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Allgemeine Zeitung. Nr. 127. München, 17. März 1908.

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Dienstag, 17. März 1908. München.
Vorabendblatt. -- Nr. 127
Allgemeine Zeitung.
Erscheint täglich 2mal. -- Einhundertelfter Jahrgang.
Bezugspreis: Ausgabe B mit Wissenschaftlicher Beilage und Internationaler Wochenschrift in
München 1.50 Mark monatlich frei ins Haus; durch die Post: 2. -- Mark monatlich. Ausgabe A (ohne
Beilage) in München 1. -- Mark. durch die Post bezogen 1.50 Mark monatlich. Abonnements für
München: Expedition Bayerstraße 57, deren Filialen und sämtliche Zeitungs-Expeditionen; für
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Zeitung und alle Annoncen-Expeditionen. -- Generalvertretungen: für Oesterreich-Ungarn
in Wien V/I, Schönbrunner Str. 48 (Richard Jahn); Frankreich: John F. Jones & Co.,
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Mjasnitzkaja Haus Chstow, St. Petersburg, Morskaja 11; Warschau: Kral-Vorstadt 53.
Chefredakteur: Dr. Hermann Diez.
Verantwortlich: für den politischen Teil mit Ausnahme der bayerischen Politik Dr. Rudolf Dammert; für den bayerischen Teil Dr. Paul-Busching; für das Feuilleton und den "Sonntag" Alfred Frhr. v. Mensi;
für die Wissenschaftliche Beilage Dr. Oskar Bulte; für den Handelsteil Leo Jolles, sämtlich in München.
Redaktion: Bayerstraße 57 Telephon 8432, 8433. = Druck und Verlag: Bayerische Druckerei & Verlagsanstalt, G. m. b. H., in München. = Expedition: Bayerstraße 57. Telephon 8430, 8431.

Das Neueste vom Tage.

In München und Nürnberg haben große Beamtenver-
sammlungen
stattgefunden, in denen gegen die neue Ge-
haltsordnung
protestiert wurde.

Als deutscher Kurien-Kardinal soll tatsächlich der
Freiburger Professor Dr. Heiner ausersehen sein.

Der König von Norwegen hat den Präsidenten des Stor-
things, G. Knudsen, mit der Neubildung des Kabinetts
beauftragt.

Nach einer unverbürgten Nachricht soll Muley Hafid Gene-
ral d' Amade
seine Unterwerfung angeboten haben.

Auf einer Radrennbahn in Paris kam es infolge von Mei-
nungsverschiedenheiten zwischen Publikum und Preisrichtern
zu großen Ruhestörungen, zu deren Beilegung 300
Schutzleute aufgeboten werden mußten.

Auf der Moskau-Kasanbahn wurden Veruntreuungen von
über 3 Millionen Rubel entdeckt; mehr als 100 Be-
amte
wurden verhaftet.

Der Fall Wahrmund.

Es ist das Schicksal aufrichtig gläubiger Naturen, daß
sie, wenn sie der Religion ihrer Vorfahren entfremdet sind,
aber den Glauben an das Göttliche im Menschen und in
der Geschichte nicht verloren haben, kraftvoll und ohne Rück-
sicht gegen das auftreten, was sie rückständig nennen müssen,
und daß sie dann die glühende Feindschaft der Anhänger
des Alten erregen. So ergeht es jetzt dem Professor des
Kirchenrechts an der Innsbrucker Universität Dr. Ludwig
Wahrmund, den die Wiener Klerikalen dereinst als die
Hoffnung ihrer Partei ansahen, von dessen wissenschaft-
lichen Kenntnissen und von dessen kräftiger Persönlichkeit
sie Bedeutendes für ihre Sache erwarteten und den sie des-
halb vor etwa zehn Jahren als Reichsratskandidaten in
einem der Wiener Bezirke aufstellten. Wahrmund ent-
täuschte sie und daher der aus versagter Liebe erwachsende
Haß. Je tiefer er in die Geschichte des katholischen Dogmas
eindrang, desto morscher erschien ihm das dogmatische und
hierarchische Gebäude der Kirche. Dieser Ueberzeugung gab
er in dem Vortrage "katholische Weltanschauung und freie
Wissenschaft" energisch Ausdruck und ging hierbei schonungs-
los gegen das dogmatische Christentum vor, um den Kern
der Religion selbst von Mißgestalt und Umformung zu rei-
nigen. Er gehört aber nach wie vor zu den gläubigen
Naturen, wie aus dem Schlußbekenntnisse seines Vortrages
erhellt, das hier seine Stelle finden mag:

Und doch hat auch die Wissenschaft ihren Gott und ihren
Glauben. Freilich ist es kein Gott, der den Menschen von
vornherein nach seinem Ebenbilde schuf, um ihn später dem
Tiere gleich werden zu lassen; kein Gott, der sein Geschöpf aus
dem Paradiese der Urzeit in den Abgrund der Sünde verstieß.
Es ist vielmehr ein Gott, der die Vollkommenheit nicht zum
Ausgangspunkt, sondern zum schwer errungenen Ziel machte,
der das Paradies nicht in den Anfang, sondern ins Ende der
Zeiten setzte. Es ist ein Gott, der seine Geschöpfe in stetem
Werden und Vergehen zu immer höheren Daseinsformen
emporsteigen ließ und uns damit den trostreichen Glauben ver-
lieh, daß ewige Gesetze eine fortschreitende Entwicklung nach
aufwärts verheißen, daß es uns vergönnt ist, in unablässiger
Arbeit und redlichem Streben dem Ziele der Vollkommenheit
immer näher zu rücken.
Und in diesem Glauben ziehen die Schwertträger der
Wissenschaft, keine unfehlbare, keine alleinseligmachende und
dennoch eine sieghafte, unüberwindliche Schar, an der Spitze
der Menschheit durch die Jahrtausende; aufrecht das Haupt,
was immer auch kommen mag, und gradaus den Blick in die
dämmernde Zukunft gerichtet.

Die Angriffe Wahrmunds gegen die Trinität, gegen
das Dogma von der unbefleckten Empfängnis, sowie gegen
die Veräußerlichung der Gottesverehrung hat den Zorn der
Ultramontanen aufs äußerste entflammt. Heute soll in
Innsbruck eine Reihe von Versammlungen stattfinden, zu
denen die Bauern aus dem Lande zusammengetrommelt
wurden, um über die Kernfragen moderner Wissenschaft
und religiösen Glaubens zu entscheiden. In einem massen-
haft verteilten Flugblatt wird fälschlich behauptet, Wahr-
mund habe "den Spiegel und das Vorbild der Reinheit,
die Gottesmutter, verspottet" und "damit die Ehre eurer
Frauen und Töchter besudelt". "Das heiligste Herz eures
Bundesherrn, dem eure Väter Treue geschworen, hat ein
Lästermund mit seinem Geifer bespritzt," so lautet eine
andere Stelle, welche direkt die Absicht verfolgt, die persön-
liche Sicherheit Wahrmunds durch die aufgeregten Massen
zu bedrohen.

Die Klerikalen spielen aber den Fall Wahrmund von
dem politischen Felde auf das Gebiet der Freiheit der Uni-
versitäten hinüber. Sie wollen die österreichische Regie-
rung zur Dißiplinierung Wahrmunds zwingen, und sie
sagen es ausdrücklich, daß sie seine Enthebung von der Pro-
fessur des Kirchenrechts fordern. Das ist der Grund, warum
der Rektor der Innsbrucker Universität, der Historiker Pro-
[Spaltenumbruch] fessor v. Skala, auf Einladung von Wiener Universitäts-
lehrern nach Wien kam und hier mit dem Rektor Dr. von
Ebner konferierte. Diese beiden Männer sowie ihre Ge-
sinnungsgenossen sind entschlossen, den Schild über den an-
gefeindeten Kollegen zu halten. Dies kann schon in näch-
ster Zeit notwendig werden. Die unbedingte Parteinahme
des Ministerpräsidenten für die klerikalen An-
kläger Wahrmunds beweist, in welcher Gefahr die freie
Forschung in Oesterreich schwebt. Der Streitfall Wahrmund
befindet sich nämlich in der Hand der Gerichte. Auf Antrag
der Wiener Staatsanwaltschaft legte das Wiener Landes-
gericht, also die erste Instanz, Beschlag auf die Broschüre
Wahrmunds, aber der Rekurs wurde ergriffen und die
zweite Instanz hat ihre Entscheidung noch nicht gefällt. Es
wäre nun Pflicht des Ministerpräsidenten gewesen, in diesem
Falle wie in zahlreichen Streitfällen nationaler Natur, die
seiner Entscheidung vorgelegt wurden, zu erklären, daß er
so lange nichts unternnehmen könne, bis das zuständige Ge-
richt endgültig geurteilt habe. Der Ministerpräsident griff
nicht bloß vor, sondern er gab den Richtern, falls diese poli-
tischen Erwägungen und Furcht für ihre Karriere
zugänglich sind, den bestimmten Wink, welche Ent-
scheidung er wünsche. Dieses Verfahren ist vom
politischen wie vom rechtlichen Gesichtspunkte aus in
gleicher Weise zu verurteilen. Es war sehr not-
wendig, daß sich die Rektoren der Universitäten Wien
und Innsbruck, denen die übrigen Hochschulen wohl ohne
Ausnahme folgen werden, sofort für den bedrohten Kol-
legen einsetzten. Sie begaben sich zum Unterrichts-
minister Dr. Marchet,
der ihnen eine, wie sie mit-
teilen lassen, korrekte Erklärung gab und dessen Worte
darauf hinwiesen, daß er die Lehrfreiheit an den Univer-
sitäten nicht verletzen lassen wolle. Hoffentlich wird sich
der Widerspruch zwischen der Haltung des Ministerpräsi-
denten und des Unterrichtsministers dahin aufklären, daß
der erstere zugeben wird, er habe aus der dogmatischen
Ueberzeugung des gläubigen römisch-katholischen Christen
gesprochen, während Dr. Marchet sich vorhielt, daß er als
Amtsperson zu entscheiden habe. Auf jeden Fall stehen wir
erst zu Beginn einer weittragenden Angelegenheit. Die
Mehrheit der deutschen Abgeordneten Oesterreichs befindet
sich jetzt im klerikalen und christlichsozialen Lager, aber eine
namhafte Minderheit würde die Dißiplinierung Wahr-
munds nicht ruhig hinnehmen. Ein Konflikt droht, bei dem
bedauerlicherweise auch die nationalen Interessen der Deut-
schen leiden werden, da damit ein Keil zwischen sie ge-
trieben wird -- und solche Spaltungen tragen die Tendenz
in sich, größer zu werden. Es ist noch ein Vorteil, daß
einige Zeit bis zum Zusammentritt des Reichsrates ver-
gehen wird, so daß die Gegensätze nicht unmittelbar auf-
einanderstoßen können.

Ueber die gestrige Innsbrucker Protestversammlung

schreibt uns unser dortiger a-Korrespondent:

Die christlichsozialen Abgeordneten haben dem Minister-
präsidenten von der "furchtbaren Erregung" erzählt, die das
ganze Land Tirol ob des Vortrags von Professor Wahrmund
erfaßt habe. Die Wirklichkeit durfte die Deputation nicht Lügen
strafen, und da von einer "Erregung" bei der Landbevölkerung
nicht viel zu spüren war, ging man eben daran, eine solche künst-
lich zu erzeugen, was auch nur zu gut gelang. Diese "Erregung"
fand nun heute in einer großen Protestversammlung
in Innsbruck,
die von dem vereinigten klerikalen Aktions-
komitee veranstaltet wurde, offenen Ausdruck. Die Versammlung
war in mehrfacher Hinsicht sehr lehrreich und lieferte vor allem
den Beweis für die klerikale Absicht, die Meinungsfreiheit Inns-
brucks durch die Landbevölkerung einfach zu unterdrücken.

Schon in den Vormittagsstunden kamen Hunderte von
Bauern aus dem Ober- und Unterinntale in Innsbruck an, und
mit den Nachmittagszügen nahm der Zulauf nahezu beängstigende
Formen an. Trupps von 20 bis 30 mit schweren Stöcken bewaff-
neten Bauern durchzogen unter Führung ihres Seelsorgers die
Stadt. Es war ein feiner Scherz der klerikalen Regiekunst, just
den großen Stadtsaal gegenüber der Universität als
Schauplatz für die Versammlung auszusuchen. Der große Saal
war schon lange vor Beginn der Versammlung überfüllt. Die
Besucher -- es mochten weit über 2000 gewesen sein -- setzten sich
in ihrer überwiegenden Mehrheit aus Bauern zusammen, wäh-
rend die Innsbrucker Bevölkerung es sich nicht nehmen ließ, den
schönen Sonntag außerhalb der Stadtmauern zu verbringen. Von
parteipolitischen Persönlichkeiten bemerkte man Landeshaupt-
mann Dr. Kathrein und fast sämtliche christlich-sozialen Land-
tags- und Reichsratsabgeordneten Tirols. Als Regierungsver-
treter war Bezirkshauptmann Bär erschienen. Zum Vorsitzenden
wurde Abg. Dr. Kapferer gewählt. Zu Worte gelangten
programmgemäß drei Redner, deren Ausführungen in kurzen
Intervallen von endlosen Beifallsstürmen, Füßetrampeln oder
tosenden Pfuirufen auf Wahrmund unterbrochen wurden. Das
Zeichen zu den Beifalls- und Mißfallsbezeigungen gab eine
Anzahl geschickt im Saale verteilter Claqueurs, was um so not-
wendiger war, als den meisten der Anwesenden die Begriffe
"Modernismus", "Syllabus", "Enzyklika" usw. gewiß nicht ge-
läufig waren. Ueber die Versammlung selbst kann man sich kurz
fassen. Der erste Redner, Advokaturkonzipient Dr. Luchner-
Hall kritisierte in der bekannten Art die Broschüre Wahrmunds
und zitierte dann unter Beifallsgetrampel den Paragraphen des
Strafgesetzes betreffend Religionsstörung und die dafür festge-
legten Strafbestimmungen. Redner griff dann mit leidenschaft-
[Spaltenumbruch] lichen Worten die Regierung an, unter deren Augen solches ge-
sprochen wurde und klagte, daß Wahrmund sich noch immer auf
freiem Fuß befinde. Wenn die berufenen Organe es nicht der
Mühe wert fänden, einzuschreiten, so sei es eben Pflicht der katho-
lischen Bevölkerung, die nicht gesonnen sei, derartige Zustände in
Tirol weiter zu dulden, ein Wort zu sprechen. Wir werden es
nicht länger zugeben, schloß er, daß Hochschulprofessoren von
unserem Gelde bezahlt, deren Schüler aus unserem Volke sind,
sich zu Führern der Glaubensfeinde aufwerfen.

Kräftigere Akzente brachte der zweite Redner, Reichsrats-
abgeordneter Niedrist. Wahrmund, sagte er, leide an Ge-
hirnerweichung.
Die Bauern hätten auch schon gehört,
wie verseucht die Hochschulen seien und wollten jetzt einmal Ord-
nung machen. Die Broschüre sei geradezu geschaffen, das Herz
jedes katholischen Tirolers bluten zu machen. Einige Bauern hätten
beim Ministerpräsidenten Einspruch gegen diesen Skandal erhoben
und die Regierung aufgefordert, die Ordnung herzustellen. Sie
habe aber nichts getan. Wir Tiroler Bauern, sagte er, sind nicht
gewöhnt, öfter als dreimal "Halt" zu schreien. Wenn die Re-
gierungsmänner vor den Freiheitlichen auf dem Bauch liegen,
werden wir eben über sie hinwegschreiten. Dann kam der alte
Witz mit Darwin und der Abstammungstheorie und zum Schluß
der köstliche Satz "An dem Felsen Petri haben sich schon mehr
hochnasige Professoren die Schädel eingehaut".

Als letzter Redner sprach ein Geistlicher, Professor Pater
Müller, der auch unter dem Schriftstellernamen Br. Willram
bekannt ist. Seine Rede -- übrigens die vernünftigste von
allen -- bewegte sich fast durchweg in biblischen Vergleichen, die
er im temperamentvollen Predigtstil vorbrachte. Zum Schlusse
forderte er zur schroffsten Intoleranz auf, da heute Toleranz
gleichbedeutend sei mit Feigheit und Verrat des heiligen Glau-
bens. Volk und Klerus gehören zusammen in Tirol. Und wenn
die heiligsten Gefühle des Volkes weiter angegriffen werden, so
könnte es auch sein, daß der Hauptteil der nächstjährigen Jubel-
feier von Anno
1809 nicht in Innsbruck, sondern anderswo
gefeiert wird; denn den Ort derselben bestimmt nicht die Landes-
hauptstadt, sondern das Volk. Schließlich wurde eine Reso-
lution
angenommen, in der es u. a. heißt:

"Die Versammlung drückt das schärfste Mißtrauen und die
entschiedenste Mißbilligung gegenüber der Regierung aus,
welche es versäumt hat, das Ansehen und die Würde der
obersten Bildungsstätten unseres Volkes zu wahren und solch
roher, jeder Bildung und Wissenschaft hohnsprechender Be-
schimpfung der katholischen Weltanschauung Einhalt zu tun."

Nach Erteilung des fürstbischöflichen Segens und dem üb-
lichen Hoch auf Papst und Kaiser wurde die Versammlung mit
dem Herz Jesu-Lied geschlossen. Das deutsch-freiheitliche Aktions-
komitee, bestehend aus Vertretern der Bürgerschaft, der Studen-
ten und der sozialdemokratischen Arbeiterschaft, hatte beschlossen,
die Veranstaltung vollkommen zu ignorieren, um nicht Anlaß zu
Klagen über Terrorismus zu geben. Es ereignete sich auch kein
Zwischenfall.

Politische Rundschau
Ein neuer deutscher Kurienkardinal.

* Wie wir hören, darf es in der Tat als sehr wahr-
scheinlich bezeichnet werden, daß der Freiburger Kirchen-
rechtslehrer und päpstlicher Protonotar Prof. Dr. Franz
Heiner,
der Kommentator des Syllabus "Lamentabili"
und der Enzyklika "Pascendi", demnächst zum Kardinal er-
nannt und an Stelle des + Kardinals Steinhuber als deut-
scher Kurienkardinal nach Rom berufen werden wird. --
Heiner ist am 28. August 1849 zu Atteln in Westfalen ge-
boren, steht also im 59. Lebensjahre.

Ein Schlußwort zu dem Briefzwischenfall.

Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung schreibt in ihrer
Wochenrundschau: Die Angelegenheit des Briefwechsels
zwischen dem Deutschen Kaiser und dem ersten Lord
der englischen Admiralität Lord Tweedmouth hat am
vergangenen Montag ihre Erledigung in einer Weise ge-
funden, wie man sie von den großen Traditionen des bri-
tischen Parlaments erwarten durfte. Wir sehen deshalb
keinen Anlaß, auf die Sache zurückzukommen und können
uns darauf beschränken, im Einklang mit der Westminster
Gazette unsere Befriedigung darüber auszusprechen, daß die
öffentliche Meinung Großbritanniens mit vollkommener
Klarheit ihre Abneigung bekundet hat, dem jüngsten Ver-
suche, die Stimmung des britischen Volkes gegen Deutsch-
land aufzubringen, Erfolg zu verleihen. Der Vorgang wird
auch für die Zukunft von ersprießlicher Bedeutung sein,
wenn die Urheber des verurteilenswerten Unternehmens,
die guten Beziehungen zwischen großen Nationen mutwillig
zu trüben, aus den neuesten Erfahrungen erkennen werden,
daß die Zeiten vorüber sind, in denen solche Anschläge ihre
Wirkung taten. Es hat sich gezeigt, daß in Großoritannien
angesehene Männer in großer Zahl vorhanden sind, die
darüber wachen, daß nicht ein neuer Verhetzungsfeldzug
ins Werk gesetzt wird, durch den nach einem Worte Lord
Roseberys eine krankhafte und in ihren letzten Konse-
quenzen den europäischen Frieden gefährdende Situation
zwischen den beiden Nationen geschaffen wird.

Reichsausschuß für das ärztliche Fortbildungswesen.

* Gestern, Sonntag, den 15. d. M., vollzog sich ein für die
Bestrebungen des ärztlichen Fortbildungswesens wichtiger Vor-
gang. Auf Anregung des Zentralkomitees für das ärztliche Fort-


Dienstag, 17. März 1908. München.
Vorabendblatt. — Nr. 127
Allgemeine Zeitung.
Erſcheint täglich 2mal. — Einhundertelfter Jahrgang.
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1 & 2 Snow Hill, Holborn-Viadukt, London; Rußland: L. & E. Metzl & Co., Moskau.
Mjasnitzkaja Haus Chſtow, St. Petersburg, Morskaja 11; Warſchau: Kral-Vorſtadt 53.
Chefredakteur: Dr. Hermann Diez.
Verantwortlich: für den politiſchen Teil mit Ausnahme der bayeriſchen Politik Dr. Rudolf Dammert; für den bayeriſchen Teil Dr. Paul-Buſching; für das Feuilleton und den „Sonntag“ Alfred Frhr. v. Menſi;
für die Wiſſenſchaftliche Beilage Dr. Oskar Bulte; für den Handelsteil Leo Jolles, ſämtlich in München.
Redaktion: Bayerſtraße 57 Telephon 8432, 8433. = Druck und Verlag: Bayeriſche Druckerei & Verlagsanſtalt, G. m. b. H., in München. = Expedition: Bayerſtraße 57. Telephon 8430, 8431.

Das Neueſte vom Tage.

In München und Nürnberg haben große Beamtenver-
ſammlungen
ſtattgefunden, in denen gegen die neue Ge-
haltsordnung
proteſtiert wurde.

Als deutſcher Kurien-Kardinal ſoll tatſächlich der
Freiburger Profeſſor Dr. Heiner auserſehen ſein.

Der König von Norwegen hat den Präſidenten des Stor-
things, G. Knudſen, mit der Neubildung des Kabinetts
beauftragt.

Nach einer unverbürgten Nachricht ſoll Muley Hafid Gene-
ral d’ Amade
ſeine Unterwerfung angeboten haben.

Auf einer Radrennbahn in Paris kam es infolge von Mei-
nungsverſchiedenheiten zwiſchen Publikum und Preisrichtern
zu großen Ruheſtörungen, zu deren Beilegung 300
Schutzleute aufgeboten werden mußten.

Auf der Moskau-Kaſanbahn wurden Veruntreuungen von
über 3 Millionen Rubel entdeckt; mehr als 100 Be-
amte
wurden verhaftet.

Der Fall Wahrmund.

Es iſt das Schickſal aufrichtig gläubiger Naturen, daß
ſie, wenn ſie der Religion ihrer Vorfahren entfremdet ſind,
aber den Glauben an das Göttliche im Menſchen und in
der Geſchichte nicht verloren haben, kraftvoll und ohne Rück-
ſicht gegen das auftreten, was ſie rückſtändig nennen müſſen,
und daß ſie dann die glühende Feindſchaft der Anhänger
des Alten erregen. So ergeht es jetzt dem Profeſſor des
Kirchenrechts an der Innsbrucker Univerſität Dr. Ludwig
Wahrmund, den die Wiener Klerikalen dereinſt als die
Hoffnung ihrer Partei anſahen, von deſſen wiſſenſchaft-
lichen Kenntniſſen und von deſſen kräftiger Perſönlichkeit
ſie Bedeutendes für ihre Sache erwarteten und den ſie des-
halb vor etwa zehn Jahren als Reichsratskandidaten in
einem der Wiener Bezirke aufſtellten. Wahrmund ent-
täuſchte ſie und daher der aus verſagter Liebe erwachſende
Haß. Je tiefer er in die Geſchichte des katholiſchen Dogmas
eindrang, deſto morſcher erſchien ihm das dogmatiſche und
hierarchiſche Gebäude der Kirche. Dieſer Ueberzeugung gab
er in dem Vortrage „katholiſche Weltanſchauung und freie
Wiſſenſchaft“ energiſch Ausdruck und ging hierbei ſchonungs-
los gegen das dogmatiſche Chriſtentum vor, um den Kern
der Religion ſelbſt von Mißgeſtalt und Umformung zu rei-
nigen. Er gehört aber nach wie vor zu den gläubigen
Naturen, wie aus dem Schlußbekenntniſſe ſeines Vortrages
erhellt, das hier ſeine Stelle finden mag:

Und doch hat auch die Wiſſenſchaft ihren Gott und ihren
Glauben. Freilich iſt es kein Gott, der den Menſchen von
vornherein nach ſeinem Ebenbilde ſchuf, um ihn ſpäter dem
Tiere gleich werden zu laſſen; kein Gott, der ſein Geſchöpf aus
dem Paradieſe der Urzeit in den Abgrund der Sünde verſtieß.
Es iſt vielmehr ein Gott, der die Vollkommenheit nicht zum
Ausgangspunkt, ſondern zum ſchwer errungenen Ziel machte,
der das Paradies nicht in den Anfang, ſondern ins Ende der
Zeiten ſetzte. Es iſt ein Gott, der ſeine Geſchöpfe in ſtetem
Werden und Vergehen zu immer höheren Daſeinsformen
emporſteigen ließ und uns damit den troſtreichen Glauben ver-
lieh, daß ewige Geſetze eine fortſchreitende Entwicklung nach
aufwärts verheißen, daß es uns vergönnt iſt, in unabläſſiger
Arbeit und redlichem Streben dem Ziele der Vollkommenheit
immer näher zu rücken.
Und in dieſem Glauben ziehen die Schwertträger der
Wiſſenſchaft, keine unfehlbare, keine alleinſeligmachende und
dennoch eine ſieghafte, unüberwindliche Schar, an der Spitze
der Menſchheit durch die Jahrtauſende; aufrecht das Haupt,
was immer auch kommen mag, und gradaus den Blick in die
dämmernde Zukunft gerichtet.

Die Angriffe Wahrmunds gegen die Trinität, gegen
das Dogma von der unbefleckten Empfängnis, ſowie gegen
die Veräußerlichung der Gottesverehrung hat den Zorn der
Ultramontanen aufs äußerſte entflammt. Heute ſoll in
Innsbruck eine Reihe von Verſammlungen ſtattfinden, zu
denen die Bauern aus dem Lande zuſammengetrommelt
wurden, um über die Kernfragen moderner Wiſſenſchaft
und religiöſen Glaubens zu entſcheiden. In einem maſſen-
haft verteilten Flugblatt wird fälſchlich behauptet, Wahr-
mund habe „den Spiegel und das Vorbild der Reinheit,
die Gottesmutter, verſpottet“ und „damit die Ehre eurer
Frauen und Töchter beſudelt“. „Das heiligſte Herz eures
Bundesherrn, dem eure Väter Treue geſchworen, hat ein
Läſtermund mit ſeinem Geifer beſpritzt,“ ſo lautet eine
andere Stelle, welche direkt die Abſicht verfolgt, die perſön-
liche Sicherheit Wahrmunds durch die aufgeregten Maſſen
zu bedrohen.

Die Klerikalen ſpielen aber den Fall Wahrmund von
dem politiſchen Felde auf das Gebiet der Freiheit der Uni-
verſitäten hinüber. Sie wollen die öſterreichiſche Regie-
rung zur Diſziplinierung Wahrmunds zwingen, und ſie
ſagen es ausdrücklich, daß ſie ſeine Enthebung von der Pro-
feſſur des Kirchenrechts fordern. Das iſt der Grund, warum
der Rektor der Innsbrucker Univerſität, der Hiſtoriker Pro-
[Spaltenumbruch] feſſor v. Skala, auf Einladung von Wiener Univerſitäts-
lehrern nach Wien kam und hier mit dem Rektor Dr. von
Ebner konferierte. Dieſe beiden Männer ſowie ihre Ge-
ſinnungsgenoſſen ſind entſchloſſen, den Schild über den an-
gefeindeten Kollegen zu halten. Dies kann ſchon in näch-
ſter Zeit notwendig werden. Die unbedingte Parteinahme
des Miniſterpräſidenten für die klerikalen An-
kläger Wahrmunds beweiſt, in welcher Gefahr die freie
Forſchung in Oeſterreich ſchwebt. Der Streitfall Wahrmund
befindet ſich nämlich in der Hand der Gerichte. Auf Antrag
der Wiener Staatsanwaltſchaft legte das Wiener Landes-
gericht, alſo die erſte Inſtanz, Beſchlag auf die Broſchüre
Wahrmunds, aber der Rekurs wurde ergriffen und die
zweite Inſtanz hat ihre Entſcheidung noch nicht gefällt. Es
wäre nun Pflicht des Miniſterpräſidenten geweſen, in dieſem
Falle wie in zahlreichen Streitfällen nationaler Natur, die
ſeiner Entſcheidung vorgelegt wurden, zu erklären, daß er
ſo lange nichts unternnehmen könne, bis das zuſtändige Ge-
richt endgültig geurteilt habe. Der Miniſterpräſident griff
nicht bloß vor, ſondern er gab den Richtern, falls dieſe poli-
tiſchen Erwägungen und Furcht für ihre Karriere
zugänglich ſind, den beſtimmten Wink, welche Ent-
ſcheidung er wünſche. Dieſes Verfahren iſt vom
politiſchen wie vom rechtlichen Geſichtspunkte aus in
gleicher Weiſe zu verurteilen. Es war ſehr not-
wendig, daß ſich die Rektoren der Univerſitäten Wien
und Innsbruck, denen die übrigen Hochſchulen wohl ohne
Ausnahme folgen werden, ſofort für den bedrohten Kol-
legen einſetzten. Sie begaben ſich zum Unterrichts-
miniſter Dr. Marchet,
der ihnen eine, wie ſie mit-
teilen laſſen, korrekte Erklärung gab und deſſen Worte
darauf hinwieſen, daß er die Lehrfreiheit an den Univer-
ſitäten nicht verletzen laſſen wolle. Hoffentlich wird ſich
der Widerſpruch zwiſchen der Haltung des Miniſterpräſi-
denten und des Unterrichtsminiſters dahin aufklären, daß
der erſtere zugeben wird, er habe aus der dogmatiſchen
Ueberzeugung des gläubigen römiſch-katholiſchen Chriſten
geſprochen, während Dr. Marchet ſich vorhielt, daß er als
Amtsperſon zu entſcheiden habe. Auf jeden Fall ſtehen wir
erſt zu Beginn einer weittragenden Angelegenheit. Die
Mehrheit der deutſchen Abgeordneten Oeſterreichs befindet
ſich jetzt im klerikalen und chriſtlichſozialen Lager, aber eine
namhafte Minderheit würde die Diſziplinierung Wahr-
munds nicht ruhig hinnehmen. Ein Konflikt droht, bei dem
bedauerlicherweiſe auch die nationalen Intereſſen der Deut-
ſchen leiden werden, da damit ein Keil zwiſchen ſie ge-
trieben wird — und ſolche Spaltungen tragen die Tendenz
in ſich, größer zu werden. Es iſt noch ein Vorteil, daß
einige Zeit bis zum Zuſammentritt des Reichsrates ver-
gehen wird, ſo daß die Gegenſätze nicht unmittelbar auf-
einanderſtoßen können.

Ueber die geſtrige Innsbrucker Proteſtverſammlung

ſchreibt uns unſer dortiger a-Korreſpondent:

Die chriſtlichſozialen Abgeordneten haben dem Miniſter-
präſidenten von der „furchtbaren Erregung“ erzählt, die das
ganze Land Tirol ob des Vortrags von Profeſſor Wahrmund
erfaßt habe. Die Wirklichkeit durfte die Deputation nicht Lügen
ſtrafen, und da von einer „Erregung“ bei der Landbevölkerung
nicht viel zu ſpüren war, ging man eben daran, eine ſolche künſt-
lich zu erzeugen, was auch nur zu gut gelang. Dieſe „Erregung“
fand nun heute in einer großen Proteſtverſammlung
in Innsbruck,
die von dem vereinigten klerikalen Aktions-
komitee veranſtaltet wurde, offenen Ausdruck. Die Verſammlung
war in mehrfacher Hinſicht ſehr lehrreich und lieferte vor allem
den Beweis für die klerikale Abſicht, die Meinungsfreiheit Inns-
brucks durch die Landbevölkerung einfach zu unterdrücken.

Schon in den Vormittagsſtunden kamen Hunderte von
Bauern aus dem Ober- und Unterinntale in Innsbruck an, und
mit den Nachmittagszügen nahm der Zulauf nahezu beängſtigende
Formen an. Trupps von 20 bis 30 mit ſchweren Stöcken bewaff-
neten Bauern durchzogen unter Führung ihres Seelſorgers die
Stadt. Es war ein feiner Scherz der klerikalen Regiekunſt, juſt
den großen Stadtſaal gegenüber der Univerſität als
Schauplatz für die Verſammlung auszuſuchen. Der große Saal
war ſchon lange vor Beginn der Verſammlung überfüllt. Die
Beſucher — es mochten weit über 2000 geweſen ſein — ſetzten ſich
in ihrer überwiegenden Mehrheit aus Bauern zuſammen, wäh-
rend die Innsbrucker Bevölkerung es ſich nicht nehmen ließ, den
ſchönen Sonntag außerhalb der Stadtmauern zu verbringen. Von
parteipolitiſchen Perſönlichkeiten bemerkte man Landeshaupt-
mann Dr. Kathrein und faſt ſämtliche chriſtlich-ſozialen Land-
tags- und Reichsratsabgeordneten Tirols. Als Regierungsver-
treter war Bezirkshauptmann Bär erſchienen. Zum Vorſitzenden
wurde Abg. Dr. Kapferer gewählt. Zu Worte gelangten
programmgemäß drei Redner, deren Ausführungen in kurzen
Intervallen von endloſen Beifallsſtürmen, Füßetrampeln oder
toſenden Pfuirufen auf Wahrmund unterbrochen wurden. Das
Zeichen zu den Beifalls- und Mißfallsbezeigungen gab eine
Anzahl geſchickt im Saale verteilter Claqueurs, was um ſo not-
wendiger war, als den meiſten der Anweſenden die Begriffe
„Modernismus“, „Syllabus“, „Enzyklika“ uſw. gewiß nicht ge-
läufig waren. Ueber die Verſammlung ſelbſt kann man ſich kurz
faſſen. Der erſte Redner, Advokaturkonzipient Dr. Luchner-
Hall kritiſierte in der bekannten Art die Broſchüre Wahrmunds
und zitierte dann unter Beifallsgetrampel den Paragraphen des
Strafgeſetzes betreffend Religionsſtörung und die dafür feſtge-
legten Strafbeſtimmungen. Redner griff dann mit leidenſchaft-
[Spaltenumbruch] lichen Worten die Regierung an, unter deren Augen ſolches ge-
ſprochen wurde und klagte, daß Wahrmund ſich noch immer auf
freiem Fuß befinde. Wenn die berufenen Organe es nicht der
Mühe wert fänden, einzuſchreiten, ſo ſei es eben Pflicht der katho-
liſchen Bevölkerung, die nicht geſonnen ſei, derartige Zuſtände in
Tirol weiter zu dulden, ein Wort zu ſprechen. Wir werden es
nicht länger zugeben, ſchloß er, daß Hochſchulprofeſſoren von
unſerem Gelde bezahlt, deren Schüler aus unſerem Volke ſind,
ſich zu Führern der Glaubensfeinde aufwerfen.

Kräftigere Akzente brachte der zweite Redner, Reichsrats-
abgeordneter Niedriſt. Wahrmund, ſagte er, leide an Ge-
hirnerweichung.
Die Bauern hätten auch ſchon gehört,
wie verſeucht die Hochſchulen ſeien und wollten jetzt einmal Ord-
nung machen. Die Broſchüre ſei geradezu geſchaffen, das Herz
jedes katholiſchen Tirolers bluten zu machen. Einige Bauern hätten
beim Miniſterpräſidenten Einſpruch gegen dieſen Skandal erhoben
und die Regierung aufgefordert, die Ordnung herzuſtellen. Sie
habe aber nichts getan. Wir Tiroler Bauern, ſagte er, ſind nicht
gewöhnt, öfter als dreimal „Halt“ zu ſchreien. Wenn die Re-
gierungsmänner vor den Freiheitlichen auf dem Bauch liegen,
werden wir eben über ſie hinwegſchreiten. Dann kam der alte
Witz mit Darwin und der Abſtammungstheorie und zum Schluß
der köſtliche Satz „An dem Felſen Petri haben ſich ſchon mehr
hochnaſige Profeſſoren die Schädel eingehaut“.

Als letzter Redner ſprach ein Geiſtlicher, Profeſſor Pater
Müller, der auch unter dem Schriftſtellernamen Br. Willram
bekannt iſt. Seine Rede — übrigens die vernünftigſte von
allen — bewegte ſich faſt durchweg in bibliſchen Vergleichen, die
er im temperamentvollen Predigtſtil vorbrachte. Zum Schluſſe
forderte er zur ſchroffſten Intoleranz auf, da heute Toleranz
gleichbedeutend ſei mit Feigheit und Verrat des heiligen Glau-
bens. Volk und Klerus gehören zuſammen in Tirol. Und wenn
die heiligſten Gefühle des Volkes weiter angegriffen werden, ſo
könnte es auch ſein, daß der Hauptteil der nächſtjährigen Jubel-
feier von Anno
1809 nicht in Innsbruck, ſondern anderswo
gefeiert wird; denn den Ort derſelben beſtimmt nicht die Landes-
hauptſtadt, ſondern das Volk. Schließlich wurde eine Reſo-
lution
angenommen, in der es u. a. heißt:

„Die Verſammlung drückt das ſchärfſte Mißtrauen und die
entſchiedenſte Mißbilligung gegenüber der Regierung aus,
welche es verſäumt hat, das Anſehen und die Würde der
oberſten Bildungsſtätten unſeres Volkes zu wahren und ſolch
roher, jeder Bildung und Wiſſenſchaft hohnſprechender Be-
ſchimpfung der katholiſchen Weltanſchauung Einhalt zu tun.“

Nach Erteilung des fürſtbiſchöflichen Segens und dem üb-
lichen Hoch auf Papſt und Kaiſer wurde die Verſammlung mit
dem Herz Jeſu-Lied geſchloſſen. Das deutſch-freiheitliche Aktions-
komitee, beſtehend aus Vertretern der Bürgerſchaft, der Studen-
ten und der ſozialdemokratiſchen Arbeiterſchaft, hatte beſchloſſen,
die Veranſtaltung vollkommen zu ignorieren, um nicht Anlaß zu
Klagen über Terrorismus zu geben. Es ereignete ſich auch kein
Zwiſchenfall.

Politiſche Rundſchau
Ein neuer deutſcher Kurienkardinal.

* Wie wir hören, darf es in der Tat als ſehr wahr-
ſcheinlich bezeichnet werden, daß der Freiburger Kirchen-
rechtslehrer und päpſtlicher Protonotar Prof. Dr. Franz
Heiner,
der Kommentator des Syllabus „Lamentabili“
und der Enzyklika „Pascendi“, demnächſt zum Kardinal er-
nannt und an Stelle des † Kardinals Steinhuber als deut-
ſcher Kurienkardinal nach Rom berufen werden wird. —
Heiner iſt am 28. Auguſt 1849 zu Atteln in Weſtfalen ge-
boren, ſteht alſo im 59. Lebensjahre.

Ein Schlußwort zu dem Briefzwiſchenfall.

Die Norddeutſche Allgemeine Zeitung ſchreibt in ihrer
Wochenrundſchau: Die Angelegenheit des Briefwechſels
zwiſchen dem Deutſchen Kaiſer und dem erſten Lord
der engliſchen Admiralität Lord Tweedmouth hat am
vergangenen Montag ihre Erledigung in einer Weiſe ge-
funden, wie man ſie von den großen Traditionen des bri-
tiſchen Parlaments erwarten durfte. Wir ſehen deshalb
keinen Anlaß, auf die Sache zurückzukommen und können
uns darauf beſchränken, im Einklang mit der Weſtminſter
Gazette unſere Befriedigung darüber auszuſprechen, daß die
öffentliche Meinung Großbritanniens mit vollkommener
Klarheit ihre Abneigung bekundet hat, dem jüngſten Ver-
ſuche, die Stimmung des britiſchen Volkes gegen Deutſch-
land aufzubringen, Erfolg zu verleihen. Der Vorgang wird
auch für die Zukunft von erſprießlicher Bedeutung ſein,
wenn die Urheber des verurteilenswerten Unternehmens,
die guten Beziehungen zwiſchen großen Nationen mutwillig
zu trüben, aus den neueſten Erfahrungen erkennen werden,
daß die Zeiten vorüber ſind, in denen ſolche Anſchläge ihre
Wirkung taten. Es hat ſich gezeigt, daß in Großoritannien
angeſehene Männer in großer Zahl vorhanden ſind, die
darüber wachen, daß nicht ein neuer Verhetzungsfeldzug
ins Werk geſetzt wird, durch den nach einem Worte Lord
Roſeberys eine krankhafte und in ihren letzten Konſe-
quenzen den europäiſchen Frieden gefährdende Situation
zwiſchen den beiden Nationen geſchaffen wird.

Reichsausſchuß für das ärztliche Fortbildungsweſen.

* Geſtern, Sonntag, den 15. d. M., vollzog ſich ein für die
Beſtrebungen des ärztlichen Fortbildungsweſens wichtiger Vor-
gang. Auf Anregung des Zentralkomitees für das ärztliche Fort-

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[0001] Dienstag, 17. März 1908. München. Vorabendblatt. — Nr. 127 Allgemeine Zeitung. Erſcheint täglich 2mal. — Einhundertelfter Jahrgang. Bezugspreis: Ausgabe B mit Wiſſenſchaftlicher Beilage und Internationaler Wochenſchrift in München 1.50 Mark monatlich frei ins Haus; durch die Poſt: 2. — Mark monatlich. Ausgabe A (ohne Beilage) in München 1. — Mark. durch die Poſt bezogen 1.50 Mark monatlich. Abonnements für München: Expedition Bayerſtraße 57, deren Filialen und ſämtliche Zeitungs-Expeditionen; für das Ausland: England: A. Siegle, 80 Lime Str. und The Anglo-Foreign Publiſhing Syndicate, Ltd., 88 Coleman Str., in London; Frankreich, Portugal und Spanien: A. Ammel u. C. Klienckfieck in Paris; das übrige Europa: die Poſtämter; Orient: das k. k. Poſtamt in Wien oder in Trieſt; Nord- amerika: F. W. Chriſtern. E. Steiger & Co., Guſt. E. Stechert. Weſtermann & Co., ſämtlich in New York. [Abbildung] Inſertionspreis: für die 7 geſpaltene Kolonelzeile oder deren Raum im Morgenblatt 40 Pfennig, im Abendblatt 30 Pfennig, Lokale Anzeigen nach Tarif. Stellen-Geſuche 10 Pfennig. Inſeraten-Annahme in München: Expedition Bayerſtraße 57, die Filialen der Allgemeinen Zeitung und alle Annoncen-Expeditionen. — Generalvertretungen: für Oeſterreich-Ungarn in Wien V/I, Schönbrunner Str. 48 (Richard Jahn); Frankreich: John F. Jones & Co., 31 bis Rue du Faubourg Montmartre in Paris; England: John F. Jones & Co., 1 & 2 Snow Hill, Holborn-Viadukt, London; Rußland: L. & E. Metzl & Co., Moskau. Mjasnitzkaja Haus Chſtow, St. Petersburg, Morskaja 11; Warſchau: Kral-Vorſtadt 53. Chefredakteur: Dr. Hermann Diez. Verantwortlich: für den politiſchen Teil mit Ausnahme der bayeriſchen Politik Dr. Rudolf Dammert; für den bayeriſchen Teil Dr. Paul-Buſching; für das Feuilleton und den „Sonntag“ Alfred Frhr. v. Menſi; für die Wiſſenſchaftliche Beilage Dr. Oskar Bulte; für den Handelsteil Leo Jolles, ſämtlich in München. Redaktion: Bayerſtraße 57 Telephon 8432, 8433. = Druck und Verlag: Bayeriſche Druckerei & Verlagsanſtalt, G. m. b. H., in München. = Expedition: Bayerſtraße 57. Telephon 8430, 8431. Das Neueſte vom Tage. In München und Nürnberg haben große Beamtenver- ſammlungen ſtattgefunden, in denen gegen die neue Ge- haltsordnung proteſtiert wurde. Als deutſcher Kurien-Kardinal ſoll tatſächlich der Freiburger Profeſſor Dr. Heiner auserſehen ſein. Der König von Norwegen hat den Präſidenten des Stor- things, G. Knudſen, mit der Neubildung des Kabinetts beauftragt. Nach einer unverbürgten Nachricht ſoll Muley Hafid Gene- ral d’ Amade ſeine Unterwerfung angeboten haben. Auf einer Radrennbahn in Paris kam es infolge von Mei- nungsverſchiedenheiten zwiſchen Publikum und Preisrichtern zu großen Ruheſtörungen, zu deren Beilegung 300 Schutzleute aufgeboten werden mußten. Auf der Moskau-Kaſanbahn wurden Veruntreuungen von über 3 Millionen Rubel entdeckt; mehr als 100 Be- amte wurden verhaftet. Der Fall Wahrmund. F. Wien, 15. März. Es iſt das Schickſal aufrichtig gläubiger Naturen, daß ſie, wenn ſie der Religion ihrer Vorfahren entfremdet ſind, aber den Glauben an das Göttliche im Menſchen und in der Geſchichte nicht verloren haben, kraftvoll und ohne Rück- ſicht gegen das auftreten, was ſie rückſtändig nennen müſſen, und daß ſie dann die glühende Feindſchaft der Anhänger des Alten erregen. So ergeht es jetzt dem Profeſſor des Kirchenrechts an der Innsbrucker Univerſität Dr. Ludwig Wahrmund, den die Wiener Klerikalen dereinſt als die Hoffnung ihrer Partei anſahen, von deſſen wiſſenſchaft- lichen Kenntniſſen und von deſſen kräftiger Perſönlichkeit ſie Bedeutendes für ihre Sache erwarteten und den ſie des- halb vor etwa zehn Jahren als Reichsratskandidaten in einem der Wiener Bezirke aufſtellten. Wahrmund ent- täuſchte ſie und daher der aus verſagter Liebe erwachſende Haß. Je tiefer er in die Geſchichte des katholiſchen Dogmas eindrang, deſto morſcher erſchien ihm das dogmatiſche und hierarchiſche Gebäude der Kirche. Dieſer Ueberzeugung gab er in dem Vortrage „katholiſche Weltanſchauung und freie Wiſſenſchaft“ energiſch Ausdruck und ging hierbei ſchonungs- los gegen das dogmatiſche Chriſtentum vor, um den Kern der Religion ſelbſt von Mißgeſtalt und Umformung zu rei- nigen. Er gehört aber nach wie vor zu den gläubigen Naturen, wie aus dem Schlußbekenntniſſe ſeines Vortrages erhellt, das hier ſeine Stelle finden mag: Und doch hat auch die Wiſſenſchaft ihren Gott und ihren Glauben. Freilich iſt es kein Gott, der den Menſchen von vornherein nach ſeinem Ebenbilde ſchuf, um ihn ſpäter dem Tiere gleich werden zu laſſen; kein Gott, der ſein Geſchöpf aus dem Paradieſe der Urzeit in den Abgrund der Sünde verſtieß. Es iſt vielmehr ein Gott, der die Vollkommenheit nicht zum Ausgangspunkt, ſondern zum ſchwer errungenen Ziel machte, der das Paradies nicht in den Anfang, ſondern ins Ende der Zeiten ſetzte. Es iſt ein Gott, der ſeine Geſchöpfe in ſtetem Werden und Vergehen zu immer höheren Daſeinsformen emporſteigen ließ und uns damit den troſtreichen Glauben ver- lieh, daß ewige Geſetze eine fortſchreitende Entwicklung nach aufwärts verheißen, daß es uns vergönnt iſt, in unabläſſiger Arbeit und redlichem Streben dem Ziele der Vollkommenheit immer näher zu rücken. Und in dieſem Glauben ziehen die Schwertträger der Wiſſenſchaft, keine unfehlbare, keine alleinſeligmachende und dennoch eine ſieghafte, unüberwindliche Schar, an der Spitze der Menſchheit durch die Jahrtauſende; aufrecht das Haupt, was immer auch kommen mag, und gradaus den Blick in die dämmernde Zukunft gerichtet. Die Angriffe Wahrmunds gegen die Trinität, gegen das Dogma von der unbefleckten Empfängnis, ſowie gegen die Veräußerlichung der Gottesverehrung hat den Zorn der Ultramontanen aufs äußerſte entflammt. Heute ſoll in Innsbruck eine Reihe von Verſammlungen ſtattfinden, zu denen die Bauern aus dem Lande zuſammengetrommelt wurden, um über die Kernfragen moderner Wiſſenſchaft und religiöſen Glaubens zu entſcheiden. In einem maſſen- haft verteilten Flugblatt wird fälſchlich behauptet, Wahr- mund habe „den Spiegel und das Vorbild der Reinheit, die Gottesmutter, verſpottet“ und „damit die Ehre eurer Frauen und Töchter beſudelt“. „Das heiligſte Herz eures Bundesherrn, dem eure Väter Treue geſchworen, hat ein Läſtermund mit ſeinem Geifer beſpritzt,“ ſo lautet eine andere Stelle, welche direkt die Abſicht verfolgt, die perſön- liche Sicherheit Wahrmunds durch die aufgeregten Maſſen zu bedrohen. Die Klerikalen ſpielen aber den Fall Wahrmund von dem politiſchen Felde auf das Gebiet der Freiheit der Uni- verſitäten hinüber. Sie wollen die öſterreichiſche Regie- rung zur Diſziplinierung Wahrmunds zwingen, und ſie ſagen es ausdrücklich, daß ſie ſeine Enthebung von der Pro- feſſur des Kirchenrechts fordern. Das iſt der Grund, warum der Rektor der Innsbrucker Univerſität, der Hiſtoriker Pro- feſſor v. Skala, auf Einladung von Wiener Univerſitäts- lehrern nach Wien kam und hier mit dem Rektor Dr. von Ebner konferierte. Dieſe beiden Männer ſowie ihre Ge- ſinnungsgenoſſen ſind entſchloſſen, den Schild über den an- gefeindeten Kollegen zu halten. Dies kann ſchon in näch- ſter Zeit notwendig werden. Die unbedingte Parteinahme des Miniſterpräſidenten für die klerikalen An- kläger Wahrmunds beweiſt, in welcher Gefahr die freie Forſchung in Oeſterreich ſchwebt. Der Streitfall Wahrmund befindet ſich nämlich in der Hand der Gerichte. Auf Antrag der Wiener Staatsanwaltſchaft legte das Wiener Landes- gericht, alſo die erſte Inſtanz, Beſchlag auf die Broſchüre Wahrmunds, aber der Rekurs wurde ergriffen und die zweite Inſtanz hat ihre Entſcheidung noch nicht gefällt. Es wäre nun Pflicht des Miniſterpräſidenten geweſen, in dieſem Falle wie in zahlreichen Streitfällen nationaler Natur, die ſeiner Entſcheidung vorgelegt wurden, zu erklären, daß er ſo lange nichts unternnehmen könne, bis das zuſtändige Ge- richt endgültig geurteilt habe. Der Miniſterpräſident griff nicht bloß vor, ſondern er gab den Richtern, falls dieſe poli- tiſchen Erwägungen und Furcht für ihre Karriere zugänglich ſind, den beſtimmten Wink, welche Ent- ſcheidung er wünſche. Dieſes Verfahren iſt vom politiſchen wie vom rechtlichen Geſichtspunkte aus in gleicher Weiſe zu verurteilen. Es war ſehr not- wendig, daß ſich die Rektoren der Univerſitäten Wien und Innsbruck, denen die übrigen Hochſchulen wohl ohne Ausnahme folgen werden, ſofort für den bedrohten Kol- legen einſetzten. Sie begaben ſich zum Unterrichts- miniſter Dr. Marchet, der ihnen eine, wie ſie mit- teilen laſſen, korrekte Erklärung gab und deſſen Worte darauf hinwieſen, daß er die Lehrfreiheit an den Univer- ſitäten nicht verletzen laſſen wolle. Hoffentlich wird ſich der Widerſpruch zwiſchen der Haltung des Miniſterpräſi- denten und des Unterrichtsminiſters dahin aufklären, daß der erſtere zugeben wird, er habe aus der dogmatiſchen Ueberzeugung des gläubigen römiſch-katholiſchen Chriſten geſprochen, während Dr. Marchet ſich vorhielt, daß er als Amtsperſon zu entſcheiden habe. Auf jeden Fall ſtehen wir erſt zu Beginn einer weittragenden Angelegenheit. Die Mehrheit der deutſchen Abgeordneten Oeſterreichs befindet ſich jetzt im klerikalen und chriſtlichſozialen Lager, aber eine namhafte Minderheit würde die Diſziplinierung Wahr- munds nicht ruhig hinnehmen. Ein Konflikt droht, bei dem bedauerlicherweiſe auch die nationalen Intereſſen der Deut- ſchen leiden werden, da damit ein Keil zwiſchen ſie ge- trieben wird — und ſolche Spaltungen tragen die Tendenz in ſich, größer zu werden. Es iſt noch ein Vorteil, daß einige Zeit bis zum Zuſammentritt des Reichsrates ver- gehen wird, ſo daß die Gegenſätze nicht unmittelbar auf- einanderſtoßen können. Ueber die geſtrige Innsbrucker Proteſtverſammlung ſchreibt uns unſer dortiger a-Korreſpondent: Die chriſtlichſozialen Abgeordneten haben dem Miniſter- präſidenten von der „furchtbaren Erregung“ erzählt, die das ganze Land Tirol ob des Vortrags von Profeſſor Wahrmund erfaßt habe. Die Wirklichkeit durfte die Deputation nicht Lügen ſtrafen, und da von einer „Erregung“ bei der Landbevölkerung nicht viel zu ſpüren war, ging man eben daran, eine ſolche künſt- lich zu erzeugen, was auch nur zu gut gelang. Dieſe „Erregung“ fand nun heute in einer großen Proteſtverſammlung in Innsbruck, die von dem vereinigten klerikalen Aktions- komitee veranſtaltet wurde, offenen Ausdruck. Die Verſammlung war in mehrfacher Hinſicht ſehr lehrreich und lieferte vor allem den Beweis für die klerikale Abſicht, die Meinungsfreiheit Inns- brucks durch die Landbevölkerung einfach zu unterdrücken. Schon in den Vormittagsſtunden kamen Hunderte von Bauern aus dem Ober- und Unterinntale in Innsbruck an, und mit den Nachmittagszügen nahm der Zulauf nahezu beängſtigende Formen an. Trupps von 20 bis 30 mit ſchweren Stöcken bewaff- neten Bauern durchzogen unter Führung ihres Seelſorgers die Stadt. Es war ein feiner Scherz der klerikalen Regiekunſt, juſt den großen Stadtſaal gegenüber der Univerſität als Schauplatz für die Verſammlung auszuſuchen. Der große Saal war ſchon lange vor Beginn der Verſammlung überfüllt. Die Beſucher — es mochten weit über 2000 geweſen ſein — ſetzten ſich in ihrer überwiegenden Mehrheit aus Bauern zuſammen, wäh- rend die Innsbrucker Bevölkerung es ſich nicht nehmen ließ, den ſchönen Sonntag außerhalb der Stadtmauern zu verbringen. Von parteipolitiſchen Perſönlichkeiten bemerkte man Landeshaupt- mann Dr. Kathrein und faſt ſämtliche chriſtlich-ſozialen Land- tags- und Reichsratsabgeordneten Tirols. Als Regierungsver- treter war Bezirkshauptmann Bär erſchienen. Zum Vorſitzenden wurde Abg. Dr. Kapferer gewählt. Zu Worte gelangten programmgemäß drei Redner, deren Ausführungen in kurzen Intervallen von endloſen Beifallsſtürmen, Füßetrampeln oder toſenden Pfuirufen auf Wahrmund unterbrochen wurden. Das Zeichen zu den Beifalls- und Mißfallsbezeigungen gab eine Anzahl geſchickt im Saale verteilter Claqueurs, was um ſo not- wendiger war, als den meiſten der Anweſenden die Begriffe „Modernismus“, „Syllabus“, „Enzyklika“ uſw. gewiß nicht ge- läufig waren. Ueber die Verſammlung ſelbſt kann man ſich kurz faſſen. Der erſte Redner, Advokaturkonzipient Dr. Luchner- Hall kritiſierte in der bekannten Art die Broſchüre Wahrmunds und zitierte dann unter Beifallsgetrampel den Paragraphen des Strafgeſetzes betreffend Religionsſtörung und die dafür feſtge- legten Strafbeſtimmungen. Redner griff dann mit leidenſchaft- lichen Worten die Regierung an, unter deren Augen ſolches ge- ſprochen wurde und klagte, daß Wahrmund ſich noch immer auf freiem Fuß befinde. Wenn die berufenen Organe es nicht der Mühe wert fänden, einzuſchreiten, ſo ſei es eben Pflicht der katho- liſchen Bevölkerung, die nicht geſonnen ſei, derartige Zuſtände in Tirol weiter zu dulden, ein Wort zu ſprechen. Wir werden es nicht länger zugeben, ſchloß er, daß Hochſchulprofeſſoren von unſerem Gelde bezahlt, deren Schüler aus unſerem Volke ſind, ſich zu Führern der Glaubensfeinde aufwerfen. Kräftigere Akzente brachte der zweite Redner, Reichsrats- abgeordneter Niedriſt. Wahrmund, ſagte er, leide an Ge- hirnerweichung. Die Bauern hätten auch ſchon gehört, wie verſeucht die Hochſchulen ſeien und wollten jetzt einmal Ord- nung machen. Die Broſchüre ſei geradezu geſchaffen, das Herz jedes katholiſchen Tirolers bluten zu machen. Einige Bauern hätten beim Miniſterpräſidenten Einſpruch gegen dieſen Skandal erhoben und die Regierung aufgefordert, die Ordnung herzuſtellen. Sie habe aber nichts getan. Wir Tiroler Bauern, ſagte er, ſind nicht gewöhnt, öfter als dreimal „Halt“ zu ſchreien. Wenn die Re- gierungsmänner vor den Freiheitlichen auf dem Bauch liegen, werden wir eben über ſie hinwegſchreiten. Dann kam der alte Witz mit Darwin und der Abſtammungstheorie und zum Schluß der köſtliche Satz „An dem Felſen Petri haben ſich ſchon mehr hochnaſige Profeſſoren die Schädel eingehaut“. Als letzter Redner ſprach ein Geiſtlicher, Profeſſor Pater Müller, der auch unter dem Schriftſtellernamen Br. Willram bekannt iſt. Seine Rede — übrigens die vernünftigſte von allen — bewegte ſich faſt durchweg in bibliſchen Vergleichen, die er im temperamentvollen Predigtſtil vorbrachte. Zum Schluſſe forderte er zur ſchroffſten Intoleranz auf, da heute Toleranz gleichbedeutend ſei mit Feigheit und Verrat des heiligen Glau- bens. Volk und Klerus gehören zuſammen in Tirol. Und wenn die heiligſten Gefühle des Volkes weiter angegriffen werden, ſo könnte es auch ſein, daß der Hauptteil der nächſtjährigen Jubel- feier von Anno 1809 nicht in Innsbruck, ſondern anderswo gefeiert wird; denn den Ort derſelben beſtimmt nicht die Landes- hauptſtadt, ſondern das Volk. Schließlich wurde eine Reſo- lution angenommen, in der es u. a. heißt: „Die Verſammlung drückt das ſchärfſte Mißtrauen und die entſchiedenſte Mißbilligung gegenüber der Regierung aus, welche es verſäumt hat, das Anſehen und die Würde der oberſten Bildungsſtätten unſeres Volkes zu wahren und ſolch roher, jeder Bildung und Wiſſenſchaft hohnſprechender Be- ſchimpfung der katholiſchen Weltanſchauung Einhalt zu tun.“ Nach Erteilung des fürſtbiſchöflichen Segens und dem üb- lichen Hoch auf Papſt und Kaiſer wurde die Verſammlung mit dem Herz Jeſu-Lied geſchloſſen. Das deutſch-freiheitliche Aktions- komitee, beſtehend aus Vertretern der Bürgerſchaft, der Studen- ten und der ſozialdemokratiſchen Arbeiterſchaft, hatte beſchloſſen, die Veranſtaltung vollkommen zu ignorieren, um nicht Anlaß zu Klagen über Terrorismus zu geben. Es ereignete ſich auch kein Zwiſchenfall. Politiſche Rundſchau Ein neuer deutſcher Kurienkardinal. * Wie wir hören, darf es in der Tat als ſehr wahr- ſcheinlich bezeichnet werden, daß der Freiburger Kirchen- rechtslehrer und päpſtlicher Protonotar Prof. Dr. Franz Heiner, der Kommentator des Syllabus „Lamentabili“ und der Enzyklika „Pascendi“, demnächſt zum Kardinal er- nannt und an Stelle des † Kardinals Steinhuber als deut- ſcher Kurienkardinal nach Rom berufen werden wird. — Heiner iſt am 28. Auguſt 1849 zu Atteln in Weſtfalen ge- boren, ſteht alſo im 59. Lebensjahre. Ein Schlußwort zu dem Briefzwiſchenfall. Die Norddeutſche Allgemeine Zeitung ſchreibt in ihrer Wochenrundſchau: Die Angelegenheit des Briefwechſels zwiſchen dem Deutſchen Kaiſer und dem erſten Lord der engliſchen Admiralität Lord Tweedmouth hat am vergangenen Montag ihre Erledigung in einer Weiſe ge- funden, wie man ſie von den großen Traditionen des bri- tiſchen Parlaments erwarten durfte. Wir ſehen deshalb keinen Anlaß, auf die Sache zurückzukommen und können uns darauf beſchränken, im Einklang mit der Weſtminſter Gazette unſere Befriedigung darüber auszuſprechen, daß die öffentliche Meinung Großbritanniens mit vollkommener Klarheit ihre Abneigung bekundet hat, dem jüngſten Ver- ſuche, die Stimmung des britiſchen Volkes gegen Deutſch- land aufzubringen, Erfolg zu verleihen. Der Vorgang wird auch für die Zukunft von erſprießlicher Bedeutung ſein, wenn die Urheber des verurteilenswerten Unternehmens, die guten Beziehungen zwiſchen großen Nationen mutwillig zu trüben, aus den neueſten Erfahrungen erkennen werden, daß die Zeiten vorüber ſind, in denen ſolche Anſchläge ihre Wirkung taten. Es hat ſich gezeigt, daß in Großoritannien angeſehene Männer in großer Zahl vorhanden ſind, die darüber wachen, daß nicht ein neuer Verhetzungsfeldzug ins Werk geſetzt wird, durch den nach einem Worte Lord Roſeberys eine krankhafte und in ihren letzten Konſe- quenzen den europäiſchen Frieden gefährdende Situation zwiſchen den beiden Nationen geſchaffen wird. Reichsausſchuß für das ärztliche Fortbildungsweſen. * Geſtern, Sonntag, den 15. d. M., vollzog ſich ein für die Beſtrebungen des ärztlichen Fortbildungsweſens wichtiger Vor- gang. Auf Anregung des Zentralkomitees für das ärztliche Fort-

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2021-09-13T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 127. München, 17. März 1908, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine127_1908/1>, abgerufen am 21.11.2024.