wünſchen daß der neue §. 130 a ſeinen Zweck erreicht, obgleich er
unläugbar den Mangel hat daß er im Grunde nur den niedern Klerus, nicht deſſen
Obere trifft, von welchen dieſer ſeine Inſtructionen erhält. Mir will es ſcheinen
als ob die niedern Geiſtlichen durch das neue Geſetz in eine Lage verſetzt werden
welche derjenigen ähnlich iſt in der ſich die Officiere der preußiſchen Duell-Ge-
ſetzgebung gegenüber befinden. Schlägt ein Officier eine Herausforderung aus, ſo
muß er ſeinen Abſchied nehmen; nimmt er ſie an, ſo verwirkt er Feſtungsſtrafe.
Der Dorfpfarrer hat künftig zwiſchen dem Gehorſam gegen ſeine Obern und dem
Gehorſam gegen das neue Geſetz zu wählen, und in beiden Fällen die nicht leichten
Folgen ſeines Ungehorſams zu tragen.

Der Antrag Lasker-Miquel wegen Ausdehnung der Competenz des Reichs
auf die Geſetzgebung über das geſaminte bürgerliche Recht — auf deſſen Zuſam-
menhang mit der Strafrechts-Novelle ich bereits oben aufmerkſam gemacht habe —
war inzwiſchen ſchon ungefähr 14 Tage früher mit dervon vornherein geſicherten großen
Mehrheit angenommen worden. In der dem Beſchluſſe vorausgegangenen recht leb-
haften Debatte feſſelten unter den Rednern für den Antrag hauptſächlich die beiden An-
tragſteller Dr. Schwarze, welcher ſeine Anſicht ſeit 1869 aus praktiſchen Gründen
geändert hatte, und v. Stauffenberg, die allgemeine Aufmerkſamkeit. Unter den
Gegnern thaten ſich vor allen v. Helldorf, an welchem die conſervative Partei über-
haupt eine recht tüchtige Kraft gewonnen zu haben ſcheint, und Windthorſt (Mep-
pen) hervor. Mir ſcheint daß die Frage der Codificirung des bürgerlichen Rechts
bei dieſem Antrage durchaus in zweiter Linie ſteht, daß aber niemand welcher

*) Der Autrag Meyer (Thorn) lautete vollſtändig:

„Der Reichstag wolle beſchließen:
1) hinter dem §. 338 des Strafgeſetzbuches folgenden neuen §. 338 a einzuſchalten:
Ein Geiſtlicher oder Religionsdiener welcher in Ausübung oder in Veranlaſſung der
Ausübung ſeines Berufs (eventuell Amtes) öffentlich vor einer Menſchen menge oder
durch Verbreitung oder öffentlichen Anſchlag oder öffentliche Ausſtellung von Schrif-
ten oder andern Darſtellungen Staatseinrichtungen (oder Einrichtungen des Reiches
oder eines Bundesſtaats) oder Anordnungen der Obrigkeit in einer den öffentlichen
Frieden gefährdenden (oder zu gefährden geeigneten) Weiſe angreift (oder erörtert),
wird mit Gefängniß bis zu zwei Jahren beſtraft; 2) im §. 339, Zeile 1, hinter „Be-
amter“ einzuſchalten: „Geiſtlicher oder anderer Religionsdiener.“

D. E.
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v. Maltzahn-Gülz (der eine recht gute <hi rendition="#aq">maiden speech</hi> hielt) und Eugen Richter<lb/>
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Redner, Peter Reichen&#x017F;perger (Olpe), Frhrn. v. Ketteler (Tauberbi&#x017F;chofsheim),<lb/>
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[26/0002] und andern Bayern, am 7 Novbr. in der liberalen Reichspartei den Antrag auf Einbringung einer Novelle zum Strafgeſetzbuch, wodurch der Mißbrauch der Kanzel zu politiſchen Zwecken bei Strafe unterſagt werden ſollte. Ich muß es dahin ge- ſtellt ſein laſſen ob dieſem Schritt bereits eine Verſtändigung mit dem Cultus- miniſter v. Lutz vorangegangen war, und ob es begründet iſt daß dieſer ſich, wie man erzählte, zwar ebenſo wie ſeine bayeriſchen Collegen im Bundesrath und angeb- lich auch Fürſt Bismarck, ſehr günſtig über den Vorſchlag ausgeſprochen, zugleich aber der Erwartung Ausdruck gegeben habe daß die bayeriſchen Abgeordneten ihrer heimiſchen Regierung für die Unterſtützung desſelben den Gegendienſt leiſten wür- den gegen den Lasker-Miquel’ſchen Antrag zu ſtimmen. Gewiß iſt nur daß dieſe ſämmtlich dieſen Antrag unterſchrieben hatten und ſpäter auch dafür ſtimmten, ſo- wie daß Hr. v. Lutz erſt in einem viel ſpätern Stadium in einer Unterhaltung mit Hrn. Lasker über beide Anträge die mehrdeutige Aeußerung that: es werde von dem Gebrauche welchen der Reichstag von ſeiner Competenz mache, abhängen ob man dieſe Competenz erweitern könne. Die liberale Reichspartei trat über den Vorſchlag Barths, welchen Fiſcher (Augsburg) näher formulirte, mit den andern Fractionen und verſchiedenen Mit- gliedern des Bundesraths durch Vertrauensmänner in Verhandlung. Derſelbe fand aber bei erſteren nur geringen Anklang. Vor allem gilt dieß von den Conſer- vativen und von den Freiconſervativen (deutſche Reichspartei). In der national- liberalen Fraction giengen die Anſichten weit aus einander. Einſtimmig war die- ſelbe nur in der Ablehnung der von der liberalen Reichspartei mit einer Mehrheit von 15 gegen 7 Stimmen beſchloſſenen Formulirung der Strafrechtsnovelle. Da- gegen erklärte ſich ein Theil der Nationalliberalen gegen jede Initiative des Hauſes in dieſer Angelegenheit. Andere verlangten eine ſchärfere Präciſirung des ſtraf- baren Thatbeſtandes, und waren zu Gunſten einer von Meyer (Thorn) verſuchten Redaction eines Zuſatzartikels zum §. 338 des Strafgeſetzbuches *), welcher zugleich aufregende Hirtenbriefe der Biſchöfe treffen ſollte, aber gerade dadurch über das nächſte Ziel hinausgieng und offenbar in die Preßgeſetzgebung eingriff. Wieder andere ſtimmten einem Vorſchlage Laskers bei: durch eine bei Gelegenheit der be- vorſtehenden Prüfung der (ſpäter caſſirten) Wahl des Geiſtlichen Raths Möller zu faſſende Reſolution den Reichskanzler aufzufordern „das Strafgeſetzbuch durch entſprechende Beſtimmungen gegen Ausſchreitungen der Geiſtlichkeit zu ergänzen.“ Es hatte faſt den Anſchein als ob dieſe durch ihre Stimmenzahl einflußreiche Partei theils nicht geneigt war das Miniſterium durch Vorgehen in dieſer Angelegenheit indirect zu unterſtützen, theils einzelne Führer derſelben dem beſonders eifrig da- für eintretenden Abg. Fiſcher (Augsburg) nicht die Ehre gönnten als Antragſteller zu erſcheinen. Auch die Fortſchrittspartei lehnte in einer, allerdings nur ſchwach beſuchten, Verſammlung den Antrag Fiſcher ab, erklärte ſich aber mit 9 gegen 7 Stimmen bereit für ein Verbot jeder Erörterung politiſcher Fragen in der Kirche zu ſtimmen. Ein nochmaliger Verſuch ſich unter den liberalen Parteien über eine andere Faſſung zu einigen ſcheiterte. Man mußte auf jede Initiative des Hauſes in dieſer Angelegenheit verzichten. Sobald dieß dem Miniſter v. Lutz am 13 Nov. mitgetheilt wurde, erbat derſelbe ſich die Autoriſation ſeines königlichen Herrn: im Namen der bayeriſchen Regierung den Erlaß eines ſolchen Ergänzungsgeſetzes zum Strafgeſetzbuch im Bundesrathe zu beantragen. Am 16 Nov. erhielt er dieſelbe, und dadurch gelangte die Sache auf den correcten Weg, indem die Verantwortlich- keit für die Maßregel dahin verlegt wurde wohin ſie in einer ſo wichtigen Ange- legenheit unzweifelhaft gehört: in die Regierung. Am 19 Nov. einigte ſich der Bundesrath über die entſprechende Vorlage. Nur Sachſen und Mecklenburg er- klärten ſich dagegen, Heſſen enthielt ſich der Abſtimmung. Am 20 Nov. kam der „Entwurf eines Geſetzes betreffend die Ergänzung des Strafgeſetzbuches für das Deutſche Reich“ zur Vertheilung. Am 23 fand die erſte Berathung ſtatt, welche Windthorſt (Meppen) vergebens hinauszuſchieben verſucht hatte. Die Centrums- partei, obgleich begreiflicherweiſe von den übrigen Fractionen nicht conſultirt, war übrigens ſchon länger auf die Sache vorbereitet, da Fürſt Bismarck ſchon vor Ein- bringung des Geſetzentwurfs eine eingehende Beſprechung darüber mit dem hoch- würdigen Abgeordneten von Tauberbiſchofsheim, v. Ketteler, im Parlamentsge- bäude gehabt hatte. Der Abgeordnete für Meppen ſoll die Zurückhaltung welche ſeine Partei bis dahin während der ganzen Sitzungsperiode bewieſen hatte, geſprächsweiſe damit erklärt haben: daß ſie von allen Seiten Schläge erwarte und eine „geprügelte“ Partei ihren Einfluß auf das Volk verliere. Jetzt trat dieſelbe mit großer Ent- ſchloſſenheit und vollſtändigſter Einmüthigkeit gegen das Geſetz auf, nachdem die in ihrer Mitte einen Augenblick zur Frage gekommene Taktik, den Reichstag durch maſſenhafte Entfernung beſchlußunfähig zu machen, als unausführbar und als nicht würdig raſch wieder aufgegeben worden war. Außer an den Polen, die bei dieſer Gelegenheit zum erſtenmal in einer Sitzung erſchienen, fand die Centrumspartei auch an zwei Proteſtanten aus den extremen Parteien, dem conſervativen Frhrn. v. Maltzahn-Gülz (der eine recht gute maiden speech hielt) und Eugen Richter von der Fortſchrittspartei unerwartet Unterſtützung. Sie ſelbſt führte ihre beſten Redner, Peter Reichenſperger (Olpe), Frhrn. v. Ketteler (Tauberbiſchofsheim), Windthorſt (Meppen), v. Aretin, v. Mallinckrodt und Dr. Moufang, ins Feuer, während unter den nicht minder zahlreichen Fürſprechern des Geſetzes vor allen v. Treitſchke, Fiſcher (Augsburg), Dr. Löwe, Dr. Völk und Dr. Gneiſt hervor- ragten. Wenn ich die Geduld der Leſer nicht ſchon zu lange in Anſpruch genommen hätte, ſo würde ich der Verſuchung auf einzelne dieſer Reden näher einzugehen ſchwerlich widerſtehen, denn die Debatte war unbedingt die intereſſanteſte und bedeutendſte welche überhaupt während der letzten Reichstagsſeſſion ſtattgefunden hat, und ſie verdient vollſtändig in den ſtenographiſchen Berichten nachgeleſen zu werden. Ein völlig treues Bild der herrſchenden Erregtheit geben allerdings auch dieſe nicht; wenigſtens vermißte ich darin u. a. die Erwähnung des homeriſchen Gelächters mit welchem der Frhr. v. Ketteler begrüßt wurde, als er beim Betreten der Tribüne eine unwillkürliche Handbewegung nach dem Kopf machte, die den Eindruck hervorzubringen ſchien als ob er ſich etwas verlegen hinter den Ohren kratze. Mein Nachbar auf der Tribüne machte mich mit dem Bemerken darauf aufmerkſam wie verletzend ein ſolches Benehmen für einen Mann ſein müſſe der gewohnt ſei eine andächtige Gemeinde voll Verehrung an ſeinen Lippen hängen zu ſehen. Ich konnte ihm nur erwiedern: wie es eine alte Erfahrung ſei daß eine größere parlamentariſche Verſammlung, auch wenn jeder einzelne Theilnehmer ein vollendeter Gentleman ſei, keinerlei Rückſichten zu nehmen und die Unart eines Einzelnen immer anſteckend zu wirken pflege. Von den Vertretern der verbündeten Regierungen ergriffen nur zwei das Wort. Der bayeriſche Cultusminiſter v. Lutz leitete die Debatte mit einer Rede ein der man freilich hie und da den ſtaatsmänniſchen Charakter abgeſprochen hat, die aber durch ihre rückſichtsloſe Schärfe eine politiſche That war, und ebenſo ſehr von dem Talent wie von dem perſönlichen Muthe des Redners zeugte, der ſeine Schiffe hinter ſich verbrannte. Seine ſpäteren kurzen Reden bei der zweiten und dritten Leſung zeichneten ſich durch die würdige Abfertigung der gegen ihn gerichteten perſönlichen Angriffe und durch ſachliche Klarheit aus. Lebhaften Beifall brachte ihm ſeine Schlußbemerkung ein: „Viel war die Rede davon daß Bayern unter den Schutz des Reichs geflüchtet ſei; das Bild, glaube ich, bedarf der Berichtigung; Bayern hat mit dem Reich einen Vertrag geſchloſſen daß es Geſetze wie das vor- liegende nicht mehr allein zu erlaſſen verſuchen wolle, Bayern hält ſein Wort!“ Der preußiſche Bevollmächtigte zum Bundesrath, Geh. Rath Dr. Falk, beſchränkte ſich darauf die Auffaſſung der verbündeten Regierungen über die zu dem Geſetz geſtellten Amendements kurz darzulegen. Er acceptirte den demnächſt auch von der Verſamm- lung angenommenen Antrag Kaſtners: neben der Gefängnißſtrafe auch die Feſtungs- ſtrafe als Strafart in das Geſetz aufzunehmen. Er erklärte ſich mit dem Antrag desſelben Abgeordneten einverſtanden: ſtatt „in einer Weiſe welche den öffent- lichen Frieden zu ſtören geeignet erſcheint,“ zu ſagen: „geeignet iſt,“ und bil- ligte ebenfalls das Amendement Windthorſts, dieſen ganzen Satz durch die Worte „in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weiſe“ zu erſetzen. Durch die Annahme des zuerſt zur Abſtimmung kommenden letzten Amendements wurde der Antrag Kaſtners erledigt. Alle andern — ſämmtlich von Windthorſt geſtellten — Verbeſſerungsanträge erklärte der Vertreter des Bundesraths für unannehmbar, und ſie wurden abgelehnt. Der wichtigſte derſelben gieng dahin: den Zuſatz hinzu- zufügen daß die Unterſuchung und Entſcheidung wegen dieſes Vergehens, in den- jenigen Staaten in welchen Geſchwornengerichte beſtehen, durch das Schwurgericht erfolgen ſolle. Wie man auch ſonſt über die Sache denken mag, konnte der Reichs- tag ſchon deßhalb nicht darauf eingehen, weil eine ſolche Beſtimmung offenbar nicht in das Strafgeſetzbuch, ſondern in die künftige Strafproceßordnung gehört. Die bayeriſchen Kammern haben dennoch ſo eben beſchloſſen in das Einführungsgeſetz zum Strafgeſetzbuch eine entſprechende Vorſchrift aufzunehmen, und die königl. bayeriſche Regierung hat, zum Befremden vieler, ihre Zuſtimmung dazu erklärt. Die Gegner des Geſetzes reiben ſich vergnügt die Hände. Das badiſche Einfüh- rungsgeſetz enthält keine ſolche Beſtimmung, und die großherzogl. Regierung hat den urſprünglich vorgeſchlagenen §. 9 dieſes Geſetzes, welcher den §. 130a des Strafgeſetzbuchs dahin noch weiter vervollſtändigen ſollte: daß Geiſtliche welche Erlaſſe der Obrigkeit tadeln, mit einer Geldbuße von 50 bis 500 fl. zu belegen ſeien, nachträglich wieder ſtillſchweigend zurückgezogen. Das durch die erwähnten beiden Amendements weſentlich verbeſſerte Ergän- zungsgeſetz zum Deutſchen Strafgeſetzbuch wurde bei der zweiten Leſung in nament- licher Abſtimmung mit 179 gegen 108 Stimmen, bei der Schlußberathung mit einer anſcheinend noch etwas größeren Mehrheit angenommen. Einzelne Abge- ordnete machten allerdings kein Hehl daraus daß ſie nur deßhalb dafür geſtimmt hatten weil die Verwerfung des Geſetzes, nachdem es einmal von der Bundes- regierung eingebracht worden, ein Sieg für die ultramontane Partei geweſen ſein würde, welcher dieſe noch übermüthiger gemacht hätte, und ſchwer wieder gut zu machen geweſen wäre. Manche andere folgten dem franzöſiſchen Sprichwort: „dans le doute abstienne toi,“ und entfernten ſich vor der Abſtimmung. Von allen Fractionen ſtimmte nur die liberale Reichspartei geſchloſſen für das Geſetz, und das Centrum nebſt den Polen ebenſo geſchloſſen dagegen. In den anderen Parteien giengen die Stimmen in einer Weiſe auseinander wie es ſelten vorge- kommen iſt. Man muß wünſchen daß der neue §. 130 a ſeinen Zweck erreicht, obgleich er unläugbar den Mangel hat daß er im Grunde nur den niedern Klerus, nicht deſſen Obere trifft, von welchen dieſer ſeine Inſtructionen erhält. Mir will es ſcheinen als ob die niedern Geiſtlichen durch das neue Geſetz in eine Lage verſetzt werden welche derjenigen ähnlich iſt in der ſich die Officiere der preußiſchen Duell-Ge- ſetzgebung gegenüber befinden. Schlägt ein Officier eine Herausforderung aus, ſo muß er ſeinen Abſchied nehmen; nimmt er ſie an, ſo verwirkt er Feſtungsſtrafe. Der Dorfpfarrer hat künftig zwiſchen dem Gehorſam gegen ſeine Obern und dem Gehorſam gegen das neue Geſetz zu wählen, und in beiden Fällen die nicht leichten Folgen ſeines Ungehorſams zu tragen. Der Antrag Lasker-Miquel wegen Ausdehnung der Competenz des Reichs auf die Geſetzgebung über das geſaminte bürgerliche Recht — auf deſſen Zuſam- menhang mit der Strafrechts-Novelle ich bereits oben aufmerkſam gemacht habe — war inzwiſchen ſchon ungefähr 14 Tage früher mit dervon vornherein geſicherten großen Mehrheit angenommen worden. In der dem Beſchluſſe vorausgegangenen recht leb- haften Debatte feſſelten unter den Rednern für den Antrag hauptſächlich die beiden An- tragſteller Dr. Schwarze, welcher ſeine Anſicht ſeit 1869 aus praktiſchen Gründen geändert hatte, und v. Stauffenberg, die allgemeine Aufmerkſamkeit. Unter den Gegnern thaten ſich vor allen v. Helldorf, an welchem die conſervative Partei über- haupt eine recht tüchtige Kraft gewonnen zu haben ſcheint, und Windthorſt (Mep- pen) hervor. Mir ſcheint daß die Frage der Codificirung des bürgerlichen Rechts bei dieſem Antrage durchaus in zweiter Linie ſteht, daß aber niemand welcher *) Der Autrag Meyer (Thorn) lautete vollſtändig: „Der Reichstag wolle beſchließen: 1) hinter dem §. 338 des Strafgeſetzbuches folgenden neuen §. 338 a einzuſchalten: Ein Geiſtlicher oder Religionsdiener welcher in Ausübung oder in Veranlaſſung der Ausübung ſeines Berufs (eventuell Amtes) öffentlich vor einer Menſchen menge oder durch Verbreitung oder öffentlichen Anſchlag oder öffentliche Ausſtellung von Schrif- ten oder andern Darſtellungen Staatseinrichtungen (oder Einrichtungen des Reiches oder eines Bundesſtaats) oder Anordnungen der Obrigkeit in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden (oder zu gefährden geeigneten) Weiſe angreift (oder erörtert), wird mit Gefängniß bis zu zwei Jahren beſtraft; 2) im §. 339, Zeile 1, hinter „Be- amter“ einzuſchalten: „Geiſtlicher oder anderer Religionsdiener.“ D. E.

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 3, 3. Januar 1872, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine03_1872/2>, abgerufen am 23.11.2024.