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Allgemeine Zeitung, Nr. 163, 11. Juni 1860.

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[Spaltenumbruch] ein; der Kanton Tessin wäre aber durch sie so gut wie vernichtet, während
Graubünden nichts besonderes dabei gewinnen würde. -- Privatnachrichten
aus Palermo vom 2 d. zufolge befand sich Oberst v. Mechel mit seinen zwei
Söhnen an genanntem Tage unverletzt in dieser Stadt. Ein anderer schwei-
zerischer Officier, Segisser, ward durch einen Schuß am Knie verwundet und
mußte nach Neapel transportirt werden. Oberst v. Mechel commandirte
eine Brigade, während das früher von ihm befehligte Jägerbataillon unter
dem Commando eines Baslers, Namens H. Wieland, des Bruders des eid-
genössischen Obersten Hans Wieland, stand. -- Dem "National Suisse" ver-
sichert man daß der feierliche Einzug der aus Italien zurückkommenden Division
Bazaine in Paris nur deßwegen unterblieb weil genaue polizeiliche Mitthei-
lungen keinen Zweifel über die Disposition der Pariser Bevölkerung, nament-
lich derjenigen der Vorstädte, lassen konnten. Man hatte sich entschlossen die
Soldaten mit dem Ruf "Vive Garibaldi!" zu begrüßen. Leicht begreiflich
daß solch ein Ruf dem eigentlichen Befreier Italiens in den Tuilerien unan-
genehm in die Ohren geklungen hätte.

Unsere französischen Nach-
barn stutzen ein wenig daß man auch außerhalb Frankreichs revidirte Land-
karten machen, und dabei Savoyen, Elsaß u. s. w. der Eidgenossenschaft und
dem Osten zutheilen kann. Ein westschweizerisches Blatt hat hinzugefügt:
"Wir hassen die Franzosen keineswegs; wir lieben sie ausrichtig. Aber ge-
rade darum wünschen wir daß die große Nation auf ihre wahre Nationalität
reducirt und dadurch in die Lage versetzt werde sich mehr mit sich selbst als
mit fremden Völkern zu beschäftigen, und somit eine moralische Stärke zu er-
langen, welche eine Regiererei, wie die gegenwärtige, unmöglich macht."
Hinsichtlich der "beruhigenden" Moniteurnote welche die Schweiz und den
Savoyerconflict mit keinem Wort erwähnt, und nur mit den fürstlichen
Alliirten tractiren will, ist man hier allgemein der Meinung daß sie im höch-
sten Grade beunruhigen müßte, wären die Verhältnisse nicht schon so weit
vorangerückt daß man das Geschriebene und Gedruckte, so aus den Tuile-
rien kommt, wenig mehr beachtet. Die Zeit der Phrasen weicht allmählich
einer andern. -- Die eidgenössische oder antifranzösisch gesinnte Opposition
im Kanton Waadt, welche vorzüglich in Vivis, Lausanne und Nyon wohnt,
wird sich zahlreich am Genfer Schützenfest betheiligen, zu welchem sich ein
sehr günstiges Wetter einzustellen scheint. Aufsehen macht eine mit bekann-
ter Keckheit verbürgte Pariser Correspondenz in der Genfer Revue, wonach
eine von der preußischen Regierung influirte Polenverschwörung in Paris
entdeckt worden wäre. Die Redaction selber meint: es könnte das nur eine
der wohlfeilen Jntriguen seyn, deren sich der Bonapartismus bedient, um gegen
Deutschland aufzuregen. Dem zweiten December ist alles derartige bis zum
Abrechnungstag nachzusehen; daß sich aber deutsche Federn zur Handlangerei
der schamlosesten Lügen erniedrigen, verdient schon jetzt vorgemerkt zu wer-
den. Das Gerücht vom Untergang einer mit Savoyarden angefüllten Barke
muß dahin berichtigt werden daß vier dem Tode des Ertrinkens nahe Per-
sonen durch den Muth einiger Matrosen gerettet wurden.

Bei den Planen welche der französische Chauvi-
nismus gegen das Ausland zu schmieden scheint, ist es von Wichtigkeit die
eigentliche Volksstimmung in Frankreich kennen zu lernen. Von einem mit
den Verhältnissen eben so genau bekannten wie zuverlässigen Freund vernehm'
ich z. B. daß im Südosten Frankreichs von einem Enthusiasmus für etwaige
Eroberungsgelüste der Regierung auch nicht die geringste Spur zu entdecken
sey. Im Gegentheil erkläre sowohl in Marseille wie in Lyon die gesammte
Geschäftswelt, einschließlich des Arbeiterstandes, daß sie einen neuen Krieg ver-
abschenen würde, und daß sie vielmehr das einzige Heil Frankreichs im
Frieden mit seinen Nachbarn erblicke. Die öffentliche Meinung äußere sich
in dieser Richtung trotz aller Machinationen der chauvinistischen Agenten
immer entschiedener und unverhohlener. In den beiden genannten großen
Städten soll überhaupt eine große Neigung zur Opposition hervortreten, die
auch bei der Anwesenheit des Staatsoberhaupts in Lyon sich in der Haltung
der Bevölkerung zu erkennen gab. Statt des von den Zeitungen gemeldeten
begeisterten Empfangs des Kaisers herrschte vielmehr während der ganzen
Fahrt durch die Stadt eine stumme und gleichgültige Ruhe, die über die
Stimmung der Bevölkerung keinen Zweifel lassen konnte. Nur vor dem
Stadthaus, wo die Claque gut vertheilt war, kam ein gewisser Schwung in
das "vive l'empereur!" Die politischen Industrieritter vom Orden des
heil. Chauvin werden natürlich einstweilen nach der Volksstimmung wenig
fragen, und, solange sie die Hauptstadt und die Armee für sich haben, ihre
eigennützigen Plane keck verfolgen; ist doch Savoyen und Nizza zu klein und
zu arm alle Ansprüche zu befriedigen. Dennoch sind jene Symptome der
Volksstimmung in Frankreich interessant genug. Hatte man sich doch in
Europa allmählich daran gewöhnt anzunehmen daß es außer der chauvini-
stischen in Frankreich keine andere politische Meinung mehr gebe. -- Groß-
fürstin Helene von Rußland reist heute von Genf ab.

Großbritannien.

Die Staatsausgaben Englands haben sich seit dem Jahr 1844 von
[Spaltenumbruch] 50,647,648 Pf. St. auf 63,679,674 Pf. St. gehoben. Am größten waren
sie, von wegen des russischen Kriegs, im J. 1855: nämlich 84,505,788 Pf. St.
Sie betrugen im J. 1856 78,113,035 Pf. St.; im J. 1857 66,019,958
Pf. St.; im J. 1858 60,684,898 Pf. St., und im J. 1859 63,679,684 Pf. St.
Die Nationalschuld, die im J. 1859 um 14,851,091 Pf. St. größer war als
im J. 1844, kostete an Interessen und Verwaltung im letztgenannten Jahre
doch viel mehr, nämlich 30,495,459 Pf. St. gegen 28,372,416 im J. 1859.

Die Petition der belgischen Runkelrübenzuckerfabricanten an die königl.
Regierung wird von Daily News -- einem Blatt das wahrlich keine
Händel mit Frankreich sucht -- als eine Eingebung französischer Agenten
und als ein neues Symptom bonapartistischer Wühlereien angesehen. Daily
News
vertraut übrigens dem Tact des Königs Leopold, der schon so manche
Gefahr beschwor, und dem gesunden Patriotismus des belgischen Volkes.
Wenn auch einige "zuckerige Patrioten" nichts höheres als ihren pecuniären
Gewinn kennen, so sinde man im ganzen die Presse und öffentliche Meinung
Belgiens vom wackersten Nationalsinn beseelt. -- Hiegegen höre man das bona-
partistische Chronicle:

"Daß eine solche Idee (der Einverleibung in Frankreich) unter den Belgiern ziemlich
weit verbreitet ist, läßt sich nicht bestreiten. Vor ein oder zwei Monaten erhielten wir selbst
eine Mittheilung aus Brüssel worin es hieß: der König sey vor kurzem mit der Mei-
nung herausgeplatzt daß seine Unterthanen, falls die Frage zur Abstimmung käme, sich
zu Gunsten einer solchen Einverleibung entscheiden würden. Wenn wir das Factum
jetzt erwähnen, so geschieht es weil die Frage von unsern Zeitgenossen in London
und Brüssel zwanglos erörtert, und außerdem in den belgischen Kammern förmlich
vorgebracht wurde. Die Geschichte von französischem Agenteneinfluß ist aber nichts
als eine Zeitungsente. Die Agenten welche mit der Einverleibungsidee Propaganda
machen, sind Belgier, und die Gründe warum die Idee der Bevölkerung zusagt,
sind ebenfalls belgisch. Einiges mag hierzu die Unpopularität (!) des Krouprin-
zen beitragen. Ein halber Oesterreicher vermöge seiner Heirath und ein glühender
Ultramontaner (?), wie er ist, wird der Herzog von Brabant von einem Gemein-
wesen das in seiner Loyalität gegen den König Leopold nie geschwankt hat,
mit Mißtrauen und Abneigung betrachtet. Es gibt aber noch stärkere Gründe.
Die Belgier, die ein par excellence gewerbfleißiges und handeltreibendes Bolk
sind, blicken mit Neid auf die Anzeichen raschen Fortschritts und materieller
Wohlfahrt deren sich die Unterthanen des Kaisers Napoleon, Dank seiner weisen Politik,
erfreuen; und da eine Idee zur andern führt, fangen sie allmählich zu bedauern an daß
die Existenz einer rein künstlichen Gränze ihnen den Mitgenuß solcher Segnungen verbietet.
Dieser Stimmung nun hat die Petition der belgischen Runkelrübenzuckerfabricanten
bezeichnenden Ausdruck geliehen. Ihre Bemerkungen athmen sonder Zweifel einen
starken und selbst verwegenen Anschlußgeist, aber sie sind nur der natürliche
Ausdruck einer sehr natürlichen Gesinnung. Sie sind von keiner fremden Agen-
tur eingegeben, und rechtfertigen nicht den von M. H. de Brouckere in der Kam-
mer der Abgeordneten ausgesprochenen Berdacht daß die Petition "nicht in Belgien
geschrieben seyn könne" u. s. w. Es ist eine Infamie, die Verantwortlichkeit für
diesen heimischen Vorfall auf einen Nachbar zu wälzen der seinem Charakter als
loyaler Alliirter stets getreu geblieben ist. König Leopold selbst ist, wie wir oben
gesehen haben, Zeuge daß die Anschlußstimmung seiner Unterthanen kein exotisches
Gewächs ist. Aber kann Leopold I nicht die Zollgränze zwischen Belgien und Frank-
reich aufheben? Dazu gehört keine Aenderung in der Territorialeintheilung der
Staaten u. s. w."

(In Londoner Kreisen hört man vielfach mit Bestimmtheit behaupten
daß gewisse Leitartikel des Chronicle in Paris verfaßt, und in London
aus dem französischen Original übersetzt, oder, gleich der Mehrzahl der moder-
nen englischen Komödien, nach dem Französischen bearbeitet werden. Wie das
Chronicle bei seinen Artikeln, so hütet sich auch der englische Theaterzettel die
fremde Quelle anzugeben.)

Da bis zur Stunde von den vermißten Fischerbarken bei Yarmouth jede
weitere Kunde fehlt, muß man wohl jede Hoffnung aufgeben daß die eine
oder andere in benachbarten Häfen geborgen ist. Der Jammer an der dortigen
Küste ist namenlos. Man bedenke daß Yarmouth allein 130 Männer,
darunter viele Familienväter, vermißt, und daß ihre Angehörigen dem größten
Elend preisgegeben sind. Selbst die mit dem Leben davonkamen, sollen von
dem furchtbaren Schlag so gelähmt seyn daß keiner in die See hinaus will.
Hier wird die Mildthätigkeit rasch eingreifen müssen, um die armen Leute
vom Verhungern zu retten. Peinlich ist es dabei noch zu erfahren daß wenig-
stens eine Barke mit einem Duzend Leute hätte gerettet werden können.
Aber unter der Bemannung des Rettungsboots war ein langwieriger Streit
über dessen Führung entstanden, und darüber gieng das gefährdete Fahrzeng
in Stücke.

Frankreich.

Am 5 fand im Hotel de Ville die erste Versammlung der "Societe de
statistique de Paris
" unter dem Vorsitz des Hrn. Mich. Chevalier statt.
Wir entnehmen folgendes der vom Moniteur reproducirten Rede des
Präsidenten. Hr. Mich. Chevalier nimmt zum Thema seiner Rede die Worte:
"Kenne dich selbst." Sich selbst zu kennen ist für ein Volk eben so nothwen-
dig als für ein Individuum, und das beste Mittel hiezu bietet die Statistik.
"Eine gut gemachte Statistik ist wie ein unparteiischer Zeuge erhaben über
jeder Einschüchterung wie über jeder Verführung, den man mit Vertrauen und
Nutzen befragen kann wenn man sich über die verschiedenen Punkte des
Standes der Civilisation aufklären will... Werfen Sie die Augen auf das
Schauspiel welches Europa in diesem Augenblick bietet; Sie werden stannen

[Spaltenumbruch] ein; der Kanton Teſſin wäre aber durch ſie ſo gut wie vernichtet, während
Graubünden nichts beſonderes dabei gewinnen würde. — Privatnachrichten
aus Palermo vom 2 d. zufolge befand ſich Oberſt v. Mechel mit ſeinen zwei
Söhnen an genanntem Tage unverletzt in dieſer Stadt. Ein anderer ſchwei-
zeriſcher Officier, Segiſſer, ward durch einen Schuß am Knie verwundet und
mußte nach Neapel transportirt werden. Oberſt v. Mechel commandirte
eine Brigade, während das früher von ihm befehligte Jägerbataillon unter
dem Commando eines Baslers, Namens H. Wieland, des Bruders des eid-
genöſſiſchen Oberſten Hans Wieland, ſtand. — Dem „National Suiſſe“ ver-
ſichert man daß der feierliche Einzug der aus Italien zurückkommenden Diviſion
Bazaine in Paris nur deßwegen unterblieb weil genaue polizeiliche Mitthei-
lungen keinen Zweifel über die Dispoſition der Pariſer Bevölkerung, nament-
lich derjenigen der Vorſtädte, laſſen konnten. Man hatte ſich entſchloſſen die
Soldaten mit dem Ruf „Vive Garibaldi!“ zu begrüßen. Leicht begreiflich
daß ſolch ein Ruf dem eigentlichen Befreier Italiens in den Tuilerien unan-
genehm in die Ohren geklungen hätte.

Unſere franzöſiſchen Nach-
barn ſtutzen ein wenig daß man auch außerhalb Frankreichs revidirte Land-
karten machen, und dabei Savoyen, Elſaß u. ſ. w. der Eidgenoſſenſchaft und
dem Oſten zutheilen kann. Ein weſtſchweizeriſches Blatt hat hinzugefügt:
„Wir haſſen die Franzoſen keineswegs; wir lieben ſie auſrichtig. Aber ge-
rade darum wünſchen wir daß die große Nation auf ihre wahre Nationalität
reducirt und dadurch in die Lage verſetzt werde ſich mehr mit ſich ſelbſt als
mit fremden Völkern zu beſchäftigen, und ſomit eine moraliſche Stärke zu er-
langen, welche eine Regiererei, wie die gegenwärtige, unmöglich macht.“
Hinſichtlich der „beruhigenden“ Moniteurnote welche die Schweiz und den
Savoyerconflict mit keinem Wort erwähnt, und nur mit den fürſtlichen
Alliirten tractiren will, iſt man hier allgemein der Meinung daß ſie im höch-
ſten Grade beunruhigen müßte, wären die Verhältniſſe nicht ſchon ſo weit
vorangerückt daß man das Geſchriebene und Gedruckte, ſo aus den Tuile-
rien kommt, wenig mehr beachtet. Die Zeit der Phraſen weicht allmählich
einer andern. — Die eidgenöſſiſche oder antifranzöſiſch geſinnte Oppoſition
im Kanton Waadt, welche vorzüglich in Vivis, Lauſanne und Nyon wohnt,
wird ſich zahlreich am Genfer Schützenfeſt betheiligen, zu welchem ſich ein
ſehr günſtiges Wetter einzuſtellen ſcheint. Aufſehen macht eine mit bekann-
ter Keckheit verbürgte Pariſer Correſpondenz in der Genfer Revue, wonach
eine von der preußiſchen Regierung influirte Polenverſchwörung in Paris
entdeckt worden wäre. Die Redaction ſelber meint: es könnte das nur eine
der wohlfeilen Jntriguen ſeyn, deren ſich der Bonapartismus bedient, um gegen
Deutſchland aufzuregen. Dem zweiten December iſt alles derartige bis zum
Abrechnungstag nachzuſehen; daß ſich aber deutſche Federn zur Handlangerei
der ſchamloſeſten Lügen erniedrigen, verdient ſchon jetzt vorgemerkt zu wer-
den. Das Gerücht vom Untergang einer mit Savoyarden angefüllten Barke
muß dahin berichtigt werden daß vier dem Tode des Ertrinkens nahe Per-
ſonen durch den Muth einiger Matroſen gerettet wurden.

Bei den Planen welche der franzöſiſche Chauvi-
nismus gegen das Ausland zu ſchmieden ſcheint, iſt es von Wichtigkeit die
eigentliche Volksſtimmung in Frankreich kennen zu lernen. Von einem mit
den Verhältniſſen eben ſo genau bekannten wie zuverläſſigen Freund vernehm’
ich z. B. daß im Südoſten Frankreichs von einem Enthuſiasmus für etwaige
Eroberungsgelüſte der Regierung auch nicht die geringſte Spur zu entdecken
ſey. Im Gegentheil erkläre ſowohl in Marſeille wie in Lyon die geſammte
Geſchäftswelt, einſchließlich des Arbeiterſtandes, daß ſie einen neuen Krieg ver-
abſchenen würde, und daß ſie vielmehr das einzige Heil Frankreichs im
Frieden mit ſeinen Nachbarn erblicke. Die öffentliche Meinung äußere ſich
in dieſer Richtung trotz aller Machinationen der chauviniſtiſchen Agenten
immer entſchiedener und unverhohlener. In den beiden genannten großen
Städten ſoll überhaupt eine große Neigung zur Oppoſition hervortreten, die
auch bei der Anweſenheit des Staatsoberhaupts in Lyon ſich in der Haltung
der Bevölkerung zu erkennen gab. Statt des von den Zeitungen gemeldeten
begeiſterten Empfangs des Kaiſers herrſchte vielmehr während der ganzen
Fahrt durch die Stadt eine ſtumme und gleichgültige Ruhe, die über die
Stimmung der Bevölkerung keinen Zweifel laſſen konnte. Nur vor dem
Stadthaus, wo die Claque gut vertheilt war, kam ein gewiſſer Schwung in
das „vive l’empereur!“ Die politiſchen Induſtrieritter vom Orden des
heil. Chauvin werden natürlich einſtweilen nach der Volksſtimmung wenig
fragen, und, ſolange ſie die Hauptſtadt und die Armee für ſich haben, ihre
eigennützigen Plane keck verfolgen; iſt doch Savoyen und Nizza zu klein und
zu arm alle Anſprüche zu befriedigen. Dennoch ſind jene Symptome der
Volksſtimmung in Frankreich intereſſant genug. Hatte man ſich doch in
Europa allmählich daran gewöhnt anzunehmen daß es außer der chauvini-
ſtiſchen in Frankreich keine andere politiſche Meinung mehr gebe. — Groß-
fürſtin Helene von Rußland reist heute von Genf ab.

Großbritannien.

Die Staatsausgaben Englands haben ſich ſeit dem Jahr 1844 von
[Spaltenumbruch] 50,647,648 Pf. St. auf 63,679,674 Pf. St. gehoben. Am größten waren
ſie, von wegen des ruſſiſchen Kriegs, im J. 1855: nämlich 84,505,788 Pf. St.
Sie betrugen im J. 1856 78,113,035 Pf. St.; im J. 1857 66,019,958
Pf. St.; im J. 1858 60,684,898 Pf. St., und im J. 1859 63,679,684 Pf. St.
Die Nationalſchuld, die im J. 1859 um 14,851,091 Pf. St. größer war als
im J. 1844, koſtete an Intereſſen und Verwaltung im letztgenannten Jahre
doch viel mehr, nämlich 30,495,459 Pf. St. gegen 28,372,416 im J. 1859.

Die Petition der belgiſchen Runkelrübenzuckerfabricanten an die königl.
Regierung wird von Daily News — einem Blatt das wahrlich keine
Händel mit Frankreich ſucht — als eine Eingebung franzöſiſcher Agenten
und als ein neues Symptom bonapartiſtiſcher Wühlereien angeſehen. Daily
News
vertraut übrigens dem Tact des Königs Leopold, der ſchon ſo manche
Gefahr beſchwor, und dem geſunden Patriotismus des belgiſchen Volkes.
Wenn auch einige „zuckerige Patrioten“ nichts höheres als ihren pecuniären
Gewinn kennen, ſo ſinde man im ganzen die Preſſe und öffentliche Meinung
Belgiens vom wackerſten Nationalſinn beſeelt. — Hiegegen höre man das bona-
partiſtiſche Chronicle:

„Daß eine ſolche Idee (der Einverleibung in Frankreich) unter den Belgiern ziemlich
weit verbreitet iſt, läßt ſich nicht beſtreiten. Vor ein oder zwei Monaten erhielten wir ſelbſt
eine Mittheilung aus Brüſſel worin es hieß: der König ſey vor kurzem mit der Mei-
nung herausgeplatzt daß ſeine Unterthanen, falls die Frage zur Abſtimmung käme, ſich
zu Gunſten einer ſolchen Einverleibung entſcheiden würden. Wenn wir das Factum
jetzt erwähnen, ſo geſchieht es weil die Frage von unſern Zeitgenoſſen in London
und Brüſſel zwanglos erörtert, und außerdem in den belgiſchen Kammern förmlich
vorgebracht wurde. Die Geſchichte von franzöſiſchem Agenteneinfluß iſt aber nichts
als eine Zeitungsente. Die Agenten welche mit der Einverleibungsidee Propaganda
machen, ſind Belgier, und die Gründe warum die Idee der Bevölkerung zuſagt,
ſind ebenfalls belgiſch. Einiges mag hierzu die Unpopularität (!) des Krouprin-
zen beitragen. Ein halber Oeſterreicher vermöge ſeiner Heirath und ein glühender
Ultramontaner (?), wie er iſt, wird der Herzog von Brabant von einem Gemein-
weſen das in ſeiner Loyalität gegen den König Leopold nie geſchwankt hat,
mit Mißtrauen und Abneigung betrachtet. Es gibt aber noch ſtärkere Gründe.
Die Belgier, die ein par excellence gewerbfleißiges und handeltreibendes Bolk
ſind, blicken mit Neid auf die Anzeichen raſchen Fortſchritts und materieller
Wohlfahrt deren ſich die Unterthanen des Kaiſers Napoleon, Dank ſeiner weiſen Politik,
erfreuen; und da eine Idee zur andern führt, fangen ſie allmählich zu bedauern an daß
die Exiſtenz einer rein künſtlichen Gränze ihnen den Mitgenuß ſolcher Segnungen verbietet.
Dieſer Stimmung nun hat die Petition der belgiſchen Runkelrübenzuckerfabricanten
bezeichnenden Ausdruck geliehen. Ihre Bemerkungen athmen ſonder Zweifel einen
ſtarken und ſelbſt verwegenen Anſchlußgeiſt, aber ſie ſind nur der natürliche
Ausdruck einer ſehr natürlichen Geſinnung. Sie ſind von keiner fremden Agen-
tur eingegeben, und rechtfertigen nicht den von M. H. de Brouckere in der Kam-
mer der Abgeordneten ausgeſprochenen Berdacht daß die Petition „nicht in Belgien
geſchrieben ſeyn könne“ u. ſ. w. Es iſt eine Infamie, die Verantwortlichkeit für
dieſen heimiſchen Vorfall auf einen Nachbar zu wälzen der ſeinem Charakter als
loyaler Alliirter ſtets getreu geblieben iſt. König Leopold ſelbſt iſt, wie wir oben
geſehen haben, Zeuge daß die Anſchlußſtimmung ſeiner Unterthanen kein exotiſches
Gewächs iſt. Aber kann Leopold I nicht die Zollgränze zwiſchen Belgien und Frank-
reich aufheben? Dazu gehört keine Aenderung in der Territorialeintheilung der
Staaten u. ſ. w.“

(In Londoner Kreiſen hört man vielfach mit Beſtimmtheit behaupten
daß gewiſſe Leitartikel des Chronicle in Paris verfaßt, und in London
aus dem franzöſiſchen Original überſetzt, oder, gleich der Mehrzahl der moder-
nen engliſchen Komödien, nach dem Franzöſiſchen bearbeitet werden. Wie das
Chronicle bei ſeinen Artikeln, ſo hütet ſich auch der engliſche Theaterzettel die
fremde Quelle anzugeben.)

Da bis zur Stunde von den vermißten Fiſcherbarken bei Yarmouth jede
weitere Kunde fehlt, muß man wohl jede Hoffnung aufgeben daß die eine
oder andere in benachbarten Häfen geborgen iſt. Der Jammer an der dortigen
Küſte iſt namenlos. Man bedenke daß Yarmouth allein 130 Männer,
darunter viele Familienväter, vermißt, und daß ihre Angehörigen dem größten
Elend preisgegeben ſind. Selbſt die mit dem Leben davonkamen, ſollen von
dem furchtbaren Schlag ſo gelähmt ſeyn daß keiner in die See hinaus will.
Hier wird die Mildthätigkeit raſch eingreifen müſſen, um die armen Leute
vom Verhungern zu retten. Peinlich iſt es dabei noch zu erfahren daß wenig-
ſtens eine Barke mit einem Duzend Leute hätte gerettet werden können.
Aber unter der Bemannung des Rettungsboots war ein langwieriger Streit
über deſſen Führung entſtanden, und darüber gieng das gefährdete Fahrzeng
in Stücke.

Frankreich.

Am 5 fand im Hôtel de Ville die erſte Verſammlung der „Société de
statistique de Paris
“ unter dem Vorſitz des Hrn. Mich. Chevalier ſtatt.
Wir entnehmen folgendes der vom Moniteur reproducirten Rede des
Präſidenten. Hr. Mich. Chevalier nimmt zum Thema ſeiner Rede die Worte:
„Kenne dich ſelbſt.“ Sich ſelbſt zu kennen iſt für ein Volk eben ſo nothwen-
dig als für ein Individuum, und das beſte Mittel hiezu bietet die Statiſtik.
„Eine gut gemachte Statiſtik iſt wie ein unparteiiſcher Zeuge erhaben über
jeder Einſchüchterung wie über jeder Verführung, den man mit Vertrauen und
Nutzen befragen kann wenn man ſich über die verſchiedenen Punkte des
Standes der Civiliſation aufklären will... Werfen Sie die Augen auf das
Schauſpiel welches Europa in dieſem Augenblick bietet; Sie werden ſtannen

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[2716/0004] ein; der Kanton Teſſin wäre aber durch ſie ſo gut wie vernichtet, während Graubünden nichts beſonderes dabei gewinnen würde. — Privatnachrichten aus Palermo vom 2 d. zufolge befand ſich Oberſt v. Mechel mit ſeinen zwei Söhnen an genanntem Tage unverletzt in dieſer Stadt. Ein anderer ſchwei- zeriſcher Officier, Segiſſer, ward durch einen Schuß am Knie verwundet und mußte nach Neapel transportirt werden. Oberſt v. Mechel commandirte eine Brigade, während das früher von ihm befehligte Jägerbataillon unter dem Commando eines Baslers, Namens H. Wieland, des Bruders des eid- genöſſiſchen Oberſten Hans Wieland, ſtand. — Dem „National Suiſſe“ ver- ſichert man daß der feierliche Einzug der aus Italien zurückkommenden Diviſion Bazaine in Paris nur deßwegen unterblieb weil genaue polizeiliche Mitthei- lungen keinen Zweifel über die Dispoſition der Pariſer Bevölkerung, nament- lich derjenigen der Vorſtädte, laſſen konnten. Man hatte ſich entſchloſſen die Soldaten mit dem Ruf „Vive Garibaldi!“ zu begrüßen. Leicht begreiflich daß ſolch ein Ruf dem eigentlichen Befreier Italiens in den Tuilerien unan- genehm in die Ohren geklungen hätte. □ Aus der Weſtſchweiz, 8 Jun. Unſere franzöſiſchen Nach- barn ſtutzen ein wenig daß man auch außerhalb Frankreichs revidirte Land- karten machen, und dabei Savoyen, Elſaß u. ſ. w. der Eidgenoſſenſchaft und dem Oſten zutheilen kann. Ein weſtſchweizeriſches Blatt hat hinzugefügt: „Wir haſſen die Franzoſen keineswegs; wir lieben ſie auſrichtig. 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Die Zeit der Phraſen weicht allmählich einer andern. — Die eidgenöſſiſche oder antifranzöſiſch geſinnte Oppoſition im Kanton Waadt, welche vorzüglich in Vivis, Lauſanne und Nyon wohnt, wird ſich zahlreich am Genfer Schützenfeſt betheiligen, zu welchem ſich ein ſehr günſtiges Wetter einzuſtellen ſcheint. Aufſehen macht eine mit bekann- ter Keckheit verbürgte Pariſer Correſpondenz in der Genfer Revue, wonach eine von der preußiſchen Regierung influirte Polenverſchwörung in Paris entdeckt worden wäre. Die Redaction ſelber meint: es könnte das nur eine der wohlfeilen Jntriguen ſeyn, deren ſich der Bonapartismus bedient, um gegen Deutſchland aufzuregen. Dem zweiten December iſt alles derartige bis zum Abrechnungstag nachzuſehen; daß ſich aber deutſche Federn zur Handlangerei der ſchamloſeſten Lügen erniedrigen, verdient ſchon jetzt vorgemerkt zu wer- den. Das Gerücht vom Untergang einer mit Savoyarden angefüllten Barke muß dahin berichtigt werden daß vier dem Tode des Ertrinkens nahe Per- ſonen durch den Muth einiger Matroſen gerettet wurden. ‥ Geuf, 6 Jun. Bei den Planen welche der franzöſiſche Chauvi- nismus gegen das Ausland zu ſchmieden ſcheint, iſt es von Wichtigkeit die eigentliche Volksſtimmung in Frankreich kennen zu lernen. Von einem mit den Verhältniſſen eben ſo genau bekannten wie zuverläſſigen Freund vernehm’ ich z. B. daß im Südoſten Frankreichs von einem Enthuſiasmus für etwaige Eroberungsgelüſte der Regierung auch nicht die geringſte Spur zu entdecken ſey. Im Gegentheil erkläre ſowohl in Marſeille wie in Lyon die geſammte Geſchäftswelt, einſchließlich des Arbeiterſtandes, daß ſie einen neuen Krieg ver- abſchenen würde, und daß ſie vielmehr das einzige Heil Frankreichs im Frieden mit ſeinen Nachbarn erblicke. Die öffentliche Meinung äußere ſich in dieſer Richtung trotz aller Machinationen der chauviniſtiſchen Agenten immer entſchiedener und unverhohlener. In den beiden genannten großen Städten ſoll überhaupt eine große Neigung zur Oppoſition hervortreten, die auch bei der Anweſenheit des Staatsoberhaupts in Lyon ſich in der Haltung der Bevölkerung zu erkennen gab. Statt des von den Zeitungen gemeldeten begeiſterten Empfangs des Kaiſers herrſchte vielmehr während der ganzen Fahrt durch die Stadt eine ſtumme und gleichgültige Ruhe, die über die Stimmung der Bevölkerung keinen Zweifel laſſen konnte. Nur vor dem Stadthaus, wo die Claque gut vertheilt war, kam ein gewiſſer Schwung in das „vive l’empereur!“ Die politiſchen Induſtrieritter vom Orden des heil. Chauvin werden natürlich einſtweilen nach der Volksſtimmung wenig fragen, und, ſolange ſie die Hauptſtadt und die Armee für ſich haben, ihre eigennützigen Plane keck verfolgen; iſt doch Savoyen und Nizza zu klein und zu arm alle Anſprüche zu befriedigen. Dennoch ſind jene Symptome der Volksſtimmung in Frankreich intereſſant genug. Hatte man ſich doch in Europa allmählich daran gewöhnt anzunehmen daß es außer der chauvini- ſtiſchen in Frankreich keine andere politiſche Meinung mehr gebe. — Groß- fürſtin Helene von Rußland reist heute von Genf ab. Großbritannien. London, 8 Jun. Die Staatsausgaben Englands haben ſich ſeit dem Jahr 1844 von 50,647,648 Pf. St. auf 63,679,674 Pf. St. gehoben. Am größten waren ſie, von wegen des ruſſiſchen Kriegs, im J. 1855: nämlich 84,505,788 Pf. St. Sie betrugen im J. 1856 78,113,035 Pf. St.; im J. 1857 66,019,958 Pf. St.; im J. 1858 60,684,898 Pf. St., und im J. 1859 63,679,684 Pf. St. Die Nationalſchuld, die im J. 1859 um 14,851,091 Pf. St. größer war als im J. 1844, koſtete an Intereſſen und Verwaltung im letztgenannten Jahre doch viel mehr, nämlich 30,495,459 Pf. St. gegen 28,372,416 im J. 1859. Die Petition der belgiſchen Runkelrübenzuckerfabricanten an die königl. Regierung wird von Daily News — einem Blatt das wahrlich keine Händel mit Frankreich ſucht — als eine Eingebung franzöſiſcher Agenten und als ein neues Symptom bonapartiſtiſcher Wühlereien angeſehen. Daily News vertraut übrigens dem Tact des Königs Leopold, der ſchon ſo manche Gefahr beſchwor, und dem geſunden Patriotismus des belgiſchen Volkes. Wenn auch einige „zuckerige Patrioten“ nichts höheres als ihren pecuniären Gewinn kennen, ſo ſinde man im ganzen die Preſſe und öffentliche Meinung Belgiens vom wackerſten Nationalſinn beſeelt. — Hiegegen höre man das bona- partiſtiſche Chronicle: „Daß eine ſolche Idee (der Einverleibung in Frankreich) unter den Belgiern ziemlich weit verbreitet iſt, läßt ſich nicht beſtreiten. Vor ein oder zwei Monaten erhielten wir ſelbſt eine Mittheilung aus Brüſſel worin es hieß: der König ſey vor kurzem mit der Mei- nung herausgeplatzt daß ſeine Unterthanen, falls die Frage zur Abſtimmung käme, ſich zu Gunſten einer ſolchen Einverleibung entſcheiden würden. Wenn wir das Factum jetzt erwähnen, ſo geſchieht es weil die Frage von unſern Zeitgenoſſen in London und Brüſſel zwanglos erörtert, und außerdem in den belgiſchen Kammern förmlich vorgebracht wurde. Die Geſchichte von franzöſiſchem Agenteneinfluß iſt aber nichts als eine Zeitungsente. Die Agenten welche mit der Einverleibungsidee Propaganda machen, ſind Belgier, und die Gründe warum die Idee der Bevölkerung zuſagt, ſind ebenfalls belgiſch. Einiges mag hierzu die Unpopularität (!) des Krouprin- zen beitragen. Ein halber Oeſterreicher vermöge ſeiner Heirath und ein glühender Ultramontaner (?), wie er iſt, wird der Herzog von Brabant von einem Gemein- weſen das in ſeiner Loyalität gegen den König Leopold nie geſchwankt hat, mit Mißtrauen und Abneigung betrachtet. Es gibt aber noch ſtärkere Gründe. Die Belgier, die ein par excellence gewerbfleißiges und handeltreibendes Bolk ſind, blicken mit Neid auf die Anzeichen raſchen Fortſchritts und materieller Wohlfahrt deren ſich die Unterthanen des Kaiſers Napoleon, Dank ſeiner weiſen Politik, erfreuen; und da eine Idee zur andern führt, fangen ſie allmählich zu bedauern an daß die Exiſtenz einer rein künſtlichen Gränze ihnen den Mitgenuß ſolcher Segnungen verbietet. Dieſer Stimmung nun hat die Petition der belgiſchen Runkelrübenzuckerfabricanten bezeichnenden Ausdruck geliehen. Ihre Bemerkungen athmen ſonder Zweifel einen ſtarken und ſelbſt verwegenen Anſchlußgeiſt, aber ſie ſind nur der natürliche Ausdruck einer ſehr natürlichen Geſinnung. 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Frankreich. Paris, 9 Jun. Am 5 fand im Hôtel de Ville die erſte Verſammlung der „Société de statistique de Paris“ unter dem Vorſitz des Hrn. Mich. Chevalier ſtatt. Wir entnehmen folgendes der vom Moniteur reproducirten Rede des Präſidenten. Hr. Mich. Chevalier nimmt zum Thema ſeiner Rede die Worte: „Kenne dich ſelbſt.“ Sich ſelbſt zu kennen iſt für ein Volk eben ſo nothwen- dig als für ein Individuum, und das beſte Mittel hiezu bietet die Statiſtik. „Eine gut gemachte Statiſtik iſt wie ein unparteiiſcher Zeuge erhaben über jeder Einſchüchterung wie über jeder Verführung, den man mit Vertrauen und Nutzen befragen kann wenn man ſich über die verſchiedenen Punkte des Standes der Civiliſation aufklären will... Werfen Sie die Augen auf das Schauſpiel welches Europa in dieſem Augenblick bietet; Sie werden ſtannen

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen, Susanne Haaf: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-04-08T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.




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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 163, 11. Juni 1860, S. 2716. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine163_1860/4>, abgerufen am 01.06.2024.