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Allgemeine Zeitung, Nr. 133, 20. März 1908.

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Freitag. 20. März 1908. München.
Einzige Tagesausgabe. -- Nr. 133
Allgemeine Zeitung.
Erscheint täglich 2mal. -- Einhundertelfter Jahrgang.
Bezugspreis: Ausgabe B mit Wissenschaftlicher Beilage und Internationaler Wochenschrift in
München 1.50 Mark monatlich frei ins Haus; durch die Post: 2.-- Mark monatlich. Ausgabe A (ohne
Beilage) in München 1.-- Mark, durch die Post bezogen 1.50 Mark monatlich. Abonnements für
München: Expedition Bayerstraße 57, deren Filialen und sämtliche Zeitungs-Expeditionen; für
das Ausland: England: A. Siegle, 30 Lime Str. und The Anglo-Foreign Publishing Syndicate,
Ltd., 38 Coleman Str., in London; Frankreich. Portugal und Spanien: A. Ammel u. C. Kliencksieck
in Paris; das übrige Europa: die Postämter; Orient: das k. k. Postamt in Wien oder in Triest; Nord-
amerika: F. W. Christern. E. Steiger & Co., Gust E. Stechert. Westermann & Co., sämtlich in New York
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Insertionspreis: für die 7 gespaltene Kolonelzeile oder deren Raum im Morgenblatt
40 Pfennig, im Abendblatt 80 Pfennig. Lokale Anzeigen nach Tarif. Stellen-Gesuche 10 Pfennig.
Inseraten-Annahme in München: Expedition Bayerstraße 57, die Filialen der Allgemeinen
Zeitung und alle Annoncen-Expeditionen. -- Generalvertretungen: für Oesterreich-Ungarn
in Wien V/I, Schönbrunner Str. 48 (Richard Jahn); Frankreich: John F. Jones & Co.,
31 bis Rue du Faubourg Montmartre in Paris; England: John F. Jones & Co.,
1 & 2 Snow Hill, Holborn-Viadukt, London; Rußland: L. & E. Metzl & Co., Moskau.
Mjasnitzkaja Haus Systow. St. Petersburg, Morskaja 11; Warschau: Kral-Vorstadt 53.
Chefredakteur: Dr. Hermann Diez.
Verantwortlich: für den politischen Teil mit Ausnahme der bayerischen Politik Dr. Rudolf Dammert; für den bayerischen Teil Dr. Paul Busching; für das Feuilleton und den "Sonntag" Alfred Frhr. v. Mensi;
für die Wissenschaftliche Beilage Dr. Oskar Bulle; für den Handelsteil Leo Jolles, sämtlich in München.
Redaktion: Bayerstraße 57 Telephon 8432, 8433. = Druck und Verlag: Bayerische Druckerei & Verlagsanstalt, G. m. b. H., in München. = Expedition: Bayerstraße 57. Telephon 8430, 8431.
Des Feiertags wegen erscheint die nächste
Nummer der Allgemeinen Zeitung Freitag
Nachmittag.
Das Neueste vom Tage.

In der Frauenkirche zu München hat in Anwesenheit Sr. kgl.
Hoheit des Prinzregenten die kirchliche Feier des
Papstjubiläums stattgefunden.

Auch in der Frage der Jugendlichen soll nun in der
Vereinsgesetzkommission ein Kompromiß erzielt
sein.

In den Staaten der lateinischen Münz-Union wird
eine Vermehrung der silbernen Scheide-
münzen
von 7 auf 17 Francs pro Kopf durchgeführt.

Die Wirren auf Haiti.

M. p. Ueber die Persönlichkeiten, deren politischer Ehr-
geiz zu den Unruhen und Massenhinrichtungen in Port au
Prince geführt hat, erhalten wir von einem Diplomaten,
der die haitianischen Verhältnisse von längerem Aufenthalt
auf der Insel her kennt, die folgende Schilderung:

Nord Alexis, der Präsident, und Anthenor Firmin, der
Präsidentschaftskandidat, waren früher Freunde, trotz ihrer grund-
verschiedenen Charaktere, die nur in dem wütenden Fremdenhaß
etwas Gemeinsames haben. Alexis ist der Prototyp des alten
verbissenen Haitianers und als solcher, bei gänzlicher Skrupel-
losigkeit, eine nicht uninteressante Gestalt. Er ist von Beruf
Militär und war vor seiner Präsidentschaft "general de division",
d. h. berittener Führer einiger zerlumpter Soldaten, und Gou-
verneur des Norddistrikts mit dem Sitz in Kap Haiti. Er ist trotz
seiner 97 Jahre ein kräftiger aufrechter Mann, ein wahrer Riese
mit weißem Haar und Bart. Sein Selbstbewußtsein ist stark aus-
geprägt: "Mo' grand 'moune (Moi grand homme) betonte er
als Wahrspruch den Ausländern gegenüber, die er nur als "tits
mounes
" -- kleine Leute -- gelten lassen wollte. Als lang-
jähriger Kommandant der "Nordarmee" hat er ein großes Ver-
mögen dadurch zusammengerafft, daß er den größten Teil des
Soldes seiner Leute in die eigene Tasche steckte. Dank seinem
persönlichen Mut und großer Mäßigkeit im Genuß geistiger Ge-
tränke ist Aleris in den schwierigsten Lagen immer Herr der
Situation geblieben. Nach der letzten Revolution von 1902 ritt
er an der Spitze seiner Getreuen von Kap Haiti nach der Haupt-
stadt und erklärte kurz: "Mo' ici, mo' president". Grundsätze
kennt der Mann nicht. Er wirtschaftet mit den Staatsgeldern
ebenso wie früher mit der Löhnung seiner Leute. Auch in reli-
giöser Beziehung ist der alte Voudou-Mann und Fetischanbeter
ein unsicherer Kantorist. Wäre nicht die Scheu vor der katholi-
schen schwarzen Geistlichkeit, die es aus Ueberlieferung immer
mit dem jeweiligen Präsidenten hält, so würde der fast hundert-
jährige Patriarch wohl weiter und offen dem heidnischen
Schlangenkultus huldigen, dessen Orgien und Menschenopfer noch
nie ein Weißer geschaut hat.
Einen schroffen Gegensatz zu Nord Alexis zeigt der An-
wärter auf Regierungsehren, der etwa 60jährige Anthenor Fir-
min. Der kleine zierliche Mann ist von Beruf Rechtsanwalt und
genießt wegen seiner Ehrlichkeit bei den Fremden großes Ver-
trauen, das er in verschiedenen Ministerstellungen niemals ge-
täuscht hat. Während seines Finanzministeriums stand das hai-
tianische Papiergeld, der "Gourde", Dollar, so hoch im Kurs, daß
er zeitweise eine Prämie von bis zu 8 vom Hundert über den
amerikanischen Silberdollar hatte. Das Budget hat er damals
um fast die Hälfte reduziert. Darum schon wird er kaum je Prä-
sident werden, denn von einem so gewissenhaften Manne hat sein
Anhang wenig zu erwarten. Firmin ist dazu selbst kein Kämpfer,
sondern überläßt dier aktive Führung seines Prätendententums
einer Anzahl alter Haudegen, von denen jetzt ein Teil ihrer Treue
für ihn mit dem Leben hat bezahlen müssen. Als sein Freund
Nord in den Präsidialpalast als Herr einzog, hat sich Firmin gar
bald in Sicherheit gebracht und wartet auf dem Boden des be-
nachbarten Santo Domingo die Umwälzung in Port au Prince
ab, die ihn zum Herrn von Haiti machen soll.

Entgegen den telegraphischen Berichten, die wahr-
scheinlich von der Associated Preß im amerikanischen Sinne
gefärbt und übertrieben sind, glauben Landeskenner nicht
an ein Fremdenmassaker oder auch nur eine ernsthafte Be-
drohung der Gesandtschaften. Nord Alexis ist zu klug, um
es trotz seiner eigenen fremdenfeindlichen Gefühle hierzu
kommen zu lassen. Gefahr für den Weißen besteht erst,
wenn die Weiber nicht mehr zu halten sind und als vou-
douistisch-heidnischer Chor der Rache zu blutigen Demon-
strationen schreiten. Mit der Ankunft S. M. S. Bremen in
Hafen von Port au Prince ist die Beunruhigung wegen
unserer deutschen Landsleute zudem endgültig behoben.
Es wird sich aber fragen, ob nicht für die Zukunft gewisse
Vorsichtsmaßregeln für die Verteidigung der deutschen Ge-
sandtenwohnung zu treffen sein werden. Die Bureaus
und Wohnräume des Ministerresidenten liegen jetzt in dem
oberen Stockwerk der Bankfirma Gustav Keitel u. Co. und
sind mit ihren offenen Balkons und Veranden für irgend-
welche kriegerische Eventualitäten nicht eingerichtet.

[Spaltenumbruch]

Man schreibt uns: Nach den vorliegenden Tele-
grammen ist es nicht ausgeschlossen, daß die Vereinig-
ten Staaten
wegen der Vorgänge in Port au Prince
eine größere Zurückhaltung beobachten wollen, als die
europäischen Mächte. Was Deutschland anbelangt, so
liegt ihm der Gedanke an eine Einmischung in die inneren
Angelegenheiten Haitis ebenso fern, wie der Union. Aber
Gewalttaten gegen deutsche Reichsangehörige, die von den
Machthabern in Port au Prince angedroht wurden, und
Verletzungen der konsularen Exterritorialität, die ebenfalls
angedroht wurden, sind keine inneren Angelegenheiten
Haitis und würden eintretenden Falles von deutscher Seite
in angemessener Weise zurückgewiesen werden.

Zur Entrevue in Venedig.

Von unserem Römischen Korrespondenten.


Sehr rasch ist den ersten Gerüchten einer Entrevue
zwischen Kaiser Wilhelm und König Viktor Emanuel die
amtliche Bestätigung gefolgt. Wenn die Begleitworte die-
ser letzteren auch den privaten Charakter des kaiserlichen
Besuchs stark in den Vordergrund rückten, so fassen die
Italiener natürlich den Besuch trotzdem als ein politisches
Ereignis ersten Ranges auf und stützen sich dabei auf zwei
Momente: auf die Vorgeschichte und auf die Eigenart der
politischen Situation.

Kaiser Wilhelm hat in den Jahren 1903 bis 1905
Italien große und andauernde Beweise seines Wohlwollens
und seiner Sympathien gegeben. Der Besuch in Rom im
Mai 1903, die ausgedehnte Mittelmeerfahrt 1904 und die
noch ausgedehntere von 1905 mit der Monarchen-Entrevue
von Neapel sind die Etappen dieser Politik. Dann folgte eine
Unterbrechung. 1906, als der Frühling ins Land kam,
war eben die Konferenz von Algeciras beendet und die
deutsche Politik hatte alle Ursache, mit der Haltung Ita-
liens unzufrieden zu sein. Es trat jene Periode wirklicher
Verstimmung ein, die durch die ungeschickte Rede des Mini-
sters Guicciardini im italienischen Senat und durch das
kaiserliche Telegramm an Goluchowski noch verschärft
wurde und erst nachzulassen begann, als Ende Mai Tittoni
nach halbjähriger Abwesenheit wieder die Leitung der
Consulta übernahm. Im Frühjahr 1907 war die alte Herz-
lichkeit so weit wieder hergestellt, daß der Reichskanzler
seinen Erholungsaufenthalt auf italienischem Boden in
Rapallo nahm und hier mit Tittoni gründliche Aussprache
über alle beide Länder interessierenden Fragen pflog, die
der geflissentlichen Annäherung des italienischen Ministers
an Oesterreich (wie sie dann in Desio und auf dem Sem-
mering erfolgte) sehr förderlich war. Wenn nun Kaiser
Wilhelm 1908 die früheren Gepflogenheiten wieder auf-
nimmt und auf dem Wege nach Korfu die Gelegenheit
nützt, mit dem verbündeten italienischen Herrscher zu-
sammenzukommen, so ist es begreiflich, daß die Italiener
das Verhalten des Kaisers auch als ein Wiederanknüpfen
an die politische Kordialität von 1905 auffassen und dem-
entsprechend begrüßen.

Wenn man in diesem Zusammenhang schlechtweg "die
Italiener" sagt, so scheint das im Widerspruch zu stehen
mit gewissen Stimmungen und Ansichten, die noch in den
allerletzten Tagen anläßlich der Balkanfragen in Italien
gegenüber Deutschland laut geworden sind. In Wirklichkeit
ist aber trotzdem ein solcher Widerspruch kaum vorhanden,
denn die allgemeine Auffassung von der Bedeutung der
Entrevue von Venedig beweist eben, daß es sich um eine
verhältnismäßig kleine Gruppe von Zeitungen, Balkan-
Enrages und traditionellen Deutschenfeinden handelt, die
auch in der Angelegenheit der Balkanbahnen den wenig
glücklichen Versuch gemacht haben, die Loyalität der deut-
schen Politik zu verdächtigen. Es ist an dieser Stelle schon
hervorgehoben worden, daß diese Verdächtigungen von dem
Augenblick an begannen, in dem der Freiherr v. Aehren-
thal sein Balkanprogramm ankündigte. Man rief in den
bekannten italienischen Kreisen, daß hier in Wirklichkeit
nicht eine österreichisch-ungarische, sondern eine deutsche
Aktion vorliege, daß Wien ein mot d'ordre von Berlin er-
halten und durchgeführt habe, und daß es sich bei der ganzen
Balkanbahn Uvac-Mitrowitza darum handle, dem enormen
deutschen Expansionsdrang nach dem Südosten ein künftiges
Handelszentrum in Saloniki zu schaffen. Da nun Italien
alle diese Pläne als seinen eigenen Interessen schädlich er-
achten muß, so war natürlich nur ein Schritt zu der An-
klage, man nehme in Berlin, besonders seit Algeciras,
keine genügende Rücksicht auf den Bundesgenossen im Süden
und vertrete im Orient und namentlich in Konstantinopel
ausschließlich neben dem eigenen Interesse das Oesterreich-
Ungarns. Ich wiederhole, daß es nur eine Minderheit von
Zeitungen und Politikern war, die sich diese (inzwischen
völlig widerlegte. D. Red.) Auffassung wirklich zu eigen
machten, aber die anderen reproduzierten sie wenigstens
und beeinflußten die Stimmung. Und diese Stimmung
war noch mehr bedroht von der Nachricht, daß Kaiser Wil-
helm in allem Ernst daran denke, in Albanien zu landen
und Janina zu besuchen.

Ein großes römisches Blatt hat wohl den Nagel auf
den Kopf getroffen, als es schrieb, vor wenigen Wochen
würde die Ankündigung eines Kaiserbesuchs in Albanien
die europäische und vor allem die italienische Presse
in die größte Aufregung versetzt haben; man würde
Vergleichen mit den kaiserlichen Landungen und Be-
suchen in Jerusalem und Tanger kaum aus dem
Weg gegangen sein. Heute, wo alle Mächte sich auf die
Transversalbahn als Kompensation für die Interessen
geeinigt haben, die sich durch die österreichisch-ungarischen
Bahnforderungen geschädigt fühlen, heute, wo Kaiser Wil-
helm sich anschickt, in Venedig seinem Verbündeten einen
neuen Beweis seiner Sympathien für Italien zu geben,
sind friedenstörende Komentare weit weniger zu fürchten.

Kaiser Wilhelm wird in Venedig, wo er außer dem
König auch den Minister Tittoni treffen wird, keine
Schwierigkeiten haben, alle von der Loyalität der deutschen
Orientpolitik und von dem Wunsch nach innigem Einver-
nehmen mit Italien zu überzeugen, denn die offiziellen und
leitenden Kreise haben nie daran gezweifelt. Hingegen ist
es kaum zweifelhaft, daß weite Kreise der italienischen Be-
völkerung, die in den letzten Jahren in ihren Sympathien
für Deutschland offensichtlich nachgelassen hatten, sich den
früheren Gefühlen wieder zuwenden werden, heute, wo
"Guglielmo", wie sie vertraulich sagen, im Lande der
Orangen wieder in Person erscheint.

Der Wiener Nuntius und der Fall
Wahrmund.

Das amtliche Communique über das Vorgehen des
apostolischen Nuntius in Sachen Wahrmunds hat kurze
Beine gehabt. Msgr. Belmonte hat einem Vertreter der
Neuen Freien Presse erklärt, daß er von dem, was er dem
Redakteur des Vaterland gesagt, nichts, gar nichts
zu widerrufen
habe; er habe tatsächlich den Minister
des Aeußern Frhrn. v. Aehrenthal besucht und ihm Vor-
stellungen in der Richtung gemacht, daß Professor
Wahrmund von dem Katheder für kanoni-
sches Rechtentfernt werde.
Der Nuntius betrach-
tet sich als diplomatischen Vertreter der Kurie in einem
Lande, "in welchem die katholische Religion in gewis-
sem Sinne Staatsreligion
ist". Er habe nun
gefunden, daß Professor Wahrmund die katholische Religion
beschimpft habe, und dies sei sonderbar "bei einem öffent-
lichen Funktionär in einem katholischen Staate". Uebrigens
werde niemand seinen Schritt bei Baron Aehrenthal so
aufgefaßt haben, als ob dem Unterrichtsminister die Zu-
mutung gestellt werden sollte, Professor Wahrmund über-
haupt vom Lehramt
zu entfernen. Das wäre viel-
leicht eine Ueberschreitung der ihm, dem Nuntius, gezogenen
Grenzen. Wohl aber sei er bei Baron Aehrenthal einge-
schritten wegen Enthebung Wahrmunds vom Lehramte
des Kirchenrechts. Er beharre auf seiner Meinung
und seinem Standpunkt; an der Regierung sei es, seinem
Verlangen nachzugeben oder nicht. Er werde alles ruhig
abwarten und, nachdem er seine Pflicht getan, keine weite-
ren Schritte unternehmen. Es wäre verkehrt, den Fall
Wahrmund zu sehr aufzubauschen.

Aus diesen Aeußerungen geht hervor, daß der Nun-
tius zwar das formelle Recht der österreichischen Regierung
zu einer völlig selbständigen Entscheidung nicht bestreitet,
daß er aber aus dem katholischen Charakter des
österreichischen Staates für sich selber ein Recht zum Ein-
schreiten ableitet. Es handelt sich also um eine staatsrecht-
liche Frage allerersten Ranges, und es ist begreiflich, daß
die liberale Presse mit Entschiedenheit einen parlamen-
tarischen
Austrag des Zwischenfalles fordert. Was da-
bei herauskommen wird, ist allerdings eine andere Frage.
Mit eigentümlicher Ironie hat ja das liberale allgemeine
Wahlrecht der österreichischen Monarchie ein klerikales
Parlament beschert, und im Ministerium scheint man ge-
neigt, dieser Sachlage Rechnung zu tragen, wenn man auch
formell die Selbständigkeit der Staatsgewalt zu wahren
sucht.

Die nicht ganz bequeme Differenz der beiden Dar-
stellungen wird nun durch ein neues Communique erledigt,
dessen Inhalt sich folgendermaßen wiedergeben läßt: Frhr.
v. Aehrenthal hat den offiziell gemeinten Schritt des
Nuntius als privat aufgefaßt und aus dessen Aeußerungen
zum mindesten keine offizielle Forderung herausgehört.
Das dem Fremdenblatt zugegangene Communique lautet:

Das Privatschreiben des Ministers des Aeußern an
den Unterrichtsminister Dr. Marchet vom 6. März in der An-
gelegenheit des Professors Wahrmund hatte folgenden Wortlaut:
"Anläßlich des Besuches, den mir der hiesige apostolische
Nuntius kürzlich abstattete, brachte Seine Exzellenz die Sprache
auf den bekannten Professor des kanonischen Rechtes in Inns-
bruck Dr. Wahrmund, indem er bemerkte, daß derselbe kürzlich
in Innsbruck und Salzburg Vorträge atheistischen Charakters
gehalten habe und auch Broschüren verteile, die in einem dem
Glauben der katholischen Kirche feindlich gesinnten Geiste ge-

Freitag. 20. März 1908. München.
Einzige Tagesausgabe. — Nr. 133
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München: Expedition Bayerſtraße 57, deren Filialen und ſämtliche Zeitungs-Expeditionen; für
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Chefredakteur: Dr. Hermann Diez.
Verantwortlich: für den politiſchen Teil mit Ausnahme der bayeriſchen Politik Dr. Rudolf Dammert; für den bayeriſchen Teil Dr. Paul Buſching; für das Feuilleton und den „Sonntag“ Alfred Frhr. v. Menſi;
für die Wiſſenſchaftliche Beilage Dr. Oskar Bulle; für den Handelsteil Leo Jolles, ſämtlich in München.
Redaktion: Bayerſtraße 57 Telephon 8432, 8433. = Druck und Verlag: Bayeriſche Druckerei & Verlagsanſtalt, G. m. b. H., in München. = Expedition: Bayerſtraße 57. Telephon 8430, 8431.
Des Feiertags wegen erſcheint die nächſte
Nummer der Allgemeinen Zeitung Freitag
Nachmittag.
Das Neueſte vom Tage.

In der Frauenkirche zu München hat in Anweſenheit Sr. kgl.
Hoheit des Prinzregenten die kirchliche Feier des
Papſtjubiläums ſtattgefunden.

Auch in der Frage der Jugendlichen ſoll nun in der
Vereinsgeſetzkommiſſion ein Kompromiß erzielt
ſein.

In den Staaten der lateiniſchen Münz-Union wird
eine Vermehrung der ſilbernen Scheide-
münzen
von 7 auf 17 Francs pro Kopf durchgeführt.

Die Wirren auf Haiti.

M. p. Ueber die Perſönlichkeiten, deren politiſcher Ehr-
geiz zu den Unruhen und Maſſenhinrichtungen in Port au
Prince geführt hat, erhalten wir von einem Diplomaten,
der die haitianiſchen Verhältniſſe von längerem Aufenthalt
auf der Inſel her kennt, die folgende Schilderung:

Nord Alexis, der Präſident, und Anthenor Firmin, der
Präſidentſchaftskandidat, waren früher Freunde, trotz ihrer grund-
verſchiedenen Charaktere, die nur in dem wütenden Fremdenhaß
etwas Gemeinſames haben. Alexis iſt der Prototyp des alten
verbiſſenen Haitianers und als ſolcher, bei gänzlicher Skrupel-
loſigkeit, eine nicht unintereſſante Geſtalt. Er iſt von Beruf
Militär und war vor ſeiner Präſidentſchaft „général de division“,
d. h. berittener Führer einiger zerlumpter Soldaten, und Gou-
verneur des Norddiſtrikts mit dem Sitz in Kap Haiti. Er iſt trotz
ſeiner 97 Jahre ein kräftiger aufrechter Mann, ein wahrer Rieſe
mit weißem Haar und Bart. Sein Selbſtbewußtſein iſt ſtark aus-
geprägt: „Mo' grand 'moune (Moi grand homme) betonte er
als Wahrſpruch den Ausländern gegenüber, die er nur als „tits
mounes
“ — kleine Leute — gelten laſſen wollte. Als lang-
jähriger Kommandant der „Nordarmee“ hat er ein großes Ver-
mögen dadurch zuſammengerafft, daß er den größten Teil des
Soldes ſeiner Leute in die eigene Taſche ſteckte. Dank ſeinem
perſönlichen Mut und großer Mäßigkeit im Genuß geiſtiger Ge-
tränke iſt Aleris in den ſchwierigſten Lagen immer Herr der
Situation geblieben. Nach der letzten Revolution von 1902 ritt
er an der Spitze ſeiner Getreuen von Kap Haiti nach der Haupt-
ſtadt und erklärte kurz: „Mo' ici, mo' président“. Grundſätze
kennt der Mann nicht. Er wirtſchaftet mit den Staatsgeldern
ebenſo wie früher mit der Löhnung ſeiner Leute. Auch in reli-
giöſer Beziehung iſt der alte Voudou-Mann und Fetiſchanbeter
ein unſicherer Kantoriſt. Wäre nicht die Scheu vor der katholi-
ſchen ſchwarzen Geiſtlichkeit, die es aus Ueberlieferung immer
mit dem jeweiligen Präſidenten hält, ſo würde der faſt hundert-
jährige Patriarch wohl weiter und offen dem heidniſchen
Schlangenkultus huldigen, deſſen Orgien und Menſchenopfer noch
nie ein Weißer geſchaut hat.
Einen ſchroffen Gegenſatz zu Nord Alexis zeigt der An-
wärter auf Regierungsehren, der etwa 60jährige Anthenor Fir-
min. Der kleine zierliche Mann iſt von Beruf Rechtsanwalt und
genießt wegen ſeiner Ehrlichkeit bei den Fremden großes Ver-
trauen, das er in verſchiedenen Miniſterſtellungen niemals ge-
täuſcht hat. Während ſeines Finanzminiſteriums ſtand das hai-
tianiſche Papiergeld, der „Gourde“, Dollar, ſo hoch im Kurs, daß
er zeitweiſe eine Prämie von bis zu 8 vom Hundert über den
amerikaniſchen Silberdollar hatte. Das Budget hat er damals
um faſt die Hälfte reduziert. Darum ſchon wird er kaum je Prä-
ſident werden, denn von einem ſo gewiſſenhaften Manne hat ſein
Anhang wenig zu erwarten. Firmin iſt dazu ſelbſt kein Kämpfer,
ſondern überläßt dier aktive Führung ſeines Prätendententums
einer Anzahl alter Haudegen, von denen jetzt ein Teil ihrer Treue
für ihn mit dem Leben hat bezahlen müſſen. Als ſein Freund
Nord in den Präſidialpalaſt als Herr einzog, hat ſich Firmin gar
bald in Sicherheit gebracht und wartet auf dem Boden des be-
nachbarten Santo Domingo die Umwälzung in Port au Prince
ab, die ihn zum Herrn von Haiti machen ſoll.

Entgegen den telegraphiſchen Berichten, die wahr-
ſcheinlich von der Aſſociated Preß im amerikaniſchen Sinne
gefärbt und übertrieben ſind, glauben Landeskenner nicht
an ein Fremdenmaſſaker oder auch nur eine ernſthafte Be-
drohung der Geſandtſchaften. Nord Alexis iſt zu klug, um
es trotz ſeiner eigenen fremdenfeindlichen Gefühle hierzu
kommen zu laſſen. Gefahr für den Weißen beſteht erſt,
wenn die Weiber nicht mehr zu halten ſind und als vou-
douiſtiſch-heidniſcher Chor der Rache zu blutigen Demon-
ſtrationen ſchreiten. Mit der Ankunft S. M. S. Bremen in
Hafen von Port au Prince iſt die Beunruhigung wegen
unſerer deutſchen Landsleute zudem endgültig behoben.
Es wird ſich aber fragen, ob nicht für die Zukunft gewiſſe
Vorſichtsmaßregeln für die Verteidigung der deutſchen Ge-
ſandtenwohnung zu treffen ſein werden. Die Bureaus
und Wohnräume des Miniſterreſidenten liegen jetzt in dem
oberen Stockwerk der Bankfirma Guſtav Keitel u. Co. und
ſind mit ihren offenen Balkons und Veranden für irgend-
welche kriegeriſche Eventualitäten nicht eingerichtet.

[Spaltenumbruch]

Man ſchreibt uns: Nach den vorliegenden Tele-
grammen iſt es nicht ausgeſchloſſen, daß die Vereinig-
ten Staaten
wegen der Vorgänge in Port au Prince
eine größere Zurückhaltung beobachten wollen, als die
europäiſchen Mächte. Was Deutſchland anbelangt, ſo
liegt ihm der Gedanke an eine Einmiſchung in die inneren
Angelegenheiten Haitis ebenſo fern, wie der Union. Aber
Gewalttaten gegen deutſche Reichsangehörige, die von den
Machthabern in Port au Prince angedroht wurden, und
Verletzungen der konſularen Exterritorialität, die ebenfalls
angedroht wurden, ſind keine inneren Angelegenheiten
Haitis und würden eintretenden Falles von deutſcher Seite
in angemeſſener Weiſe zurückgewieſen werden.

Zur Entrevue in Venedig.

Von unſerem Römiſchen Korreſpondenten.


Sehr raſch iſt den erſten Gerüchten einer Entrevue
zwiſchen Kaiſer Wilhelm und König Viktor Emanuel die
amtliche Beſtätigung gefolgt. Wenn die Begleitworte die-
ſer letzteren auch den privaten Charakter des kaiſerlichen
Beſuchs ſtark in den Vordergrund rückten, ſo faſſen die
Italiener natürlich den Beſuch trotzdem als ein politiſches
Ereignis erſten Ranges auf und ſtützen ſich dabei auf zwei
Momente: auf die Vorgeſchichte und auf die Eigenart der
politiſchen Situation.

Kaiſer Wilhelm hat in den Jahren 1903 bis 1905
Italien große und andauernde Beweiſe ſeines Wohlwollens
und ſeiner Sympathien gegeben. Der Beſuch in Rom im
Mai 1903, die ausgedehnte Mittelmeerfahrt 1904 und die
noch ausgedehntere von 1905 mit der Monarchen-Entrevue
von Neapel ſind die Etappen dieſer Politik. Dann folgte eine
Unterbrechung. 1906, als der Frühling ins Land kam,
war eben die Konferenz von Algeciras beendet und die
deutſche Politik hatte alle Urſache, mit der Haltung Ita-
liens unzufrieden zu ſein. Es trat jene Periode wirklicher
Verſtimmung ein, die durch die ungeſchickte Rede des Mini-
ſters Guicciardini im italieniſchen Senat und durch das
kaiſerliche Telegramm an Goluchowski noch verſchärft
wurde und erſt nachzulaſſen begann, als Ende Mai Tittoni
nach halbjähriger Abweſenheit wieder die Leitung der
Conſulta übernahm. Im Frühjahr 1907 war die alte Herz-
lichkeit ſo weit wieder hergeſtellt, daß der Reichskanzler
ſeinen Erholungsaufenthalt auf italieniſchem Boden in
Rapallo nahm und hier mit Tittoni gründliche Ausſprache
über alle beide Länder intereſſierenden Fragen pflog, die
der gefliſſentlichen Annäherung des italieniſchen Miniſters
an Oeſterreich (wie ſie dann in Deſio und auf dem Sem-
mering erfolgte) ſehr förderlich war. Wenn nun Kaiſer
Wilhelm 1908 die früheren Gepflogenheiten wieder auf-
nimmt und auf dem Wege nach Korfu die Gelegenheit
nützt, mit dem verbündeten italieniſchen Herrſcher zu-
ſammenzukommen, ſo iſt es begreiflich, daß die Italiener
das Verhalten des Kaiſers auch als ein Wiederanknüpfen
an die politiſche Kordialität von 1905 auffaſſen und dem-
entſprechend begrüßen.

Wenn man in dieſem Zuſammenhang ſchlechtweg „die
Italiener“ ſagt, ſo ſcheint das im Widerſpruch zu ſtehen
mit gewiſſen Stimmungen und Anſichten, die noch in den
allerletzten Tagen anläßlich der Balkanfragen in Italien
gegenüber Deutſchland laut geworden ſind. In Wirklichkeit
iſt aber trotzdem ein ſolcher Widerſpruch kaum vorhanden,
denn die allgemeine Auffaſſung von der Bedeutung der
Entrevue von Venedig beweiſt eben, daß es ſich um eine
verhältnismäßig kleine Gruppe von Zeitungen, Balkan-
Enragés und traditionellen Deutſchenfeinden handelt, die
auch in der Angelegenheit der Balkanbahnen den wenig
glücklichen Verſuch gemacht haben, die Loyalität der deut-
ſchen Politik zu verdächtigen. Es iſt an dieſer Stelle ſchon
hervorgehoben worden, daß dieſe Verdächtigungen von dem
Augenblick an begannen, in dem der Freiherr v. Aehren-
thal ſein Balkanprogramm ankündigte. Man rief in den
bekannten italieniſchen Kreiſen, daß hier in Wirklichkeit
nicht eine öſterreichiſch-ungariſche, ſondern eine deutſche
Aktion vorliege, daß Wien ein mot d’ordre von Berlin er-
halten und durchgeführt habe, und daß es ſich bei der ganzen
Balkanbahn Uvac-Mitrowitza darum handle, dem enormen
deutſchen Expanſionsdrang nach dem Südoſten ein künftiges
Handelszentrum in Saloniki zu ſchaffen. Da nun Italien
alle dieſe Pläne als ſeinen eigenen Intereſſen ſchädlich er-
achten muß, ſo war natürlich nur ein Schritt zu der An-
klage, man nehme in Berlin, beſonders ſeit Algeciras,
keine genügende Rückſicht auf den Bundesgenoſſen im Süden
und vertrete im Orient und namentlich in Konſtantinopel
ausſchließlich neben dem eigenen Intereſſe das Oeſterreich-
Ungarns. Ich wiederhole, daß es nur eine Minderheit von
Zeitungen und Politikern war, die ſich dieſe (inzwiſchen
völlig widerlegte. D. Red.) Auffaſſung wirklich zu eigen
machten, aber die anderen reproduzierten ſie wenigſtens
und beeinflußten die Stimmung. Und dieſe Stimmung
war noch mehr bedroht von der Nachricht, daß Kaiſer Wil-
helm in allem Ernſt daran denke, in Albanien zu landen
und Janina zu beſuchen.

Ein großes römiſches Blatt hat wohl den Nagel auf
den Kopf getroffen, als es ſchrieb, vor wenigen Wochen
würde die Ankündigung eines Kaiſerbeſuchs in Albanien
die europäiſche und vor allem die italieniſche Preſſe
in die größte Aufregung verſetzt haben; man würde
Vergleichen mit den kaiſerlichen Landungen und Be-
ſuchen in Jeruſalem und Tanger kaum aus dem
Weg gegangen ſein. Heute, wo alle Mächte ſich auf die
Transverſalbahn als Kompenſation für die Intereſſen
geeinigt haben, die ſich durch die öſterreichiſch-ungariſchen
Bahnforderungen geſchädigt fühlen, heute, wo Kaiſer Wil-
helm ſich anſchickt, in Venedig ſeinem Verbündeten einen
neuen Beweis ſeiner Sympathien für Italien zu geben,
ſind friedenſtörende Komentare weit weniger zu fürchten.

Kaiſer Wilhelm wird in Venedig, wo er außer dem
König auch den Miniſter Tittoni treffen wird, keine
Schwierigkeiten haben, alle von der Loyalität der deutſchen
Orientpolitik und von dem Wunſch nach innigem Einver-
nehmen mit Italien zu überzeugen, denn die offiziellen und
leitenden Kreiſe haben nie daran gezweifelt. Hingegen iſt
es kaum zweifelhaft, daß weite Kreiſe der italieniſchen Be-
völkerung, die in den letzten Jahren in ihren Sympathien
für Deutſchland offenſichtlich nachgelaſſen hatten, ſich den
früheren Gefühlen wieder zuwenden werden, heute, wo
Guglielmo“, wie ſie vertraulich ſagen, im Lande der
Orangen wieder in Perſon erſcheint.

Der Wiener Nuntius und der Fall
Wahrmund.

Das amtliche Communiqué über das Vorgehen des
apoſtoliſchen Nuntius in Sachen Wahrmunds hat kurze
Beine gehabt. Mſgr. Belmonte hat einem Vertreter der
Neuen Freien Preſſe erklärt, daß er von dem, was er dem
Redakteur des Vaterland geſagt, nichts, gar nichts
zu widerrufen
habe; er habe tatſächlich den Miniſter
des Aeußern Frhrn. v. Aehrenthal beſucht und ihm Vor-
ſtellungen in der Richtung gemacht, daß Profeſſor
Wahrmund von dem Katheder für kanoni-
ſches Rechtentfernt werde.
Der Nuntius betrach-
tet ſich als diplomatiſchen Vertreter der Kurie in einem
Lande, „in welchem die katholiſche Religion in gewiſ-
ſem Sinne Staatsreligion
iſt“. Er habe nun
gefunden, daß Profeſſor Wahrmund die katholiſche Religion
beſchimpft habe, und dies ſei ſonderbar „bei einem öffent-
lichen Funktionär in einem katholiſchen Staate“. Uebrigens
werde niemand ſeinen Schritt bei Baron Aehrenthal ſo
aufgefaßt haben, als ob dem Unterrichtsminiſter die Zu-
mutung geſtellt werden ſollte, Profeſſor Wahrmund über-
haupt vom Lehramt
zu entfernen. Das wäre viel-
leicht eine Ueberſchreitung der ihm, dem Nuntius, gezogenen
Grenzen. Wohl aber ſei er bei Baron Aehrenthal einge-
ſchritten wegen Enthebung Wahrmunds vom Lehramte
des Kirchenrechts. Er beharre auf ſeiner Meinung
und ſeinem Standpunkt; an der Regierung ſei es, ſeinem
Verlangen nachzugeben oder nicht. Er werde alles ruhig
abwarten und, nachdem er ſeine Pflicht getan, keine weite-
ren Schritte unternehmen. Es wäre verkehrt, den Fall
Wahrmund zu ſehr aufzubauſchen.

Aus dieſen Aeußerungen geht hervor, daß der Nun-
tius zwar das formelle Recht der öſterreichiſchen Regierung
zu einer völlig ſelbſtändigen Entſcheidung nicht beſtreitet,
daß er aber aus dem katholiſchen Charakter des
öſterreichiſchen Staates für ſich ſelber ein Recht zum Ein-
ſchreiten ableitet. Es handelt ſich alſo um eine ſtaatsrecht-
liche Frage allererſten Ranges, und es iſt begreiflich, daß
die liberale Preſſe mit Entſchiedenheit einen parlamen-
tariſchen
Austrag des Zwiſchenfalles fordert. Was da-
bei herauskommen wird, iſt allerdings eine andere Frage.
Mit eigentümlicher Ironie hat ja das liberale allgemeine
Wahlrecht der öſterreichiſchen Monarchie ein klerikales
Parlament beſchert, und im Miniſterium ſcheint man ge-
neigt, dieſer Sachlage Rechnung zu tragen, wenn man auch
formell die Selbſtändigkeit der Staatsgewalt zu wahren
ſucht.

Die nicht ganz bequeme Differenz der beiden Dar-
ſtellungen wird nun durch ein neues Communiqué erledigt,
deſſen Inhalt ſich folgendermaßen wiedergeben läßt: Frhr.
v. Aehrenthal hat den offiziell gemeinten Schritt des
Nuntius als privat aufgefaßt und aus deſſen Aeußerungen
zum mindeſten keine offizielle Forderung herausgehört.
Das dem Fremdenblatt zugegangene Communiqué lautet:

Das Privatſchreiben des Miniſters des Aeußern an
den Unterrichtsminiſter Dr. Marchet vom 6. März in der An-
gelegenheit des Profeſſors Wahrmund hatte folgenden Wortlaut:
„Anläßlich des Beſuches, den mir der hieſige apoſtoliſche
Nuntius kürzlich abſtattete, brachte Seine Exzellenz die Sprache
auf den bekannten Profeſſor des kanoniſchen Rechtes in Inns-
bruck Dr. Wahrmund, indem er bemerkte, daß derſelbe kürzlich
in Innsbruck und Salzburg Vorträge atheiſtiſchen Charakters
gehalten habe und auch Broſchüren verteile, die in einem dem
Glauben der katholiſchen Kirche feindlich geſinnten Geiſte ge-
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[0001] Freitag. 20. März 1908. München.Einzige Tagesausgabe. — Nr. 133 Allgemeine Zeitung. Erſcheint täglich 2mal. — Einhundertelfter Jahrgang. Bezugspreis: Ausgabe B mit Wiſſenſchaftlicher Beilage und Internationaler Wochenſchrift in München 1.50 Mark monatlich frei ins Haus; durch die Poſt: 2.— Mark monatlich. Ausgabe A (ohne Beilage) in München 1.— Mark, durch die Poſt bezogen 1.50 Mark monatlich. Abonnements für München: Expedition Bayerſtraße 57, deren Filialen und ſämtliche Zeitungs-Expeditionen; für das Ausland: England: A. Siegle, 30 Lime Str. und The Anglo-Foreign Publiſhing Syndicate, Ltd., 38 Coleman Str., in London; Frankreich. Portugal und Spanien: A. Ammel u. C. Klienckſieck in Paris; das übrige Europa: die Poſtämter; Orient: das k. k. Poſtamt in Wien oder in Trieſt; Nord- amerika: F. W. Chriſtern. E. Steiger & Co., Guſt E. Stechert. Weſtermann & Co., ſämtlich in New York [Abbildung] Inſertionspreis: für die 7 geſpaltene Kolonelzeile oder deren Raum im Morgenblatt 40 Pfennig, im Abendblatt 80 Pfennig. Lokale Anzeigen nach Tarif. Stellen-Geſuche 10 Pfennig. Inſeraten-Annahme in München: Expedition Bayerſtraße 57, die Filialen der Allgemeinen Zeitung und alle Annoncen-Expeditionen. — Generalvertretungen: für Oeſterreich-Ungarn in Wien V/I, Schönbrunner Str. 48 (Richard Jahn); Frankreich: John F. Jones & Co., 31 bis Rue du Faubourg Montmartre in Paris; England: John F. Jones & Co., 1 & 2 Snow Hill, Holborn-Viadukt, London; Rußland: L. & E. Metzl & Co., Moskau. Mjasnitzkaja Haus Syſtow. St. Petersburg, Morskaja 11; Warſchau: Kral-Vorſtadt 53. Chefredakteur: Dr. Hermann Diez. Verantwortlich: für den politiſchen Teil mit Ausnahme der bayeriſchen Politik Dr. Rudolf Dammert; für den bayeriſchen Teil Dr. Paul Buſching; für das Feuilleton und den „Sonntag“ Alfred Frhr. v. Menſi; für die Wiſſenſchaftliche Beilage Dr. Oskar Bulle; für den Handelsteil Leo Jolles, ſämtlich in München. Redaktion: Bayerſtraße 57 Telephon 8432, 8433. = Druck und Verlag: Bayeriſche Druckerei & Verlagsanſtalt, G. m. b. H., in München. = Expedition: Bayerſtraße 57. Telephon 8430, 8431. Des Feiertags wegen erſcheint die nächſte Nummer der Allgemeinen Zeitung Freitag Nachmittag. Das Neueſte vom Tage. In der Frauenkirche zu München hat in Anweſenheit Sr. kgl. Hoheit des Prinzregenten die kirchliche Feier des Papſtjubiläums ſtattgefunden. Auch in der Frage der Jugendlichen ſoll nun in der Vereinsgeſetzkommiſſion ein Kompromiß erzielt ſein. In den Staaten der lateiniſchen Münz-Union wird eine Vermehrung der ſilbernen Scheide- münzen von 7 auf 17 Francs pro Kopf durchgeführt. Die Wirren auf Haiti. M. p. Ueber die Perſönlichkeiten, deren politiſcher Ehr- geiz zu den Unruhen und Maſſenhinrichtungen in Port au Prince geführt hat, erhalten wir von einem Diplomaten, der die haitianiſchen Verhältniſſe von längerem Aufenthalt auf der Inſel her kennt, die folgende Schilderung: Nord Alexis, der Präſident, und Anthenor Firmin, der Präſidentſchaftskandidat, waren früher Freunde, trotz ihrer grund- verſchiedenen Charaktere, die nur in dem wütenden Fremdenhaß etwas Gemeinſames haben. Alexis iſt der Prototyp des alten verbiſſenen Haitianers und als ſolcher, bei gänzlicher Skrupel- loſigkeit, eine nicht unintereſſante Geſtalt. Er iſt von Beruf Militär und war vor ſeiner Präſidentſchaft „général de division“, d. h. berittener Führer einiger zerlumpter Soldaten, und Gou- verneur des Norddiſtrikts mit dem Sitz in Kap Haiti. Er iſt trotz ſeiner 97 Jahre ein kräftiger aufrechter Mann, ein wahrer Rieſe mit weißem Haar und Bart. Sein Selbſtbewußtſein iſt ſtark aus- geprägt: „Mo' grand 'moune (Moi grand homme) betonte er als Wahrſpruch den Ausländern gegenüber, die er nur als „tits mounes“ — kleine Leute — gelten laſſen wollte. Als lang- jähriger Kommandant der „Nordarmee“ hat er ein großes Ver- mögen dadurch zuſammengerafft, daß er den größten Teil des Soldes ſeiner Leute in die eigene Taſche ſteckte. Dank ſeinem perſönlichen Mut und großer Mäßigkeit im Genuß geiſtiger Ge- tränke iſt Aleris in den ſchwierigſten Lagen immer Herr der Situation geblieben. Nach der letzten Revolution von 1902 ritt er an der Spitze ſeiner Getreuen von Kap Haiti nach der Haupt- ſtadt und erklärte kurz: „Mo' ici, mo' président“. Grundſätze kennt der Mann nicht. Er wirtſchaftet mit den Staatsgeldern ebenſo wie früher mit der Löhnung ſeiner Leute. Auch in reli- giöſer Beziehung iſt der alte Voudou-Mann und Fetiſchanbeter ein unſicherer Kantoriſt. Wäre nicht die Scheu vor der katholi- ſchen ſchwarzen Geiſtlichkeit, die es aus Ueberlieferung immer mit dem jeweiligen Präſidenten hält, ſo würde der faſt hundert- jährige Patriarch wohl weiter und offen dem heidniſchen Schlangenkultus huldigen, deſſen Orgien und Menſchenopfer noch nie ein Weißer geſchaut hat. Einen ſchroffen Gegenſatz zu Nord Alexis zeigt der An- wärter auf Regierungsehren, der etwa 60jährige Anthenor Fir- min. Der kleine zierliche Mann iſt von Beruf Rechtsanwalt und genießt wegen ſeiner Ehrlichkeit bei den Fremden großes Ver- trauen, das er in verſchiedenen Miniſterſtellungen niemals ge- täuſcht hat. Während ſeines Finanzminiſteriums ſtand das hai- tianiſche Papiergeld, der „Gourde“, Dollar, ſo hoch im Kurs, daß er zeitweiſe eine Prämie von bis zu 8 vom Hundert über den amerikaniſchen Silberdollar hatte. Das Budget hat er damals um faſt die Hälfte reduziert. Darum ſchon wird er kaum je Prä- ſident werden, denn von einem ſo gewiſſenhaften Manne hat ſein Anhang wenig zu erwarten. Firmin iſt dazu ſelbſt kein Kämpfer, ſondern überläßt dier aktive Führung ſeines Prätendententums einer Anzahl alter Haudegen, von denen jetzt ein Teil ihrer Treue für ihn mit dem Leben hat bezahlen müſſen. Als ſein Freund Nord in den Präſidialpalaſt als Herr einzog, hat ſich Firmin gar bald in Sicherheit gebracht und wartet auf dem Boden des be- nachbarten Santo Domingo die Umwälzung in Port au Prince ab, die ihn zum Herrn von Haiti machen ſoll. Entgegen den telegraphiſchen Berichten, die wahr- ſcheinlich von der Aſſociated Preß im amerikaniſchen Sinne gefärbt und übertrieben ſind, glauben Landeskenner nicht an ein Fremdenmaſſaker oder auch nur eine ernſthafte Be- drohung der Geſandtſchaften. Nord Alexis iſt zu klug, um es trotz ſeiner eigenen fremdenfeindlichen Gefühle hierzu kommen zu laſſen. Gefahr für den Weißen beſteht erſt, wenn die Weiber nicht mehr zu halten ſind und als vou- douiſtiſch-heidniſcher Chor der Rache zu blutigen Demon- ſtrationen ſchreiten. Mit der Ankunft S. M. S. Bremen in Hafen von Port au Prince iſt die Beunruhigung wegen unſerer deutſchen Landsleute zudem endgültig behoben. Es wird ſich aber fragen, ob nicht für die Zukunft gewiſſe Vorſichtsmaßregeln für die Verteidigung der deutſchen Ge- ſandtenwohnung zu treffen ſein werden. Die Bureaus und Wohnräume des Miniſterreſidenten liegen jetzt in dem oberen Stockwerk der Bankfirma Guſtav Keitel u. Co. und ſind mit ihren offenen Balkons und Veranden für irgend- welche kriegeriſche Eventualitäten nicht eingerichtet. Man ſchreibt uns: Nach den vorliegenden Tele- grammen iſt es nicht ausgeſchloſſen, daß die Vereinig- ten Staaten wegen der Vorgänge in Port au Prince eine größere Zurückhaltung beobachten wollen, als die europäiſchen Mächte. Was Deutſchland anbelangt, ſo liegt ihm der Gedanke an eine Einmiſchung in die inneren Angelegenheiten Haitis ebenſo fern, wie der Union. Aber Gewalttaten gegen deutſche Reichsangehörige, die von den Machthabern in Port au Prince angedroht wurden, und Verletzungen der konſularen Exterritorialität, die ebenfalls angedroht wurden, ſind keine inneren Angelegenheiten Haitis und würden eintretenden Falles von deutſcher Seite in angemeſſener Weiſe zurückgewieſen werden. Zur Entrevue in Venedig. Von unſerem Römiſchen Korreſpondenten. M. C. Rom, 17. März. Sehr raſch iſt den erſten Gerüchten einer Entrevue zwiſchen Kaiſer Wilhelm und König Viktor Emanuel die amtliche Beſtätigung gefolgt. Wenn die Begleitworte die- ſer letzteren auch den privaten Charakter des kaiſerlichen Beſuchs ſtark in den Vordergrund rückten, ſo faſſen die Italiener natürlich den Beſuch trotzdem als ein politiſches Ereignis erſten Ranges auf und ſtützen ſich dabei auf zwei Momente: auf die Vorgeſchichte und auf die Eigenart der politiſchen Situation. Kaiſer Wilhelm hat in den Jahren 1903 bis 1905 Italien große und andauernde Beweiſe ſeines Wohlwollens und ſeiner Sympathien gegeben. Der Beſuch in Rom im Mai 1903, die ausgedehnte Mittelmeerfahrt 1904 und die noch ausgedehntere von 1905 mit der Monarchen-Entrevue von Neapel ſind die Etappen dieſer Politik. Dann folgte eine Unterbrechung. 1906, als der Frühling ins Land kam, war eben die Konferenz von Algeciras beendet und die deutſche Politik hatte alle Urſache, mit der Haltung Ita- liens unzufrieden zu ſein. Es trat jene Periode wirklicher Verſtimmung ein, die durch die ungeſchickte Rede des Mini- ſters Guicciardini im italieniſchen Senat und durch das kaiſerliche Telegramm an Goluchowski noch verſchärft wurde und erſt nachzulaſſen begann, als Ende Mai Tittoni nach halbjähriger Abweſenheit wieder die Leitung der Conſulta übernahm. Im Frühjahr 1907 war die alte Herz- lichkeit ſo weit wieder hergeſtellt, daß der Reichskanzler ſeinen Erholungsaufenthalt auf italieniſchem Boden in Rapallo nahm und hier mit Tittoni gründliche Ausſprache über alle beide Länder intereſſierenden Fragen pflog, die der gefliſſentlichen Annäherung des italieniſchen Miniſters an Oeſterreich (wie ſie dann in Deſio und auf dem Sem- mering erfolgte) ſehr förderlich war. Wenn nun Kaiſer Wilhelm 1908 die früheren Gepflogenheiten wieder auf- nimmt und auf dem Wege nach Korfu die Gelegenheit nützt, mit dem verbündeten italieniſchen Herrſcher zu- ſammenzukommen, ſo iſt es begreiflich, daß die Italiener das Verhalten des Kaiſers auch als ein Wiederanknüpfen an die politiſche Kordialität von 1905 auffaſſen und dem- entſprechend begrüßen. Wenn man in dieſem Zuſammenhang ſchlechtweg „die Italiener“ ſagt, ſo ſcheint das im Widerſpruch zu ſtehen mit gewiſſen Stimmungen und Anſichten, die noch in den allerletzten Tagen anläßlich der Balkanfragen in Italien gegenüber Deutſchland laut geworden ſind. 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Man rief in den bekannten italieniſchen Kreiſen, daß hier in Wirklichkeit nicht eine öſterreichiſch-ungariſche, ſondern eine deutſche Aktion vorliege, daß Wien ein mot d’ordre von Berlin er- halten und durchgeführt habe, und daß es ſich bei der ganzen Balkanbahn Uvac-Mitrowitza darum handle, dem enormen deutſchen Expanſionsdrang nach dem Südoſten ein künftiges Handelszentrum in Saloniki zu ſchaffen. Da nun Italien alle dieſe Pläne als ſeinen eigenen Intereſſen ſchädlich er- achten muß, ſo war natürlich nur ein Schritt zu der An- klage, man nehme in Berlin, beſonders ſeit Algeciras, keine genügende Rückſicht auf den Bundesgenoſſen im Süden und vertrete im Orient und namentlich in Konſtantinopel ausſchließlich neben dem eigenen Intereſſe das Oeſterreich- Ungarns. Ich wiederhole, daß es nur eine Minderheit von Zeitungen und Politikern war, die ſich dieſe (inzwiſchen völlig widerlegte. D. Red.) Auffaſſung wirklich zu eigen machten, aber die anderen reproduzierten ſie wenigſtens und beeinflußten die Stimmung. Und dieſe Stimmung war noch mehr bedroht von der Nachricht, daß Kaiſer Wil- helm in allem Ernſt daran denke, in Albanien zu landen und Janina zu beſuchen. Ein großes römiſches Blatt hat wohl den Nagel auf den Kopf getroffen, als es ſchrieb, vor wenigen Wochen würde die Ankündigung eines Kaiſerbeſuchs in Albanien die europäiſche und vor allem die italieniſche Preſſe in die größte Aufregung verſetzt haben; man würde Vergleichen mit den kaiſerlichen Landungen und Be- ſuchen in Jeruſalem und Tanger kaum aus dem Weg gegangen ſein. Heute, wo alle Mächte ſich auf die Transverſalbahn als Kompenſation für die Intereſſen geeinigt haben, die ſich durch die öſterreichiſch-ungariſchen Bahnforderungen geſchädigt fühlen, heute, wo Kaiſer Wil- helm ſich anſchickt, in Venedig ſeinem Verbündeten einen neuen Beweis ſeiner Sympathien für Italien zu geben, ſind friedenſtörende Komentare weit weniger zu fürchten. Kaiſer Wilhelm wird in Venedig, wo er außer dem König auch den Miniſter Tittoni treffen wird, keine Schwierigkeiten haben, alle von der Loyalität der deutſchen Orientpolitik und von dem Wunſch nach innigem Einver- nehmen mit Italien zu überzeugen, denn die offiziellen und leitenden Kreiſe haben nie daran gezweifelt. Hingegen iſt es kaum zweifelhaft, daß weite Kreiſe der italieniſchen Be- völkerung, die in den letzten Jahren in ihren Sympathien für Deutſchland offenſichtlich nachgelaſſen hatten, ſich den früheren Gefühlen wieder zuwenden werden, heute, wo „Guglielmo“, wie ſie vertraulich ſagen, im Lande der Orangen wieder in Perſon erſcheint. Der Wiener Nuntius und der Fall Wahrmund. Das amtliche Communiqué über das Vorgehen des apoſtoliſchen Nuntius in Sachen Wahrmunds hat kurze Beine gehabt. Mſgr. Belmonte hat einem Vertreter der Neuen Freien Preſſe erklärt, daß er von dem, was er dem Redakteur des Vaterland geſagt, nichts, gar nichts zu widerrufen habe; er habe tatſächlich den Miniſter des Aeußern Frhrn. v. Aehrenthal beſucht und ihm Vor- ſtellungen in der Richtung gemacht, daß Profeſſor Wahrmund von dem Katheder für kanoni- ſches Rechtentfernt werde. Der Nuntius betrach- tet ſich als diplomatiſchen Vertreter der Kurie in einem Lande, „in welchem die katholiſche Religion in gewiſ- ſem Sinne Staatsreligion iſt“. Er habe nun gefunden, daß Profeſſor Wahrmund die katholiſche Religion beſchimpft habe, und dies ſei ſonderbar „bei einem öffent- lichen Funktionär in einem katholiſchen Staate“. Uebrigens werde niemand ſeinen Schritt bei Baron Aehrenthal ſo aufgefaßt haben, als ob dem Unterrichtsminiſter die Zu- mutung geſtellt werden ſollte, Profeſſor Wahrmund über- haupt vom Lehramt zu entfernen. Das wäre viel- leicht eine Ueberſchreitung der ihm, dem Nuntius, gezogenen Grenzen. Wohl aber ſei er bei Baron Aehrenthal einge- ſchritten wegen Enthebung Wahrmunds vom Lehramte des Kirchenrechts. Er beharre auf ſeiner Meinung und ſeinem Standpunkt; an der Regierung ſei es, ſeinem Verlangen nachzugeben oder nicht. Er werde alles ruhig abwarten und, nachdem er ſeine Pflicht getan, keine weite- ren Schritte unternehmen. Es wäre verkehrt, den Fall Wahrmund zu ſehr aufzubauſchen. Aus dieſen Aeußerungen geht hervor, daß der Nun- tius zwar das formelle Recht der öſterreichiſchen Regierung zu einer völlig ſelbſtändigen Entſcheidung nicht beſtreitet, daß er aber aus dem katholiſchen Charakter des öſterreichiſchen Staates für ſich ſelber ein Recht zum Ein- ſchreiten ableitet. Es handelt ſich alſo um eine ſtaatsrecht- liche Frage allererſten Ranges, und es iſt begreiflich, daß die liberale Preſſe mit Entſchiedenheit einen parlamen- tariſchen Austrag des Zwiſchenfalles fordert. Was da- bei herauskommen wird, iſt allerdings eine andere Frage. Mit eigentümlicher Ironie hat ja das liberale allgemeine Wahlrecht der öſterreichiſchen Monarchie ein klerikales Parlament beſchert, und im Miniſterium ſcheint man ge- neigt, dieſer Sachlage Rechnung zu tragen, wenn man auch formell die Selbſtändigkeit der Staatsgewalt zu wahren ſucht. Die nicht ganz bequeme Differenz der beiden Dar- ſtellungen wird nun durch ein neues Communiqué erledigt, deſſen Inhalt ſich folgendermaßen wiedergeben läßt: Frhr. v. Aehrenthal hat den offiziell gemeinten Schritt des Nuntius als privat aufgefaßt und aus deſſen Aeußerungen zum mindeſten keine offizielle Forderung herausgehört. Das dem Fremdenblatt zugegangene Communiqué lautet: Das Privatſchreiben des Miniſters des Aeußern an den Unterrichtsminiſter Dr. Marchet vom 6. März in der An- gelegenheit des Profeſſors Wahrmund hatte folgenden Wortlaut: „Anläßlich des Beſuches, den mir der hieſige apoſtoliſche Nuntius kürzlich abſtattete, brachte Seine Exzellenz die Sprache auf den bekannten Profeſſor des kanoniſchen Rechtes in Inns- bruck Dr. Wahrmund, indem er bemerkte, daß derſelbe kürzlich in Innsbruck und Salzburg Vorträge atheiſtiſchen Charakters gehalten habe und auch Broſchüren verteile, die in einem dem Glauben der katholiſchen Kirche feindlich geſinnten Geiſte ge-

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-02-11T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.




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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 133, 20. März 1908, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine133_1908/1>, abgerufen am 21.11.2024.