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Allgemeine Zeitung, Nr. 12, 15. Januar 1929.

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Dienstag. den 15. Januar "AZ am Abend" Nr. 12
Die Tunnelkatastrophe Novelle von Fred Westermark
[Spaltenumbruch]

Der Zug hatte längst die letzten Ausläufer der
weiten, fruchttragenden Ebene mit ihren wogen-
den Kornfeldern, ihren saftigen grünen Wiesen
und behäbig widerkäuenden Herden buntgescheck-
ter Rinder verlassen. Die Landschaft, die draußen
vorbeiflog, erinnerte noch eben an die sanften
Hügelwellen Thüringens, aber schon schoben sich
die ernsteren Felsenmassen des Vorgebirges dich-
ter heran und hinter ihnen, schimmernd wie
Wolken und fast ohne Verbindung mit der Erde,
erhoben sich die Gipfel ungeheurer Berge und
bohrten ihre schnee- und eisbedeckten Scheitel in
die Unendlichkeit des Himmels.

Eveline sah die Landschaft auf sich zustürzen
und lächelte verträumt, während sie Haralds
Hand streichelte und sich wenig um das etwas
mokante Wesen ihres Gegenübers, einer offenbar
sehr reichen, jedenfalls überaus vornehm ange-
zogenen Dame ihres Alters kümmerte. Mochte
sie denken, was sie wollte, warum sollte es nicht
jeder sehen und wissen, daß sie beide verheiratet,
jung verheiratet waren, daß Eveline sehr, sehr
glücklich sei, jetzt, da man auf sechs lange Wochen
dem lachenden Süden entgegenfuhr.

Ein Schaffner ging durch den Gang, blieb vor
jedem Fenster stehen, schloß die geöffneten und
prüfte sorgfältig die anderen, ob sie auch fest in
ihrem Rahmen saßen. Jetzt stand er vor der
Türe von Evelines Abteil, und Harald, der von
der langen Fahrt ein bißchen schläfrig geworden
war, fuhr mit komischem Erschrecken aus seinem
leichten Halbschlummer auf, als der Schaffner
das Fenster geräuschvoll schloß.

"Warum werden denn alle Fenster zugemacht?"
fragte Eveline neugierig und erstaunt. "Wo es
doch eben schon so entsetzlich heiß ist...!"

Sie betupfte ihr feines, zartes Gesichtchen mit
Kölnischem Wasser, während sie sprach. Harald
zuckte die Achseln.

"Ich weiß nicht, Liebes. Wahrscheinlich kommt
bald ein Tunnel."

"O fein" meinte Eveline und wurde ganz rot
vor Freude. Sie zupfte ihn am Ohr und flü-
sterte: "Da kannst du mich küssen und die da
drüben sieht's nicht."

Mit drolligem Unmut wies sie auf ihr Gegen-
über, jene Dame, die im letzten Augenblick ein-
gestiegen war, wo man sich doch schon so darauf
gefreut hatte, ein Abteil ganz für sich allein zu
haben. Harald musterte die andere flüchtig --
sie schien zu lesen, aber ihre Mundwinkel zuckten
verräterisch. Sichar hatte sie etwas gehört --
nun, wenn schon!

Enger umschlossen die steinernen Wände den
Zug, jetzt kam der Widerhall des Ratterns der
Räder tasend von allen Seiten zurück, der Fels
fügte sich über ihren Häuptern zu einem Dache,
das Tageslicht verschwand irgendwo hinter ihnen,
gleichzeitig aber flammten im ganzen Zuge die
elektrischen Lampen auf.

"O, wie schade", dachte Eveline und stampfte
zornig mit dem Füßchen auf. Mit dem Kuß im
Tunnel wurde es also nichts, dank der vervoll-
kommneten Technik. Harald streichelte sie ver-
stohlen -- er hatte wohl gewußt, daß es so kom-
men würde -- aber wieso sollte er ihr vorher
eine Enttäuschung bereiten? Sie kam ja immer
früh genug.

Plötzlich erloschen alle Lampen, ein ungehen-
res, dannerndes Tosen, ein furchtbarer Krach
erschütterte die Luft. Schrei, entsetzlicher, wilder,
angstvoller Schrei von hundert Menschen und
mehr gellte durch die Nacht, Splittern von Holz,
Klirren von Glas, Stöhnen -- dann wurde es
ganz still. Für Sekunden, für Minuten vielleicht!
Harald hatte einen wahnsinnigen Stoß erhalten,
der ihm fast die Besinnung raubte, ein stechender
Schmerz zerriß seine Stirn. Blut verklebte seine
Augen, strömte über sein Gesicht, widerlich süß
schmeckte er es auf den Lippen. In erstem jähem
Schreck griff er nach der Seite, riß Eveline an
sich, betastete sie, die ihre Lippen fest zusammen-
gepreßt hielt, nichts sprach, merkte keine Ver-
wundung -- "Ohnmächtig", dachte er und eine
[Spaltenumbruch] Last siel von seiner Seele. Er legte seinen Kopf
an ihre Brust, hörte in der grauenhaften Stille
dieser Sekunden deutlich ihr Herz schlagen, leise,
ganz leise. Sie lebte!

Dann hörte er Stöhnen, gellendes Heulen,
hysterisches Schluchzen von Weibern, angstbebende
Männerstimmen, das Wimmern kleiner Kinder,
hundert Laute, die sein Herz zerrissen. Er hatte
nicht die geringste Vorstellung von dem, was
passiert sein mochte. War der Zug mit einem
andern zusammengesteßen, war der Fels über
ihnen niedergebrochen? Er ahnte es nicht. Eine
unerträgliche Hitze nahm ihm den Atem, er fühlte
sich selbst einer Ohnmacht nahe. Nur Luft, Lust
dachte er, sonst stirbt sie mir unter den Händen.

Er erhob sich schwer, Evekine mit einem Arm
umklammernd. Betastete die Wünde und konnte
nichts entdecken. Dies Abteil war offenbar einiger-
maßen verschont geblieben.

Wenn man nur herauskäme aus dem Ge-
fängnis! Er machte einen Schritt vorwärts, stieß
mit dem Fuß an einen weichen Körper, beugte
sich herunter. Ach so, die andere, die fremde
Dame, die ihnen gegenübersaß. Seine Hand saßte
Blut, klebriges, noch warmes Blut. Irgendein
schwerer Gegenstand mußte auf sie herabgefallen
sein, wer weiß was. Ob sie noch lebte. Er konnte
nichts feststellen. So im Dunkeln. Hätte ihr auch
nicht helfen können. Sicher war sie tot.

Aber sie lag der Länge nach vor der Tür, ver-
sperrte ihm den Ausgang. Die Tür war ver-
schlossen gewesen -- aber auch wenn sie offen
war, konnte er über diesen Körper nicht hinweg-
springen, in den Gang hinaus, mit der Last
seiner Frau auf den Armen.

"Gott verzeih mir die Sünde, stöhnte er dumpf,
aber ich kann nicht anders. Es geht ja um Eve-
line. Und diese fremde Frau hier ist tot -- ist
bestimmt tot." Er trat auf den zusammen-
gekrümmten Körper, der sich nicht rührte -- es



Aus "Vettern", dem neuen Lustspiel von Schneider-Schelde
in den Kammerspielen im Schauspielhaus
[Abbildung]

Anneliese Bern Kurt Herwitz

[Spaltenumbruch]

war ein schauerliches Gefühl --, zerrte, rüttelte
an der Tür, bekam sie schließlich auf, trug Eve-
line auf den Gang. Immer noch dieses wüste
Gewirr von Stimmen, Angst, Entsetzen, Ver-
zweiflung aus jedem Laut herausbrechend, der
an sein Ohr drang.

Das große Fenster im Gang war zerbrochen,
Reste der Scheibe, die noch am Rande in dem
Rahmen steckten, brach er ab, klirrend zerschell-
ten sie draußen auf den Steinen. -- Dann, mit
unfäglicher Mühe, den Körper seiner Frau mit
dem einen Arm umschlingend, versuchte er her-
auszuklettern. Zerschnitt sich dabei die Hand
zwei-, dreimal, ohne darauf zu achten, endlich
gelang es. Er spürte das Trittbrett unter sei-
nen schwebenden, suchenden Füßen, hob mit dem
Aufwand letzter Kräfte Eveline empor, durchs
Fenster, ließ sie sanft, sanft niedergleiten, dann
sich selbst -- atmet erleichtert auf. Stand auf
den runden Steinen der Gleisschüttung und
fühlt sich schon halb gerettet.

Schaffner gingen vorbei, schrien nur immer,
helser, dennoch bemüht, die Passagiere zu beruhi-
gen. "Kein Licht anzünden, um Gottes willen
kein Streichholz anzünden, sonst find wir alle er-
ledigt. Es kommt gleich Hilfe!"

Die Warnung pflanzte sich fort, trotz der un-
geheuren Aufregung unter den Verunglückten.
Es war, als habe sich bei allen ein letzter Rest
von Vernunft bewahrt, als wüßte jeder, daß er
sterben müsse, wenn er der Warnung kein Ge-
hör schenke.

Es war rabenschwarze Finsternis, man konnte
nichts, gar nichts sehen. Harald erkannte einen
Schaffner an der Stimme, fragte ihn, was ge-
schehen sei. Der wollte ohne Antwort entweichen.
Da packte Harald ihn mit der freien Hand,
würgte ihn -- er hatte ungeheure Kräfte -- er-
fuhr so schließlich, daß der Tunnel wenige
Meter vor dem Zuge zusammengestürzt sei, --



[Spaltenumbruch] die Lokomotive sei in die Gesteinstrümmer hin-
eingefahren, die hinteren Wagen durch den Rück-
stoß entgleist, wären umgestürzt, hätten sich auf-
einander geschoben, man sei so von beiden Seiten
eingeschlossen Aber es werde versucht werden,
die Hindernisse am Zugende zu beseitigen. In
ein, zwei Stunden würde es geschehen sein.

"Ein, zwei Stunden kann ich nicht warten,"
dachte Harald, angstgeschüttelt. "Das erträgt sie
nicht, sie muß frische Luft atmen."

Das Nachbargleis war frei. Auf ihm tastete
sich Harald weiter -- ab und zu, wenn er die
Richtung zu verlieren drohte, fühlte er mit der
Hand nach den Rädern des Zuges. Spürte
schließlich die Kurbelstange, die ungeheure stäh-
lerne Flanke der Lok&srömotive. Er war also ver-
kehrt gegangen. Hier, wo sich das Gestein bis
an die Decke türmte, gab es kein Entrinnen.

Mit der Last Evelines auf dem Aarm machte
er den Weg zurück. Schweiß stand auf seiner
Stirn und vermischte sich mit dem immer noch
nicht zum Stillstand gekommenen Blut. Endlos
erschien ihm der Weg. Endlich hörte er das
Knirschen von Sägen, unterdrückte Flüche, den
heftigen, geräuschvollen Atem schwer arbeitender
Männer. Er berührte Holz und Eisenteile,
Räder, die in der Luft standen, was unter diesen
Trümmern lag, das hatte wohl schon längst auf-
gehört zu leben.

Das Entsetzliche war diese vollkommene Fin-
sternis. Harald fühlte, daß er wahnsinnig wer-
den würde, wenn er hier noch lange, Stunden
vielleicht, warten mußte. Da bettete er die ohn-
mächtige Eveline dicht an der Wand des Tun-
nels, wo er sicher sein konnte, daß kein anderer
hinkommen würde; für Augenblicke nur. Suchte
auf eigene Faust einen Durchlaß, witterte irgend-
wo einen Hauch kühlerer Luft. Und zwischen
Splittern, Balken und Eisenteilen entdeckte er
wirklich eine Lücke, einen ganz schmalen Zwi-
schenraum, breit genug troßdem, sich hindurch-
zuzwängen. Rief es den anderen zu, brüllte,
ungewiß dennoch, ob man ihn hören würde. Zog
den Körper Evelines vorsichtig, mit unendlicher
Sorgfalt, hindurch, ängstlich darauf achtend, daß
sie sich nicht verletzte.

Und dann, sich aufreckend, holte er tief, tief
Atem. Hinten, ganz weit hinten sah er einen
matten Schimmer. Das mußte das Tageslicht
sein, dort befand sich die Einfahrt zum Tunnel.

Noch einmal nahm er Eveline auf die Arme,
ging, lief, raste auf das ferne Licht zu. Minuten
vielleicht nur -- ihm schienen es Ewigkeiten zu
sein. Endlich kam er näher, der Schimmer
wurde zu einer sanften Helligkeit, die von einem
kühlen frischen Luftzug begleitet war. Im Lauf
suchte Harald Evelines Antlitz, unruhig, besorgt.
Da wurde sein Gesicht aschgrau, er sank in die
Knie wie ein Erschlagener -- im Arm hielt er
-- die fremde Frau ...!




Elegante Welt

"Mit dem train bleu nach dem
Süden" oder "Mit Rodel und Skier in die
Schweizer Berge" lautet die allgemeine Losung
dieser Tage. Wer sich für das eine oder das an-
dere entscheidet, findet eine genaue Aufstellung all
der Dinge, die er für seine Reise benötigt, in der
neuesten Nummer der "Eleganten Welt", die
soeben erschienen ist. Preis 1 Mark.



"Unabhängigen-Faschingsfest" am Freitag, den
18. Januar, und Mittwoch, den 30. Januar, abends
8 Uhr, in den oberen Räumen der "Blüte", Blü-
tenstraße 2.

Unabhängig von jeder Entfernung geben sich
die Völker der Erde ein Stelldichein. Von den Be-
wohnern der Arktis über den Aequator hinweg
bis zum Südpol werden sie vertreten sein.

Kartenvorverkauf: Wallach, Residenzstraße 3,
Finster & Meisner, Goethestraße 4, Abendkasse.
Eintrittspreise: Mitglieder 3.-- RM., Nichtmit-
glieder 5.-- RM., Damen 3.-- RM. Richtmas-
kierte dunkler Anzug und Lösung eines Masken-
zeichens 2.-- RM.



[irrelevantes Material]
Dienstag. den 15. Januar „AZ am Abend“ Nr. 12
Die Tunnelkataſtrophe Novelle von Fred Weſtermark
[Spaltenumbruch]

Der Zug hatte längſt die letzten Ausläufer der
weiten, fruchttragenden Ebene mit ihren wogen-
den Kornfeldern, ihren ſaftigen grünen Wieſen
und behäbig widerkäuenden Herden buntgeſcheck-
ter Rinder verlaſſen. Die Landſchaft, die draußen
vorbeiflog, erinnerte noch eben an die ſanften
Hügelwellen Thüringens, aber ſchon ſchoben ſich
die ernſteren Felſenmaſſen des Vorgebirges dich-
ter heran und hinter ihnen, ſchimmernd wie
Wolken und faſt ohne Verbindung mit der Erde,
erhoben ſich die Gipfel ungeheurer Berge und
bohrten ihre ſchnee- und eisbedeckten Scheitel in
die Unendlichkeit des Himmels.

Eveline ſah die Landſchaft auf ſich zuſtürzen
und lächelte verträumt, während ſie Haralds
Hand ſtreichelte und ſich wenig um das etwas
mokante Weſen ihres Gegenübers, einer offenbar
ſehr reichen, jedenfalls überaus vornehm ange-
zogenen Dame ihres Alters kümmerte. Mochte
ſie denken, was ſie wollte, warum ſollte es nicht
jeder ſehen und wiſſen, daß ſie beide verheiratet,
jung verheiratet waren, daß Eveline ſehr, ſehr
glücklich ſei, jetzt, da man auf ſechs lange Wochen
dem lachenden Süden entgegenfuhr.

Ein Schaffner ging durch den Gang, blieb vor
jedem Fenſter ſtehen, ſchloß die geöffneten und
prüfte ſorgfältig die anderen, ob ſie auch feſt in
ihrem Rahmen ſaßen. Jetzt ſtand er vor der
Türe von Evelines Abteil, und Harald, der von
der langen Fahrt ein bißchen ſchläfrig geworden
war, fuhr mit komiſchem Erſchrecken aus ſeinem
leichten Halbſchlummer auf, als der Schaffner
das Fenſter geräuſchvoll ſchloß.

„Warum werden denn alle Fenſter zugemacht?“
fragte Eveline neugierig und erſtaunt. „Wo es
doch eben ſchon ſo entſetzlich heiß iſt…!“

Sie betupfte ihr feines, zartes Geſichtchen mit
Kölniſchem Waſſer, während ſie ſprach. Harald
zuckte die Achſeln.

„Ich weiß nicht, Liebes. Wahrſcheinlich kommt
bald ein Tunnel.“

„O fein“ meinte Eveline und wurde ganz rot
vor Freude. Sie zupfte ihn am Ohr und flü-
ſterte: „Da kannſt du mich küſſen und die da
drüben ſieht’s nicht.“

Mit drolligem Unmut wies ſie auf ihr Gegen-
über, jene Dame, die im letzten Augenblick ein-
geſtiegen war, wo man ſich doch ſchon ſo darauf
gefreut hatte, ein Abteil ganz für ſich allein zu
haben. Harald muſterte die andere flüchtig —
ſie ſchien zu leſen, aber ihre Mundwinkel zuckten
verräteriſch. Sichar hatte ſie etwas gehört —
nun, wenn ſchon!

Enger umſchloſſen die ſteinernen Wände den
Zug, jetzt kam der Widerhall des Ratterns der
Räder taſend von allen Seiten zurück, der Fels
fügte ſich über ihren Häuptern zu einem Dache,
das Tageslicht verſchwand irgendwo hinter ihnen,
gleichzeitig aber flammten im ganzen Zuge die
elektriſchen Lampen auf.

„O, wie ſchade“, dachte Eveline und ſtampfte
zornig mit dem Füßchen auf. Mit dem Kuß im
Tunnel wurde es alſo nichts, dank der vervoll-
kommneten Technik. Harald ſtreichelte ſie ver-
ſtohlen — er hatte wohl gewußt, daß es ſo kom-
men würde — aber wieſo ſollte er ihr vorher
eine Enttäuſchung bereiten? Sie kam ja immer
früh genug.

Plötzlich erloſchen alle Lampen, ein ungehen-
res, dannerndes Toſen, ein furchtbarer Krach
erſchütterte die Luft. Schrei, entſetzlicher, wilder,
angſtvoller Schrei von hundert Menſchen und
mehr gellte durch die Nacht, Splittern von Holz,
Klirren von Glas, Stöhnen — dann wurde es
ganz ſtill. Für Sekunden, für Minuten vielleicht!
Harald hatte einen wahnſinnigen Stoß erhalten,
der ihm faſt die Beſinnung raubte, ein ſtechender
Schmerz zerriß ſeine Stirn. Blut verklebte ſeine
Augen, ſtrömte über ſein Geſicht, widerlich ſüß
ſchmeckte er es auf den Lippen. In erſtem jähem
Schreck griff er nach der Seite, riß Eveline an
ſich, betaſtete ſie, die ihre Lippen feſt zuſammen-
gepreßt hielt, nichts ſprach, merkte keine Ver-
wundung — „Ohnmächtig“, dachte er und eine
[Spaltenumbruch] Laſt ſiel von ſeiner Seele. Er legte ſeinen Kopf
an ihre Bruſt, hörte in der grauenhaften Stille
dieſer Sekunden deutlich ihr Herz ſchlagen, leiſe,
ganz leiſe. Sie lebte!

Dann hörte er Stöhnen, gellendes Heulen,
hyſteriſches Schluchzen von Weibern, angſtbebende
Männerſtimmen, das Wimmern kleiner Kinder,
hundert Laute, die ſein Herz zerriſſen. Er hatte
nicht die geringſte Vorſtellung von dem, was
paſſiert ſein mochte. War der Zug mit einem
andern zuſammengeſteßen, war der Fels über
ihnen niedergebrochen? Er ahnte es nicht. Eine
unerträgliche Hitze nahm ihm den Atem, er fühlte
ſich ſelbſt einer Ohnmacht nahe. Nur Luft, Luſt
dachte er, ſonſt ſtirbt ſie mir unter den Händen.

Er erhob ſich ſchwer, Evekine mit einem Arm
umklammernd. Betaſtete die Wünde und konnte
nichts entdecken. Dies Abteil war offenbar einiger-
maßen verſchont geblieben.

Wenn man nur herauskäme aus dem Ge-
fängnis! Er machte einen Schritt vorwärts, ſtieß
mit dem Fuß an einen weichen Körper, beugte
ſich herunter. Ach ſo, die andere, die fremde
Dame, die ihnen gegenüberſaß. Seine Hand ſaßte
Blut, klebriges, noch warmes Blut. Irgendein
ſchwerer Gegenſtand mußte auf ſie herabgefallen
ſein, wer weiß was. Ob ſie noch lebte. Er konnte
nichts feſtſtellen. So im Dunkeln. Hätte ihr auch
nicht helfen können. Sicher war ſie tot.

Aber ſie lag der Länge nach vor der Tür, ver-
ſperrte ihm den Ausgang. Die Tür war ver-
ſchloſſen geweſen — aber auch wenn ſie offen
war, konnte er über dieſen Körper nicht hinweg-
ſpringen, in den Gang hinaus, mit der Laſt
ſeiner Frau auf den Armen.

„Gott verzeih mir die Sünde, ſtöhnte er dumpf,
aber ich kann nicht anders. Es geht ja um Eve-
line. Und dieſe fremde Frau hier iſt tot — iſt
beſtimmt tot.“ Er trat auf den zuſammen-
gekrümmten Körper, der ſich nicht rührte — es



Aus „Vettern“, dem neuen Luſtſpiel von Schneider-Schelde
in den Kammerſpielen im Schauſpielhaus
[Abbildung]

Annelieſe Bern Kurt Herwitz

[Spaltenumbruch]

war ein ſchauerliches Gefühl —, zerrte, rüttelte
an der Tür, bekam ſie ſchließlich auf, trug Eve-
line auf den Gang. Immer noch dieſes wüſte
Gewirr von Stimmen, Angſt, Entſetzen, Ver-
zweiflung aus jedem Laut herausbrechend, der
an ſein Ohr drang.

Das große Fenſter im Gang war zerbrochen,
Reſte der Scheibe, die noch am Rande in dem
Rahmen ſteckten, brach er ab, klirrend zerſchell-
ten ſie draußen auf den Steinen. — Dann, mit
unfäglicher Mühe, den Körper ſeiner Frau mit
dem einen Arm umſchlingend, verſuchte er her-
auszuklettern. Zerſchnitt ſich dabei die Hand
zwei-, dreimal, ohne darauf zu achten, endlich
gelang es. Er ſpürte das Trittbrett unter ſei-
nen ſchwebenden, ſuchenden Füßen, hob mit dem
Aufwand letzter Kräfte Eveline empor, durchs
Fenſter, ließ ſie ſanft, ſanft niedergleiten, dann
ſich ſelbſt — atmet erleichtert auf. Stand auf
den runden Steinen der Gleisſchüttung und
fühlt ſich ſchon halb gerettet.

Schaffner gingen vorbei, ſchrien nur immer,
helſer, dennoch bemüht, die Paſſagiere zu beruhi-
gen. „Kein Licht anzünden, um Gottes willen
kein Streichholz anzünden, ſonſt find wir alle er-
ledigt. Es kommt gleich Hilfe!“

Die Warnung pflanzte ſich fort, trotz der un-
geheuren Aufregung unter den Verunglückten.
Es war, als habe ſich bei allen ein letzter Reſt
von Vernunft bewahrt, als wüßte jeder, daß er
ſterben müſſe, wenn er der Warnung kein Ge-
hör ſchenke.

Es war rabenſchwarze Finſternis, man konnte
nichts, gar nichts ſehen. Harald erkannte einen
Schaffner an der Stimme, fragte ihn, was ge-
ſchehen ſei. Der wollte ohne Antwort entweichen.
Da packte Harald ihn mit der freien Hand,
würgte ihn — er hatte ungeheure Kräfte — er-
fuhr ſo ſchließlich, daß der Tunnel wenige
Meter vor dem Zuge zuſammengeſtürzt ſei, —



[Spaltenumbruch] die Lokomotive ſei in die Geſteinſtrümmer hin-
eingefahren, die hinteren Wagen durch den Rück-
ſtoß entgleiſt, wären umgeſtürzt, hätten ſich auf-
einander geſchoben, man ſei ſo von beiden Seiten
eingeſchloſſen Aber es werde verſucht werden,
die Hinderniſſe am Zugende zu beſeitigen. In
ein, zwei Stunden würde es geſchehen ſein.

„Ein, zwei Stunden kann ich nicht warten,“
dachte Harald, angſtgeſchüttelt. „Das erträgt ſie
nicht, ſie muß friſche Luft atmen.“

Das Nachbargleis war frei. Auf ihm taſtete
ſich Harald weiter — ab und zu, wenn er die
Richtung zu verlieren drohte, fühlte er mit der
Hand nach den Rädern des Zuges. Spürte
ſchließlich die Kurbelſtange, die ungeheure ſtäh-
lerne Flanke der Lok&ſrömotive. Er war alſo ver-
kehrt gegangen. Hier, wo ſich das Geſtein bis
an die Decke türmte, gab es kein Entrinnen.

Mit der Laſt Evelines auf dem Aarm machte
er den Weg zurück. Schweiß ſtand auf ſeiner
Stirn und vermiſchte ſich mit dem immer noch
nicht zum Stillſtand gekommenen Blut. Endlos
erſchien ihm der Weg. Endlich hörte er das
Knirſchen von Sägen, unterdrückte Flüche, den
heftigen, geräuſchvollen Atem ſchwer arbeitender
Männer. Er berührte Holz und Eiſenteile,
Räder, die in der Luft ſtanden, was unter dieſen
Trümmern lag, das hatte wohl ſchon längſt auf-
gehört zu leben.

Das Entſetzliche war dieſe vollkommene Fin-
ſternis. Harald fühlte, daß er wahnſinnig wer-
den würde, wenn er hier noch lange, Stunden
vielleicht, warten mußte. Da bettete er die ohn-
mächtige Eveline dicht an der Wand des Tun-
nels, wo er ſicher ſein konnte, daß kein anderer
hinkommen würde; für Augenblicke nur. Suchte
auf eigene Fauſt einen Durchlaß, witterte irgend-
wo einen Hauch kühlerer Luft. Und zwiſchen
Splittern, Balken und Eiſenteilen entdeckte er
wirklich eine Lücke, einen ganz ſchmalen Zwi-
ſchenraum, breit genug troßdem, ſich hindurch-
zuzwängen. Rief es den anderen zu, brüllte,
ungewiß dennoch, ob man ihn hören würde. Zog
den Körper Evelines vorſichtig, mit unendlicher
Sorgfalt, hindurch, ängſtlich darauf achtend, daß
ſie ſich nicht verletzte.

Und dann, ſich aufreckend, holte er tief, tief
Atem. Hinten, ganz weit hinten ſah er einen
matten Schimmer. Das mußte das Tageslicht
ſein, dort befand ſich die Einfahrt zum Tunnel.

Noch einmal nahm er Eveline auf die Arme,
ging, lief, raſte auf das ferne Licht zu. Minuten
vielleicht nur — ihm ſchienen es Ewigkeiten zu
ſein. Endlich kam er näher, der Schimmer
wurde zu einer ſanften Helligkeit, die von einem
kühlen friſchen Luftzug begleitet war. Im Lauf
ſuchte Harald Evelines Antlitz, unruhig, beſorgt.
Da wurde ſein Geſicht aſchgrau, er ſank in die
Knie wie ein Erſchlagener — im Arm hielt er
— die fremde Frau …!




Elegante Welt

„Mit dem train bleu nach dem
Süden“ oder „Mit Rodel und Skier in die
Schweizer Berge“ lautet die allgemeine Loſung
dieſer Tage. Wer ſich für das eine oder das an-
dere entſcheidet, findet eine genaue Aufſtellung all
der Dinge, die er für ſeine Reiſe benötigt, in der
neueſten Nummer der „Eleganten Welt“, die
ſoeben erſchienen iſt. Preis 1 Mark.



„Unabhängigen-Faſchingsfeſt“ am Freitag, den
18. Januar, und Mittwoch, den 30. Januar, abends
8 Uhr, in den oberen Räumen der „Blüte“, Blü-
tenſtraße 2.

Unabhängig von jeder Entfernung geben ſich
die Völker der Erde ein Stelldichein. Von den Be-
wohnern der Arktis über den Aequator hinweg
bis zum Südpol werden ſie vertreten ſein.

Kartenvorverkauf: Wallach, Reſidenzſtraße 3,
Finſter & Meisner, Goetheſtraße 4, Abendkaſſe.
Eintrittspreiſe: Mitglieder 3.— RM., Nichtmit-
glieder 5.— RM., Damen 3.— RM. Richtmas-
kierte dunkler Anzug und Löſung eines Masken-
zeichens 2.— RM.



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[Seite 11[11]/0011] Dienstag. den 15. Januar „AZ am Abend“ Nr. 12 Die Tunnelkataſtrophe Novelle von Fred Weſtermark Der Zug hatte längſt die letzten Ausläufer der weiten, fruchttragenden Ebene mit ihren wogen- den Kornfeldern, ihren ſaftigen grünen Wieſen und behäbig widerkäuenden Herden buntgeſcheck- ter Rinder verlaſſen. Die Landſchaft, die draußen vorbeiflog, erinnerte noch eben an die ſanften Hügelwellen Thüringens, aber ſchon ſchoben ſich die ernſteren Felſenmaſſen des Vorgebirges dich- ter heran und hinter ihnen, ſchimmernd wie Wolken und faſt ohne Verbindung mit der Erde, erhoben ſich die Gipfel ungeheurer Berge und bohrten ihre ſchnee- und eisbedeckten Scheitel in die Unendlichkeit des Himmels. Eveline ſah die Landſchaft auf ſich zuſtürzen und lächelte verträumt, während ſie Haralds Hand ſtreichelte und ſich wenig um das etwas mokante Weſen ihres Gegenübers, einer offenbar ſehr reichen, jedenfalls überaus vornehm ange- zogenen Dame ihres Alters kümmerte. Mochte ſie denken, was ſie wollte, warum ſollte es nicht jeder ſehen und wiſſen, daß ſie beide verheiratet, jung verheiratet waren, daß Eveline ſehr, ſehr glücklich ſei, jetzt, da man auf ſechs lange Wochen dem lachenden Süden entgegenfuhr. Ein Schaffner ging durch den Gang, blieb vor jedem Fenſter ſtehen, ſchloß die geöffneten und prüfte ſorgfältig die anderen, ob ſie auch feſt in ihrem Rahmen ſaßen. Jetzt ſtand er vor der Türe von Evelines Abteil, und Harald, der von der langen Fahrt ein bißchen ſchläfrig geworden war, fuhr mit komiſchem Erſchrecken aus ſeinem leichten Halbſchlummer auf, als der Schaffner das Fenſter geräuſchvoll ſchloß. „Warum werden denn alle Fenſter zugemacht?“ fragte Eveline neugierig und erſtaunt. „Wo es doch eben ſchon ſo entſetzlich heiß iſt…!“ Sie betupfte ihr feines, zartes Geſichtchen mit Kölniſchem Waſſer, während ſie ſprach. Harald zuckte die Achſeln. „Ich weiß nicht, Liebes. Wahrſcheinlich kommt bald ein Tunnel.“ „O fein“ meinte Eveline und wurde ganz rot vor Freude. Sie zupfte ihn am Ohr und flü- ſterte: „Da kannſt du mich küſſen und die da drüben ſieht’s nicht.“ Mit drolligem Unmut wies ſie auf ihr Gegen- über, jene Dame, die im letzten Augenblick ein- geſtiegen war, wo man ſich doch ſchon ſo darauf gefreut hatte, ein Abteil ganz für ſich allein zu haben. Harald muſterte die andere flüchtig — ſie ſchien zu leſen, aber ihre Mundwinkel zuckten verräteriſch. Sichar hatte ſie etwas gehört — nun, wenn ſchon! Enger umſchloſſen die ſteinernen Wände den Zug, jetzt kam der Widerhall des Ratterns der Räder taſend von allen Seiten zurück, der Fels fügte ſich über ihren Häuptern zu einem Dache, das Tageslicht verſchwand irgendwo hinter ihnen, gleichzeitig aber flammten im ganzen Zuge die elektriſchen Lampen auf. „O, wie ſchade“, dachte Eveline und ſtampfte zornig mit dem Füßchen auf. Mit dem Kuß im Tunnel wurde es alſo nichts, dank der vervoll- kommneten Technik. Harald ſtreichelte ſie ver- ſtohlen — er hatte wohl gewußt, daß es ſo kom- men würde — aber wieſo ſollte er ihr vorher eine Enttäuſchung bereiten? Sie kam ja immer früh genug. Plötzlich erloſchen alle Lampen, ein ungehen- res, dannerndes Toſen, ein furchtbarer Krach erſchütterte die Luft. Schrei, entſetzlicher, wilder, angſtvoller Schrei von hundert Menſchen und mehr gellte durch die Nacht, Splittern von Holz, Klirren von Glas, Stöhnen — dann wurde es ganz ſtill. Für Sekunden, für Minuten vielleicht! Harald hatte einen wahnſinnigen Stoß erhalten, der ihm faſt die Beſinnung raubte, ein ſtechender Schmerz zerriß ſeine Stirn. Blut verklebte ſeine Augen, ſtrömte über ſein Geſicht, widerlich ſüß ſchmeckte er es auf den Lippen. In erſtem jähem Schreck griff er nach der Seite, riß Eveline an ſich, betaſtete ſie, die ihre Lippen feſt zuſammen- gepreßt hielt, nichts ſprach, merkte keine Ver- wundung — „Ohnmächtig“, dachte er und eine Laſt ſiel von ſeiner Seele. Er legte ſeinen Kopf an ihre Bruſt, hörte in der grauenhaften Stille dieſer Sekunden deutlich ihr Herz ſchlagen, leiſe, ganz leiſe. Sie lebte! Dann hörte er Stöhnen, gellendes Heulen, hyſteriſches Schluchzen von Weibern, angſtbebende Männerſtimmen, das Wimmern kleiner Kinder, hundert Laute, die ſein Herz zerriſſen. Er hatte nicht die geringſte Vorſtellung von dem, was paſſiert ſein mochte. War der Zug mit einem andern zuſammengeſteßen, war der Fels über ihnen niedergebrochen? Er ahnte es nicht. Eine unerträgliche Hitze nahm ihm den Atem, er fühlte ſich ſelbſt einer Ohnmacht nahe. Nur Luft, Luſt dachte er, ſonſt ſtirbt ſie mir unter den Händen. Er erhob ſich ſchwer, Evekine mit einem Arm umklammernd. Betaſtete die Wünde und konnte nichts entdecken. Dies Abteil war offenbar einiger- maßen verſchont geblieben. Wenn man nur herauskäme aus dem Ge- fängnis! Er machte einen Schritt vorwärts, ſtieß mit dem Fuß an einen weichen Körper, beugte ſich herunter. Ach ſo, die andere, die fremde Dame, die ihnen gegenüberſaß. Seine Hand ſaßte Blut, klebriges, noch warmes Blut. Irgendein ſchwerer Gegenſtand mußte auf ſie herabgefallen ſein, wer weiß was. Ob ſie noch lebte. Er konnte nichts feſtſtellen. So im Dunkeln. Hätte ihr auch nicht helfen können. Sicher war ſie tot. Aber ſie lag der Länge nach vor der Tür, ver- ſperrte ihm den Ausgang. Die Tür war ver- ſchloſſen geweſen — aber auch wenn ſie offen war, konnte er über dieſen Körper nicht hinweg- ſpringen, in den Gang hinaus, mit der Laſt ſeiner Frau auf den Armen. „Gott verzeih mir die Sünde, ſtöhnte er dumpf, aber ich kann nicht anders. Es geht ja um Eve- line. Und dieſe fremde Frau hier iſt tot — iſt beſtimmt tot.“ Er trat auf den zuſammen- gekrümmten Körper, der ſich nicht rührte — es Aus „Vettern“, dem neuen Luſtſpiel von Schneider-Schelde in den Kammerſpielen im Schauſpielhaus [Abbildung Annelieſe Bern Kurt Herwitz] war ein ſchauerliches Gefühl —, zerrte, rüttelte an der Tür, bekam ſie ſchließlich auf, trug Eve- line auf den Gang. Immer noch dieſes wüſte Gewirr von Stimmen, Angſt, Entſetzen, Ver- zweiflung aus jedem Laut herausbrechend, der an ſein Ohr drang. Das große Fenſter im Gang war zerbrochen, Reſte der Scheibe, die noch am Rande in dem Rahmen ſteckten, brach er ab, klirrend zerſchell- ten ſie draußen auf den Steinen. — Dann, mit unfäglicher Mühe, den Körper ſeiner Frau mit dem einen Arm umſchlingend, verſuchte er her- auszuklettern. Zerſchnitt ſich dabei die Hand zwei-, dreimal, ohne darauf zu achten, endlich gelang es. Er ſpürte das Trittbrett unter ſei- nen ſchwebenden, ſuchenden Füßen, hob mit dem Aufwand letzter Kräfte Eveline empor, durchs Fenſter, ließ ſie ſanft, ſanft niedergleiten, dann ſich ſelbſt — atmet erleichtert auf. Stand auf den runden Steinen der Gleisſchüttung und fühlt ſich ſchon halb gerettet. Schaffner gingen vorbei, ſchrien nur immer, helſer, dennoch bemüht, die Paſſagiere zu beruhi- gen. „Kein Licht anzünden, um Gottes willen kein Streichholz anzünden, ſonſt find wir alle er- ledigt. Es kommt gleich Hilfe!“ Die Warnung pflanzte ſich fort, trotz der un- geheuren Aufregung unter den Verunglückten. Es war, als habe ſich bei allen ein letzter Reſt von Vernunft bewahrt, als wüßte jeder, daß er ſterben müſſe, wenn er der Warnung kein Ge- hör ſchenke. Es war rabenſchwarze Finſternis, man konnte nichts, gar nichts ſehen. Harald erkannte einen Schaffner an der Stimme, fragte ihn, was ge- ſchehen ſei. Der wollte ohne Antwort entweichen. Da packte Harald ihn mit der freien Hand, würgte ihn — er hatte ungeheure Kräfte — er- fuhr ſo ſchließlich, daß der Tunnel wenige Meter vor dem Zuge zuſammengeſtürzt ſei, — die Lokomotive ſei in die Geſteinſtrümmer hin- eingefahren, die hinteren Wagen durch den Rück- ſtoß entgleiſt, wären umgeſtürzt, hätten ſich auf- einander geſchoben, man ſei ſo von beiden Seiten eingeſchloſſen Aber es werde verſucht werden, die Hinderniſſe am Zugende zu beſeitigen. In ein, zwei Stunden würde es geſchehen ſein. „Ein, zwei Stunden kann ich nicht warten,“ dachte Harald, angſtgeſchüttelt. „Das erträgt ſie nicht, ſie muß friſche Luft atmen.“ Das Nachbargleis war frei. Auf ihm taſtete ſich Harald weiter — ab und zu, wenn er die Richtung zu verlieren drohte, fühlte er mit der Hand nach den Rädern des Zuges. Spürte ſchließlich die Kurbelſtange, die ungeheure ſtäh- lerne Flanke der Lok&ſrömotive. Er war alſo ver- kehrt gegangen. Hier, wo ſich das Geſtein bis an die Decke türmte, gab es kein Entrinnen. Mit der Laſt Evelines auf dem Aarm machte er den Weg zurück. Schweiß ſtand auf ſeiner Stirn und vermiſchte ſich mit dem immer noch nicht zum Stillſtand gekommenen Blut. Endlos erſchien ihm der Weg. Endlich hörte er das Knirſchen von Sägen, unterdrückte Flüche, den heftigen, geräuſchvollen Atem ſchwer arbeitender Männer. Er berührte Holz und Eiſenteile, Räder, die in der Luft ſtanden, was unter dieſen Trümmern lag, das hatte wohl ſchon längſt auf- gehört zu leben. Das Entſetzliche war dieſe vollkommene Fin- ſternis. Harald fühlte, daß er wahnſinnig wer- den würde, wenn er hier noch lange, Stunden vielleicht, warten mußte. Da bettete er die ohn- mächtige Eveline dicht an der Wand des Tun- nels, wo er ſicher ſein konnte, daß kein anderer hinkommen würde; für Augenblicke nur. Suchte auf eigene Fauſt einen Durchlaß, witterte irgend- wo einen Hauch kühlerer Luft. Und zwiſchen Splittern, Balken und Eiſenteilen entdeckte er wirklich eine Lücke, einen ganz ſchmalen Zwi- ſchenraum, breit genug troßdem, ſich hindurch- zuzwängen. Rief es den anderen zu, brüllte, ungewiß dennoch, ob man ihn hören würde. Zog den Körper Evelines vorſichtig, mit unendlicher Sorgfalt, hindurch, ängſtlich darauf achtend, daß ſie ſich nicht verletzte. Und dann, ſich aufreckend, holte er tief, tief Atem. Hinten, ganz weit hinten ſah er einen matten Schimmer. Das mußte das Tageslicht ſein, dort befand ſich die Einfahrt zum Tunnel. Noch einmal nahm er Eveline auf die Arme, ging, lief, raſte auf das ferne Licht zu. Minuten vielleicht nur — ihm ſchienen es Ewigkeiten zu ſein. Endlich kam er näher, der Schimmer wurde zu einer ſanften Helligkeit, die von einem kühlen friſchen Luftzug begleitet war. Im Lauf ſuchte Harald Evelines Antlitz, unruhig, beſorgt. Da wurde ſein Geſicht aſchgrau, er ſank in die Knie wie ein Erſchlagener — im Arm hielt er — die fremde Frau …! Elegante Welt„Mit dem train bleu nach dem Süden“ oder „Mit Rodel und Skier in die Schweizer Berge“ lautet die allgemeine Loſung dieſer Tage. Wer ſich für das eine oder das an- dere entſcheidet, findet eine genaue Aufſtellung all der Dinge, die er für ſeine Reiſe benötigt, in der neueſten Nummer der „Eleganten Welt“, die ſoeben erſchienen iſt. Preis 1 Mark. „Unabhängigen-Faſchingsfeſt“ am Freitag, den 18. Januar, und Mittwoch, den 30. Januar, abends 8 Uhr, in den oberen Räumen der „Blüte“, Blü- tenſtraße 2. Unabhängig von jeder Entfernung geben ſich die Völker der Erde ein Stelldichein. Von den Be- wohnern der Arktis über den Aequator hinweg bis zum Südpol werden ſie vertreten ſein. Kartenvorverkauf: Wallach, Reſidenzſtraße 3, Finſter & Meisner, Goetheſtraße 4, Abendkaſſe. Eintrittspreiſe: Mitglieder 3.— RM., Nichtmit- glieder 5.— RM., Damen 3.— RM. Richtmas- kierte dunkler Anzug und Löſung eines Masken- zeichens 2.— RM. _

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2020-10-02T09:49:36Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 12, 15. Januar 1929, S. Seite 11[11]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine12_1929/11>, abgerufen am 21.11.2024.