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Allgemeine Zeitung, Nr. 170, 18. Juni 1860.

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Montag
Beilage zu Nr. 170 der Allg. Zeitung.
18 Junius 1860.
Uebersicht.
Die Philosophie der Kirchenväter. Von Johannes Huber. -- Die
Gräfin Dora d'Istria über die Frauen im Orient. (III.) -- Deutschland.
(Wien: Der Reichsrath.) -- Türkei. (Pera: Die Veränderungen im Mi-
nisterium. Bankier Baltazzi. Die tatarische Auswanderung.)
Neueste Posten. München. (König Ludwigs Kunftbauten und
Kunstliebe.) -- Hannover. (Das Gefolge des Königs.) -- Berlin. (Be-
deutsame Fortschritte der Einigung Deutschlands. Hiesige Unterredung des
Königs von Hannover mit dem Prinz-Regenten. Tagesbericht.) -- Wien.
(Tagesbericht.) -- Pesih. (Inspectionsreise des Ritters Benedek.) --
Triest. (Neueste Levantepost.) -- Madrid. (Der Senat. Die Adreß-
bebatte.) -- Paris. (Inhalt der Tagesblätter.) -- Ravenna. (Raub.) --
Turin. (Graf Stackelberg. Aus Neapel.) -- Genua und Mailand. (Aus
Neapel.) -- Handels- und Börsennachrichten. (Augsburg: Wollmarkt.)


Telegraphische Berichte.

Gestern war ein glänzender Thee
im Schloß, sämmtliche zehn Souveräne waren anwesend. Heute um
halb 8 Uhr gieng der König von Sachsen, um 11 Uhr Louis Napo-
leon, und gleichzeitig König Mar von Bayern zur Messe; der erstere
zu Fuß mit einer Escorte von Gendarmen und mit zahlreichem Ge-
folge. Um 12 Uhr war gemeinsames Dejeauner auf dem alten, um
5 Uhr Diner auf dem neuen Schloß. Louis Napoleon reiste Abends
mit einem Ertrazug ab.

Oesterr. 5proc. National-Ameihe 60 3/8 ;
5proc. Metall. 533/4; Bankactien 784; Lotterie-Anlehensloose von 1854 76; von
1858 98; von 1860 75 1/8 ; Ludwigshafen-Berbacher E.-B.-A. 1251/2; bayer.
Ostb.-Actien 101; voll eingezahlt 101 1/4; österr. Credit-Mobilier-Actien 175.
Wechselcurse: Paris 93 1/8 ; London 117; Wien 91 7/8 anhaltend günstig.


3proc. Consols 931/2.



Die Philosophie der Kirchenväter.

Wir leben im Zeitalter der Empirie. Was vor mehr als zwei
Jahrhunderten ein Philosoph (Baco von Verulam) gefordert und als noth-
wendig dargethan hat: das genaue Studium der Wirklichkeit, die Erklärung
der Erscheinungen im einzelnen, die Erforschung ihrer nächsten Ursachen --
das wird jetzt nicht nur allenthalben getrieben, sondern fast allein geschätzt.
Die "Naturwissenschaft" gilt in der That als die "Mutter der Wissenschaften,"
ganz so wie es Baco verlangt. Das Verfahren der empirischen Disciplinen
scheint allein sichern Gewinn zu versprechen, und genießt denn auch fast allein
des Vertrauens unserer Zeit. Die Neugierde, die Wißbegierde des Publi-
cums ist auch auf eben das gerichtet was die Erfahrungswissenschaften -- die
Natur- und Geschichtsforschung -- darbieten; den Gebenden entsprechen die
Empfangenden, man will "Thatsachen," und es sieht fast aus als ob man
über sie hinaus nichts wissenswerthes mehr statuiren wollte.

An einer allgemeinen Richtung der Geister Aergerniß zu nehmen ge-
ziemt am wenigsten dem Philosophen, und in Wahrheit kann uns diese Er-
scheinung auch weder Bedauern noch Unmuth einflößen. Die vorherrschende
Pflege der Empirie gehört zu den Aufgaben der Zeit, muß als die Bedingung
des Fortschritts in menschlicher Erkenntniß überhaupt angesehen werden, und
ihrer einseitigen Hochhaltung ist ein Ziel gesteckt. Wie man die Wirkungen
nur dann wahrhaft erkennt wenn man sie in und mit ihren Ursachen erkennt,
so wird nach der genauen Auffassung der Sachen unzweifelhaft ein Verlangen
sich regen nach der Erkenntniß der Ursachen, und man wird der Erforschung
derselben wieder allgemeine Theilnahme zuwenden.

Wir sagen allgemeine. Denn die Theilnahme Einzelner hat diese For-
schung und die mit ihr verbundene productive Thätigkeit ja noch immer, und
nie kann die Welt so bloß realistisch werden, daß es in ihr nicht auch Philo-
sophen gäbe und Freunde der Philosophie. Aber es ist ein Unterschied ob
eine Wissenschaft nur fortgeleitet wird, oder ob sie der allseitigen Cultur und
allseitigeren Neigung sich erfreut.

Empiriker die über ihre Disciplinen hinauszudenken die Fähigkeit und
den Willen haben, verlangen heutzutage daß man sich die Ergebnisse ihrer
Forschungen aneigne, um eben von ihnen aus auf die Principien der Dinge
zu schließen. Dem stimmt der Philosoph bei. Denn die Wirkung -- die
gewirkte Sache -- ist die Tochter der Ursache, muß ihr nothwendig analog
seyn, und von der Wirkung ist daher auf die Ursache und ihre Eigenthümlich-
keit zu schließen; wobei sich begreift daß der richtige Schluß auf die Ursach:
[Spaltenumbruch] nur möglich ist wenn man die Wirkung richtig anzuschauen gelernt hat.
Räumt aber der Philosoph dieß ein, so muß er doch darauf hinweisen daß die
Erkenntniß der obersten und allgemeinen Principien (um die es sich eben han-
delt!) die richtige Anschauung der gesammten Wirklichkeit voraussetzt; denn
dieß, obschon es sich von felber versteht, wird häufig außer Acht gelassen.

Auf die allgemeinen Ursachen der Dinge ist nicht zu schließen von einem
Theil der Natur, sondern nur von der ganzen Natur aus; aber nicht allein
von der ganzen Natur, sondern zugleich von der ganzen Geschichte -- von den
Offenbarungen der Menschheit in allen Sphären des Lebens aus.

Der Philosoph muß verlangen daß der Empiriker in seinen Forderungen
consequent sey, und nicht über dem Recht der eigenen Wissenschaft das Recht
der andern vergesse. Die Thatsachen der Natur und der Geschichte sind als
solche zu erkennen und zu erklären. Thatsachen sind aber nicht nur die Ob-
jecte der Astronomie, Chemie, Physik, Naturgeschichte u. s. w. -- nicht nur
die Gründungen von Reichen, Kriege, Schöpfungen der Kunst und der In-
dustrie, sondern hauptsächlich auch: was und wie die Menschen in gewissen
Zeiträumen über Gott und göttliche Dinge geglaubt und gedacht haben.
Diese Thatsachen des Glaubens und Denkens -- des innersten Lebens -- zu
schildern wie sie waren, und zu erklären wie sie ebenso haben werden können,
das gehört gerade zu den höchsten und schwierigsten, aber auch lohnendsten
Aufgaben der Wissenschaft.

Betrachten wir von diesen Sätzen aus das vorliegende Werk, so müssen
wir ihm eine doppelte Bedeutung zugestehen. Zunächst ist es ein Beitrag
zur Culturgeschichte im weiteren Sinne des Worts zur Geschichte des mensch-
lichen Geistes. Es zeigt wie die großen Theologen der ersten christlichen Jahr-
hunderte, theils im Zusammenhang und in Uebereinstimmung mit der nicht-
christlichen Philosophie, theils im Widerspruch gegen sie, über die höchsten
Fragen des Menschengeschlechts gedacht und sich wissenschaftlich geäußert
haben. Es gibt also historische Facta in Erörterung höchst beachtenswerther
Schöpfungen des menschlichen Geistes, und kommt damit dem heutigen Ver-
langen um so mehr entgegen als es zugleich schön componirt, verständlich,
fließend und lebendig geschrieben ist.

Dann hat es aber auch die Bedentung eines philosophischen Werks, und
konnte, wie es ist, nur von einem Mann geschrieben werden der die Philo-
sophie als Fach betreibt. Der Verfasser macht zwar von seinen eigenen Ge-
danken nur einen bescheidenen Gebrauch, er läßt vorzugsweise die Geister
und Werke sprechen mit denen er uns näher bekannt machen will, und ur-
theilt selber nur da wo es zur Charakteristik und zur Erklärung der Ueber-
gänge und Zusammenhänge nothwendig ist. Was er aber gibt, überzeugt
uns daß er sich zu dem Gegenstand eine frei wissenschaftliche, speciell philo-
sophische Stellung gegeben hat.

Wer die Richtungen der Gegenwart ins Auge gefaßt hat, dem ist zur
Genüge bekannt wie sich dermalen zu der Philosophie jener christlichen Theo-
logen zwei verschiedene Denkweisen verhalten. Die eine sieht darin Ausfüh-
rungen unter der Vorherrschaft des Gefühls und der Phantasie, denen sie gern
allen wissenschaftlichen Werth abspräche. Die andere, obwohl sie nur in den
Dogmen der Kirche göttliche Offenbarung, absolute Wahrheit erkennt, möchte
sich doch auch unter die Philosophie der großen Väter bengen, und empfindet
jede Kritik welche die Gränzen derselben aufzeigt als eine ungebührliche An-
kastung derselben. Daß die Wissenschaft ihre Stellung zwischen ihnen und
über ihnen nehmen muß, braucht dem Denkenden nicht erst versichert zu
werden.

Der Wissenschaft gebührt Freiheit und Selbständigkeit gegen jedes ihrer
Objecte; sie urtheilt ohne Zwang von außen -- aber sie muß gerecht urthei-
len. Durch eben so freies wie gerechtes Urtheil gibt sie zugleich dem Object
und sich selber die gebührende Ehre, vermittelt das edelste Verhältniß zwischen
dem Object und sich, und erfüllt ihren specifischen Veruf.

Es ist eine sonderbare Täuschung jener zweiten Denkweise daß sie die
Werke gefeierter Persönlichkeiten durch Unterwerfung unter sie am meisten zu
ehren glaubt. Wer aber einer Person oder einer Schöpfung in submissem
Verhältniß zu viel Ehre anthut, der bewirkt nur daß die Folgezeit, dieß erken-
nend, den ungerechtfertigten Putz wieder abreißt, und dieß ist für den bis da-
hin Geschmückten vielmehr eine Unehre, welche der gleich gerecht Urtheilende
ihm erspart.

Unser Autor beweist die Wissenschaftlichkeit seines Standpunktes durch
das ganze Buch. Er entwickelt und charakterisirt die Philosophie der Kirchen-
väter mit warmer Anerkennung, mit Liebe, zugleich aber mit jenem freien
Sinn der die endliche Seite nicht nur an der einen und andern Lehre, sondern
an dem Ganzen ihrer Leistungen sich zum Bewußtseyn gebracht. Das hat
ihm denn auch von solchen welche jene Philosophie gern als unübertrefslich
hinstellen möchten schon Augriffe zugezogen; aber dieß kann ihm bei denen

[Spaltenumbruch]
Montag
Beilage zu Nr. 170 der Allg. Zeitung.
18 Junius 1860.
Ueberſicht.
Die Philoſophie der Kirchenväter. Von Johannes Huber. — Die
Gräfin Dora d’Iſtria über die Frauen im Orient. (III.) — Deutſchland.
(Wien: Der Reichsrath.) — Türkei. (Pera: Die Veränderungen im Mi-
niſterium. Bankier Baltazzi. Die tatariſche Auswanderung.)
Neueſte Poſten. München. (König Ludwigs Kunftbauten und
Kunſtliebe.) — Hannover. (Das Gefolge des Königs.) — Berlin. (Be-
deutſame Fortſchritte der Einigung Deutſchlands. Hieſige Unterredung des
Königs von Hannover mit dem Prinz-Regenten. Tagesbericht.) — Wien.
(Tagesbericht.) — Peſih. (Inſpectionsreiſe des Ritters Benedek.) —
Trieſt. (Neueſte Levantepoſt.) — Madrid. (Der Senat. Die Adreß-
bebatte.) — Paris. (Inhalt der Tagesblätter.) — Ravenna. (Raub.) —
Turin. (Graf Stackelberg. Aus Neapel.) — Genua und Mailand. (Aus
Neapel.) — Handels- und Börſennachrichten. (Augsburg: Wollmarkt.)


Telegraphiſche Berichte.

Geſtern war ein glänzender Thee
im Schloß, ſämmtliche zehn Souveräne waren anweſend. Heute um
halb 8 Uhr gieng der König von Sachſen, um 11 Uhr Louis Napo-
leon, und gleichzeitig König Mar von Bayern zur Meſſe; der erſtere
zu Fuß mit einer Escorte von Gendarmen und mit zahlreichem Ge-
folge. Um 12 Uhr war gemeinſames Déjeûner auf dem alten, um
5 Uhr Diner auf dem neuen Schloß. Louis Napoleon reiste Abends
mit einem Ertrazug ab.

Oeſterr. 5proc. National-Ameihe 60⅜;
5proc. Metall. 53¾; Bankactien 784; Lotterie-Anlehenslooſe von 1854 76; von
1858 98; von 1860 75⅛; Ludwigshafen-Berbacher E.-B.-A. 125½; bayer.
Oſtb.-Actien 101; voll eingezahlt 101 ¼; öſterr. Credit-Mobilier-Actien 175.
Wechſelcurſe: Paris 93⅛; London 117; Wien 91⅞ anhaltend günſtig.


3proc. Conſols 93½.



Die Philoſophie der Kirchenväter.

⫠ ⫠ Wir leben im Zeitalter der Empirie. Was vor mehr als zwei
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wendig dargethan hat: das genaue Studium der Wirklichkeit, die Erklärung
der Erſcheinungen im einzelnen, die Erforſchung ihrer nächſten Urſachen —
das wird jetzt nicht nur allenthalben getrieben, ſondern faſt allein geſchätzt.
Die „Naturwiſſenſchaft“ gilt in der That als die „Mutter der Wiſſenſchaften,“
ganz ſo wie es Baco verlangt. Das Verfahren der empiriſchen Disciplinen
ſcheint allein ſichern Gewinn zu verſprechen, und genießt denn auch faſt allein
des Vertrauens unſerer Zeit. Die Neugierde, die Wißbegierde des Publi-
cums iſt auch auf eben das gerichtet was die Erfahrungswiſſenſchaften — die
Natur- und Geſchichtsforſchung — darbieten; den Gebenden entſprechen die
Empfangenden, man will „Thatſachen,“ und es ſieht faſt aus als ob man
über ſie hinaus nichts wiſſenswerthes mehr ſtatuiren wollte.

An einer allgemeinen Richtung der Geiſter Aergerniß zu nehmen ge-
ziemt am wenigſten dem Philoſophen, und in Wahrheit kann uns dieſe Er-
ſcheinung auch weder Bedauern noch Unmuth einflößen. Die vorherrſchende
Pflege der Empirie gehört zu den Aufgaben der Zeit, muß als die Bedingung
des Fortſchritts in menſchlicher Erkenntniß überhaupt angeſehen werden, und
ihrer einſeitigen Hochhaltung iſt ein Ziel geſteckt. Wie man die Wirkungen
nur dann wahrhaft erkennt wenn man ſie in und mit ihren Urſachen erkennt,
ſo wird nach der genauen Auffaſſung der Sachen unzweifelhaft ein Verlangen
ſich regen nach der Erkenntniß der Urſachen, und man wird der Erforſchung
derſelben wieder allgemeine Theilnahme zuwenden.

Wir ſagen allgemeine. Denn die Theilnahme Einzelner hat dieſe For-
ſchung und die mit ihr verbundene productive Thätigkeit ja noch immer, und
nie kann die Welt ſo bloß realiſtiſch werden, daß es in ihr nicht auch Philo-
ſophen gäbe und Freunde der Philoſophie. Aber es iſt ein Unterſchied ob
eine Wiſſenſchaft nur fortgeleitet wird, oder ob ſie der allſeitigen Cultur und
allſeitigeren Neigung ſich erfreut.

Empiriker die über ihre Disciplinen hinauszudenken die Fähigkeit und
den Willen haben, verlangen heutzutage daß man ſich die Ergebniſſe ihrer
Forſchungen aneigne, um eben von ihnen aus auf die Principien der Dinge
zu ſchließen. Dem ſtimmt der Philoſoph bei. Denn die Wirkung — die
gewirkte Sache — iſt die Tochter der Urſache, muß ihr nothwendig analog
ſeyn, und von der Wirkung iſt daher auf die Urſache und ihre Eigenthümlich-
keit zu ſchließen; wobei ſich begreift daß der richtige Schluß auf die Urſach:
[Spaltenumbruch] nur möglich iſt wenn man die Wirkung richtig anzuſchauen gelernt hat.
Räumt aber der Philoſoph dieß ein, ſo muß er doch darauf hinweiſen daß die
Erkenntniß der oberſten und allgemeinen Principien (um die es ſich eben han-
delt!) die richtige Anſchauung der geſammten Wirklichkeit vorausſetzt; denn
dieß, obſchon es ſich von felber verſteht, wird häufig außer Acht gelaſſen.

Auf die allgemeinen Urſachen der Dinge iſt nicht zu ſchließen von einem
Theil der Natur, ſondern nur von der ganzen Natur aus; aber nicht allein
von der ganzen Natur, ſondern zugleich von der ganzen Geſchichte — von den
Offenbarungen der Menſchheit in allen Sphären des Lebens aus.

Der Philoſoph muß verlangen daß der Empiriker in ſeinen Forderungen
conſequent ſey, und nicht über dem Recht der eigenen Wiſſenſchaft das Recht
der andern vergeſſe. Die Thatſachen der Natur und der Geſchichte ſind als
ſolche zu erkennen und zu erklären. Thatſachen ſind aber nicht nur die Ob-
jecte der Aſtronomie, Chemie, Phyſik, Naturgeſchichte u. ſ. w. — nicht nur
die Gründungen von Reichen, Kriege, Schöpfungen der Kunſt und der In-
duſtrie, ſondern hauptſächlich auch: was und wie die Menſchen in gewiſſen
Zeiträumen über Gott und göttliche Dinge geglaubt und gedacht haben.
Dieſe Thatſachen des Glaubens und Denkens — des innerſten Lebens — zu
ſchildern wie ſie waren, und zu erklären wie ſie ebenſo haben werden können,
das gehört gerade zu den höchſten und ſchwierigſten, aber auch lohnendſten
Aufgaben der Wiſſenſchaft.

Betrachten wir von dieſen Sätzen aus das vorliegende Werk, ſo müſſen
wir ihm eine doppelte Bedeutung zugeſtehen. Zunächſt iſt es ein Beitrag
zur Culturgeſchichte im weiteren Sinne des Worts zur Geſchichte des menſch-
lichen Geiſtes. Es zeigt wie die großen Theologen der erſten chriſtlichen Jahr-
hunderte, theils im Zuſammenhang und in Uebereinſtimmung mit der nicht-
chriſtlichen Philoſophie, theils im Widerſpruch gegen ſie, über die höchſten
Fragen des Menſchengeſchlechts gedacht und ſich wiſſenſchaftlich geäußert
haben. Es gibt alſo hiſtoriſche Facta in Erörterung höchſt beachtenswerther
Schöpfungen des menſchlichen Geiſtes, und kommt damit dem heutigen Ver-
langen um ſo mehr entgegen als es zugleich ſchön componirt, verſtändlich,
fließend und lebendig geſchrieben iſt.

Dann hat es aber auch die Bedentung eines philoſophiſchen Werks, und
konnte, wie es iſt, nur von einem Mann geſchrieben werden der die Philo-
ſophie als Fach betreibt. Der Verfaſſer macht zwar von ſeinen eigenen Ge-
danken nur einen beſcheidenen Gebrauch, er läßt vorzugsweiſe die Geiſter
und Werke ſprechen mit denen er uns näher bekannt machen will, und ur-
theilt ſelber nur da wo es zur Charakteriſtik und zur Erklärung der Ueber-
gänge und Zuſammenhänge nothwendig iſt. Was er aber gibt, überzeugt
uns daß er ſich zu dem Gegenſtand eine frei wiſſenſchaftliche, ſpeciell philo-
ſophiſche Stellung gegeben hat.

Wer die Richtungen der Gegenwart ins Auge gefaßt hat, dem iſt zur
Genüge bekannt wie ſich dermalen zu der Philoſophie jener chriſtlichen Theo-
logen zwei verſchiedene Denkweiſen verhalten. Die eine ſieht darin Ausfüh-
rungen unter der Vorherrſchaft des Gefühls und der Phantaſie, denen ſie gern
allen wiſſenſchaftlichen Werth abſpräche. Die andere, obwohl ſie nur in den
Dogmen der Kirche göttliche Offenbarung, abſolute Wahrheit erkennt, möchte
ſich doch auch unter die Philoſophie der großen Väter bengen, und empfindet
jede Kritik welche die Gränzen derſelben aufzeigt als eine ungebührliche An-
kaſtung derſelben. Daß die Wiſſenſchaft ihre Stellung zwiſchen ihnen und
über ihnen nehmen muß, braucht dem Denkenden nicht erſt verſichert zu
werden.

Der Wiſſenſchaft gebührt Freiheit und Selbſtändigkeit gegen jedes ihrer
Objecte; ſie urtheilt ohne Zwang von außen — aber ſie muß gerecht urthei-
len. Durch eben ſo freies wie gerechtes Urtheil gibt ſie zugleich dem Object
und ſich ſelber die gebührende Ehre, vermittelt das edelſte Verhältniß zwiſchen
dem Object und ſich, und erfüllt ihren ſpecifiſchen Veruf.

Es iſt eine ſonderbare Täuſchung jener zweiten Denkweiſe daß ſie die
Werke gefeierter Perſönlichkeiten durch Unterwerfung unter ſie am meiſten zu
ehren glaubt. Wer aber einer Perſon oder einer Schöpfung in ſubmiſſem
Verhältniß zu viel Ehre anthut, der bewirkt nur daß die Folgezeit, dieß erken-
nend, den ungerechtfertigten Putz wieder abreißt, und dieß iſt für den bis da-
hin Geſchmückten vielmehr eine Unehre, welche der gleich gerecht Urtheilende
ihm erſpart.

Unſer Autor beweist die Wiſſenſchaftlichkeit ſeines Standpunktes durch
das ganze Buch. Er entwickelt und charakteriſirt die Philoſophie der Kirchen-
väter mit warmer Anerkennung, mit Liebe, zugleich aber mit jenem freien
Sinn der die endliche Seite nicht nur an der einen und andern Lehre, ſondern
an dem Ganzen ihrer Leiſtungen ſich zum Bewußtſeyn gebracht. Das hat
ihm denn auch von ſolchen welche jene Philoſophie gern als unübertrefſlich
hinſtellen möchten ſchon Augriffe zugezogen; aber dieß kann ihm bei denen

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[0009] Montag Beilage zu Nr. 170 der Allg. Zeitung. 18 Junius 1860. Ueberſicht. Die Philoſophie der Kirchenväter. Von Johannes Huber. — Die Gräfin Dora d’Iſtria über die Frauen im Orient. (III.) — Deutſchland. (Wien: Der Reichsrath.) — Türkei. (Pera: Die Veränderungen im Mi- niſterium. Bankier Baltazzi. Die tatariſche Auswanderung.) Neueſte Poſten. München. (König Ludwigs Kunftbauten und Kunſtliebe.) — Hannover. (Das Gefolge des Königs.) — Berlin. (Be- deutſame Fortſchritte der Einigung Deutſchlands. Hieſige Unterredung des Königs von Hannover mit dem Prinz-Regenten. Tagesbericht.) — Wien. (Tagesbericht.) — Peſih. (Inſpectionsreiſe des Ritters Benedek.) — Trieſt. (Neueſte Levantepoſt.) — Madrid. (Der Senat. Die Adreß- bebatte.) — Paris. (Inhalt der Tagesblätter.) — Ravenna. (Raub.) — Turin. (Graf Stackelberg. Aus Neapel.) — Genua und Mailand. (Aus Neapel.) — Handels- und Börſennachrichten. (Augsburg: Wollmarkt.) Telegraphiſche Berichte. ⸫ Baden-Baden, 17 Jun. Geſtern war ein glänzender Thee im Schloß, ſämmtliche zehn Souveräne waren anweſend. Heute um halb 8 Uhr gieng der König von Sachſen, um 11 Uhr Louis Napo- leon, und gleichzeitig König Mar von Bayern zur Meſſe; der erſtere zu Fuß mit einer Escorte von Gendarmen und mit zahlreichem Ge- folge. Um 12 Uhr war gemeinſames Déjeûner auf dem alten, um 5 Uhr Diner auf dem neuen Schloß. Louis Napoleon reiste Abends mit einem Ertrazug ab. * Frankfurt a. M., 17 Jun. Oeſterr. 5proc. National-Ameihe 60⅜; 5proc. Metall. 53¾; Bankactien 784; Lotterie-Anlehenslooſe von 1854 76; von 1858 98; von 1860 75⅛; Ludwigshafen-Berbacher E.-B.-A. 125½; bayer. Oſtb.-Actien 101; voll eingezahlt 101 ¼; öſterr. Credit-Mobilier-Actien 175. Wechſelcurſe: Paris 93⅛; London 117; Wien 91⅞ anhaltend günſtig. * London, 16 Jun. 3proc. Conſols 93½. Die Philoſophie der Kirchenväter. Von Johannes Huber, Profeſſor der Philoſophie an der Univerſität München. München 1859. ⫠ ⫠ Wir leben im Zeitalter der Empirie. Was vor mehr als zwei Jahrhunderten ein Philoſoph (Baco von Verulam) gefordert und als noth- wendig dargethan hat: das genaue Studium der Wirklichkeit, die Erklärung der Erſcheinungen im einzelnen, die Erforſchung ihrer nächſten Urſachen — das wird jetzt nicht nur allenthalben getrieben, ſondern faſt allein geſchätzt. Die „Naturwiſſenſchaft“ gilt in der That als die „Mutter der Wiſſenſchaften,“ ganz ſo wie es Baco verlangt. Das Verfahren der empiriſchen Disciplinen ſcheint allein ſichern Gewinn zu verſprechen, und genießt denn auch faſt allein des Vertrauens unſerer Zeit. Die Neugierde, die Wißbegierde des Publi- cums iſt auch auf eben das gerichtet was die Erfahrungswiſſenſchaften — die Natur- und Geſchichtsforſchung — darbieten; den Gebenden entſprechen die Empfangenden, man will „Thatſachen,“ und es ſieht faſt aus als ob man über ſie hinaus nichts wiſſenswerthes mehr ſtatuiren wollte. An einer allgemeinen Richtung der Geiſter Aergerniß zu nehmen ge- ziemt am wenigſten dem Philoſophen, und in Wahrheit kann uns dieſe Er- ſcheinung auch weder Bedauern noch Unmuth einflößen. Die vorherrſchende Pflege der Empirie gehört zu den Aufgaben der Zeit, muß als die Bedingung des Fortſchritts in menſchlicher Erkenntniß überhaupt angeſehen werden, und ihrer einſeitigen Hochhaltung iſt ein Ziel geſteckt. Wie man die Wirkungen nur dann wahrhaft erkennt wenn man ſie in und mit ihren Urſachen erkennt, ſo wird nach der genauen Auffaſſung der Sachen unzweifelhaft ein Verlangen ſich regen nach der Erkenntniß der Urſachen, und man wird der Erforſchung derſelben wieder allgemeine Theilnahme zuwenden. Wir ſagen allgemeine. Denn die Theilnahme Einzelner hat dieſe For- ſchung und die mit ihr verbundene productive Thätigkeit ja noch immer, und nie kann die Welt ſo bloß realiſtiſch werden, daß es in ihr nicht auch Philo- ſophen gäbe und Freunde der Philoſophie. Aber es iſt ein Unterſchied ob eine Wiſſenſchaft nur fortgeleitet wird, oder ob ſie der allſeitigen Cultur und allſeitigeren Neigung ſich erfreut. Empiriker die über ihre Disciplinen hinauszudenken die Fähigkeit und den Willen haben, verlangen heutzutage daß man ſich die Ergebniſſe ihrer Forſchungen aneigne, um eben von ihnen aus auf die Principien der Dinge zu ſchließen. Dem ſtimmt der Philoſoph bei. Denn die Wirkung — die gewirkte Sache — iſt die Tochter der Urſache, muß ihr nothwendig analog ſeyn, und von der Wirkung iſt daher auf die Urſache und ihre Eigenthümlich- keit zu ſchließen; wobei ſich begreift daß der richtige Schluß auf die Urſach: nur möglich iſt wenn man die Wirkung richtig anzuſchauen gelernt hat. Räumt aber der Philoſoph dieß ein, ſo muß er doch darauf hinweiſen daß die Erkenntniß der oberſten und allgemeinen Principien (um die es ſich eben han- delt!) die richtige Anſchauung der geſammten Wirklichkeit vorausſetzt; denn dieß, obſchon es ſich von felber verſteht, wird häufig außer Acht gelaſſen. Auf die allgemeinen Urſachen der Dinge iſt nicht zu ſchließen von einem Theil der Natur, ſondern nur von der ganzen Natur aus; aber nicht allein von der ganzen Natur, ſondern zugleich von der ganzen Geſchichte — von den Offenbarungen der Menſchheit in allen Sphären des Lebens aus. Der Philoſoph muß verlangen daß der Empiriker in ſeinen Forderungen conſequent ſey, und nicht über dem Recht der eigenen Wiſſenſchaft das Recht der andern vergeſſe. Die Thatſachen der Natur und der Geſchichte ſind als ſolche zu erkennen und zu erklären. Thatſachen ſind aber nicht nur die Ob- jecte der Aſtronomie, Chemie, Phyſik, Naturgeſchichte u. ſ. w. — nicht nur die Gründungen von Reichen, Kriege, Schöpfungen der Kunſt und der In- duſtrie, ſondern hauptſächlich auch: was und wie die Menſchen in gewiſſen Zeiträumen über Gott und göttliche Dinge geglaubt und gedacht haben. Dieſe Thatſachen des Glaubens und Denkens — des innerſten Lebens — zu ſchildern wie ſie waren, und zu erklären wie ſie ebenſo haben werden können, das gehört gerade zu den höchſten und ſchwierigſten, aber auch lohnendſten Aufgaben der Wiſſenſchaft. Betrachten wir von dieſen Sätzen aus das vorliegende Werk, ſo müſſen wir ihm eine doppelte Bedeutung zugeſtehen. Zunächſt iſt es ein Beitrag zur Culturgeſchichte im weiteren Sinne des Worts zur Geſchichte des menſch- lichen Geiſtes. Es zeigt wie die großen Theologen der erſten chriſtlichen Jahr- hunderte, theils im Zuſammenhang und in Uebereinſtimmung mit der nicht- chriſtlichen Philoſophie, theils im Widerſpruch gegen ſie, über die höchſten Fragen des Menſchengeſchlechts gedacht und ſich wiſſenſchaftlich geäußert haben. Es gibt alſo hiſtoriſche Facta in Erörterung höchſt beachtenswerther Schöpfungen des menſchlichen Geiſtes, und kommt damit dem heutigen Ver- langen um ſo mehr entgegen als es zugleich ſchön componirt, verſtändlich, fließend und lebendig geſchrieben iſt. Dann hat es aber auch die Bedentung eines philoſophiſchen Werks, und konnte, wie es iſt, nur von einem Mann geſchrieben werden der die Philo- ſophie als Fach betreibt. Der Verfaſſer macht zwar von ſeinen eigenen Ge- danken nur einen beſcheidenen Gebrauch, er läßt vorzugsweiſe die Geiſter und Werke ſprechen mit denen er uns näher bekannt machen will, und ur- theilt ſelber nur da wo es zur Charakteriſtik und zur Erklärung der Ueber- gänge und Zuſammenhänge nothwendig iſt. Was er aber gibt, überzeugt uns daß er ſich zu dem Gegenſtand eine frei wiſſenſchaftliche, ſpeciell philo- ſophiſche Stellung gegeben hat. Wer die Richtungen der Gegenwart ins Auge gefaßt hat, dem iſt zur Genüge bekannt wie ſich dermalen zu der Philoſophie jener chriſtlichen Theo- logen zwei verſchiedene Denkweiſen verhalten. Die eine ſieht darin Ausfüh- rungen unter der Vorherrſchaft des Gefühls und der Phantaſie, denen ſie gern allen wiſſenſchaftlichen Werth abſpräche. Die andere, obwohl ſie nur in den Dogmen der Kirche göttliche Offenbarung, abſolute Wahrheit erkennt, möchte ſich doch auch unter die Philoſophie der großen Väter bengen, und empfindet jede Kritik welche die Gränzen derſelben aufzeigt als eine ungebührliche An- kaſtung derſelben. Daß die Wiſſenſchaft ihre Stellung zwiſchen ihnen und über ihnen nehmen muß, braucht dem Denkenden nicht erſt verſichert zu werden. Der Wiſſenſchaft gebührt Freiheit und Selbſtändigkeit gegen jedes ihrer Objecte; ſie urtheilt ohne Zwang von außen — aber ſie muß gerecht urthei- len. Durch eben ſo freies wie gerechtes Urtheil gibt ſie zugleich dem Object und ſich ſelber die gebührende Ehre, vermittelt das edelſte Verhältniß zwiſchen dem Object und ſich, und erfüllt ihren ſpecifiſchen Veruf. Es iſt eine ſonderbare Täuſchung jener zweiten Denkweiſe daß ſie die Werke gefeierter Perſönlichkeiten durch Unterwerfung unter ſie am meiſten zu ehren glaubt. Wer aber einer Perſon oder einer Schöpfung in ſubmiſſem Verhältniß zu viel Ehre anthut, der bewirkt nur daß die Folgezeit, dieß erken- nend, den ungerechtfertigten Putz wieder abreißt, und dieß iſt für den bis da- hin Geſchmückten vielmehr eine Unehre, welche der gleich gerecht Urtheilende ihm erſpart. Unſer Autor beweist die Wiſſenſchaftlichkeit ſeines Standpunktes durch das ganze Buch. Er entwickelt und charakteriſirt die Philoſophie der Kirchen- väter mit warmer Anerkennung, mit Liebe, zugleich aber mit jenem freien Sinn der die endliche Seite nicht nur an der einen und andern Lehre, ſondern an dem Ganzen ihrer Leiſtungen ſich zum Bewußtſeyn gebracht. Das hat ihm denn auch von ſolchen welche jene Philoſophie gern als unübertrefſlich hinſtellen möchten ſchon Augriffe zugezogen; aber dieß kann ihm bei denen

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen, Susanne Haaf: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-04-08T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.




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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 170, 18. Juni 1860, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine170_1860/9>, abgerufen am 21.11.2024.