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Allgemeine Zeitung, Nr. 9, 10. Januar 1924.

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Allgemeine Zeitung. Nr. 9 Donnerstag, den 10. Januar 1924.
[Spaltenumbruch]

fassungswidrig ist. Die Verfassung
Thüringens sieht vor, daß die ehemaligen
selbständigen Gebiete in der Regierung ver-
treten sind. Sie sind es heute nicht, und
jede Ergänzungsmöglichkeit des Kabinetts
auf verfassungsmäßigem Wege ist durch die
Sozialdemokraten verhindert.

Daß endlich die Finanzwirtschaft
der gegenwärtigen Regierung nicht mehr
ertragen werden kann, muß auch noch her-
vorgehoben werden; man muß endlich zu
Verhältnissen kommen, über die der Finanz-
minister nicht, wie er zugegeben hat, die
Uebersicht völlig verloren hat. Gewiß kann
man sagen, daß die Ruhe in Thüringen
zurzeit nicht gestört ist. Es liegt das ledig-
lich an der Anwesenheit der Reichswehr.
Die subversiven Elemente, deren schamlose
Tätigkeit durch das Eingreifen der Reichs-
wehr klargestellt ist (Thüringen stand
vor dem Bürgerkrieg. Wer das
Gegenteil behauptet, hat keine
Ahnung von den Verhältnissen
oder lügt
), sind weiter an der Arbeit,
und es ist nicht zu leugnen, daß einzelne
der amtierenden Minister mit ihrem An-
hang mit diesen Elementen in so enger
Verbindung stehen, daß sie sie, wenn auch
unbewußt, fördern.

Zu den vielen unwahren Behauptungen,
die in den Verlautbarungen der Thüringi-
schen Regierung erhoben worden sind, ge-
hört namentl die, daß die Politik der
nichtsozialistischen Parteien sich gegen
die Arbeiterschaft
richte. Das ist
unwahr
. Die Frage der
Arbeiterfreundlichkeit
oder Arbeiterfeindlichkeit spielt in dem
ganzen Wahlkampf überhaupt keine Rolle,
und es mag ausdrücklich betont werden, daß
keine der nichtsozialistischen Parteien
irgendwie daran denkt, eine gegen die
Arbeiter gerichtete Politik zu betreiben.
Und sollte von irgend einer Seite nach den
Wahlen ein derartiger Versuch gemacht
werden, so kann man überzeugt sein, daß
an ihm die Einheit der nichtsozialistischen
Parteien sofort scheitern würde. Nichts
berechtigt zu der Annahme, daß
derartige Versuche gemacht wer-
den
. Die Thüringischen Verhältnisse sind
so klar, daß die politischen Probleme auch
durch Parteidemagogen nicht verdunkelt
werden können. Es handelt sich nicht um
wirtschaftliche Fragen, es handelt sich ledig-
lich um die politische Frage, ob Thüringen
weiterhin eine einseitige Parteidiktatur er-
tragen soll oder ob es wieder das wird, was
es früher war, ein freier Staat, als
welcher es überhaupt allein existieren kann.
Denn darüber mag man sich nicht täuschen:
sollte die Wahlschlacht für die nichtsozialisti-
schen Parteien verloren gehen -- was
übrigens nicht im entferntesten anzunehmen
ist -- so ist die Frage der Existenz Thürin-
gens aufgerollt, da die nicht sozialisti-
sche Bevölkerung unter keinen
Umständen gesonnen ist, die ein-
seitige Parteityrannis der So-
zialdemokraten länger zu er-
tragen

Die Verbrechen der Besatzungstruppen.

In einer Nach-
tragsdenkschrift der Reichsregierung an
den Reichstag wurden neuerdings zahl-
reiche, im Jahre 1923 begangene Ver-
brechen der Besatzungstruppen

amtlich festgelegt. Darunter 1. 13 Morde,
davon 8 durch farbige Franzosen; 2. 38 Not-
zuchtsverbrechen, davon 28 durch farbige
Franzosen; 3. 23 Verbrechen farbiger Fran-
zosen an deutschen Knaben; 4. 11 Verbre-
chen des Straßenraubes, davon 7 von far-
bigen Franzosen ausgeführt; 11 Fälle
furchtbarer Mißhandlungen, schuldig in
zwei Fällen farbige Franzosen.

Die Denkschrift bezieht sich nur auf das
altbesetzte Gebiet. Für das Ruhrgebiet
wird eine besondere Denkschrift veröffent-
licht werden

Der französische Finanzminister über den
Frankensturz.

Bei einem Presseemp-
fang führte der Finanzminister aus, daß
weder in der äußeren, noch in der inneren
Politik ein Grund für die Baisse des Fran-
ken zu entdecken sei. Ausländische Speku-
lanten könnten ihren Frankenbesitz sehr
leicht als eine Waffe zur Bekämpfung der
französischen Politik einsetzen. Die Deut-
schen seien Meister in dieser Kunst. (!) Sie
versuchten, durch Finanzoperationen auf die
Außenpolitik Frankreichs einzuwirken, um
dadurch Poincare zu einem Verzicht auf die
Ruhraktion zu zwingen. Die Maßnahmen,
die der Minister beschlossen hat, bestehen in
der Verhinderung großer Verkäufe ins Aus-
land und der genauen Kontrolle der Börsen-
berichte, der Säuberung der Börse von
zweifelhaften Elementen und einer genauen
Ueberwachung der telephonischen Verbin-
dungen mit dem Ausland. Im Innern emp-
fiehlt der Finanzminister Sparsamkeit. Er
werde der Kammer in dieser Richtung noch
Vorschläge machen.

Wie man weiter hört, wird Finanzmini-
ster de Lasteyrie dem Parlament einen Ent-
wurf zur Verminderung der öf-
fentlichen Ausgaben
und zur Ab-
schaffung des Streichholzmonopols zugehen
lassen.

Von der Verwirklichung dieser Maßnah-
men und deren Einwirkung auf den Stand
der französischen Währung verspricht sich
der Finanzminister jedoch keinen sofortigen
Erfolg.

Die strategische Bedeutung der
Tschechoslowakei

In der "Slov. Poli-
tika" bespricht Generalstabschef General
Mittelhauser die strategische Bedeu-
tung der Slowakei
. Für den takti-
sche Körper der Kleinen Entente habe
die Slowakei als Weg nach Rumänien und
zur Donau, der Hauptverkehrsader der
Kleinen Entente große Wichtigkeit. Außer-
dem entspreche die Lage des Landes den
Forderungen des Luftverkehrs mit Rumä-
nien und Jugoslavien

Die schleunige Errichtung einer Eisen-
bahnverkehrslinie aus Mähren über die
Slowakei an die rumänische Grenze, die
Erweiterung von Flußhäfen von Preßburg
und Komorn, der Bau eines Flugplatzes der
Kleinen Entente nördlich von Preßburg;
dies seien die drei wichtigsten Programm-
punkte der nächsten Zukunft. Die trans-
kontinentale Luftverkehrsader werde von
Prag nach Wien führen und Preßburg bei-
seite lassen. Aber für den Luftverkehr der
Kleinen Entente sei Preßburg ein un-
erläßlicher Knotenpunkt. Der zu errich-
tende Lufthafen von Preßburg müsse dem
Luftverkehr nach Prag, an die Adria, nach
Belgrad und Bukarest gerecht werden.

Die thüringische Frage.

Das Reichskabinett
hat in der thüringischen Frage eine
Reihe von Beschlüssen gefaßt, die den Ver-
tretern der thüringischen Staatsregierung
mitgeteilt worden sind. Es besteht die Hoff-
nung, daß die thüringische Frage rei-
bungslos erledigt
wird.

Reichstagskandidat Ludendorff.

Die Frage einer Reichstags-
kandidatur des Generals Ludendorff ist noch
nicht völlig geklärt. Es haben in dieesr Frage
wiederholt Besprechungen zwischen leitenden völ-
kischen Persönlichkeiten nicht nur Bayerns, son-
dern auch Norddeutschlands mit Ludendorff statt-
gefunden, in deren Verlauf sich jedoch der General
noch nicht zur Uebernahme der Reichstagskandida-
tur entschließen konnte. Aus verschiedenen An-
zeichen läßt sich schließen, daß eine Reichstags-
kandidatur Ludendorffs in völkischen Kreisen eine
nicht ganz einheitliche Aufnahme finden würde.
Vor allen Dingen werden in Norddeutschland ge-
genüber der Absicht des Völkischen Blocks in
Bayern die Bedenken geltend gemacht, daß Luden-
dorff für die völkische Bewegung weniger als
Politiker denn als einstiger Führer des Heeres in
Frage kommen müsse, und daß er deshalb "in
militärischer Reserve" bleiben solle.

Die Tiroler wehren sich.

Der führend am Kapp-Putsch beteiligte Haupt-
mann Pabst ist seinerzeit vor dem gegen ihn
erlassenen Steckbrief nach Tirol geflüchtet und ist
seitdem in dem dortigen "Bund der Heimat-
wehren" tätig, einer schwarzgelben Organisation
unter Führung der Christlichsozialen. Im vorigen
Jahr hat Pabst als deutsch-österreichischer Bürger
Tirols in Mieming (im Inntal) das Heimatrecht
auf den Namen Peters-Pabst erworben. Dieser
Tage fand nun in Wörgel eine Versammlung der
Gruppenführer der Tiroler Heimatwehren statt,
die unter Vorsitz eines Feldpaters einstimmig
folgende Entschließung annahm:

1. Wir dulden nicht, daß ein preußisch-prote-
stantischer Offizier ein Kommando über das
katholische Tiroler Volk zu führen sich anmaßt;
2. wir dulden nicht, daß ein preußischer Offizier,
der beim preußisch alldeutschen Kapp-Putsch Ge-
neralstabschef des Putschleiters war, sich in füh-
render Stellung bei einer gänzlich unpolitischen
österreichisch-tirolischen Selbstschutzorganisation be-
findet; 3. wir dulden nicht, daß dieser preußische
Revanchepolitiker in Tirol angeblich nur seinem
Broterwerb nachgeht, in der Tat aber alldeutsch-
preußisch-protestantische Politik treibt und, wie
die Tatsachen beweisen seinen einflußreichen
Posten in der Tiroler Heimatwehr ausnutzt, ge-
gebenenfalls das Tiroler Volk und Land und
Oesterreich ins Unglück zu bringen zugunsten
seines preußischen Vaterlandes; 4. wir dulden
nicht, daß Hauptmann Peters-Pabst als politischer
Flüchtling noch weiter bei der Tiroler Heimat
festgebalten werde und fordern seine sofortige
Entlassung von der Landesleitung

Bayerischer Landtag.
Scharfer Protest der Demokraten.

In der Fortsetzung der allgemeinen Aussprache
zur Landeswahlgesetznovelle am Mittwoch vormit-
tag im Verfassungsausschuß kam als erster
Redner

Abg. Graf Pestalozza (B. Vp.) zu Wort.
Mit der schematischen Abminderung der Mandats-
zahl allein ist es nicht getan; andere Mittel müs-
sen dazu kommen. Doch darf z. B. im Falle der
Diätenneuregelung nicht die Hand dazu geboten
werden, geringer bemittelte Kreise vom Mandat
auszuschließen. Die Heraufsetzung des Wahl-
alters, der bessere Ausgleich zwischen Stadt und
Land müssen einer gründlichen Reform vorbe-
halten bleiben. Das ist erst möglich nach Beseiti-
gung des verstimmenden Paragraphen 92 der Ver-
fassung in einem neuen Landtag.

Abg. Dr. Hilpert (B. Mp.) erörterte tech-
nische Einzelfragen des Landeswahlgesetzes. Die
in der Begründung angedeuteten Reformen, wie
die Heraufsetzung des Wahlalters, sind auch uns
durchaus sympathisch. Mit der Verringerung der
Mandatszahl wird auch die Listenverbindung not-
wendig. Die Verringerung der Zahl der Stimm-
kreisabgeordneten stärkt den Einfluß des Proporz-
systems; man müßte eigentlich auch die Zahl der
Landtagsabgeordneten von 15 auf 10 verringern.

Vorsitzender Abg. Dr. Wohlmuth (B. Vp.)
möchte die Diätenfrage als eine Angelegenheit
nicht der Abgeordneten, sondern der Wähler be-
trachtet wissen. Den Beamtenabgeordneten an den
Diäten zu kürzen, wäre verfehlt. Soll gekürzt
werden, dann ist das im Beamtengesetz zu machen.

Abg. Endres (V. S. P.) wandte sich gegen
die Auffassung, als ob bisher das flache Land
zu kurz gekommen sei. Der Landtag hat im Vor-
jahr im Gegensatz zu anderen Parlamenten mit
den Diäten abgebaut. Die Beseitigung der Diäten
würde zu einer Zusammensetzung des Parlamen-
tes aus ganz bestimmten Kreisen führen und na-
mentlich die Arbeiterklasse in ihrer Vertretung
schwer schädigen. Eine Herabsetzung der Mandats-
zahl ist notwendig; über die Ziffer läßt sich reden.
Die Wertung eines Parlamentes hängt schließlich
doch nicht von der Zahl, sondern von der geleiste-
ten Arbeit ab. Zu hoffen ist, daß ein Abkommen
über die Einzelfragen des Entwurfes zustande
kommt, das allen Parteien die Zustimmung er-
möglicht und eine rasche Auflösung des Landtags
herbeiführt.

Abg. Städele (B. Bbd.) bedauerte, daß die
Reichsverfassung eine Reihe von Aenderungen,
die zum Teil der früheren Regelung entsprechen
würden, unmöglich macht. Der Bauernbund wäre
z. B. für Heraufsetzung des Wahlalters zu haben;
auch das Frauenstimmrecht könnte ruhig wieder
verschwinden. Ob der neue Landtag besser sein
wird als der alte, muß sich erst zeigen.

Abg. Dr. Müller (D. D. P.) hob hervor, daß
die Andeutungen über die Aenderungen der Zu-
kunft doch recht vorsichtig machen müssen. In un-
serem jetzigen Wahlsystem liegt allerdings ein ge-
wisses Lotteriespiel. Ein unzweifelhafter Nach-
teil des Proporzes ist, daß die Verbindung zwi-
schen Wähler und Abgeordneten zerrissen wird,
wenn man sich auch bemüht, die Verbindung durch
die Stimmkreise wieder herzustellen. Die Beseiti-
gung dieses unsicheren Faktors würde das ganze
System beliebter machen.

Die diätenlose Zeit im Reichstag entbehrte
nicht eines starken Idealismus, so schwer die
Opfer zu tragen waren. Im übrigen ist die Diä-
tenfrage von der Hetze gegen den Parlamentaris-
mus beeinflußt. Es sollte einmal öffentlich durch
das Landtagsamt festgestellt werden, wie kläglich
die Diäten sind; das würde wenigstens auf die
Anständigeren Eindruck machen. Die freien Berufe
und erwerbstätigen Kreise dürfen vom Mandat
nicht ausgeschlossen werden.

Ein Hauptmangel des Wahlgesetzes ist, daß das
ganze Wablrecht auf die Einwohner, statt auf die
Wahlberechtigten abgestellt ist. Wir sind mit acht
Wahlkreisen einverstanden; die Herausnahme von
München und Nürnberg -- also zehn Wahlkreise
-- wäre zu erwägen.



[Spaltenumbruch]
Sanskü offen.

Geschichte der Staatsumwälzungen ent-
hält eine Tatsache, die oft übersehen wird. Die
nämlich: daß endgültig geglückte Revolutionen
selten oder von der breiteren Masse des nie-
deren Volkes ohne einen sozusagen höheren Bei-
stand bewirkt wurden. Meist war die breite Masse
sogar nur das grobe Werkzeug des revolutionä-
ren Geistes, der von ganz anderen Regionen her-
wirkte.

Im alten Athen waren es, auch schon vor Pe-
rikles, wiederholt einzelne Aristokraten, die, ihre
eigenen persönlichen Interessen höher stellend als
die ihres Standes und des Staates, mit dem
Plebs gemeinsame Sache machten und die, unter
der Maske der Volksfreundschaft, nichts weniger
als die Herrschaft der Masse erstrebten -- die
überhaupt eine Unmöglichkeit ist -- als vielmehr
ihre höchst eigene Herrschbegierde zu befriedigen
suchten.

Ein anderes Phänomen, dem aber doch der-
selbe Sinn zugrunde liegt, zeigt die große fran-
zösische Revolution, die vielleicht ohne die Mit-
wirkung katilinarischer Aristokraten überhaupt
niemals gelungen wäre. Die hervorragendsten
derselben, ein Mirabeau und ein Herzog Egalite,
sind bekannt genug. Die beiden hatten aber
mehr Gesinnungsgenossen innerhalb ihres Stan-
des, als man gemeinhin ahnt. Die Motive wa-
ren aber, wenigstens zum Teil, andere als im
alten Athen.

Die starke persönliche Herrschsucht und ihre
[Spaltenumbruch] Zwecke spielten wohl auch eine Rolle dabei und
nicht zum wenigsten in den beiden Genannten;
in der Mehrheit dieser Leute war es jedoch etwas
davon Verschiedenes. War es eigentlich das Ge-
genteil davon, nämlich, ich finde kein anderes
Wort, eine gewisse Selbstaufgabe, entsprungen
einerseits aus Uebersättigung und Langeweile,
anderseits aus dem durch unerhörten Lebens-
leichtsinn herbeigeführten wirtschaftlichen Ruin
zum Teil der Allerreichsten unter ihnen. Ich er-
inere mich nur an einen Fall, an den Bankerott
des Fürsten Rohan-Gnemene, durch den der eine
Herzog von Lauzun eine Lebensrente von 80 000
Livres und ungezählte andre ihre ganze Habe
verloren, bei welcher Gelegenheit man die be-
kannte Rohansche Devise travestiert hat in. Roy
ne puys, duc ne daigue -- fripon suys
Der
viel zitierte apres nous le deluge bezeichnet gut
die Stimmung der gedachten Kreise.

Bei dem Worte sansculottes denken bei uns
die meisten an zerlumpte Volkshaufen und ähn-
liches; sein Ursprung ist dennoch ein ganz an-
derer. Auf die er zuerst angewendet wurde, waren
sogar sehr stolze Damen, an deren Toilette sicher-
lich nichts gefehlt hat, wenigstens nichts, was die
eleganteste Mode der Zeit daran vermißt hätte.

Das schöne Geschlecht hat es bekanntlich zu
aller Zeit geliebt, nicht nur in Kleider, sondern
auch in anderen Fragen begeistert hinter den
neuen Moden her zu sein -- mögen dieselben
Theo- und Anthroposophie heißen -- und noch
nie ist ein Prophet aufgetreten, wahrer oder
falscher, der nicht von dem Geschlecht in Unter-
röcken, besonders in seidenen, am lebhaftesten
umschwärmt wurde. Die Jakobiner machten da-
[Spaltenumbruch] von keine Ausnahme, und wenn, wie oben ange-
deutet, namhafte Aristokraten, Katilinarier im
Grund, ihnen vielfach in der Stille anhingen, so
muß man von einigen ihrer Frauen sagen, daß
sie diese Anhängerschaft so geräuschvoll als mög-
lich in Szene gesetzt haben.

Hier soll nur von zweien die Rede sein. Die
eine war die Herzogin Diana von Polignac (üb-
rigens nicht zu verwechseln mit Jolanthe von
Polignac, der Vertrauten und Freundin der
Marie Antoinette), die andere aber war gar eine,
wie man hier in München so schön sagt, Mi-
nistersgattin, nämlich die ebenso durch ihren
Geist wie ihre Schönheit viel beschriene Herzogin
von Coigny, von der Maria Antoinette gesagt
hat: Je suis la reine de Versailles, mais Ma-
dame de Coigny est la reine de Paris.

Diese beiden Damen taten sich vor anderen
ihresgleichen ganz besonders hervor durch ihr
turbulentes Auftreten in den Sitzungen der Na-
tionalversammlung und sie hätten, wenn sie sich
dort eine Gaudi versprachen, lieber die Messe ver-
säumt, als den neumodischen Spektakel; das "la
seance vaut bien unemesse
" hatte bei ihnen also
einen etwas anderen Sinn, als bei Heinrich IV.

Und so war es denn bei einer der nächsten Sit-
zungen nach dem 4. August, der (bürgerliche)
Abbe Maury (später Kardinal) hielt eine seiner
begeisterten legitimistischen Reden, und die beiden
genannten Damen nebst Freundinnen konnten
sich nicht enthalten, dem unmodernen oder un-
modischen Redner ihr Mißfallen zu bezeichnen.
Durch Zwischenrufe, durch Strampeln mit den
Beinen und andere störende Aeußerungen unter-
brachen sie fortgesetzt den treuen Royalisten, der
[Spaltenumbruch] endlich die Geduld verlor und dem Präsidenten
zurief, er möge doch endlich diese Unterröcke zur
Ruhe verweisen: "Monsieurle president", so rief
er, "faites enfin taire ces deux sansculottes!"

Das ist der Ursprung des später so mißver-
standenen Namens

Neuordnung.

Eine Gemäldesammlung, die seit ihrem Bestehen
zu den ersten der Welt zählt, und ein Museum,
das durch bedeutende Schenkungen und Erwer-
bungen erst in der letzten Zeit gewaltigen Auf-
schwung genommen hat, sind neu geordnet wor-
den und bieten nunmehr ihre Schätze übersichtlich
und geklärt, wie es verwöhnte Augen heute for-
dern: die Dresdener Gemäldegalerie
und das Schnütgen-Museum in Köln.

In Dresden wurde in den unteren Sälen
der Galerie Luft gemacht. Bisher hing Bild an
Bild; es war kaum möglich, zum Eindruck des
einzelnen zu gelangen. Nun hat man die ganze
Sammlung gesiebt und die schwächeren Stücke aus-
geschieden. Diese sollen zu einer "Studien-
galerie" vereinigt und gesondert untergebracht
werden. Hierdurch ward Platz in den oberen
Sälen, in denen jetzt die Italiener und die Deut-
schen des 18. Jahrhunderts gehängt sind, die zum
großen Teil die Wände des unteren Stockwerkes
verstopften. Dieses hat nun Luft, die Bilder
konnten locker placiert werden -- über die Hälfte
des bisherigen Bestandes ist hinausgekommen! --,
so daß man endlich in Ruhe sehen und genießen
kann. Im zweiten Stock wird man von den
prachtvollen Canaletti empfangen, nach ihnen
eine Auswahl der Pastelle, auf gelber Wand.
Dann kommen die Italiener und Spanier links,
die Deutschen rechts. Nun wirken sie, die italieni-
schen Meister des Barock und Rokoko -- unter
denen manches Stück, das erst aus den Depots
herausgeholt wurde, besonderer Beachtung wert
ist es, nun wirken auch die Spanier, die Velas-
quez und Ribera, in ihrem roten Saal.

Allgemeine Zeitung. Nr. 9 Donnerstag, den 10. Januar 1924.
[Spaltenumbruch]

faſſungswidrig iſt. Die Verfaſſung
Thüringens ſieht vor, daß die ehemaligen
ſelbſtändigen Gebiete in der Regierung ver-
treten ſind. Sie ſind es heute nicht, und
jede Ergänzungsmöglichkeit des Kabinetts
auf verfaſſungsmäßigem Wege iſt durch die
Sozialdemokraten verhindert.

Daß endlich die Finanzwirtſchaft
der gegenwärtigen Regierung nicht mehr
ertragen werden kann, muß auch noch her-
vorgehoben werden; man muß endlich zu
Verhältniſſen kommen, über die der Finanz-
miniſter nicht, wie er zugegeben hat, die
Ueberſicht völlig verloren hat. Gewiß kann
man ſagen, daß die Ruhe in Thüringen
zurzeit nicht geſtört iſt. Es liegt das ledig-
lich an der Anweſenheit der Reichswehr.
Die ſubverſiven Elemente, deren ſchamloſe
Tätigkeit durch das Eingreifen der Reichs-
wehr klargeſtellt iſt (Thüringen ſtand
vor dem Bürgerkrieg. Wer das
Gegenteil behauptet, hat keine
Ahnung von den Verhältniſſen
oder lügt
), ſind weiter an der Arbeit,
und es iſt nicht zu leugnen, daß einzelne
der amtierenden Miniſter mit ihrem An-
hang mit dieſen Elementen in ſo enger
Verbindung ſtehen, daß ſie ſie, wenn auch
unbewußt, fördern.

Zu den vielen unwahren Behauptungen,
die in den Verlautbarungen der Thüringi-
ſchen Regierung erhoben worden ſind, ge-
hört namentl die, daß die Politik der
nichtſozialiſtiſchen Parteien ſich gegen
die Arbeiterſchaft
richte. Das iſt
unwahr
. Die Frage der
Arbeiterfreundlichkeit
oder Arbeiterfeindlichkeit ſpielt in dem
ganzen Wahlkampf überhaupt keine Rolle,
und es mag ausdrücklich betont werden, daß
keine der nichtſozialiſtiſchen Parteien
irgendwie daran denkt, eine gegen die
Arbeiter gerichtete Politik zu betreiben.
Und ſollte von irgend einer Seite nach den
Wahlen ein derartiger Verſuch gemacht
werden, ſo kann man überzeugt ſein, daß
an ihm die Einheit der nichtſozialiſtiſchen
Parteien ſofort ſcheitern würde. Nichts
berechtigt zu der Annahme, daß
derartige Verſuche gemacht wer-
den
. Die Thüringiſchen Verhältniſſe ſind
ſo klar, daß die politiſchen Probleme auch
durch Parteidemagogen nicht verdunkelt
werden können. Es handelt ſich nicht um
wirtſchaftliche Fragen, es handelt ſich ledig-
lich um die politiſche Frage, ob Thüringen
weiterhin eine einſeitige Parteidiktatur er-
tragen ſoll oder ob es wieder das wird, was
es früher war, ein freier Staat, als
welcher es überhaupt allein exiſtieren kann.
Denn darüber mag man ſich nicht täuſchen:
ſollte die Wahlſchlacht für die nichtſozialiſti-
ſchen Parteien verloren gehen — was
übrigens nicht im entfernteſten anzunehmen
iſt — ſo iſt die Frage der Exiſtenz Thürin-
gens aufgerollt, da die nicht ſozialiſti-
ſche Bevölkerung unter keinen
Umſtänden geſonnen iſt, die ein-
ſeitige Parteityrannis der So-
zialdemokraten länger zu er-
tragen

Die Verbrechen der Beſatzungstruppen.

In einer Nach-
tragsdenkſchrift der Reichsregierung an
den Reichstag wurden neuerdings zahl-
reiche, im Jahre 1923 begangene Ver-
brechen der Beſatzungstruppen

amtlich feſtgelegt. Darunter 1. 13 Morde,
davon 8 durch farbige Franzoſen; 2. 38 Not-
zuchtsverbrechen, davon 28 durch farbige
Franzoſen; 3. 23 Verbrechen farbiger Fran-
zoſen an deutſchen Knaben; 4. 11 Verbre-
chen des Straßenraubes, davon 7 von far-
bigen Franzoſen ausgeführt; 11 Fälle
furchtbarer Mißhandlungen, ſchuldig in
zwei Fällen farbige Franzoſen.

Die Denkſchrift bezieht ſich nur auf das
altbeſetzte Gebiet. Für das Ruhrgebiet
wird eine beſondere Denkſchrift veröffent-
licht werden

Der franzöſiſche Finanzminiſter über den
Frankenſturz.

Bei einem Preſſeemp-
fang führte der Finanzminiſter aus, daß
weder in der äußeren, noch in der inneren
Politik ein Grund für die Baiſſe des Fran-
ken zu entdecken ſei. Ausländiſche Speku-
lanten könnten ihren Frankenbeſitz ſehr
leicht als eine Waffe zur Bekämpfung der
franzöſiſchen Politik einſetzen. Die Deut-
ſchen ſeien Meiſter in dieſer Kunſt. (!) Sie
verſuchten, durch Finanzoperationen auf die
Außenpolitik Frankreichs einzuwirken, um
dadurch Poincaré zu einem Verzicht auf die
Ruhraktion zu zwingen. Die Maßnahmen,
die der Miniſter beſchloſſen hat, beſtehen in
der Verhinderung großer Verkäufe ins Aus-
land und der genauen Kontrolle der Börſen-
berichte, der Säuberung der Börſe von
zweifelhaften Elementen und einer genauen
Ueberwachung der telephoniſchen Verbin-
dungen mit dem Ausland. Im Innern emp-
fiehlt der Finanzminiſter Sparſamkeit. Er
werde der Kammer in dieſer Richtung noch
Vorſchläge machen.

Wie man weiter hört, wird Finanzmini-
ſter de Laſteyrie dem Parlament einen Ent-
wurf zur Verminderung der öf-
fentlichen Ausgaben
und zur Ab-
ſchaffung des Streichholzmonopols zugehen
laſſen.

Von der Verwirklichung dieſer Maßnah-
men und deren Einwirkung auf den Stand
der franzöſiſchen Währung verſpricht ſich
der Finanzminiſter jedoch keinen ſofortigen
Erfolg.

Die ſtrategiſche Bedeutung der
Tſchechoſlowakei

In der „Slov. Poli-
tika“ beſpricht Generalſtabschef General
Mittelhauſer die ſtrategiſche Bedeu-
tung der Slowakei
. Für den takti-
ſche Körper der Kleinen Entente habe
die Slowakei als Weg nach Rumänien und
zur Donau, der Hauptverkehrsader der
Kleinen Entente große Wichtigkeit. Außer-
dem entſpreche die Lage des Landes den
Forderungen des Luftverkehrs mit Rumä-
nien und Jugoſlavien

Die ſchleunige Errichtung einer Eiſen-
bahnverkehrslinie aus Mähren über die
Slowakei an die rumäniſche Grenze, die
Erweiterung von Flußhäfen von Preßburg
und Komorn, der Bau eines Flugplatzes der
Kleinen Entente nördlich von Preßburg;
dies ſeien die drei wichtigſten Programm-
punkte der nächſten Zukunft. Die trans-
kontinentale Luftverkehrsader werde von
Prag nach Wien führen und Preßburg bei-
ſeite laſſen. Aber für den Luftverkehr der
Kleinen Entente ſei Preßburg ein un-
erläßlicher Knotenpunkt. Der zu errich-
tende Lufthafen von Preßburg müſſe dem
Luftverkehr nach Prag, an die Adria, nach
Belgrad und Bukareſt gerecht werden.

Die thüringiſche Frage.

Das Reichskabinett
hat in der thüringiſchen Frage eine
Reihe von Beſchlüſſen gefaßt, die den Ver-
tretern der thüringiſchen Staatsregierung
mitgeteilt worden ſind. Es beſteht die Hoff-
nung, daß die thüringiſche Frage rei-
bungslos erledigt
wird.

Reichstagskandidat Ludendorff.

Die Frage einer Reichstags-
kandidatur des Generals Ludendorff iſt noch
nicht völlig geklärt. Es haben in dieeſr Frage
wiederholt Beſprechungen zwiſchen leitenden völ-
kiſchen Perſönlichkeiten nicht nur Bayerns, ſon-
dern auch Norddeutſchlands mit Ludendorff ſtatt-
gefunden, in deren Verlauf ſich jedoch der General
noch nicht zur Uebernahme der Reichstagskandida-
tur entſchließen konnte. Aus verſchiedenen An-
zeichen läßt ſich ſchließen, daß eine Reichstags-
kandidatur Ludendorffs in völkiſchen Kreiſen eine
nicht ganz einheitliche Aufnahme finden würde.
Vor allen Dingen werden in Norddeutſchland ge-
genüber der Abſicht des Völkiſchen Blocks in
Bayern die Bedenken geltend gemacht, daß Luden-
dorff für die völkiſche Bewegung weniger als
Politiker denn als einſtiger Führer des Heeres in
Frage kommen müſſe, und daß er deshalb „in
militäriſcher Reſerve“ bleiben ſolle.

Die Tiroler wehren ſich.

Der führend am Kapp-Putſch beteiligte Haupt-
mann Pabſt iſt ſeinerzeit vor dem gegen ihn
erlaſſenen Steckbrief nach Tirol geflüchtet und iſt
ſeitdem in dem dortigen „Bund der Heimat-
wehren“ tätig, einer ſchwarzgelben Organiſation
unter Führung der Chriſtlichſozialen. Im vorigen
Jahr hat Pabſt als deutſch-öſterreichiſcher Bürger
Tirols in Mieming (im Inntal) das Heimatrecht
auf den Namen Peters-Pabſt erworben. Dieſer
Tage fand nun in Wörgel eine Verſammlung der
Gruppenführer der Tiroler Heimatwehren ſtatt,
die unter Vorſitz eines Feldpaters einſtimmig
folgende Entſchließung annahm:

1. Wir dulden nicht, daß ein preußiſch-prote-
ſtantiſcher Offizier ein Kommando über das
katholiſche Tiroler Volk zu führen ſich anmaßt;
2. wir dulden nicht, daß ein preußiſcher Offizier,
der beim preußiſch alldeutſchen Kapp-Putſch Ge-
neralſtabschef des Putſchleiters war, ſich in füh-
render Stellung bei einer gänzlich unpolitiſchen
öſterreichiſch-tiroliſchen Selbſtſchutzorganiſation be-
findet; 3. wir dulden nicht, daß dieſer preußiſche
Revanchepolitiker in Tirol angeblich nur ſeinem
Broterwerb nachgeht, in der Tat aber alldeutſch-
preußiſch-proteſtantiſche Politik treibt und, wie
die Tatſachen beweiſen ſeinen einflußreichen
Poſten in der Tiroler Heimatwehr ausnutzt, ge-
gebenenfalls das Tiroler Volk und Land und
Oeſterreich ins Unglück zu bringen zugunſten
ſeines preußiſchen Vaterlandes; 4. wir dulden
nicht, daß Hauptmann Peters-Pabſt als politiſcher
Flüchtling noch weiter bei der Tiroler Heimat
feſtgebalten werde und fordern ſeine ſofortige
Entlaſſung von der Landesleitung

Bayeriſcher Landtag.
Scharfer Proteſt der Demokraten.

In der Fortſetzung der allgemeinen Ausſprache
zur Landeswahlgeſetznovelle am Mittwoch vormit-
tag im Verfaſſungsausſchuß kam als erſter
Redner

Abg. Graf Peſtalozza (B. Vp.) zu Wort.
Mit der ſchematiſchen Abminderung der Mandats-
zahl allein iſt es nicht getan; andere Mittel müſ-
ſen dazu kommen. Doch darf z. B. im Falle der
Diätenneuregelung nicht die Hand dazu geboten
werden, geringer bemittelte Kreiſe vom Mandat
auszuſchließen. Die Heraufſetzung des Wahl-
alters, der beſſere Ausgleich zwiſchen Stadt und
Land müſſen einer gründlichen Reform vorbe-
halten bleiben. Das iſt erſt möglich nach Beſeiti-
gung des verſtimmenden Paragraphen 92 der Ver-
faſſung in einem neuen Landtag.

Abg. Dr. Hilpert (B. Mp.) erörterte tech-
niſche Einzelfragen des Landeswahlgeſetzes. Die
in der Begründung angedeuteten Reformen, wie
die Heraufſetzung des Wahlalters, ſind auch uns
durchaus ſympathiſch. Mit der Verringerung der
Mandatszahl wird auch die Liſtenverbindung not-
wendig. Die Verringerung der Zahl der Stimm-
kreisabgeordneten ſtärkt den Einfluß des Proporz-
ſyſtems; man müßte eigentlich auch die Zahl der
Landtagsabgeordneten von 15 auf 10 verringern.

Vorſitzender Abg. Dr. Wohlmuth (B. Vp.)
möchte die Diätenfrage als eine Angelegenheit
nicht der Abgeordneten, ſondern der Wähler be-
trachtet wiſſen. Den Beamtenabgeordneten an den
Diäten zu kürzen, wäre verfehlt. Soll gekürzt
werden, dann iſt das im Beamtengeſetz zu machen.

Abg. Endres (V. S. P.) wandte ſich gegen
die Auffaſſung, als ob bisher das flache Land
zu kurz gekommen ſei. Der Landtag hat im Vor-
jahr im Gegenſatz zu anderen Parlamenten mit
den Diäten abgebaut. Die Beſeitigung der Diäten
würde zu einer Zuſammenſetzung des Parlamen-
tes aus ganz beſtimmten Kreiſen führen und na-
mentlich die Arbeiterklaſſe in ihrer Vertretung
ſchwer ſchädigen. Eine Herabſetzung der Mandats-
zahl iſt notwendig; über die Ziffer läßt ſich reden.
Die Wertung eines Parlamentes hängt ſchließlich
doch nicht von der Zahl, ſondern von der geleiſte-
ten Arbeit ab. Zu hoffen iſt, daß ein Abkommen
über die Einzelfragen des Entwurfes zuſtande
kommt, das allen Parteien die Zuſtimmung er-
möglicht und eine raſche Auflöſung des Landtags
herbeiführt.

Abg. Städele (B. Bbd.) bedauerte, daß die
Reichsverfaſſung eine Reihe von Aenderungen,
die zum Teil der früheren Regelung entſprechen
würden, unmöglich macht. Der Bauernbund wäre
z. B. für Heraufſetzung des Wahlalters zu haben;
auch das Frauenſtimmrecht könnte ruhig wieder
verſchwinden. Ob der neue Landtag beſſer ſein
wird als der alte, muß ſich erſt zeigen.

Abg. Dr. Müller (D. D. P.) hob hervor, daß
die Andeutungen über die Aenderungen der Zu-
kunft doch recht vorſichtig machen müſſen. In un-
ſerem jetzigen Wahlſyſtem liegt allerdings ein ge-
wiſſes Lotterieſpiel. Ein unzweifelhafter Nach-
teil des Proporzes iſt, daß die Verbindung zwi-
ſchen Wähler und Abgeordneten zerriſſen wird,
wenn man ſich auch bemüht, die Verbindung durch
die Stimmkreiſe wieder herzuſtellen. Die Beſeiti-
gung dieſes unſicheren Faktors würde das ganze
Syſtem beliebter machen.

Die diätenloſe Zeit im Reichstag entbehrte
nicht eines ſtarken Idealismus, ſo ſchwer die
Opfer zu tragen waren. Im übrigen iſt die Diä-
tenfrage von der Hetze gegen den Parlamentaris-
mus beeinflußt. Es ſollte einmal öffentlich durch
das Landtagsamt feſtgeſtellt werden, wie kläglich
die Diäten ſind; das würde wenigſtens auf die
Anſtändigeren Eindruck machen. Die freien Berufe
und erwerbstätigen Kreiſe dürfen vom Mandat
nicht ausgeſchloſſen werden.

Ein Hauptmangel des Wahlgeſetzes iſt, daß das
ganze Wablrecht auf die Einwohner, ſtatt auf die
Wahlberechtigten abgeſtellt iſt. Wir ſind mit acht
Wahlkreiſen einverſtanden; die Herausnahme von
München und Nürnberg — alſo zehn Wahlkreiſe
— wäre zu erwägen.



[Spaltenumbruch]
Sanskü offen.

Geſchichte der Staatsumwälzungen ent-
hält eine Tatſache, die oft überſehen wird. Die
nämlich: daß endgültig geglückte Revolutionen
ſelten oder von der breiteren Maſſe des nie-
deren Volkes ohne einen ſozuſagen höheren Bei-
ſtand bewirkt wurden. Meiſt war die breite Maſſe
ſogar nur das grobe Werkzeug des revolutionä-
ren Geiſtes, der von ganz anderen Regionen her-
wirkte.

Im alten Athen waren es, auch ſchon vor Pe-
rikles, wiederholt einzelne Ariſtokraten, die, ihre
eigenen perſönlichen Intereſſen höher ſtellend als
die ihres Standes und des Staates, mit dem
Plebs gemeinſame Sache machten und die, unter
der Maske der Volksfreundſchaft, nichts weniger
als die Herrſchaft der Maſſe erſtrebten — die
überhaupt eine Unmöglichkeit iſt — als vielmehr
ihre höchſt eigene Herrſchbegierde zu befriedigen
ſuchten.

Ein anderes Phänomen, dem aber doch der-
ſelbe Sinn zugrunde liegt, zeigt die große fran-
zöſiſche Revolution, die vielleicht ohne die Mit-
wirkung katilinariſcher Ariſtokraten überhaupt
niemals gelungen wäre. Die hervorragendſten
derſelben, ein Mirabeau und ein Herzog Egalite,
ſind bekannt genug. Die beiden hatten aber
mehr Geſinnungsgenoſſen innerhalb ihres Stan-
des, als man gemeinhin ahnt. Die Motive wa-
ren aber, wenigſtens zum Teil, andere als im
alten Athen.

Die ſtarke perſönliche Herrſchſucht und ihre
[Spaltenumbruch] Zwecke ſpielten wohl auch eine Rolle dabei und
nicht zum wenigſten in den beiden Genannten;
in der Mehrheit dieſer Leute war es jedoch etwas
davon Verſchiedenes. War es eigentlich das Ge-
genteil davon, nämlich, ich finde kein anderes
Wort, eine gewiſſe Selbſtaufgabe, entſprungen
einerſeits aus Ueberſättigung und Langeweile,
anderſeits aus dem durch unerhörten Lebens-
leichtſinn herbeigeführten wirtſchaftlichen Ruin
zum Teil der Allerreichſten unter ihnen. Ich er-
inere mich nur an einen Fall, an den Bankerott
des Fürſten Rohan-Gnemene, durch den der eine
Herzog von Lauzun eine Lebensrente von 80 000
Livres und ungezählte andre ihre ganze Habe
verloren, bei welcher Gelegenheit man die be-
kannte Rohanſche Deviſe traveſtiert hat in. Roy
ne puys, duc ne daigue — fripon suys
Der
viel zitierte après nous le deluge bezeichnet gut
die Stimmung der gedachten Kreiſe.

Bei dem Worte sansculottes denken bei uns
die meiſten an zerlumpte Volkshaufen und ähn-
liches; ſein Urſprung iſt dennoch ein ganz an-
derer. Auf die er zuerſt angewendet wurde, waren
ſogar ſehr ſtolze Damen, an deren Toilette ſicher-
lich nichts gefehlt hat, wenigſtens nichts, was die
eleganteſte Mode der Zeit daran vermißt hätte.

Das ſchöne Geſchlecht hat es bekanntlich zu
aller Zeit geliebt, nicht nur in Kleider, ſondern
auch in anderen Fragen begeiſtert hinter den
neuen Moden her zu ſein — mögen dieſelben
Theo- und Anthropoſophie heißen — und noch
nie iſt ein Prophet aufgetreten, wahrer oder
falſcher, der nicht von dem Geſchlecht in Unter-
röcken, beſonders in ſeidenen, am lebhafteſten
umſchwärmt wurde. Die Jakobiner machten da-
[Spaltenumbruch] von keine Ausnahme, und wenn, wie oben ange-
deutet, namhafte Ariſtokraten, Katilinarier im
Grund, ihnen vielfach in der Stille anhingen, ſo
muß man von einigen ihrer Frauen ſagen, daß
ſie dieſe Anhängerſchaft ſo geräuſchvoll als mög-
lich in Szene geſetzt haben.

Hier ſoll nur von zweien die Rede ſein. Die
eine war die Herzogin Diana von Polignac (üb-
rigens nicht zu verwechſeln mit Jolanthe von
Polignac, der Vertrauten und Freundin der
Marie Antoinette), die andere aber war gar eine,
wie man hier in München ſo ſchön ſagt, Mi-
niſtersgattin, nämlich die ebenſo durch ihren
Geiſt wie ihre Schönheit viel beſchriene Herzogin
von Coigny, von der Maria Antoinette geſagt
hat: Je suis la reine de Versailles, mais Ma-
dame de Coigny est la reine de Paris.

Dieſe beiden Damen taten ſich vor anderen
ihresgleichen ganz beſonders hervor durch ihr
turbulentes Auftreten in den Sitzungen der Na-
tionalverſammlung und ſie hätten, wenn ſie ſich
dort eine Gaudi verſprachen, lieber die Meſſe ver-
ſäumt, als den neumodiſchen Spektakel; das „la
seance vaut bien unemesse
“ hatte bei ihnen alſo
einen etwas anderen Sinn, als bei Heinrich IV.

Und ſo war es denn bei einer der nächſten Sit-
zungen nach dem 4. Auguſt, der (bürgerliche)
Abbe Maury (ſpäter Kardinal) hielt eine ſeiner
begeiſterten legitimiſtiſchen Reden, und die beiden
genannten Damen nebſt Freundinnen konnten
ſich nicht enthalten, dem unmodernen oder un-
modiſchen Redner ihr Mißfallen zu bezeichnen.
Durch Zwiſchenrufe, durch Strampeln mit den
Beinen und andere ſtörende Aeußerungen unter-
brachen ſie fortgeſetzt den treuen Royaliſten, der
[Spaltenumbruch] endlich die Geduld verlor und dem Präſidenten
zurief, er möge doch endlich dieſe Unterröcke zur
Ruhe verweiſen: „Monsieurle president“, ſo rief
er, „faites enfin taire ces deux sansculottes!

Das iſt der Urſprung des ſpäter ſo mißver-
ſtandenen Namens

Neuordnung.

Eine Gemäldeſammlung, die ſeit ihrem Beſtehen
zu den erſten der Welt zählt, und ein Muſeum,
das durch bedeutende Schenkungen und Erwer-
bungen erſt in der letzten Zeit gewaltigen Auf-
ſchwung genommen hat, ſind neu geordnet wor-
den und bieten nunmehr ihre Schätze überſichtlich
und geklärt, wie es verwöhnte Augen heute for-
dern: die Dresdener Gemäldegalerie
und das Schnütgen-Muſeum in Köln.

In Dresden wurde in den unteren Sälen
der Galerie Luft gemacht. Bisher hing Bild an
Bild; es war kaum möglich, zum Eindruck des
einzelnen zu gelangen. Nun hat man die ganze
Sammlung geſiebt und die ſchwächeren Stücke aus-
geſchieden. Dieſe ſollen zu einer „Studien-
galerie“ vereinigt und geſondert untergebracht
werden. Hierdurch ward Platz in den oberen
Sälen, in denen jetzt die Italiener und die Deut-
ſchen des 18. Jahrhunderts gehängt ſind, die zum
großen Teil die Wände des unteren Stockwerkes
verſtopften. Dieſes hat nun Luft, die Bilder
konnten locker placiert werden — über die Hälfte
des bisherigen Beſtandes iſt hinausgekommen! —,
ſo daß man endlich in Ruhe ſehen und genießen
kann. Im zweiten Stock wird man von den
prachtvollen Canaletti empfangen, nach ihnen
eine Auswahl der Paſtelle, auf gelber Wand.
Dann kommen die Italiener und Spanier links,
die Deutſchen rechts. Nun wirken ſie, die italieni-
ſchen Meiſter des Barock und Rokoko — unter
denen manches Stück, das erſt aus den Depots
herausgeholt wurde, beſonderer Beachtung wert
iſt es, nun wirken auch die Spanier, die Velas-
quez und Ribera, in ihrem roten Saal.

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[2/0002] Allgemeine Zeitung. Nr. 9 Donnerstag, den 10. Januar 1924. faſſungswidrig iſt. Die Verfaſſung Thüringens ſieht vor, daß die ehemaligen ſelbſtändigen Gebiete in der Regierung ver- treten ſind. Sie ſind es heute nicht, und jede Ergänzungsmöglichkeit des Kabinetts auf verfaſſungsmäßigem Wege iſt durch die Sozialdemokraten verhindert. Daß endlich die Finanzwirtſchaft der gegenwärtigen Regierung nicht mehr ertragen werden kann, muß auch noch her- vorgehoben werden; man muß endlich zu Verhältniſſen kommen, über die der Finanz- miniſter nicht, wie er zugegeben hat, die Ueberſicht völlig verloren hat. Gewiß kann man ſagen, daß die Ruhe in Thüringen zurzeit nicht geſtört iſt. Es liegt das ledig- lich an der Anweſenheit der Reichswehr. Die ſubverſiven Elemente, deren ſchamloſe Tätigkeit durch das Eingreifen der Reichs- wehr klargeſtellt iſt (Thüringen ſtand vor dem Bürgerkrieg. Wer das Gegenteil behauptet, hat keine Ahnung von den Verhältniſſen oder lügt), ſind weiter an der Arbeit, und es iſt nicht zu leugnen, daß einzelne der amtierenden Miniſter mit ihrem An- hang mit dieſen Elementen in ſo enger Verbindung ſtehen, daß ſie ſie, wenn auch unbewußt, fördern. Zu den vielen unwahren Behauptungen, die in den Verlautbarungen der Thüringi- ſchen Regierung erhoben worden ſind, ge- hört namentl die, daß die Politik der nichtſozialiſtiſchen Parteien ſich gegen die Arbeiterſchaft richte. Das iſt unwahr. Die Frage der Arbeiterfreundlichkeit oder Arbeiterfeindlichkeit ſpielt in dem ganzen Wahlkampf überhaupt keine Rolle, und es mag ausdrücklich betont werden, daß keine der nichtſozialiſtiſchen Parteien irgendwie daran denkt, eine gegen die Arbeiter gerichtete Politik zu betreiben. Und ſollte von irgend einer Seite nach den Wahlen ein derartiger Verſuch gemacht werden, ſo kann man überzeugt ſein, daß an ihm die Einheit der nichtſozialiſtiſchen Parteien ſofort ſcheitern würde. Nichts berechtigt zu der Annahme, daß derartige Verſuche gemacht wer- den. Die Thüringiſchen Verhältniſſe ſind ſo klar, daß die politiſchen Probleme auch durch Parteidemagogen nicht verdunkelt werden können. Es handelt ſich nicht um wirtſchaftliche Fragen, es handelt ſich ledig- lich um die politiſche Frage, ob Thüringen weiterhin eine einſeitige Parteidiktatur er- tragen ſoll oder ob es wieder das wird, was es früher war, ein freier Staat, als welcher es überhaupt allein exiſtieren kann. Denn darüber mag man ſich nicht täuſchen: ſollte die Wahlſchlacht für die nichtſozialiſti- ſchen Parteien verloren gehen — was übrigens nicht im entfernteſten anzunehmen iſt — ſo iſt die Frage der Exiſtenz Thürin- gens aufgerollt, da die nicht ſozialiſti- ſche Bevölkerung unter keinen Umſtänden geſonnen iſt, die ein- ſeitige Parteityrannis der So- zialdemokraten länger zu er- tragen Die Verbrechen der Beſatzungstruppen. Berlin, 9. Januar. In einer Nach- tragsdenkſchrift der Reichsregierung an den Reichstag wurden neuerdings zahl- reiche, im Jahre 1923 begangene Ver- brechen der Beſatzungstruppen amtlich feſtgelegt. Darunter 1. 13 Morde, davon 8 durch farbige Franzoſen; 2. 38 Not- zuchtsverbrechen, davon 28 durch farbige Franzoſen; 3. 23 Verbrechen farbiger Fran- zoſen an deutſchen Knaben; 4. 11 Verbre- chen des Straßenraubes, davon 7 von far- bigen Franzoſen ausgeführt; 11 Fälle furchtbarer Mißhandlungen, ſchuldig in zwei Fällen farbige Franzoſen. Die Denkſchrift bezieht ſich nur auf das altbeſetzte Gebiet. Für das Ruhrgebiet wird eine beſondere Denkſchrift veröffent- licht werden Der franzöſiſche Finanzminiſter über den Frankenſturz. Paris, 9. Januar. Bei einem Preſſeemp- fang führte der Finanzminiſter aus, daß weder in der äußeren, noch in der inneren Politik ein Grund für die Baiſſe des Fran- ken zu entdecken ſei. Ausländiſche Speku- lanten könnten ihren Frankenbeſitz ſehr leicht als eine Waffe zur Bekämpfung der franzöſiſchen Politik einſetzen. Die Deut- ſchen ſeien Meiſter in dieſer Kunſt. (!) Sie verſuchten, durch Finanzoperationen auf die Außenpolitik Frankreichs einzuwirken, um dadurch Poincaré zu einem Verzicht auf die Ruhraktion zu zwingen. Die Maßnahmen, die der Miniſter beſchloſſen hat, beſtehen in der Verhinderung großer Verkäufe ins Aus- land und der genauen Kontrolle der Börſen- berichte, der Säuberung der Börſe von zweifelhaften Elementen und einer genauen Ueberwachung der telephoniſchen Verbin- dungen mit dem Ausland. Im Innern emp- fiehlt der Finanzminiſter Sparſamkeit. Er werde der Kammer in dieſer Richtung noch Vorſchläge machen. Wie man weiter hört, wird Finanzmini- ſter de Laſteyrie dem Parlament einen Ent- wurf zur Verminderung der öf- fentlichen Ausgaben und zur Ab- ſchaffung des Streichholzmonopols zugehen laſſen. Von der Verwirklichung dieſer Maßnah- men und deren Einwirkung auf den Stand der franzöſiſchen Währung verſpricht ſich der Finanzminiſter jedoch keinen ſofortigen Erfolg. Die ſtrategiſche Bedeutung der Tſchechoſlowakei * Prag, 9. Januar. In der „Slov. Poli- tika“ beſpricht Generalſtabschef General Mittelhauſer die ſtrategiſche Bedeu- tung der Slowakei. Für den takti- ſche Körper der Kleinen Entente habe die Slowakei als Weg nach Rumänien und zur Donau, der Hauptverkehrsader der Kleinen Entente große Wichtigkeit. Außer- dem entſpreche die Lage des Landes den Forderungen des Luftverkehrs mit Rumä- nien und Jugoſlavien Die ſchleunige Errichtung einer Eiſen- bahnverkehrslinie aus Mähren über die Slowakei an die rumäniſche Grenze, die Erweiterung von Flußhäfen von Preßburg und Komorn, der Bau eines Flugplatzes der Kleinen Entente nördlich von Preßburg; dies ſeien die drei wichtigſten Programm- punkte der nächſten Zukunft. Die trans- kontinentale Luftverkehrsader werde von Prag nach Wien führen und Preßburg bei- ſeite laſſen. Aber für den Luftverkehr der Kleinen Entente ſei Preßburg ein un- erläßlicher Knotenpunkt. Der zu errich- tende Lufthafen von Preßburg müſſe dem Luftverkehr nach Prag, an die Adria, nach Belgrad und Bukareſt gerecht werden. Die thüringiſche Frage. Berlin, 9. Januar. Das Reichskabinett hat in der thüringiſchen Frage eine Reihe von Beſchlüſſen gefaßt, die den Ver- tretern der thüringiſchen Staatsregierung mitgeteilt worden ſind. Es beſteht die Hoff- nung, daß die thüringiſche Frage rei- bungslos erledigt wird. Reichstagskandidat Ludendorff. Berlin, 9. Jan. Die Frage einer Reichstags- kandidatur des Generals Ludendorff iſt noch nicht völlig geklärt. Es haben in dieeſr Frage wiederholt Beſprechungen zwiſchen leitenden völ- kiſchen Perſönlichkeiten nicht nur Bayerns, ſon- dern auch Norddeutſchlands mit Ludendorff ſtatt- gefunden, in deren Verlauf ſich jedoch der General noch nicht zur Uebernahme der Reichstagskandida- tur entſchließen konnte. Aus verſchiedenen An- zeichen läßt ſich ſchließen, daß eine Reichstags- kandidatur Ludendorffs in völkiſchen Kreiſen eine nicht ganz einheitliche Aufnahme finden würde. Vor allen Dingen werden in Norddeutſchland ge- genüber der Abſicht des Völkiſchen Blocks in Bayern die Bedenken geltend gemacht, daß Luden- dorff für die völkiſche Bewegung weniger als Politiker denn als einſtiger Führer des Heeres in Frage kommen müſſe, und daß er deshalb „in militäriſcher Reſerve“ bleiben ſolle. Die Tiroler wehren ſich. Der führend am Kapp-Putſch beteiligte Haupt- mann Pabſt iſt ſeinerzeit vor dem gegen ihn erlaſſenen Steckbrief nach Tirol geflüchtet und iſt ſeitdem in dem dortigen „Bund der Heimat- wehren“ tätig, einer ſchwarzgelben Organiſation unter Führung der Chriſtlichſozialen. Im vorigen Jahr hat Pabſt als deutſch-öſterreichiſcher Bürger Tirols in Mieming (im Inntal) das Heimatrecht auf den Namen Peters-Pabſt erworben. Dieſer Tage fand nun in Wörgel eine Verſammlung der Gruppenführer der Tiroler Heimatwehren ſtatt, die unter Vorſitz eines Feldpaters einſtimmig folgende Entſchließung annahm: 1. Wir dulden nicht, daß ein preußiſch-prote- ſtantiſcher Offizier ein Kommando über das katholiſche Tiroler Volk zu führen ſich anmaßt; 2. wir dulden nicht, daß ein preußiſcher Offizier, der beim preußiſch alldeutſchen Kapp-Putſch Ge- neralſtabschef des Putſchleiters war, ſich in füh- render Stellung bei einer gänzlich unpolitiſchen öſterreichiſch-tiroliſchen Selbſtſchutzorganiſation be- findet; 3. wir dulden nicht, daß dieſer preußiſche Revanchepolitiker in Tirol angeblich nur ſeinem Broterwerb nachgeht, in der Tat aber alldeutſch- preußiſch-proteſtantiſche Politik treibt und, wie die Tatſachen beweiſen ſeinen einflußreichen Poſten in der Tiroler Heimatwehr ausnutzt, ge- gebenenfalls das Tiroler Volk und Land und Oeſterreich ins Unglück zu bringen zugunſten ſeines preußiſchen Vaterlandes; 4. wir dulden nicht, daß Hauptmann Peters-Pabſt als politiſcher Flüchtling noch weiter bei der Tiroler Heimat feſtgebalten werde und fordern ſeine ſofortige Entlaſſung von der Landesleitung Bayeriſcher Landtag. Scharfer Proteſt der Demokraten. In der Fortſetzung der allgemeinen Ausſprache zur Landeswahlgeſetznovelle am Mittwoch vormit- tag im Verfaſſungsausſchuß kam als erſter Redner Abg. Graf Peſtalozza (B. Vp.) zu Wort. Mit der ſchematiſchen Abminderung der Mandats- zahl allein iſt es nicht getan; andere Mittel müſ- ſen dazu kommen. Doch darf z. B. im Falle der Diätenneuregelung nicht die Hand dazu geboten werden, geringer bemittelte Kreiſe vom Mandat auszuſchließen. Die Heraufſetzung des Wahl- alters, der beſſere Ausgleich zwiſchen Stadt und Land müſſen einer gründlichen Reform vorbe- halten bleiben. Das iſt erſt möglich nach Beſeiti- gung des verſtimmenden Paragraphen 92 der Ver- faſſung in einem neuen Landtag. Abg. Dr. Hilpert (B. Mp.) erörterte tech- niſche Einzelfragen des Landeswahlgeſetzes. Die in der Begründung angedeuteten Reformen, wie die Heraufſetzung des Wahlalters, ſind auch uns durchaus ſympathiſch. Mit der Verringerung der Mandatszahl wird auch die Liſtenverbindung not- wendig. Die Verringerung der Zahl der Stimm- kreisabgeordneten ſtärkt den Einfluß des Proporz- ſyſtems; man müßte eigentlich auch die Zahl der Landtagsabgeordneten von 15 auf 10 verringern. Vorſitzender Abg. Dr. Wohlmuth (B. Vp.) möchte die Diätenfrage als eine Angelegenheit nicht der Abgeordneten, ſondern der Wähler be- trachtet wiſſen. Den Beamtenabgeordneten an den Diäten zu kürzen, wäre verfehlt. Soll gekürzt werden, dann iſt das im Beamtengeſetz zu machen. Abg. Endres (V. S. P.) wandte ſich gegen die Auffaſſung, als ob bisher das flache Land zu kurz gekommen ſei. Der Landtag hat im Vor- jahr im Gegenſatz zu anderen Parlamenten mit den Diäten abgebaut. Die Beſeitigung der Diäten würde zu einer Zuſammenſetzung des Parlamen- tes aus ganz beſtimmten Kreiſen führen und na- mentlich die Arbeiterklaſſe in ihrer Vertretung ſchwer ſchädigen. Eine Herabſetzung der Mandats- zahl iſt notwendig; über die Ziffer läßt ſich reden. Die Wertung eines Parlamentes hängt ſchließlich doch nicht von der Zahl, ſondern von der geleiſte- ten Arbeit ab. Zu hoffen iſt, daß ein Abkommen über die Einzelfragen des Entwurfes zuſtande kommt, das allen Parteien die Zuſtimmung er- möglicht und eine raſche Auflöſung des Landtags herbeiführt. Abg. Städele (B. Bbd.) bedauerte, daß die Reichsverfaſſung eine Reihe von Aenderungen, die zum Teil der früheren Regelung entſprechen würden, unmöglich macht. Der Bauernbund wäre z. B. für Heraufſetzung des Wahlalters zu haben; auch das Frauenſtimmrecht könnte ruhig wieder verſchwinden. Ob der neue Landtag beſſer ſein wird als der alte, muß ſich erſt zeigen. Abg. Dr. Müller (D. D. P.) hob hervor, daß die Andeutungen über die Aenderungen der Zu- kunft doch recht vorſichtig machen müſſen. In un- ſerem jetzigen Wahlſyſtem liegt allerdings ein ge- wiſſes Lotterieſpiel. Ein unzweifelhafter Nach- teil des Proporzes iſt, daß die Verbindung zwi- ſchen Wähler und Abgeordneten zerriſſen wird, wenn man ſich auch bemüht, die Verbindung durch die Stimmkreiſe wieder herzuſtellen. Die Beſeiti- gung dieſes unſicheren Faktors würde das ganze Syſtem beliebter machen. Die diätenloſe Zeit im Reichstag entbehrte nicht eines ſtarken Idealismus, ſo ſchwer die Opfer zu tragen waren. Im übrigen iſt die Diä- tenfrage von der Hetze gegen den Parlamentaris- mus beeinflußt. Es ſollte einmal öffentlich durch das Landtagsamt feſtgeſtellt werden, wie kläglich die Diäten ſind; das würde wenigſtens auf die Anſtändigeren Eindruck machen. Die freien Berufe und erwerbstätigen Kreiſe dürfen vom Mandat nicht ausgeſchloſſen werden. Ein Hauptmangel des Wahlgeſetzes iſt, daß das ganze Wablrecht auf die Einwohner, ſtatt auf die Wahlberechtigten abgeſtellt iſt. Wir ſind mit acht Wahlkreiſen einverſtanden; die Herausnahme von München und Nürnberg — alſo zehn Wahlkreiſe — wäre zu erwägen. Sanskü offen. Von Bruno Rüttenauer. Geſchichte der Staatsumwälzungen ent- hält eine Tatſache, die oft überſehen wird. Die nämlich: daß endgültig geglückte Revolutionen ſelten oder von der breiteren Maſſe des nie- deren Volkes ohne einen ſozuſagen höheren Bei- ſtand bewirkt wurden. Meiſt war die breite Maſſe ſogar nur das grobe Werkzeug des revolutionä- ren Geiſtes, der von ganz anderen Regionen her- wirkte. Im alten Athen waren es, auch ſchon vor Pe- rikles, wiederholt einzelne Ariſtokraten, die, ihre eigenen perſönlichen Intereſſen höher ſtellend als die ihres Standes und des Staates, mit dem Plebs gemeinſame Sache machten und die, unter der Maske der Volksfreundſchaft, nichts weniger als die Herrſchaft der Maſſe erſtrebten — die überhaupt eine Unmöglichkeit iſt — als vielmehr ihre höchſt eigene Herrſchbegierde zu befriedigen ſuchten. Ein anderes Phänomen, dem aber doch der- ſelbe Sinn zugrunde liegt, zeigt die große fran- zöſiſche Revolution, die vielleicht ohne die Mit- wirkung katilinariſcher Ariſtokraten überhaupt niemals gelungen wäre. Die hervorragendſten derſelben, ein Mirabeau und ein Herzog Egalite, ſind bekannt genug. Die beiden hatten aber mehr Geſinnungsgenoſſen innerhalb ihres Stan- des, als man gemeinhin ahnt. Die Motive wa- ren aber, wenigſtens zum Teil, andere als im alten Athen. Die ſtarke perſönliche Herrſchſucht und ihre Zwecke ſpielten wohl auch eine Rolle dabei und nicht zum wenigſten in den beiden Genannten; in der Mehrheit dieſer Leute war es jedoch etwas davon Verſchiedenes. War es eigentlich das Ge- genteil davon, nämlich, ich finde kein anderes Wort, eine gewiſſe Selbſtaufgabe, entſprungen einerſeits aus Ueberſättigung und Langeweile, anderſeits aus dem durch unerhörten Lebens- leichtſinn herbeigeführten wirtſchaftlichen Ruin zum Teil der Allerreichſten unter ihnen. Ich er- inere mich nur an einen Fall, an den Bankerott des Fürſten Rohan-Gnemene, durch den der eine Herzog von Lauzun eine Lebensrente von 80 000 Livres und ungezählte andre ihre ganze Habe verloren, bei welcher Gelegenheit man die be- kannte Rohanſche Deviſe traveſtiert hat in. Roy ne puys, duc ne daigue — fripon suys Der viel zitierte après nous le deluge bezeichnet gut die Stimmung der gedachten Kreiſe. Bei dem Worte sansculottes denken bei uns die meiſten an zerlumpte Volkshaufen und ähn- liches; ſein Urſprung iſt dennoch ein ganz an- derer. Auf die er zuerſt angewendet wurde, waren ſogar ſehr ſtolze Damen, an deren Toilette ſicher- lich nichts gefehlt hat, wenigſtens nichts, was die eleganteſte Mode der Zeit daran vermißt hätte. Das ſchöne Geſchlecht hat es bekanntlich zu aller Zeit geliebt, nicht nur in Kleider, ſondern auch in anderen Fragen begeiſtert hinter den neuen Moden her zu ſein — mögen dieſelben Theo- und Anthropoſophie heißen — und noch nie iſt ein Prophet aufgetreten, wahrer oder falſcher, der nicht von dem Geſchlecht in Unter- röcken, beſonders in ſeidenen, am lebhafteſten umſchwärmt wurde. Die Jakobiner machten da- von keine Ausnahme, und wenn, wie oben ange- deutet, namhafte Ariſtokraten, Katilinarier im Grund, ihnen vielfach in der Stille anhingen, ſo muß man von einigen ihrer Frauen ſagen, daß ſie dieſe Anhängerſchaft ſo geräuſchvoll als mög- lich in Szene geſetzt haben. Hier ſoll nur von zweien die Rede ſein. Die eine war die Herzogin Diana von Polignac (üb- rigens nicht zu verwechſeln mit Jolanthe von Polignac, der Vertrauten und Freundin der Marie Antoinette), die andere aber war gar eine, wie man hier in München ſo ſchön ſagt, Mi- niſtersgattin, nämlich die ebenſo durch ihren Geiſt wie ihre Schönheit viel beſchriene Herzogin von Coigny, von der Maria Antoinette geſagt hat: Je suis la reine de Versailles, mais Ma- dame de Coigny est la reine de Paris. Dieſe beiden Damen taten ſich vor anderen ihresgleichen ganz beſonders hervor durch ihr turbulentes Auftreten in den Sitzungen der Na- tionalverſammlung und ſie hätten, wenn ſie ſich dort eine Gaudi verſprachen, lieber die Meſſe ver- ſäumt, als den neumodiſchen Spektakel; das „la seance vaut bien unemesse“ hatte bei ihnen alſo einen etwas anderen Sinn, als bei Heinrich IV. Und ſo war es denn bei einer der nächſten Sit- zungen nach dem 4. Auguſt, der (bürgerliche) Abbe Maury (ſpäter Kardinal) hielt eine ſeiner begeiſterten legitimiſtiſchen Reden, und die beiden genannten Damen nebſt Freundinnen konnten ſich nicht enthalten, dem unmodernen oder un- modiſchen Redner ihr Mißfallen zu bezeichnen. Durch Zwiſchenrufe, durch Strampeln mit den Beinen und andere ſtörende Aeußerungen unter- brachen ſie fortgeſetzt den treuen Royaliſten, der endlich die Geduld verlor und dem Präſidenten zurief, er möge doch endlich dieſe Unterröcke zur Ruhe verweiſen: „Monsieurle president“, ſo rief er, „faites enfin taire ces deux sansculottes!“ Das iſt der Urſprung des ſpäter ſo mißver- ſtandenen Namens Neuordnung. Eine Gemäldeſammlung, die ſeit ihrem Beſtehen zu den erſten der Welt zählt, und ein Muſeum, das durch bedeutende Schenkungen und Erwer- bungen erſt in der letzten Zeit gewaltigen Auf- ſchwung genommen hat, ſind neu geordnet wor- den und bieten nunmehr ihre Schätze überſichtlich und geklärt, wie es verwöhnte Augen heute for- dern: die Dresdener Gemäldegalerie und das Schnütgen-Muſeum in Köln. In Dresden wurde in den unteren Sälen der Galerie Luft gemacht. Bisher hing Bild an Bild; es war kaum möglich, zum Eindruck des einzelnen zu gelangen. Nun hat man die ganze Sammlung geſiebt und die ſchwächeren Stücke aus- geſchieden. Dieſe ſollen zu einer „Studien- galerie“ vereinigt und geſondert untergebracht werden. Hierdurch ward Platz in den oberen Sälen, in denen jetzt die Italiener und die Deut- ſchen des 18. Jahrhunderts gehängt ſind, die zum großen Teil die Wände des unteren Stockwerkes verſtopften. Dieſes hat nun Luft, die Bilder konnten locker placiert werden — über die Hälfte des bisherigen Beſtandes iſt hinausgekommen! —, ſo daß man endlich in Ruhe ſehen und genießen kann. Im zweiten Stock wird man von den prachtvollen Canaletti empfangen, nach ihnen eine Auswahl der Paſtelle, auf gelber Wand. Dann kommen die Italiener und Spanier links, die Deutſchen rechts. Nun wirken ſie, die italieni- ſchen Meiſter des Barock und Rokoko — unter denen manches Stück, das erſt aus den Depots herausgeholt wurde, beſonderer Beachtung wert iſt es, nun wirken auch die Spanier, die Velas- quez und Ribera, in ihrem roten Saal.

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 9, 10. Januar 1924, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine09_1924/2>, abgerufen am 21.11.2024.