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Allgemeine Zeitung, Nr. 140, 25. März 1908.

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Mittwoch, 25. März 1908. München. Vorabendblatt. -- Nr. 140
Allgemeine Zeitung.
Erscheint täglich 2mal. -- Einhundertelfter Jahrgang.

Bezugspreis: Ausgabe B mit Wissenschaftlicher Beilage und Internationaler Wochenschrift in
München 1.50 Mark monatlich frei ins Haus; durch die Post: 2. -- Mark monatlich. Ausgabe A (ohne
Beilage) in München 1. -- Mark, durch die Post bezogen 1.50 Mark monatlich. Abonnements für
München: Expedition Bayerstraße 57, deren Filialen und sämtliche Zeitungs-Expeditionen; für
das Ausland: England: A. Siegle, 30 Lime Str. und The Anglo-Foreign Publishing Syndicate,
Ltd., 88 Coleman Str., in London; Frankreich, Portugal und Spanien: A. Ammel u. C. Kliencksieck
in Paris; das übrige Europa: die Postämter; Orient: das k. k. Postamt in Wien oder in Triest; Nord-
amerika: F. W. Christern. E. Steiger & Co., Gust E. Stechert, Westermann & Co., sämtlich in New York.

[Abbildung]

Insertionspreis: für die 7 gespaltene Kolonelzeile oder deren Raum im Morgenblatt
40 Pfennig, im Abendblatt 80 Pfennig, Lokale Anzeigen nach Tarif. Stellen-Gesuche 10 Pfennig.
Inseraten-Annahme in München: Expedition Bayerstraße 57, die Filialen der Allgemeinen
Zeitung und alle Annoncen-Expeditionen. -- Generalvertretungen: für Oesterreich-Ungarn
in Wien V/I, Schönbrunner Str. 48 (Richard Jahn); Frankreich: John F. Jones & Co.,
31 bis Rue du Faubourg Montmartre in Paris; England: John F. Jones & Co.,
1 & 2 Snow Hill, Holborn-Viadukt, London; Rußland: L. & E. Metzl & Co., Moskau.
Mjasnitzkaja Haus Systow, St. Petersburg, Morskaja 11; Warschau: Kral-Vorstadt 53.

Chefredakteur: Dr. Hermann Diez.
Verantwortlich: für den politischen Teil mit Ausnahme der bayerischen Politik Dr. Rudolf Dammert; für den bayerischen Teil Dr. Paul Busching; für das Feuilleton und den "Sonntag" Alfred Frhr. v. Mensi;
für die Wissenschaftliche Beilage Dr. Oskar Bulle; für den Handelsteil Leo Jolles, sämtlich in München.
Redaktion: Bayerstraße 57 Telephon 8432, 8433. = Druck und Verlag: Bayerische Druckerei & Verlagsanstalt, G. m. b. H., in München. = Expedition: Bayerstraße 57, Telephon 8430, 8431.


[Spaltenumbruch]
Das Neueste vom Tage.

Die bayerische Kammer der Abgeordneten hat die Beratung des
Fischereigesetzes begonnen.



Das kaiserliche Paar hat die Reise nach Korfu an-
getreten.



Die Wunde, die König Manuel von Portugal bei dem
Attentat erhalten hat, hat sich derart verschlimmert, daß
die Aerzte angeblich die sofortige Amputation des
Armes anraten.



Das "politische Moment".

Die Zentrumspresse hat an dem Falle Gröber so lange
herumgedoktert, bis sie jetzt mit Sicherheit das "Herein-
spielen politischer Momente
" feststellen kann.
Die ultramontanen Führer in der Presse und im Parla-
ment sind allezeit groß gewesen im Auslegen und im Unter-
legen, und sie haben es seit dem 25. Januar 1907 zur Vir-
tuosität auf diesem Gebiete gebracht. So kann es nicht
wundernehmen, daß man in der klerikalen Presse allen
Ernstes fordert, die Reichstagstribüne möge vor Herrn
Gröber, als der Verkörperung des Zentrums, feierlichst
Kotau machen, worauf der Herr Landgerichtsdirektor den
Herren noch einen Kübel Wasser über die Köpfe gießen
und sich gleichzeitig beim Reichstage -- beileibe nicht bei
den Herren Journalisten -- "entschuldigen" will; wahr-
scheinlich dafür, daß er diese Federfuchser nicht schlankweg
aus dem Reichstag hinausgewiesen hat, wo sie doch nur
"Gastrecht" genießen.

Und warum dies alles? Es tut not, den Aus-
legungskünsten des Zentrums gegenüber noch einmal den
"Fall" zu präzisieren. Herr Erzberger sprach mit dem ihm
eigenen Selbstbewußtsein zum Kolonialetat und för-
derte dabei den tiefen Gedanken zutage: auch der Neger
habe eine unsterbliche Seele. Auf der linken Seite des
Hauses erregte dieser Satz Heiterkeit, in die auch ein
Journalist auf der Tribüne, und zwar mit einem Oho!-Ruf,
eingestimmt haben soll. Das amtliche Stenogramm ver-
zeichnet an dieser Stelle: "Heiterkeit, Unruhe und Zurufe
von der Journalistentribüne"; es ist aber noch die Frage,
ob diese "Zurufe von der Journalistentribüne" nicht nach-
träglich aufgenommen
worden sind, was ja an
der Hand der Urschrift der Stenographen festzustellen ist;
man darf nicht übersehen, daß das betreffende Manuskript-
blatt Herrn Erzberger als Redner zur Korrektur vorgelegt
wurde. Also schlimmstenfalls war Herr Mathias Erz-
berger in seinem Redefluß von einem Journalisten
unterbrochen worden, der sich damit gewiß einer Unge-
hörigkeit, außerdem aber auch einer Geschmacklosig-
keit
schuldig gemacht hat; Erzbergersche Reden sind kein
Ereignis mehr für die Tribüne; so setzte sich der Zwischen-
rufer der Gefahr aus, von Herrn Erzberger eine ernsthafte
Zurückweisung einstecken zu müssen, und das wäre seiner
Reputation auf der Tribüne nicht förderlich gewesen. In
Wirklichkeit hat nun Herr Erzberger die Remedur korrek-
terweise dem Präsidenten überlassen; sein Landsmann
Gröber dagegen, der gänzlich unbeteiligt war, glaubte den
Zwischenruf im Hausknechtstone mit einer Beleidigung
der gesamten Journalistentribüne, einschließlich der Zen-
trumsjournalisten quittieren zu sollen. Erst nach vier-
undzwanzig Stunden erkannten die Mitarbeiter der Zen-
trums-Parlaments-Korrespondenz, daß ihre Berufsehr
nicht lädiert sei -- weil man ihnen sonst den Brotkorb
höher gehängt hätte, und nach abermals vierundzwanzig
Stunden kam die Entdeckung, daß die Zentrumsredner
"überhaupt" seit dem 13. Dezember 1906 von der Reichs-
tagstribüne lieblos, ja feindlich behandelt werden. Und
dieser Entwicklungsgang vom Freitag bis
Montag
hat es mit sich gebracht, daß die gesamte Jour-
nalistentribüne des Reichstags sich bei der Zentrumsfrak-
tion entschuldigen soll.

Es ist köstlich, zu verfolgen, mit welchen Mitteln die
Zentrumspresse zuerst die beteiligten Reichstagsjourna-
listen zu entzweien suchte, und, als das glänzend mißlang,
die Oeffentlichkeit gegen die Presse einzu-
nehmen
bestrebt ist. Am Samstag las man in klerikalen
Blättern, die Inßenierung und Leitung des Journalisten-
streiks habe der Inhaber eines sozialdemokratisch-freisinni-
gen Parlamentsbureaus in die Hand genommen. Die Kon-
servativen bissen aber auf den Köder nicht an. Und am
Sonntag und Montag macht man daher den Herren auf
der Linken gruselig: Die Alldeutschen führen in den Ver-
sammlungen der Journalisten das große Wort und der
V. D. St. (Verein Deutscher Studenten) diktiert die Be-
dingungen. Leider ist der Freisinn, wie die gleiche Zen-
trumspresse in letzter Zeit mehrfach nachgewiesen hat,
bereits so verdorben, daß er den Wink mit dem Zaun-
pfahl nicht beachtet. Schnell wird zum dritten Streiche
ausgeholt: Die Parlamentsjournalisten benehmen sich
überhaupt so laut, daß die Besucher der allgemeinen Tri-
[Spaltenumbruch] büne daran Anstoß nehmen. Das kommt dann und wann
vor und ist in den äußeren Verhältnissen begründet, unter
deren Zwang die Berichterstatter ihre Arbeit auf der Tri-
büne leisten müssen. Von dieser Feststellung bis zur Forde-
rung der Vertilgung der Journalistentri-
büne
ist nur ein Schritt. In der Tat: seit dem Aus-
scheiden des Zentrums als ausschlaggebende Partei aus
dem politischen Leben im Reiche hat der Ultramontanis-
mus kein Interesse mehr an der Oeffentlichkeit der Reichs-
tagsverhandlungen, die immer wieder das Fortbestehen
des Blocks bekräftigen!

Die ultramontane Presse hat recht: in den Konflikt der
Reichstagsjournalisten mit dem Abgeordneten Gröber
spielen jetzt politische Momente herein, und das Zentrum
selbst ist es, das in heißem Bemühen diese politischen Mo-
mente hineingetragen hat. Selbst ein Schimpfwort aus
dem Munde eines Zentrumsführers muß zu Ehr' und
Ruhm der Parteipolitik ausgenutzt werden. Das ist echt
ultramontan.



Nochmals Zentrum und Sozial-
demokratie in Baden.

Von unserem badischen Korrespondenten.

Unsere Behauptung, das Zentrum bekämpfe die Sozialdemo-
kratie vorwiegend wegen ihrer Religionsfeindlichkeit, ist dem
Badischen Beobachter sehr auf die Nerven gegangen. In einer
ernsten Polemit gegen uns gibt er nun dieses Ueberwiegen des
religiösen Momentes zwar zu, meint aber, der Kampf gegen die
umstürzlerischen Tendenzen sei in dem Kampf gegen ihre Reli-
gionsfeindlichkeit schon eingeschlossen. Dieses Argument haben wir
leider dem Badischen Beobachter schon vorweggenommen, durch
den Hinweis auf die Polen und Welfen, die doch sicherlich die
"Forderungen der christlichen Religion und Moral" im Sinne des
Zentrums vertreten, aber doch vom nationalen, patriotischen
Standpunkte recht bedenklich sind. Aber der "innerlich so wehr-
hafte" Beobachter hat es eben vorgezogen, gerade diese Stelle
seinen Lesern zu unterschlagen, wiewohl er den übrigen Teil des
bezüglichen Abschnittes vollständig abdruckte!

Daß das Zentrum mit der Sozialdemokratie sich am
13. Dezember 1906 "zusammengefunden" habe, leugnet der Badi-
sche Beobachter natürlich und sieht in unserer gegenteiligen
Meinung einen Beweis für unsere "Ignoranz". Wir bedauern,
dabei bleiben zu müssen, daß das Zentrum sich in der Ablehnung
des freisinnigen Antrages, der das Minimum der nationalen
Forderung darstellte, sich mit der Sozialdemokratie "zusammen-
gefunden" hat. Oder sollten wir uns getäuscht haben?

Schließlich bezeichnet es der Badische Beobachter "zum
hundertsten Male als eine nationalliberale Lüge, daß jemals
das Zentrum die Sozialdemokratie für sich gewonnen und für sich
ausgenutzt habe", und er versichert, vermutlich zum ebenso-
vielten Male, daß die Parteileitung neuerlich und äußer-
lich korrekt dastehe. Dazu ist zu bemerken, daß für
uns das Zentrum nicht bloß aus der Parteileitung besteht,
sondern ebenso aus seiner Presse, seinen Agitatoren und Ver-
trauensleuten, und allen denen, die in Zentrumsvereinen organi-
siert sind. Es geht nicht an, alles das, was nicht direkt von der
Parteileitung geschieht, auf das Privatkonto einzelner zu setzen.
Die Parteileitung ist dafür mitverantwortlich, namentlich dann,
wenn sie es an einer entsprechenden Mißbilligung hat fehlen
lassen. Im übrigen geben wir gerne zu, daß das Zentrum die
Sozialdemokratie für sich nicht "ausgenützt hat", daß es ihr viel-
mehr mit größter Selbstlosigkeit, ohne irgendwelche Gegenleistung
zu verlangen, seine Hilfe hat angedeihen lassen. Ob es sich
dabei von lauterer Liebe zur Sozialdemokratie oder von purem
Haß gegen den Liberalismus leiten ließ, wagen wir natürlich
nicht zu entscheiden. Feststeht jedenfalls, daß die Hälfte
der Mandate, die die Sozialdemokratie heute durch Unterstützung
der bürgerlichen Parteien inne hat, ihr vom Zentrum selbstlos
in die Hände gespielt wurde. Fest steht, daß das Zentrum
zum erstenmal die Residenzstadt Karlsruhe der Sozialdemokratie
auslieferte, und daß sein erster Führer das in offener Kammer-
sitzung als "ein erfreuliches Ereignis" gefeiert hat. Fest steht
ferner,
daß das Zentrum bei der Reichstagswahl 1890 das
Mannheimer Mandat der Sozialdemokratie verschafft und daß
dabei ein Schriftstück eine Rolle gespielt hat, das man hinterher
als Fälschung abzutun suchte, obwohl die Parteileitung reichlich
Zeit gehabt hätte, dagegen aufzutreten und seine Wirkung zu
verhindern. Und diese Zurückhaltung der Parteileitung muß um
so peinlicher berühren, als man denjenigen, die anläßlich der
sogenannten Jubiläumswahlen 1901 mit besonderer Rücksicht auf
den greisen Großherzog eine Gegenparole zugunsten einer bürger-
lichen Partei ausgaben, in ganz anderem Tone aufspielte, wovon
Geistlicher Rat und Stadtpfarrer Knörzer ein artig Liedlein
singen könnte. Wenn nun eine Partei, die sich in Vergangenheit
und Gegenwart so viele "Delikte" zugunsten der Sozialdemo-
kratie zuschulden kommen ließ, das Bündnis einer anderen Partei
gleichsam als den Ausbund aller politischen Schlechtigkeit dar-
stellt, so nennt man das im gewöhnlichen Leben: Heuchelei. Und
da mit dieser Heuchelei politische Geschäfte gemacht werden sollen,
so halten wir es für unsere Pflicht, ihr ins Gesicht zu leuchten
und das Handwerk zu legen. Diese Pflicht werden wir erfüllen,
auch wenn der Badische Beobachter eine noch größere Ruppigkeit
in der Form aufbietet, um uns zum Schweigen zu bringen. Wir
haben im übrigen von seiner Polemik nur deshalb Notiz ge-
nommen, um an einigen handgreiflichen Beispielen zu zeigen,
[Spaltenumbruch] was hinter dem großsprecherischen Gepolter der Blätter in Wirk-
lichkeit steckt, und bekennen gerne, daß es wenig Sinn hat, sich mit
einem Blatte in eine sachliche Auseinandersetzung einzulassen,
das neuerdings seine ganze Ehre in der Pflege einer Tonart sucht,
die sich von dem "Sauherdenton" der Sozialdemokratie nur durch
den Anspruch unterscheidet, ein Ausfluß christlich-religiöser Ge-
sinnung zu sein.



Diplomatische Paradoxien.

Von unserem Wiener Korrespondenten.

Die diplomatische Krankheit, an der Mazedonien leidet,
ist auch ohne geistreiche Diagnose offenkundig. Es ist heil-
los, wie die Banden daselbst wirtschaften und wie sich die
christlichen Nationalitäten gegenseitig die Hälse abschneiden.
Die englische und russische Diplomatie schlägt verschiedene
Mittel zur Besserung vor: Die erstere ist auf den Einfall
gekommen, die Zahl der türkischen Truppen im Lande zu
verringern und die Regierung einem Generalgouverneur
zu übertragen, der die Aufgabe haben würde, kraft seiner
neugebackenen Autorität und mit einer geringeren Trup-
penzahl die Ordnung herzustellen. Auf dem Kontinent
schüttelt man zu der Arznei den Kopf. Darauf schlägt Ruß-
land eine andere vor: Mit dem Generalgouverneur gehe es
doch eigentlich nicht -- wenn man aber die Befugnisse der
Finanzkommission erweitern wollte, so wäre dies ein gutes
Stück nach vorwärts. Wie aber die in Salonichi amtierende
Finanzkommission, die schon manches Gute gestiftet hat, ver-
hindern soll, daß Bulgaren, Serben und Griechen Banden
ins Land schicken, ist so unverständlich, daß man nur ver-
muten kann, Rußland wolle wohl oder übel den unprakti-
schen englischen Vorschlag beiseite schieben. Das Verfahren
der beiden Mächte ist so paradox, daß man unwillkürlich die
Frage aufwirft, was sie eigentlich erzielen wollen. Es geht
doch nicht an, geradezu anzunehmen, daß man in St. Peters-
burg und in London Verwirrung stiften und die mazedo-
nische Gefahr vergrößern wolle. Die diplomatische Para-
doxie besteht darin, daß der Zweck und die vorgeschlagenen
Mittel in einem unlösbaren Widerspruche stehen.

Das Neue an dem Vorgehen Rußlands, so wird be-
hauptet, liege darin, daß es sich mit seinem Vorschlage nicht
mehr wie früher zuerst an Oesterreich-Ungarn gewendet,
daß also das Zusammenarbeiten der beiden Mächte jetzt
einen Sprung erhalten habe. Das ist nicht richtig. Den
Justizplan allerdings, der nach der früheren Methode zuerst
zwischen St. Petersburg und Wien hätte besprochen werden
sollen, hat Iswolski sofort dem europäischen Konzert zu
unterbreiten vorgezogen, und eine Zeitlang hatte man den
Eindruck, als ob -- nicht erst infolge der Enthüllung der
Eisenbahnentwürfe Oesterreichs -- die zwischen Goluchowski
und Lamsdorff vereinbarte Entente sich gelöst hätte. Mit
seinem neuesten mazedonischen Vorschlag aber hat Iswolski
sich wieder erst an das Wiener Kabinett gewandt, ehe er ihn
den übrigen Mächten vorlegte. Immerhin eine gewisse
Wandlung ist eingetreten, und die Ursache liegt in der voll-
ständig geänderten Weltlage. Seitdem Rußland seine
Hand nicht mehr in den mandschurischen Angelegenheiten
hat und endgültig auf das Vordringen an den Stillen Ozean
verzichtet, wendet es sich wieder seiner früheren Balkan-
politik zu. So verlangen es die russischen Nationalisten,
denen sich Iswolski um so weniger entziehen kann, da er
selbst als "Westeuropäer" schief angesehen wird und Proben
seiner Zuverlässigkeit ablegen muß. Daher die Annäherung
Englands und Rußlands, daher die nervösen Reformpläne
betreffs Mazedoniens. Mit aller Ruhe und Kaltblütigkeit
verfolgte man von Wien und Berlin aus das hastige Vor-
gehen der beiden anderen Großmächte. Man ist zu jeder
verständigen Reform bereit und wünscht nur, daß niemand
sich an ein Abenteuer wage. Man will sich in London und
St. Petersburg betätigen, das vorhandene Kraftgefühl sucht
einen Ausweg. Das ist der Erklärungsgrund für die diplo-
matischen Paradoxien. Solange die Vielgeschäftigkeit bloß
im Kreise des europäischen Konzertes zum Ausdruck kommt,
bleibt sie für den Frieden der Welt gefahrlos.



Politische Rundschau.
Toleranz des Polentums.

* Unter dieser Ueberschrift schreibt die Korrespondenz
der Deutschen Vereinigung:

Man mag über die preußische Polenpolitik denken, wie
man will, ja, man mag sie sogar grundsätzlich verurteilen;
trotzdem kann man die von gewisser Seite eifrig verbreitete
Meinung nicht gelten lassen, daß die preußische Re-
gierung
die Polen nicht bloß germanisieren, sondern
auch protestantisieren wolle.

Wie wenig die preußische Herrschaft dem polnischen
Katholizismus gefährlich geworden ist, beweist mit einer
geradezu drastischen Evidenz die soeben von dem katholischen
Lizentiaten Emil Waschinski veröffentlichte Schrift über

Mittwoch, 25. März 1908. München. Vorabendblatt. — Nr. 140
Allgemeine Zeitung.
Erſcheint täglich 2mal. — Einhundertelfter Jahrgang.

Bezugspreis: Ausgabe B mit Wiſſenſchaftlicher Beilage und Internationaler Wochenſchrift in
München 1.50 Mark monatlich frei ins Haus; durch die Poſt: 2. — Mark monatlich. Ausgabe A (ohne
Beilage) in München 1. — Mark, durch die Poſt bezogen 1.50 Mark monatlich. Abonnements für
München: Expedition Bayerſtraße 57, deren Filialen und ſämtliche Zeitungs-Expeditionen; für
das Ausland: England: A. Siegle, 30 Lime Str. und The Anglo-Foreign Publiſhing Syndicate,
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in Paris; das übrige Europa: die Poſtämter; Orient: das k. k. Poſtamt in Wien oder in Trieſt; Nord-
amerika: F. W. Chriſtern. E. Steiger & Co., Guſt E. Stechert, Weſtermann & Co., ſämtlich in New York.

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40 Pfennig, im Abendblatt 80 Pfennig, Lokale Anzeigen nach Tarif. Stellen-Geſuche 10 Pfennig.
Inſeraten-Annahme in München: Expedition Bayerſtraße 57, die Filialen der Allgemeinen
Zeitung und alle Annoncen-Expeditionen. — Generalvertretungen: für Oeſterreich-Ungarn
in Wien V/I, Schönbrunner Str. 48 (Richard Jahn); Frankreich: John F. Jones & Co.,
31 bis Rue du Faubourg Montmartre in Paris; England: John F. Jones & Co.,
1 & 2 Snow Hill, Holborn-Viadukt, London; Rußland: L. & E. Metzl & Co., Moskau.
Mjasnitzkaja Haus Syſtow, St. Petersburg, Morskaja 11; Warſchau: Kral-Vorſtadt 53.

Chefredakteur: Dr. Hermann Diez.
Verantwortlich: für den politiſchen Teil mit Ausnahme der bayeriſchen Politik Dr. Rudolf Dammert; für den bayeriſchen Teil Dr. Paul Buſching; für das Feuilleton und den „Sonntag“ Alfred Frhr. v. Menſi;
für die Wiſſenſchaftliche Beilage Dr. Oskar Bulle; für den Handelsteil Leo Jolles, ſämtlich in München.
Redaktion: Bayerſtraße 57 Telephon 8432, 8433. = Druck und Verlag: Bayeriſche Druckerei & Verlagsanſtalt, G. m. b. H., in München. = Expedition: Bayerſtraße 57, Telephon 8430, 8431.


[Spaltenumbruch]
Das Neueſte vom Tage.

Die bayeriſche Kammer der Abgeordneten hat die Beratung des
Fiſchereigeſetzes begonnen.



Das kaiſerliche Paar hat die Reiſe nach Korfu an-
getreten.



Die Wunde, die König Manuel von Portugal bei dem
Attentat erhalten hat, hat ſich derart verſchlimmert, daß
die Aerzte angeblich die ſofortige Amputation des
Armes anraten.



Das „politiſche Moment“.

Die Zentrumspreſſe hat an dem Falle Gröber ſo lange
herumgedoktert, bis ſie jetzt mit Sicherheit das „Herein-
ſpielen politiſcher Momente
“ feſtſtellen kann.
Die ultramontanen Führer in der Preſſe und im Parla-
ment ſind allezeit groß geweſen im Auslegen und im Unter-
legen, und ſie haben es ſeit dem 25. Januar 1907 zur Vir-
tuoſität auf dieſem Gebiete gebracht. So kann es nicht
wundernehmen, daß man in der klerikalen Preſſe allen
Ernſtes fordert, die Reichstagstribüne möge vor Herrn
Gröber, als der Verkörperung des Zentrums, feierlichſt
Kotau machen, worauf der Herr Landgerichtsdirektor den
Herren noch einen Kübel Waſſer über die Köpfe gießen
und ſich gleichzeitig beim Reichstage — beileibe nicht bei
den Herren Journaliſten — „entſchuldigen“ will; wahr-
ſcheinlich dafür, daß er dieſe Federfuchſer nicht ſchlankweg
aus dem Reichstag hinausgewieſen hat, wo ſie doch nur
„Gaſtrecht“ genießen.

Und warum dies alles? Es tut not, den Aus-
legungskünſten des Zentrums gegenüber noch einmal den
„Fall“ zu präziſieren. Herr Erzberger ſprach mit dem ihm
eigenen Selbſtbewußtſein zum Kolonialetat und för-
derte dabei den tiefen Gedanken zutage: auch der Neger
habe eine unſterbliche Seele. Auf der linken Seite des
Hauſes erregte dieſer Satz Heiterkeit, in die auch ein
Journaliſt auf der Tribüne, und zwar mit einem Oho!-Ruf,
eingeſtimmt haben ſoll. Das amtliche Stenogramm ver-
zeichnet an dieſer Stelle: „Heiterkeit, Unruhe und Zurufe
von der Journaliſtentribüne“; es iſt aber noch die Frage,
ob dieſe „Zurufe von der Journaliſtentribüne“ nicht nach-
träglich aufgenommen
worden ſind, was ja an
der Hand der Urſchrift der Stenographen feſtzuſtellen iſt;
man darf nicht überſehen, daß das betreffende Manuſkript-
blatt Herrn Erzberger als Redner zur Korrektur vorgelegt
wurde. Alſo ſchlimmſtenfalls war Herr Mathias Erz-
berger in ſeinem Redefluß von einem Journaliſten
unterbrochen worden, der ſich damit gewiß einer Unge-
hörigkeit, außerdem aber auch einer Geſchmackloſig-
keit
ſchuldig gemacht hat; Erzbergerſche Reden ſind kein
Ereignis mehr für die Tribüne; ſo ſetzte ſich der Zwiſchen-
rufer der Gefahr aus, von Herrn Erzberger eine ernſthafte
Zurückweiſung einſtecken zu müſſen, und das wäre ſeiner
Reputation auf der Tribüne nicht förderlich geweſen. In
Wirklichkeit hat nun Herr Erzberger die Remedur korrek-
terweiſe dem Präſidenten überlaſſen; ſein Landsmann
Gröber dagegen, der gänzlich unbeteiligt war, glaubte den
Zwiſchenruf im Hausknechtstone mit einer Beleidigung
der geſamten Journaliſtentribüne, einſchließlich der Zen-
trumsjournaliſten quittieren zu ſollen. Erſt nach vier-
undzwanzig Stunden erkannten die Mitarbeiter der Zen-
trums-Parlaments-Korreſpondenz, daß ihre Berufsehr
nicht lädiert ſei — weil man ihnen ſonſt den Brotkorb
höher gehängt hätte, und nach abermals vierundzwanzig
Stunden kam die Entdeckung, daß die Zentrumsredner
„überhaupt“ ſeit dem 13. Dezember 1906 von der Reichs-
tagstribüne lieblos, ja feindlich behandelt werden. Und
dieſer Entwicklungsgang vom Freitag bis
Montag
hat es mit ſich gebracht, daß die geſamte Jour-
naliſtentribüne des Reichstags ſich bei der Zentrumsfrak-
tion entſchuldigen ſoll.

Es iſt köſtlich, zu verfolgen, mit welchen Mitteln die
Zentrumspreſſe zuerſt die beteiligten Reichstagsjourna-
liſten zu entzweien ſuchte, und, als das glänzend mißlang,
die Oeffentlichkeit gegen die Preſſe einzu-
nehmen
beſtrebt iſt. Am Samstag las man in klerikalen
Blättern, die Inſzenierung und Leitung des Journaliſten-
ſtreiks habe der Inhaber eines ſozialdemokratiſch-freiſinni-
gen Parlamentsbureaus in die Hand genommen. Die Kon-
ſervativen biſſen aber auf den Köder nicht an. Und am
Sonntag und Montag macht man daher den Herren auf
der Linken gruſelig: Die Alldeutſchen führen in den Ver-
ſammlungen der Journaliſten das große Wort und der
V. D. St. (Verein Deutſcher Studenten) diktiert die Be-
dingungen. Leider iſt der Freiſinn, wie die gleiche Zen-
trumspreſſe in letzter Zeit mehrfach nachgewieſen hat,
bereits ſo verdorben, daß er den Wink mit dem Zaun-
pfahl nicht beachtet. Schnell wird zum dritten Streiche
ausgeholt: Die Parlamentsjournaliſten benehmen ſich
überhaupt ſo laut, daß die Beſucher der allgemeinen Tri-
[Spaltenumbruch] büne daran Anſtoß nehmen. Das kommt dann und wann
vor und iſt in den äußeren Verhältniſſen begründet, unter
deren Zwang die Berichterſtatter ihre Arbeit auf der Tri-
büne leiſten müſſen. Von dieſer Feſtſtellung bis zur Forde-
rung der Vertilgung der Journaliſtentri-
büne
iſt nur ein Schritt. In der Tat: ſeit dem Aus-
ſcheiden des Zentrums als ausſchlaggebende Partei aus
dem politiſchen Leben im Reiche hat der Ultramontanis-
mus kein Intereſſe mehr an der Oeffentlichkeit der Reichs-
tagsverhandlungen, die immer wieder das Fortbeſtehen
des Blocks bekräftigen!

Die ultramontane Preſſe hat recht: in den Konflikt der
Reichstagsjournaliſten mit dem Abgeordneten Gröber
ſpielen jetzt politiſche Momente herein, und das Zentrum
ſelbſt iſt es, das in heißem Bemühen dieſe politiſchen Mo-
mente hineingetragen hat. Selbſt ein Schimpfwort aus
dem Munde eines Zentrumsführers muß zu Ehr’ und
Ruhm der Parteipolitik ausgenutzt werden. Das iſt echt
ultramontan.



Nochmals Zentrum und Sozial-
demokratie in Baden.

Von unſerem badiſchen Korreſpondenten.

Unſere Behauptung, das Zentrum bekämpfe die Sozialdemo-
kratie vorwiegend wegen ihrer Religionsfeindlichkeit, iſt dem
Badiſchen Beobachter ſehr auf die Nerven gegangen. In einer
ernſten Polemit gegen uns gibt er nun dieſes Ueberwiegen des
religiöſen Momentes zwar zu, meint aber, der Kampf gegen die
umſtürzleriſchen Tendenzen ſei in dem Kampf gegen ihre Reli-
gionsfeindlichkeit ſchon eingeſchloſſen. Dieſes Argument haben wir
leider dem Badiſchen Beobachter ſchon vorweggenommen, durch
den Hinweis auf die Polen und Welfen, die doch ſicherlich die
„Forderungen der chriſtlichen Religion und Moral“ im Sinne des
Zentrums vertreten, aber doch vom nationalen, patriotiſchen
Standpunkte recht bedenklich ſind. Aber der „innerlich ſo wehr-
hafte“ Beobachter hat es eben vorgezogen, gerade dieſe Stelle
ſeinen Leſern zu unterſchlagen, wiewohl er den übrigen Teil des
bezüglichen Abſchnittes vollſtändig abdruckte!

Daß das Zentrum mit der Sozialdemokratie ſich am
13. Dezember 1906 „zuſammengefunden“ habe, leugnet der Badi-
ſche Beobachter natürlich und ſieht in unſerer gegenteiligen
Meinung einen Beweis für unſere „Ignoranz“. Wir bedauern,
dabei bleiben zu müſſen, daß das Zentrum ſich in der Ablehnung
des freiſinnigen Antrages, der das Minimum der nationalen
Forderung darſtellte, ſich mit der Sozialdemokratie „zuſammen-
gefunden“ hat. Oder ſollten wir uns getäuſcht haben?

Schließlich bezeichnet es der Badiſche Beobachter „zum
hundertſten Male als eine nationalliberale Lüge, daß jemals
das Zentrum die Sozialdemokratie für ſich gewonnen und für ſich
ausgenutzt habe“, und er verſichert, vermutlich zum ebenſo-
vielten Male, daß die Parteileitung neuerlich und äußer-
lich korrekt daſtehe. Dazu iſt zu bemerken, daß für
uns das Zentrum nicht bloß aus der Parteileitung beſteht,
ſondern ebenſo aus ſeiner Preſſe, ſeinen Agitatoren und Ver-
trauensleuten, und allen denen, die in Zentrumsvereinen organi-
ſiert ſind. Es geht nicht an, alles das, was nicht direkt von der
Parteileitung geſchieht, auf das Privatkonto einzelner zu ſetzen.
Die Parteileitung iſt dafür mitverantwortlich, namentlich dann,
wenn ſie es an einer entſprechenden Mißbilligung hat fehlen
laſſen. Im übrigen geben wir gerne zu, daß das Zentrum die
Sozialdemokratie für ſich nicht „ausgenützt hat“, daß es ihr viel-
mehr mit größter Selbſtloſigkeit, ohne irgendwelche Gegenleiſtung
zu verlangen, ſeine Hilfe hat angedeihen laſſen. Ob es ſich
dabei von lauterer Liebe zur Sozialdemokratie oder von purem
Haß gegen den Liberalismus leiten ließ, wagen wir natürlich
nicht zu entſcheiden. Feſtſteht jedenfalls, daß die Hälfte
der Mandate, die die Sozialdemokratie heute durch Unterſtützung
der bürgerlichen Parteien inne hat, ihr vom Zentrum ſelbſtlos
in die Hände geſpielt wurde. Feſt ſteht, daß das Zentrum
zum erſtenmal die Reſidenzſtadt Karlsruhe der Sozialdemokratie
auslieferte, und daß ſein erſter Führer das in offener Kammer-
ſitzung als „ein erfreuliches Ereignis“ gefeiert hat. Feſt ſteht
ferner,
daß das Zentrum bei der Reichstagswahl 1890 das
Mannheimer Mandat der Sozialdemokratie verſchafft und daß
dabei ein Schriftſtück eine Rolle geſpielt hat, das man hinterher
als Fälſchung abzutun ſuchte, obwohl die Parteileitung reichlich
Zeit gehabt hätte, dagegen aufzutreten und ſeine Wirkung zu
verhindern. Und dieſe Zurückhaltung der Parteileitung muß um
ſo peinlicher berühren, als man denjenigen, die anläßlich der
ſogenannten Jubiläumswahlen 1901 mit beſonderer Rückſicht auf
den greiſen Großherzog eine Gegenparole zugunſten einer bürger-
lichen Partei ausgaben, in ganz anderem Tone aufſpielte, wovon
Geiſtlicher Rat und Stadtpfarrer Knörzer ein artig Liedlein
ſingen könnte. Wenn nun eine Partei, die ſich in Vergangenheit
und Gegenwart ſo viele „Delikte“ zugunſten der Sozialdemo-
kratie zuſchulden kommen ließ, das Bündnis einer anderen Partei
gleichſam als den Ausbund aller politiſchen Schlechtigkeit dar-
ſtellt, ſo nennt man das im gewöhnlichen Leben: Heuchelei. Und
da mit dieſer Heuchelei politiſche Geſchäfte gemacht werden ſollen,
ſo halten wir es für unſere Pflicht, ihr ins Geſicht zu leuchten
und das Handwerk zu legen. Dieſe Pflicht werden wir erfüllen,
auch wenn der Badiſche Beobachter eine noch größere Ruppigkeit
in der Form aufbietet, um uns zum Schweigen zu bringen. Wir
haben im übrigen von ſeiner Polemik nur deshalb Notiz ge-
nommen, um an einigen handgreiflichen Beiſpielen zu zeigen,
[Spaltenumbruch] was hinter dem großſprecheriſchen Gepolter der Blätter in Wirk-
lichkeit ſteckt, und bekennen gerne, daß es wenig Sinn hat, ſich mit
einem Blatte in eine ſachliche Auseinanderſetzung einzulaſſen,
das neuerdings ſeine ganze Ehre in der Pflege einer Tonart ſucht,
die ſich von dem „Sauherdenton“ der Sozialdemokratie nur durch
den Anſpruch unterſcheidet, ein Ausfluß chriſtlich-religiöſer Ge-
ſinnung zu ſein.



Diplomatiſche Paradoxien.

Von unſerem Wiener Korreſpondenten.

Die diplomatiſche Krankheit, an der Mazedonien leidet,
iſt auch ohne geiſtreiche Diagnoſe offenkundig. Es iſt heil-
los, wie die Banden daſelbſt wirtſchaften und wie ſich die
chriſtlichen Nationalitäten gegenſeitig die Hälſe abſchneiden.
Die engliſche und ruſſiſche Diplomatie ſchlägt verſchiedene
Mittel zur Beſſerung vor: Die erſtere iſt auf den Einfall
gekommen, die Zahl der türkiſchen Truppen im Lande zu
verringern und die Regierung einem Generalgouverneur
zu übertragen, der die Aufgabe haben würde, kraft ſeiner
neugebackenen Autorität und mit einer geringeren Trup-
penzahl die Ordnung herzuſtellen. Auf dem Kontinent
ſchüttelt man zu der Arznei den Kopf. Darauf ſchlägt Ruß-
land eine andere vor: Mit dem Generalgouverneur gehe es
doch eigentlich nicht — wenn man aber die Befugniſſe der
Finanzkommiſſion erweitern wollte, ſo wäre dies ein gutes
Stück nach vorwärts. Wie aber die in Salonichi amtierende
Finanzkommiſſion, die ſchon manches Gute geſtiftet hat, ver-
hindern ſoll, daß Bulgaren, Serben und Griechen Banden
ins Land ſchicken, iſt ſo unverſtändlich, daß man nur ver-
muten kann, Rußland wolle wohl oder übel den unprakti-
ſchen engliſchen Vorſchlag beiſeite ſchieben. Das Verfahren
der beiden Mächte iſt ſo paradox, daß man unwillkürlich die
Frage aufwirft, was ſie eigentlich erzielen wollen. Es geht
doch nicht an, geradezu anzunehmen, daß man in St. Peters-
burg und in London Verwirrung ſtiften und die mazedo-
niſche Gefahr vergrößern wolle. Die diplomatiſche Para-
doxie beſteht darin, daß der Zweck und die vorgeſchlagenen
Mittel in einem unlösbaren Widerſpruche ſtehen.

Das Neue an dem Vorgehen Rußlands, ſo wird be-
hauptet, liege darin, daß es ſich mit ſeinem Vorſchlage nicht
mehr wie früher zuerſt an Oeſterreich-Ungarn gewendet,
daß alſo das Zuſammenarbeiten der beiden Mächte jetzt
einen Sprung erhalten habe. Das iſt nicht richtig. Den
Juſtizplan allerdings, der nach der früheren Methode zuerſt
zwiſchen St. Petersburg und Wien hätte beſprochen werden
ſollen, hat Iswolski ſofort dem europäiſchen Konzert zu
unterbreiten vorgezogen, und eine Zeitlang hatte man den
Eindruck, als ob — nicht erſt infolge der Enthüllung der
Eiſenbahnentwürfe Oeſterreichs — die zwiſchen Goluchowski
und Lamsdorff vereinbarte Entente ſich gelöſt hätte. Mit
ſeinem neueſten mazedoniſchen Vorſchlag aber hat Iswolski
ſich wieder erſt an das Wiener Kabinett gewandt, ehe er ihn
den übrigen Mächten vorlegte. Immerhin eine gewiſſe
Wandlung iſt eingetreten, und die Urſache liegt in der voll-
ſtändig geänderten Weltlage. Seitdem Rußland ſeine
Hand nicht mehr in den mandſchuriſchen Angelegenheiten
hat und endgültig auf das Vordringen an den Stillen Ozean
verzichtet, wendet es ſich wieder ſeiner früheren Balkan-
politik zu. So verlangen es die ruſſiſchen Nationaliſten,
denen ſich Iswolski um ſo weniger entziehen kann, da er
ſelbſt als „Weſteuropäer“ ſchief angeſehen wird und Proben
ſeiner Zuverläſſigkeit ablegen muß. Daher die Annäherung
Englands und Rußlands, daher die nervöſen Reformpläne
betreffs Mazedoniens. Mit aller Ruhe und Kaltblütigkeit
verfolgte man von Wien und Berlin aus das haſtige Vor-
gehen der beiden anderen Großmächte. Man iſt zu jeder
verſtändigen Reform bereit und wünſcht nur, daß niemand
ſich an ein Abenteuer wage. Man will ſich in London und
St. Petersburg betätigen, das vorhandene Kraftgefühl ſucht
einen Ausweg. Das iſt der Erklärungsgrund für die diplo-
matiſchen Paradoxien. Solange die Vielgeſchäftigkeit bloß
im Kreiſe des europäiſchen Konzertes zum Ausdruck kommt,
bleibt ſie für den Frieden der Welt gefahrlos.



Politiſche Rundſchau.
Toleranz des Polentums.

* Unter dieſer Ueberſchrift ſchreibt die Korreſpondenz
der Deutſchen Vereinigung:

Man mag über die preußiſche Polenpolitik denken, wie
man will, ja, man mag ſie ſogar grundſätzlich verurteilen;
trotzdem kann man die von gewiſſer Seite eifrig verbreitete
Meinung nicht gelten laſſen, daß die preußiſche Re-
gierung
die Polen nicht bloß germaniſieren, ſondern
auch proteſtantiſieren wolle.

Wie wenig die preußiſche Herrſchaft dem polniſchen
Katholizismus gefährlich geworden iſt, beweiſt mit einer
geradezu draſtiſchen Evidenz die ſoeben von dem katholiſchen
Lizentiaten Emil Waſchinski veröffentlichte Schrift über

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[0001] Mittwoch, 25. März 1908. München. Vorabendblatt. — Nr. 140 Allgemeine Zeitung. Erſcheint täglich 2mal. — Einhundertelfter Jahrgang. Bezugspreis: Ausgabe B mit Wiſſenſchaftlicher Beilage und Internationaler Wochenſchrift in München 1.50 Mark monatlich frei ins Haus; durch die Poſt: 2. — Mark monatlich. Ausgabe A (ohne Beilage) in München 1. — Mark, durch die Poſt bezogen 1.50 Mark monatlich. Abonnements für München: Expedition Bayerſtraße 57, deren Filialen und ſämtliche Zeitungs-Expeditionen; für das Ausland: England: A. Siegle, 30 Lime Str. und The Anglo-Foreign Publiſhing Syndicate, Ltd., 88 Coleman Str., in London; Frankreich, Portugal und Spanien: A. Ammel u. C. Klienckſieck in Paris; das übrige Europa: die Poſtämter; Orient: das k. k. Poſtamt in Wien oder in Trieſt; Nord- amerika: F. W. Chriſtern. E. Steiger & Co., Guſt E. Stechert, Weſtermann & Co., ſämtlich in New York. [Abbildung] Inſertionspreis: für die 7 geſpaltene Kolonelzeile oder deren Raum im Morgenblatt 40 Pfennig, im Abendblatt 80 Pfennig, Lokale Anzeigen nach Tarif. Stellen-Geſuche 10 Pfennig. Inſeraten-Annahme in München: Expedition Bayerſtraße 57, die Filialen der Allgemeinen Zeitung und alle Annoncen-Expeditionen. — Generalvertretungen: für Oeſterreich-Ungarn in Wien V/I, Schönbrunner Str. 48 (Richard Jahn); Frankreich: John F. Jones & Co., 31 bis Rue du Faubourg Montmartre in Paris; England: John F. Jones & Co., 1 & 2 Snow Hill, Holborn-Viadukt, London; Rußland: L. & E. Metzl & Co., Moskau. Mjasnitzkaja Haus Syſtow, St. Petersburg, Morskaja 11; Warſchau: Kral-Vorſtadt 53. Chefredakteur: Dr. Hermann Diez. Verantwortlich: für den politiſchen Teil mit Ausnahme der bayeriſchen Politik Dr. Rudolf Dammert; für den bayeriſchen Teil Dr. Paul Buſching; für das Feuilleton und den „Sonntag“ Alfred Frhr. v. Menſi; für die Wiſſenſchaftliche Beilage Dr. Oskar Bulle; für den Handelsteil Leo Jolles, ſämtlich in München. Redaktion: Bayerſtraße 57 Telephon 8432, 8433. = Druck und Verlag: Bayeriſche Druckerei & Verlagsanſtalt, G. m. b. H., in München. = Expedition: Bayerſtraße 57, Telephon 8430, 8431. Das Neueſte vom Tage. Die bayeriſche Kammer der Abgeordneten hat die Beratung des Fiſchereigeſetzes begonnen. Das kaiſerliche Paar hat die Reiſe nach Korfu an- getreten. Die Wunde, die König Manuel von Portugal bei dem Attentat erhalten hat, hat ſich derart verſchlimmert, daß die Aerzte angeblich die ſofortige Amputation des Armes anraten. Das „politiſche Moment“. *** München, 24. März. Die Zentrumspreſſe hat an dem Falle Gröber ſo lange herumgedoktert, bis ſie jetzt mit Sicherheit das „Herein- ſpielen politiſcher Momente“ feſtſtellen kann. Die ultramontanen Führer in der Preſſe und im Parla- ment ſind allezeit groß geweſen im Auslegen und im Unter- legen, und ſie haben es ſeit dem 25. Januar 1907 zur Vir- tuoſität auf dieſem Gebiete gebracht. So kann es nicht wundernehmen, daß man in der klerikalen Preſſe allen Ernſtes fordert, die Reichstagstribüne möge vor Herrn Gröber, als der Verkörperung des Zentrums, feierlichſt Kotau machen, worauf der Herr Landgerichtsdirektor den Herren noch einen Kübel Waſſer über die Köpfe gießen und ſich gleichzeitig beim Reichstage — beileibe nicht bei den Herren Journaliſten — „entſchuldigen“ will; wahr- ſcheinlich dafür, daß er dieſe Federfuchſer nicht ſchlankweg aus dem Reichstag hinausgewieſen hat, wo ſie doch nur „Gaſtrecht“ genießen. Und warum dies alles? Es tut not, den Aus- legungskünſten des Zentrums gegenüber noch einmal den „Fall“ zu präziſieren. Herr Erzberger ſprach mit dem ihm eigenen Selbſtbewußtſein zum Kolonialetat und för- derte dabei den tiefen Gedanken zutage: auch der Neger habe eine unſterbliche Seele. Auf der linken Seite des Hauſes erregte dieſer Satz Heiterkeit, in die auch ein Journaliſt auf der Tribüne, und zwar mit einem Oho!-Ruf, eingeſtimmt haben ſoll. Das amtliche Stenogramm ver- zeichnet an dieſer Stelle: „Heiterkeit, Unruhe und Zurufe von der Journaliſtentribüne“; es iſt aber noch die Frage, ob dieſe „Zurufe von der Journaliſtentribüne“ nicht nach- träglich aufgenommen worden ſind, was ja an der Hand der Urſchrift der Stenographen feſtzuſtellen iſt; man darf nicht überſehen, daß das betreffende Manuſkript- blatt Herrn Erzberger als Redner zur Korrektur vorgelegt wurde. Alſo ſchlimmſtenfalls war Herr Mathias Erz- berger in ſeinem Redefluß von einem Journaliſten unterbrochen worden, der ſich damit gewiß einer Unge- hörigkeit, außerdem aber auch einer Geſchmackloſig- keit ſchuldig gemacht hat; Erzbergerſche Reden ſind kein Ereignis mehr für die Tribüne; ſo ſetzte ſich der Zwiſchen- rufer der Gefahr aus, von Herrn Erzberger eine ernſthafte Zurückweiſung einſtecken zu müſſen, und das wäre ſeiner Reputation auf der Tribüne nicht förderlich geweſen. In Wirklichkeit hat nun Herr Erzberger die Remedur korrek- terweiſe dem Präſidenten überlaſſen; ſein Landsmann Gröber dagegen, der gänzlich unbeteiligt war, glaubte den Zwiſchenruf im Hausknechtstone mit einer Beleidigung der geſamten Journaliſtentribüne, einſchließlich der Zen- trumsjournaliſten quittieren zu ſollen. Erſt nach vier- undzwanzig Stunden erkannten die Mitarbeiter der Zen- trums-Parlaments-Korreſpondenz, daß ihre Berufsehr nicht lädiert ſei — weil man ihnen ſonſt den Brotkorb höher gehängt hätte, und nach abermals vierundzwanzig Stunden kam die Entdeckung, daß die Zentrumsredner „überhaupt“ ſeit dem 13. Dezember 1906 von der Reichs- tagstribüne lieblos, ja feindlich behandelt werden. Und dieſer Entwicklungsgang vom Freitag bis Montag hat es mit ſich gebracht, daß die geſamte Jour- naliſtentribüne des Reichstags ſich bei der Zentrumsfrak- tion entſchuldigen ſoll. Es iſt köſtlich, zu verfolgen, mit welchen Mitteln die Zentrumspreſſe zuerſt die beteiligten Reichstagsjourna- liſten zu entzweien ſuchte, und, als das glänzend mißlang, die Oeffentlichkeit gegen die Preſſe einzu- nehmen beſtrebt iſt. Am Samstag las man in klerikalen Blättern, die Inſzenierung und Leitung des Journaliſten- ſtreiks habe der Inhaber eines ſozialdemokratiſch-freiſinni- gen Parlamentsbureaus in die Hand genommen. Die Kon- ſervativen biſſen aber auf den Köder nicht an. Und am Sonntag und Montag macht man daher den Herren auf der Linken gruſelig: Die Alldeutſchen führen in den Ver- ſammlungen der Journaliſten das große Wort und der V. D. St. (Verein Deutſcher Studenten) diktiert die Be- dingungen. Leider iſt der Freiſinn, wie die gleiche Zen- trumspreſſe in letzter Zeit mehrfach nachgewieſen hat, bereits ſo verdorben, daß er den Wink mit dem Zaun- pfahl nicht beachtet. Schnell wird zum dritten Streiche ausgeholt: Die Parlamentsjournaliſten benehmen ſich überhaupt ſo laut, daß die Beſucher der allgemeinen Tri- büne daran Anſtoß nehmen. Das kommt dann und wann vor und iſt in den äußeren Verhältniſſen begründet, unter deren Zwang die Berichterſtatter ihre Arbeit auf der Tri- büne leiſten müſſen. Von dieſer Feſtſtellung bis zur Forde- rung der Vertilgung der Journaliſtentri- büne iſt nur ein Schritt. In der Tat: ſeit dem Aus- ſcheiden des Zentrums als ausſchlaggebende Partei aus dem politiſchen Leben im Reiche hat der Ultramontanis- mus kein Intereſſe mehr an der Oeffentlichkeit der Reichs- tagsverhandlungen, die immer wieder das Fortbeſtehen des Blocks bekräftigen! Die ultramontane Preſſe hat recht: in den Konflikt der Reichstagsjournaliſten mit dem Abgeordneten Gröber ſpielen jetzt politiſche Momente herein, und das Zentrum ſelbſt iſt es, das in heißem Bemühen dieſe politiſchen Mo- mente hineingetragen hat. Selbſt ein Schimpfwort aus dem Munde eines Zentrumsführers muß zu Ehr’ und Ruhm der Parteipolitik ausgenutzt werden. Das iſt echt ultramontan. Nochmals Zentrum und Sozial- demokratie in Baden. □ Karlsruhe 23. März. Von unſerem badiſchen Korreſpondenten. Unſere Behauptung, das Zentrum bekämpfe die Sozialdemo- kratie vorwiegend wegen ihrer Religionsfeindlichkeit, iſt dem Badiſchen Beobachter ſehr auf die Nerven gegangen. In einer ernſten Polemit gegen uns gibt er nun dieſes Ueberwiegen des religiöſen Momentes zwar zu, meint aber, der Kampf gegen die umſtürzleriſchen Tendenzen ſei in dem Kampf gegen ihre Reli- gionsfeindlichkeit ſchon eingeſchloſſen. Dieſes Argument haben wir leider dem Badiſchen Beobachter ſchon vorweggenommen, durch den Hinweis auf die Polen und Welfen, die doch ſicherlich die „Forderungen der chriſtlichen Religion und Moral“ im Sinne des Zentrums vertreten, aber doch vom nationalen, patriotiſchen Standpunkte recht bedenklich ſind. Aber der „innerlich ſo wehr- hafte“ Beobachter hat es eben vorgezogen, gerade dieſe Stelle ſeinen Leſern zu unterſchlagen, wiewohl er den übrigen Teil des bezüglichen Abſchnittes vollſtändig abdruckte! Daß das Zentrum mit der Sozialdemokratie ſich am 13. Dezember 1906 „zuſammengefunden“ habe, leugnet der Badi- ſche Beobachter natürlich und ſieht in unſerer gegenteiligen Meinung einen Beweis für unſere „Ignoranz“. Wir bedauern, dabei bleiben zu müſſen, daß das Zentrum ſich in der Ablehnung des freiſinnigen Antrages, der das Minimum der nationalen Forderung darſtellte, ſich mit der Sozialdemokratie „zuſammen- gefunden“ hat. Oder ſollten wir uns getäuſcht haben? Schließlich bezeichnet es der Badiſche Beobachter „zum hundertſten Male als eine nationalliberale Lüge, daß jemals das Zentrum die Sozialdemokratie für ſich gewonnen und für ſich ausgenutzt habe“, und er verſichert, vermutlich zum ebenſo- vielten Male, daß die Parteileitung neuerlich und äußer- lich korrekt daſtehe. Dazu iſt zu bemerken, daß für uns das Zentrum nicht bloß aus der Parteileitung beſteht, ſondern ebenſo aus ſeiner Preſſe, ſeinen Agitatoren und Ver- trauensleuten, und allen denen, die in Zentrumsvereinen organi- ſiert ſind. Es geht nicht an, alles das, was nicht direkt von der Parteileitung geſchieht, auf das Privatkonto einzelner zu ſetzen. Die Parteileitung iſt dafür mitverantwortlich, namentlich dann, wenn ſie es an einer entſprechenden Mißbilligung hat fehlen laſſen. Im übrigen geben wir gerne zu, daß das Zentrum die Sozialdemokratie für ſich nicht „ausgenützt hat“, daß es ihr viel- mehr mit größter Selbſtloſigkeit, ohne irgendwelche Gegenleiſtung zu verlangen, ſeine Hilfe hat angedeihen laſſen. Ob es ſich dabei von lauterer Liebe zur Sozialdemokratie oder von purem Haß gegen den Liberalismus leiten ließ, wagen wir natürlich nicht zu entſcheiden. Feſtſteht jedenfalls, daß die Hälfte der Mandate, die die Sozialdemokratie heute durch Unterſtützung der bürgerlichen Parteien inne hat, ihr vom Zentrum ſelbſtlos in die Hände geſpielt wurde. Feſt ſteht, daß das Zentrum zum erſtenmal die Reſidenzſtadt Karlsruhe der Sozialdemokratie auslieferte, und daß ſein erſter Führer das in offener Kammer- ſitzung als „ein erfreuliches Ereignis“ gefeiert hat. Feſt ſteht ferner, daß das Zentrum bei der Reichstagswahl 1890 das Mannheimer Mandat der Sozialdemokratie verſchafft und daß dabei ein Schriftſtück eine Rolle geſpielt hat, das man hinterher als Fälſchung abzutun ſuchte, obwohl die Parteileitung reichlich Zeit gehabt hätte, dagegen aufzutreten und ſeine Wirkung zu verhindern. Und dieſe Zurückhaltung der Parteileitung muß um ſo peinlicher berühren, als man denjenigen, die anläßlich der ſogenannten Jubiläumswahlen 1901 mit beſonderer Rückſicht auf den greiſen Großherzog eine Gegenparole zugunſten einer bürger- lichen Partei ausgaben, in ganz anderem Tone aufſpielte, wovon Geiſtlicher Rat und Stadtpfarrer Knörzer ein artig Liedlein ſingen könnte. Wenn nun eine Partei, die ſich in Vergangenheit und Gegenwart ſo viele „Delikte“ zugunſten der Sozialdemo- kratie zuſchulden kommen ließ, das Bündnis einer anderen Partei gleichſam als den Ausbund aller politiſchen Schlechtigkeit dar- ſtellt, ſo nennt man das im gewöhnlichen Leben: Heuchelei. Und da mit dieſer Heuchelei politiſche Geſchäfte gemacht werden ſollen, ſo halten wir es für unſere Pflicht, ihr ins Geſicht zu leuchten und das Handwerk zu legen. Dieſe Pflicht werden wir erfüllen, auch wenn der Badiſche Beobachter eine noch größere Ruppigkeit in der Form aufbietet, um uns zum Schweigen zu bringen. Wir haben im übrigen von ſeiner Polemik nur deshalb Notiz ge- nommen, um an einigen handgreiflichen Beiſpielen zu zeigen, was hinter dem großſprecheriſchen Gepolter der Blätter in Wirk- lichkeit ſteckt, und bekennen gerne, daß es wenig Sinn hat, ſich mit einem Blatte in eine ſachliche Auseinanderſetzung einzulaſſen, das neuerdings ſeine ganze Ehre in der Pflege einer Tonart ſucht, die ſich von dem „Sauherdenton“ der Sozialdemokratie nur durch den Anſpruch unterſcheidet, ein Ausfluß chriſtlich-religiöſer Ge- ſinnung zu ſein. Diplomatiſche Paradoxien. F. Wien, 22. März. Von unſerem Wiener Korreſpondenten. Die diplomatiſche Krankheit, an der Mazedonien leidet, iſt auch ohne geiſtreiche Diagnoſe offenkundig. Es iſt heil- los, wie die Banden daſelbſt wirtſchaften und wie ſich die chriſtlichen Nationalitäten gegenſeitig die Hälſe abſchneiden. Die engliſche und ruſſiſche Diplomatie ſchlägt verſchiedene Mittel zur Beſſerung vor: Die erſtere iſt auf den Einfall gekommen, die Zahl der türkiſchen Truppen im Lande zu verringern und die Regierung einem Generalgouverneur zu übertragen, der die Aufgabe haben würde, kraft ſeiner neugebackenen Autorität und mit einer geringeren Trup- penzahl die Ordnung herzuſtellen. Auf dem Kontinent ſchüttelt man zu der Arznei den Kopf. Darauf ſchlägt Ruß- land eine andere vor: Mit dem Generalgouverneur gehe es doch eigentlich nicht — wenn man aber die Befugniſſe der Finanzkommiſſion erweitern wollte, ſo wäre dies ein gutes Stück nach vorwärts. Wie aber die in Salonichi amtierende Finanzkommiſſion, die ſchon manches Gute geſtiftet hat, ver- hindern ſoll, daß Bulgaren, Serben und Griechen Banden ins Land ſchicken, iſt ſo unverſtändlich, daß man nur ver- muten kann, Rußland wolle wohl oder übel den unprakti- ſchen engliſchen Vorſchlag beiſeite ſchieben. Das Verfahren der beiden Mächte iſt ſo paradox, daß man unwillkürlich die Frage aufwirft, was ſie eigentlich erzielen wollen. Es geht doch nicht an, geradezu anzunehmen, daß man in St. Peters- burg und in London Verwirrung ſtiften und die mazedo- niſche Gefahr vergrößern wolle. Die diplomatiſche Para- doxie beſteht darin, daß der Zweck und die vorgeſchlagenen Mittel in einem unlösbaren Widerſpruche ſtehen. Das Neue an dem Vorgehen Rußlands, ſo wird be- hauptet, liege darin, daß es ſich mit ſeinem Vorſchlage nicht mehr wie früher zuerſt an Oeſterreich-Ungarn gewendet, daß alſo das Zuſammenarbeiten der beiden Mächte jetzt einen Sprung erhalten habe. Das iſt nicht richtig. Den Juſtizplan allerdings, der nach der früheren Methode zuerſt zwiſchen St. Petersburg und Wien hätte beſprochen werden ſollen, hat Iswolski ſofort dem europäiſchen Konzert zu unterbreiten vorgezogen, und eine Zeitlang hatte man den Eindruck, als ob — nicht erſt infolge der Enthüllung der Eiſenbahnentwürfe Oeſterreichs — die zwiſchen Goluchowski und Lamsdorff vereinbarte Entente ſich gelöſt hätte. Mit ſeinem neueſten mazedoniſchen Vorſchlag aber hat Iswolski ſich wieder erſt an das Wiener Kabinett gewandt, ehe er ihn den übrigen Mächten vorlegte. Immerhin eine gewiſſe Wandlung iſt eingetreten, und die Urſache liegt in der voll- ſtändig geänderten Weltlage. Seitdem Rußland ſeine Hand nicht mehr in den mandſchuriſchen Angelegenheiten hat und endgültig auf das Vordringen an den Stillen Ozean verzichtet, wendet es ſich wieder ſeiner früheren Balkan- politik zu. So verlangen es die ruſſiſchen Nationaliſten, denen ſich Iswolski um ſo weniger entziehen kann, da er ſelbſt als „Weſteuropäer“ ſchief angeſehen wird und Proben ſeiner Zuverläſſigkeit ablegen muß. Daher die Annäherung Englands und Rußlands, daher die nervöſen Reformpläne betreffs Mazedoniens. Mit aller Ruhe und Kaltblütigkeit verfolgte man von Wien und Berlin aus das haſtige Vor- gehen der beiden anderen Großmächte. Man iſt zu jeder verſtändigen Reform bereit und wünſcht nur, daß niemand ſich an ein Abenteuer wage. Man will ſich in London und St. Petersburg betätigen, das vorhandene Kraftgefühl ſucht einen Ausweg. Das iſt der Erklärungsgrund für die diplo- matiſchen Paradoxien. Solange die Vielgeſchäftigkeit bloß im Kreiſe des europäiſchen Konzertes zum Ausdruck kommt, bleibt ſie für den Frieden der Welt gefahrlos. Politiſche Rundſchau. Toleranz des Polentums. * Unter dieſer Ueberſchrift ſchreibt die Korreſpondenz der Deutſchen Vereinigung: Man mag über die preußiſche Polenpolitik denken, wie man will, ja, man mag ſie ſogar grundſätzlich verurteilen; trotzdem kann man die von gewiſſer Seite eifrig verbreitete Meinung nicht gelten laſſen, daß die preußiſche Re- gierung die Polen nicht bloß germaniſieren, ſondern auch proteſtantiſieren wolle. Wie wenig die preußiſche Herrſchaft dem polniſchen Katholizismus gefährlich geworden iſt, beweiſt mit einer geradezu draſtiſchen Evidenz die ſoeben von dem katholiſchen Lizentiaten Emil Waſchinski veröffentlichte Schrift über

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 140, 25. März 1908, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine140_1908/1>, abgerufen am 21.11.2024.