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Allgemeine Zeitung, Nr. 19, 23. Januar 1929.

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Medusa

Um das Jahr 1650 an einem Augustnach-
mittage trabte Meister Andreas auf das
Tor der guten Stadt Leyden zu, deren
Türme er lang schon erblickt hatte. Der Huf-
schlag der starkknochigen Fuchsstute klang
auf der harten Straße, Schwanz und Mähne
flogen im Winde. Der Reiter saß wie ein
Kriegsmann im Sattel, sehnig und hager,
schnauzbärtig und sonnverbrannt. Auf dem
Schlapphut wallte die Feder; um das Leder-
koller war ein wuchtiger Stoßdegen gegür-
tet; aus den Halftertaschen lugten hüben
und drüben die messingbeschlagenen Kolben
der Reiterpistolen.

Meister Andreas wußte seine Waffen nicht
nur mit Anstand zu zeigen, sondern auch
mit Nachdruck zu gebrauchen, wenn es sein
mußte. Leicht hätte sich die Notwendigkeit
ergeben können. Vor kurzem erst hatte es
den großen Herrn gefallen, den Frieden zu
Münster und Osnabrück zu schließen. Man-
cherlei Kriegsvolk, das nun nimmer im
Namen Gottes und des Kriegsherrn sengen
und plündern durfte, mordete und plünderte
jetzt aus Gewohnheit für den eigenen Säckel,
so innerhalb wie außerhalb des heiligen
Reiches deutscher Nation.

Meister Andreas hatte sich doppelt vor-
zusehen. Sein Gaul trug in den Sattel-
taschen wohlverwahrt etliche gewichtige
Beutel voll Gold, den klingenden Lohn
ehrenvoller Arbeit. Mehrere Adelige in
Flandern und Brabant hatten ihn auf ihre
Schlösser berufen, weil sie meinten, es sei
an der Zeit, die Reihe der Familienbilder,
die an den Wänden der getäfelten Hallen
hingen, um das eigene Konterfei würdig zu
vermehren.

Meister Andreas hatte sich der Aufträge
wacker entledigt. Er hatte auch mit den
Schloßherren manchen guten Humpen ge-
leert, mit den Schloßdamen manche artige
Kurzweil getrieben. Jetzt kehrte er heim zu
seinem Hause in Leyden; zu seinem jungen
Weibe Antje und zu der losen Rotte seiner
Schüler, die seiner festen Hand inzwischen
wohl dringend bedürftig geworden waren.
Dies bei sich bedenkend, ritt er noch bei
Tageslicht in das hallende Stadttor ein.

Er wollte die Seinen überraschen und
stellte sein Pferd in einer Schenke ein und
ging zu Fuß seinem Hause zu. Frau Antje,
die zur Stunde wahrscheinlich bei einer ihrer
zahlreichen Muhmen in Haubenbändern und
derlei Krimskrams wühlte, würde tanzen
vor Freude, wenn sie ihren Herrn und Ge-
bieter bei ihrer Rückkunft in der Stube
fände, die Pantoffeln an den Beinen und
die lange Tonpfeife im Munde.

Meister Andreas betrat sein hochgiebeliges
Haus nicht von der Hauptstraße her durch
die weiß und blau gekachelte Diele. Der
Hintereingang, der auf ein schmales Gäß-
chen mündete und der durch die geräumige
Werkstatt und über eine steile Holztreppe
geradewegs nach den Oberstuben führte,
lag ihm bequemer. Er kannte das Geheim-
nis, wie der Riegel ohne Benützung eines
Schlüssels zurückzuschieben war und stand
alsbald zwischen den Staffeleien, an denen
während seiner Abwesenheit seine Schüler
unter der Aufsicht eines älteren Gehilfen ge-
arbeitet hatten.

Was er mit flüchtigem Blicke sah, war
nicht eben erfreulich. Blitz und Hagel! Es
war in den meisten Fällen nicht die teuren
Farben und die ehrliche Leinwand wert,
was sie da hingesudelt hatten. Einige Staffe-
leien waren verhängt. Sie zu enthüllen,
spürte der Meister, dem schon das bisher
Geschaute die Heimkehrfreude ein wenig ver-
gällt hatte, kein übermäßiges Verlangen.
Er wollte nur noch sehen, was sein Lieb-
lingsschüler Ferdinand gerade in der Arbeit
hatte, und ob er in den letzten Monaten
auch so verludert wäre, wie die anderen.

Meister Andreas zog den Vorhang zur
Seite. Beim Pinsel Rembrandts! Der
Bursche konnte malen! Andreas freute sich
und erkannte gern an, wenn ein anderer
auch etwas leistete. Er bewunderte aufrichtig
das schöne Bildnis der Frau Antje, das
Ferdinand hier nahezu vollendet hatte. Das
wellige dunkle Haar legte sich anmutig um
die klare Stirn. Feine Brauen wölbten sich
über den grauen Augen unter den schweren
Lidern und langen Wimpern. Die Flügel
der odel geschnittenen Nase schienen so be-
weglich und ausdrucksvoll wie im Leben.
Der volle, rote Mund -- -- ja! Wo hatte
der Knabe, der Ferdinand, diesen Zug um
den Mund her, den ein anderer, als Meister
Andreas gar nicht bemerkt hatte, den ein
anderer gar nicht kannte, nicht kennen
konnte, den aber Andreas selbst im Ampel-

[Spaltenumbruch]

licht des Schlafgemachs oft und nahe genug
vor sich gesehen hate. Aber konnte ihn des-
halb wirklich kein anderer kennen?

Meister Andreas fegte mit einer Hand-
bewegung Ferdinands Arbeitskittel, der vor
einem Stuhle auf der Staffelei lag, auf den
Boden. Er setzte sich und starrte unter
buschigen Brauen eine ganze Weile unver-
wandt auf das Gemälde. Dann strich er mit
der Hand über seine Stirn. Es war alles
Einbildung. Antje und der Knabe? Lächer-
lich! Dieser Zug um den Mund bewies rein
gar nichts. Der Bursche hatte seinen Pinsel

[Spaltenumbruch]

schlecht ausgewaschen, oder es war überhaupt
nichts dergleichen auf der Leinwand. Der
Mund, nach dessen Küssen sich der Meister
während seiner langen Abwesenheit nicht
selten gesehnt hatte, erschien ihm jetzt wohl
mit dem Ausdrucke, mit dem er sich seine
Frau Eheliebste nun einmal gern vor-
stellte, wenn er an sie dachte. Er bat ihr
den Verdacht im stillen ab, während er auf-
stand und sich nach dem Kittel bückte, um
ihn wieder über den Stuhl zu werfen.

Da blieb auf dem Boden ein Stück Pa-
pier liegen, das wohl in einer Tasche des

[Spaltenumbruch]

Kittels gesteckt haben mußte. Der Meister
bückte sich, hob den Zettel auf und las in
Antjes Handschrift die vier Worte: "Heute
abends durchs Borderhaus."

Hölle, Mord und Tod! Mit geballten
Fäusten schritt Andreas sporenklirrend die
Werkstatt auf und wieder. Hatte er dazu vier
Monate lang wie ein Mönch gelebt, damit
ihm in seinem eigenen Hause dieser Schul-
bube Hörner aufsetzte? Und das Weib?
Dieses Weib! Wie hatte er es geliebt! Wie
hatte er sich auf es gefreut! Wie hatte er
von seiner Heimkehr gefaselt seit Wochen
und Wochen! Ihn würgte der Ekel.

Er stand wieder vor dem Bilde und
starrte es an. Er lachte ingrimmig auf, sein
Entschluß war gefaßt.

Er verriegelte die Tür der Werkstatt von
innen. Er löste das Wehrgehenk. Er warf
Degen und Stulpenhandschuhe zu den
Satteltaschen in die Ecke. Nun entzündete
er die starke Lampe, die er bei nächtlicher
Arbeit zu gebrauchen pflegte und verschloß
mit den Läden die Fenster, die er außerdem
noch dicht verhängte. Dann griff er zu Pin-
sel und Palette und arbeitete, ohne aufzu-
blicken volle 8 Stunden. Dann legte er alles
Gerät, dessen er sich bedient hatte, wieder
an seinen Platz, so daß die Werkstatt im
vollen Mondlicht lag, und setzte sich, den
gezogenen Degen in der Hand, in eine
dunkle Ecke nächst dem Ausgang.

Er brauchte nicht lange zu warten, bis
er oben am Treppenkopf Türen öffnen und
schließen hörte. Die Treppenstufen knarrten
leise unter behutsam schleichenden Schritten,
die sich dann auf den Steinfliesen der Werk-
statt in der Richtung nach dem Ausgang
bewegten, plötzlich aber innehielten.

In der Mitte des monderleuchteten Rau-
mes stand Ferdinand, der erstaunt nach sei-
ner Staffelei blickte, die er verhüllt verlassen
hatte und nun unverhüllt vorfand. Noch
mit dem Ausdrucke sorgloser Neugier schlen-
derte er, dabei in immer helleres Mond-
licht geratend, auf seinen Arbeitsplatz zu,
rieb sich die Augen, stürmte ein paar Schritte
vor, prallte mit einem unterdrückten
Schreckensruf zurück und blieb mit entsetzt
aufgerissenen Augen, mit vorgestreckten
Armen und vorgespreizten Fingern wie fest-
gebannt stehen.

Das liebliche Bildnis war grauenhaft ver-
ändert. Das Antlitz, das Leben geatmet
hatte, war jetzt nichts, als Leichnam und
Verwesung. Tiefe Schatten lagen in den
Augenhöhlen und um die eingefallene Nase.
Zwischen den Lippen war die gequollene
Zunge sichtbar. Der Hals war von Schwer-
tes Schärfe durchschlagen und Klumpen ge-
rinnenden Blutes spiegelten matt einzelne
Teile des abgetrennten Hauptes. Aus diesem
Blute aber wanden sich, teils aus den Blut-
lachen zur Hälfte erst entstanden, teils in
vollendeter Gestalt Skorpione und Asseln,
Molche und anderes ekle Gewürm. Aus
den Haaren stiegen giftstrotzende Flammen
empor, Vipern und Otterngezücht. Sie
umwanden einander mit den Leibern, sie
waren ineinander verknotet und in wilder
Wut verbissen.

All diese Höllenbrut bewegte sich. Ja! Sie
bewegte sich und kroch langsam auf Ferdi-
nand zu. Jetzt öffnete auch das bleiche, das
tote Antlitz die Augenlider, Ferdinand fin-
gerte mit beiden Händen am Halse. Er
versuchte zu schreien, aber nur ein gurgelndes
Röcheln brachte er hervor. Mit letzter An-
strengung riß er sich von dem Bilde los und
taumelte nach dem Ausgang.

Dort aber stand Meister Andreas, hoch
aufgereckt und stumm. Mit der Spitze des
funkelnden Degens wies er unbarmherzig
nach dem Bilde. und Ferdinand mußte
stehen und der Medusa ins Antlitz blicken.
Er hätte jetzt seine Augen auch nicht mehr
abwenden können, wenn er des Meisters
Waffe nicht an der Kehle gefühlt hätte.

Als am Morgen Frau Antje durch die
noch nicht von Schülern bevölkerte Werk-
statt ging, hörte sie aus einer Ecke irres
Lallen. Sie ging dem Ton nach und fand
Ferdinand, der mit hinaufgezogenen Knien
und das Gesicht in die Hände gedrückt auf
einem Haufen alten Gerümpels hockte. Als
sie ihn ansprach und an der Schulter faßte,
sprang er auf, sah sie mit dem leeren Blicke
des Wahnsinnigen an, schlug eine gellende
Lache auf und rannte aus der Tür.

Um dieselbe Stunde trabte Meister. An-
dreas auf seiner Fuchsstute aus dem Tore
der guten Stadt Leyden. Er saß wie ein
Kriegsmann im Sattel, sehnig und hager,
schnauzbärtig und sonnverbrannt. --

[Spaltenumbruch]
Ein Lessinghaus der Stadt Kamenz
[Abbildung]

Im Mittelpunkt der Feiern, mit denen die Stadt Kamenz den 200. Geburtstag ihres größten Soh-
nes -- Lessings -- begangen hat, stand die Grundsteinlegung zu einem Lessinghaus, das die Volks-
bibliokhek und das Museum ausnehmen wird. Unser Bild zeigt den von der Stadt zur Ausführung
angenommenen Entwurf des Lessinghauses.

Eine neue Chaplin-Anekdote

Momentan kursiert eine funkelnagelneue
Chaplin Anekdote. Hier ist sie: In Portland
(Staat Oregon) veranstaltet der Besitzer des
"Pomtages-Vaudevilles-Circuits" einen
Ball unter der Devise "Chaplin-Kopisten".
Sämtliche Teilnehmer waren verpflichtet,
im Kostüm Chaplins zu erscheinen. Die
besten Kopien sollten, war angekündigt wor-
den, prämiiert werden.

Es war begreiflicherweise ein unerhörter
Anblick. Lauter Chaplins! Hunderte von
Chaplins; Hunderte von seinen Schnurr-
bärten, seinen Melonenhütchen, seinen Rie-
senschuhen, seinen Stöckchen. Und man
wußte nicht recht, ob man die Veranstaltung
eher unheimlich als komisch finden sollte.
Wenn wenigstens nur das Kostüm in so
riesiger Auflage vorhanden gewesen wäre!
Obwohl es natürlich bereits merkwürdig
berührte, die extravagante Kleidung des
genialen kleinen Mannes als Regiments-
uniform zu sehen ...

Aber nun hatte sich auch noch ein jeder
bemüht, das Gesicht Chaplins zu wieder-
holen. Jeder Chaplin hatte eine Nummer
auf dem Rücken; das einzige, was sie von-
einander unterschied. Und die Juroren lie-
fen mit Notizblöcken und Bleistiften in der
[Spaltenumbruch] gleichförmigen Menge umher und verteilten
Wertpunkte.

Endlich war man soweit! Ein Tusch ver-
sammelte die Teilnehmer, und die Jury ließ
verkünden, am ähnlichsten sähe dem Chaplin
die Nummer 27. Die Nummer 27 stieg aufs
Podium, ließ sich applaudieren und nannte
ihren Namen. Der Herr hieß, wie berichtet
wird, Drinkwater. Den zweiten Preis erhielt
die Nummer 14; es war ein Mister Hou-
ston. Den dritten Preis bekam die Num-
mer 31.

Nummer 31 hieß -- Charlie Chaplin. Es
war nicht zu ändern: Chaplin befand sich
persönlich auf dem Ball der Chaplin-Kopi-
sten und erhielt, unerkannterweise, die Zu-
sicherung, daß er sich selber am dritt-ähn-
lichsten sähe! Die Herren Drinkwater und
Houston ähnelten ihm mehr als er selber.

Ich habe diese Anekdote, nachdem ich sie
gelesen hatte, verschiedenen Bekannten er-
zählt. Manche haben darüber gelacht. An-
dere nicht. Wenn ich mir eine Bemerkung
erlauben darf: Ich halte es für angebrachter,
über die Anekdote nicht zu lachen. Ich möchte
aber niemanden die gute Laune stören. Es
ist nur meine unmaßgebliche Meinung.

[irrelevantes Material]
Meduſa

Um das Jahr 1650 an einem Auguſtnach-
mittage trabte Meiſter Andreas auf das
Tor der guten Stadt Leyden zu, deren
Türme er lang ſchon erblickt hatte. Der Huf-
ſchlag der ſtarkknochigen Fuchsſtute klang
auf der harten Straße, Schwanz und Mähne
flogen im Winde. Der Reiter ſaß wie ein
Kriegsmann im Sattel, ſehnig und hager,
ſchnauzbärtig und ſonnverbrannt. Auf dem
Schlapphut wallte die Feder; um das Leder-
koller war ein wuchtiger Stoßdegen gegür-
tet; aus den Halftertaſchen lugten hüben
und drüben die meſſingbeſchlagenen Kolben
der Reiterpiſtolen.

Meiſter Andreas wußte ſeine Waffen nicht
nur mit Anſtand zu zeigen, ſondern auch
mit Nachdruck zu gebrauchen, wenn es ſein
mußte. Leicht hätte ſich die Notwendigkeit
ergeben können. Vor kurzem erſt hatte es
den großen Herrn gefallen, den Frieden zu
Münſter und Osnabrück zu ſchließen. Man-
cherlei Kriegsvolk, das nun nimmer im
Namen Gottes und des Kriegsherrn ſengen
und plündern durfte, mordete und plünderte
jetzt aus Gewohnheit für den eigenen Säckel,
ſo innerhalb wie außerhalb des heiligen
Reiches deutſcher Nation.

Meiſter Andreas hatte ſich doppelt vor-
zuſehen. Sein Gaul trug in den Sattel-
taſchen wohlverwahrt etliche gewichtige
Beutel voll Gold, den klingenden Lohn
ehrenvoller Arbeit. Mehrere Adelige in
Flandern und Brabant hatten ihn auf ihre
Schlöſſer berufen, weil ſie meinten, es ſei
an der Zeit, die Reihe der Familienbilder,
die an den Wänden der getäfelten Hallen
hingen, um das eigene Konterfei würdig zu
vermehren.

Meiſter Andreas hatte ſich der Aufträge
wacker entledigt. Er hatte auch mit den
Schloßherren manchen guten Humpen ge-
leert, mit den Schloßdamen manche artige
Kurzweil getrieben. Jetzt kehrte er heim zu
ſeinem Hauſe in Leyden; zu ſeinem jungen
Weibe Antje und zu der loſen Rotte ſeiner
Schüler, die ſeiner feſten Hand inzwiſchen
wohl dringend bedürftig geworden waren.
Dies bei ſich bedenkend, ritt er noch bei
Tageslicht in das hallende Stadttor ein.

Er wollte die Seinen überraſchen und
ſtellte ſein Pferd in einer Schenke ein und
ging zu Fuß ſeinem Hauſe zu. Frau Antje,
die zur Stunde wahrſcheinlich bei einer ihrer
zahlreichen Muhmen in Haubenbändern und
derlei Krimskrams wühlte, würde tanzen
vor Freude, wenn ſie ihren Herrn und Ge-
bieter bei ihrer Rückkunft in der Stube
fände, die Pantoffeln an den Beinen und
die lange Tonpfeife im Munde.

Meiſter Andreas betrat ſein hochgiebeliges
Haus nicht von der Hauptſtraße her durch
die weiß und blau gekachelte Diele. Der
Hintereingang, der auf ein ſchmales Gäß-
chen mündete und der durch die geräumige
Werkſtatt und über eine ſteile Holztreppe
geradewegs nach den Oberſtuben führte,
lag ihm bequemer. Er kannte das Geheim-
nis, wie der Riegel ohne Benützung eines
Schlüſſels zurückzuſchieben war und ſtand
alsbald zwiſchen den Staffeleien, an denen
während ſeiner Abweſenheit ſeine Schüler
unter der Aufſicht eines älteren Gehilfen ge-
arbeitet hatten.

Was er mit flüchtigem Blicke ſah, war
nicht eben erfreulich. Blitz und Hagel! Es
war in den meiſten Fällen nicht die teuren
Farben und die ehrliche Leinwand wert,
was ſie da hingeſudelt hatten. Einige Staffe-
leien waren verhängt. Sie zu enthüllen,
ſpürte der Meiſter, dem ſchon das bisher
Geſchaute die Heimkehrfreude ein wenig ver-
gällt hatte, kein übermäßiges Verlangen.
Er wollte nur noch ſehen, was ſein Lieb-
lingsſchüler Ferdinand gerade in der Arbeit
hatte, und ob er in den letzten Monaten
auch ſo verludert wäre, wie die anderen.

Meiſter Andreas zog den Vorhang zur
Seite. Beim Pinſel Rembrandts! Der
Burſche konnte malen! Andreas freute ſich
und erkannte gern an, wenn ein anderer
auch etwas leiſtete. Er bewunderte aufrichtig
das ſchöne Bildnis der Frau Antje, das
Ferdinand hier nahezu vollendet hatte. Das
wellige dunkle Haar legte ſich anmutig um
die klare Stirn. Feine Brauen wölbten ſich
über den grauen Augen unter den ſchweren
Lidern und langen Wimpern. Die Flügel
der odel geſchnittenen Naſe ſchienen ſo be-
weglich und ausdrucksvoll wie im Leben.
Der volle, rote Mund — — ja! Wo hatte
der Knabe, der Ferdinand, dieſen Zug um
den Mund her, den ein anderer, als Meiſter
Andreas gar nicht bemerkt hatte, den ein
anderer gar nicht kannte, nicht kennen
konnte, den aber Andreas ſelbſt im Ampel-

[Spaltenumbruch]

licht des Schlafgemachs oft und nahe genug
vor ſich geſehen hate. Aber konnte ihn des-
halb wirklich kein anderer kennen?

Meiſter Andreas fegte mit einer Hand-
bewegung Ferdinands Arbeitskittel, der vor
einem Stuhle auf der Staffelei lag, auf den
Boden. Er ſetzte ſich und ſtarrte unter
buſchigen Brauen eine ganze Weile unver-
wandt auf das Gemälde. Dann ſtrich er mit
der Hand über ſeine Stirn. Es war alles
Einbildung. Antje und der Knabe? Lächer-
lich! Dieſer Zug um den Mund bewies rein
gar nichts. Der Burſche hatte ſeinen Pinſel

[Spaltenumbruch]

ſchlecht ausgewaſchen, oder es war überhaupt
nichts dergleichen auf der Leinwand. Der
Mund, nach deſſen Küſſen ſich der Meiſter
während ſeiner langen Abweſenheit nicht
ſelten geſehnt hatte, erſchien ihm jetzt wohl
mit dem Ausdrucke, mit dem er ſich ſeine
Frau Eheliebſte nun einmal gern vor-
ſtellte, wenn er an ſie dachte. Er bat ihr
den Verdacht im ſtillen ab, während er auf-
ſtand und ſich nach dem Kittel bückte, um
ihn wieder über den Stuhl zu werfen.

Da blieb auf dem Boden ein Stück Pa-
pier liegen, das wohl in einer Taſche des

[Spaltenumbruch]

Kittels geſteckt haben mußte. Der Meiſter
bückte ſich, hob den Zettel auf und las in
Antjes Handſchrift die vier Worte: „Heute
abends durchs Borderhaus.“

Hölle, Mord und Tod! Mit geballten
Fäuſten ſchritt Andreas ſporenklirrend die
Werkſtatt auf und wieder. Hatte er dazu vier
Monate lang wie ein Mönch gelebt, damit
ihm in ſeinem eigenen Hauſe dieſer Schul-
bube Hörner aufſetzte? Und das Weib?
Dieſes Weib! Wie hatte er es geliebt! Wie
hatte er ſich auf es gefreut! Wie hatte er
von ſeiner Heimkehr gefaſelt ſeit Wochen
und Wochen! Ihn würgte der Ekel.

Er ſtand wieder vor dem Bilde und
ſtarrte es an. Er lachte ingrimmig auf, ſein
Entſchluß war gefaßt.

Er verriegelte die Tür der Werkſtatt von
innen. Er löſte das Wehrgehenk. Er warf
Degen und Stulpenhandſchuhe zu den
Satteltaſchen in die Ecke. Nun entzündete
er die ſtarke Lampe, die er bei nächtlicher
Arbeit zu gebrauchen pflegte und verſchloß
mit den Läden die Fenſter, die er außerdem
noch dicht verhängte. Dann griff er zu Pin-
ſel und Palette und arbeitete, ohne aufzu-
blicken volle 8 Stunden. Dann legte er alles
Gerät, deſſen er ſich bedient hatte, wieder
an ſeinen Platz, ſo daß die Werkſtatt im
vollen Mondlicht lag, und ſetzte ſich, den
gezogenen Degen in der Hand, in eine
dunkle Ecke nächſt dem Ausgang.

Er brauchte nicht lange zu warten, bis
er oben am Treppenkopf Türen öffnen und
ſchließen hörte. Die Treppenſtufen knarrten
leiſe unter behutſam ſchleichenden Schritten,
die ſich dann auf den Steinflieſen der Werk-
ſtatt in der Richtung nach dem Ausgang
bewegten, plötzlich aber innehielten.

In der Mitte des monderleuchteten Rau-
mes ſtand Ferdinand, der erſtaunt nach ſei-
ner Staffelei blickte, die er verhüllt verlaſſen
hatte und nun unverhüllt vorfand. Noch
mit dem Ausdrucke ſorgloſer Neugier ſchlen-
derte er, dabei in immer helleres Mond-
licht geratend, auf ſeinen Arbeitsplatz zu,
rieb ſich die Augen, ſtürmte ein paar Schritte
vor, prallte mit einem unterdrückten
Schreckensruf zurück und blieb mit entſetzt
aufgeriſſenen Augen, mit vorgeſtreckten
Armen und vorgeſpreizten Fingern wie feſt-
gebannt ſtehen.

Das liebliche Bildnis war grauenhaft ver-
ändert. Das Antlitz, das Leben geatmet
hatte, war jetzt nichts, als Leichnam und
Verweſung. Tiefe Schatten lagen in den
Augenhöhlen und um die eingefallene Naſe.
Zwiſchen den Lippen war die gequollene
Zunge ſichtbar. Der Hals war von Schwer-
tes Schärfe durchſchlagen und Klumpen ge-
rinnenden Blutes ſpiegelten matt einzelne
Teile des abgetrennten Hauptes. Aus dieſem
Blute aber wanden ſich, teils aus den Blut-
lachen zur Hälfte erſt entſtanden, teils in
vollendeter Geſtalt Skorpione und Aſſeln,
Molche und anderes ekle Gewürm. Aus
den Haaren ſtiegen giftſtrotzende Flammen
empor, Vipern und Otterngezücht. Sie
umwanden einander mit den Leibern, ſie
waren ineinander verknotet und in wilder
Wut verbiſſen.

All dieſe Höllenbrut bewegte ſich. Ja! Sie
bewegte ſich und kroch langſam auf Ferdi-
nand zu. Jetzt öffnete auch das bleiche, das
tote Antlitz die Augenlider, Ferdinand fin-
gerte mit beiden Händen am Halſe. Er
verſuchte zu ſchreien, aber nur ein gurgelndes
Röcheln brachte er hervor. Mit letzter An-
ſtrengung riß er ſich von dem Bilde los und
taumelte nach dem Ausgang.

Dort aber ſtand Meiſter Andreas, hoch
aufgereckt und ſtumm. Mit der Spitze des
funkelnden Degens wies er unbarmherzig
nach dem Bilde. und Ferdinand mußte
ſtehen und der Meduſa ins Antlitz blicken.
Er hätte jetzt ſeine Augen auch nicht mehr
abwenden können, wenn er des Meiſters
Waffe nicht an der Kehle gefühlt hätte.

Als am Morgen Frau Antje durch die
noch nicht von Schülern bevölkerte Werk-
ſtatt ging, hörte ſie aus einer Ecke irres
Lallen. Sie ging dem Ton nach und fand
Ferdinand, der mit hinaufgezogenen Knien
und das Geſicht in die Hände gedrückt auf
einem Haufen alten Gerümpels hockte. Als
ſie ihn anſprach und an der Schulter faßte,
ſprang er auf, ſah ſie mit dem leeren Blicke
des Wahnſinnigen an, ſchlug eine gellende
Lache auf und rannte aus der Tür.

Um dieſelbe Stunde trabte Meiſter. An-
dreas auf ſeiner Fuchsſtute aus dem Tore
der guten Stadt Leyden. Er ſaß wie ein
Kriegsmann im Sattel, ſehnig und hager,
ſchnauzbärtig und ſonnverbrannt. —

[Spaltenumbruch]
Ein Leſſinghaus der Stadt Kamenz
[Abbildung]

Im Mittelpunkt der Feiern, mit denen die Stadt Kamenz den 200. Geburtstag ihres größten Soh-
nes — Leſſings — begangen hat, ſtand die Grundſteinlegung zu einem Leſſinghaus, das die Volks-
bibliokhek und das Muſeum auſnehmen wird. Unſer Bild zeigt den von der Stadt zur Ausführung
angenommenen Entwurf des Leſſinghauſes.

Eine neue Chaplin-Anekdote

Momentan kurſiert eine funkelnagelneue
Chaplin Anekdote. Hier iſt ſie: In Portland
(Staat Oregon) veranſtaltet der Beſitzer des
„Pomtages-Vaudevilles-Circuits“ einen
Ball unter der Deviſe „Chaplin-Kopiſten“.
Sämtliche Teilnehmer waren verpflichtet,
im Koſtüm Chaplins zu erſcheinen. Die
beſten Kopien ſollten, war angekündigt wor-
den, prämiiert werden.

Es war begreiflicherweiſe ein unerhörter
Anblick. Lauter Chaplins! Hunderte von
Chaplins; Hunderte von ſeinen Schnurr-
bärten, ſeinen Melonenhütchen, ſeinen Rie-
ſenſchuhen, ſeinen Stöckchen. Und man
wußte nicht recht, ob man die Veranſtaltung
eher unheimlich als komiſch finden ſollte.
Wenn wenigſtens nur das Koſtüm in ſo
rieſiger Auflage vorhanden geweſen wäre!
Obwohl es natürlich bereits merkwürdig
berührte, die extravagante Kleidung des
genialen kleinen Mannes als Regiments-
uniform zu ſehen ...

Aber nun hatte ſich auch noch ein jeder
bemüht, das Geſicht Chaplins zu wieder-
holen. Jeder Chaplin hatte eine Nummer
auf dem Rücken; das einzige, was ſie von-
einander unterſchied. Und die Juroren lie-
fen mit Notizblöcken und Bleiſtiften in der
[Spaltenumbruch] gleichförmigen Menge umher und verteilten
Wertpunkte.

Endlich war man ſoweit! Ein Tuſch ver-
ſammelte die Teilnehmer, und die Jury ließ
verkünden, am ähnlichſten ſähe dem Chaplin
die Nummer 27. Die Nummer 27 ſtieg aufs
Podium, ließ ſich applaudieren und nannte
ihren Namen. Der Herr hieß, wie berichtet
wird, Drinkwater. Den zweiten Preis erhielt
die Nummer 14; es war ein Miſter Hou-
ſton. Den dritten Preis bekam die Num-
mer 31.

Nummer 31 hieß — Charlie Chaplin. Es
war nicht zu ändern: Chaplin befand ſich
perſönlich auf dem Ball der Chaplin-Kopi-
ſten und erhielt, unerkannterweiſe, die Zu-
ſicherung, daß er ſich ſelber am dritt-ähn-
lichſten ſähe! Die Herren Drinkwater und
Houſton ähnelten ihm mehr als er ſelber.

Ich habe dieſe Anekdote, nachdem ich ſie
geleſen hatte, verſchiedenen Bekannten er-
zählt. Manche haben darüber gelacht. An-
dere nicht. Wenn ich mir eine Bemerkung
erlauben darf: Ich halte es für angebrachter,
über die Anekdote nicht zu lachen. Ich möchte
aber niemanden die gute Laune ſtören. Es
iſt nur meine unmaßgebliche Meinung.

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[0011] Meduſa Von Otto Mittler Um das Jahr 1650 an einem Auguſtnach- mittage trabte Meiſter Andreas auf das Tor der guten Stadt Leyden zu, deren Türme er lang ſchon erblickt hatte. Der Huf- ſchlag der ſtarkknochigen Fuchsſtute klang auf der harten Straße, Schwanz und Mähne flogen im Winde. Der Reiter ſaß wie ein Kriegsmann im Sattel, ſehnig und hager, ſchnauzbärtig und ſonnverbrannt. Auf dem Schlapphut wallte die Feder; um das Leder- koller war ein wuchtiger Stoßdegen gegür- tet; aus den Halftertaſchen lugten hüben und drüben die meſſingbeſchlagenen Kolben der Reiterpiſtolen. Meiſter Andreas wußte ſeine Waffen nicht nur mit Anſtand zu zeigen, ſondern auch mit Nachdruck zu gebrauchen, wenn es ſein mußte. Leicht hätte ſich die Notwendigkeit ergeben können. Vor kurzem erſt hatte es den großen Herrn gefallen, den Frieden zu Münſter und Osnabrück zu ſchließen. Man- cherlei Kriegsvolk, das nun nimmer im Namen Gottes und des Kriegsherrn ſengen und plündern durfte, mordete und plünderte jetzt aus Gewohnheit für den eigenen Säckel, ſo innerhalb wie außerhalb des heiligen Reiches deutſcher Nation. Meiſter Andreas hatte ſich doppelt vor- zuſehen. Sein Gaul trug in den Sattel- taſchen wohlverwahrt etliche gewichtige Beutel voll Gold, den klingenden Lohn ehrenvoller Arbeit. Mehrere Adelige in Flandern und Brabant hatten ihn auf ihre Schlöſſer berufen, weil ſie meinten, es ſei an der Zeit, die Reihe der Familienbilder, die an den Wänden der getäfelten Hallen hingen, um das eigene Konterfei würdig zu vermehren. Meiſter Andreas hatte ſich der Aufträge wacker entledigt. Er hatte auch mit den Schloßherren manchen guten Humpen ge- leert, mit den Schloßdamen manche artige Kurzweil getrieben. Jetzt kehrte er heim zu ſeinem Hauſe in Leyden; zu ſeinem jungen Weibe Antje und zu der loſen Rotte ſeiner Schüler, die ſeiner feſten Hand inzwiſchen wohl dringend bedürftig geworden waren. Dies bei ſich bedenkend, ritt er noch bei Tageslicht in das hallende Stadttor ein. Er wollte die Seinen überraſchen und ſtellte ſein Pferd in einer Schenke ein und ging zu Fuß ſeinem Hauſe zu. Frau Antje, die zur Stunde wahrſcheinlich bei einer ihrer zahlreichen Muhmen in Haubenbändern und derlei Krimskrams wühlte, würde tanzen vor Freude, wenn ſie ihren Herrn und Ge- bieter bei ihrer Rückkunft in der Stube fände, die Pantoffeln an den Beinen und die lange Tonpfeife im Munde. Meiſter Andreas betrat ſein hochgiebeliges Haus nicht von der Hauptſtraße her durch die weiß und blau gekachelte Diele. Der Hintereingang, der auf ein ſchmales Gäß- chen mündete und der durch die geräumige Werkſtatt und über eine ſteile Holztreppe geradewegs nach den Oberſtuben führte, lag ihm bequemer. Er kannte das Geheim- nis, wie der Riegel ohne Benützung eines Schlüſſels zurückzuſchieben war und ſtand alsbald zwiſchen den Staffeleien, an denen während ſeiner Abweſenheit ſeine Schüler unter der Aufſicht eines älteren Gehilfen ge- arbeitet hatten. Was er mit flüchtigem Blicke ſah, war nicht eben erfreulich. Blitz und Hagel! Es war in den meiſten Fällen nicht die teuren Farben und die ehrliche Leinwand wert, was ſie da hingeſudelt hatten. Einige Staffe- leien waren verhängt. Sie zu enthüllen, ſpürte der Meiſter, dem ſchon das bisher Geſchaute die Heimkehrfreude ein wenig ver- gällt hatte, kein übermäßiges Verlangen. Er wollte nur noch ſehen, was ſein Lieb- lingsſchüler Ferdinand gerade in der Arbeit hatte, und ob er in den letzten Monaten auch ſo verludert wäre, wie die anderen. Meiſter Andreas zog den Vorhang zur Seite. Beim Pinſel Rembrandts! Der Burſche konnte malen! Andreas freute ſich und erkannte gern an, wenn ein anderer auch etwas leiſtete. Er bewunderte aufrichtig das ſchöne Bildnis der Frau Antje, das Ferdinand hier nahezu vollendet hatte. Das wellige dunkle Haar legte ſich anmutig um die klare Stirn. Feine Brauen wölbten ſich über den grauen Augen unter den ſchweren Lidern und langen Wimpern. Die Flügel der odel geſchnittenen Naſe ſchienen ſo be- weglich und ausdrucksvoll wie im Leben. Der volle, rote Mund — — ja! Wo hatte der Knabe, der Ferdinand, dieſen Zug um den Mund her, den ein anderer, als Meiſter Andreas gar nicht bemerkt hatte, den ein anderer gar nicht kannte, nicht kennen konnte, den aber Andreas ſelbſt im Ampel- licht des Schlafgemachs oft und nahe genug vor ſich geſehen hate. Aber konnte ihn des- halb wirklich kein anderer kennen? Meiſter Andreas fegte mit einer Hand- bewegung Ferdinands Arbeitskittel, der vor einem Stuhle auf der Staffelei lag, auf den Boden. Er ſetzte ſich und ſtarrte unter buſchigen Brauen eine ganze Weile unver- wandt auf das Gemälde. Dann ſtrich er mit der Hand über ſeine Stirn. Es war alles Einbildung. Antje und der Knabe? Lächer- lich! Dieſer Zug um den Mund bewies rein gar nichts. Der Burſche hatte ſeinen Pinſel ſchlecht ausgewaſchen, oder es war überhaupt nichts dergleichen auf der Leinwand. Der Mund, nach deſſen Küſſen ſich der Meiſter während ſeiner langen Abweſenheit nicht ſelten geſehnt hatte, erſchien ihm jetzt wohl mit dem Ausdrucke, mit dem er ſich ſeine Frau Eheliebſte nun einmal gern vor- ſtellte, wenn er an ſie dachte. Er bat ihr den Verdacht im ſtillen ab, während er auf- ſtand und ſich nach dem Kittel bückte, um ihn wieder über den Stuhl zu werfen. Da blieb auf dem Boden ein Stück Pa- pier liegen, das wohl in einer Taſche des Kittels geſteckt haben mußte. Der Meiſter bückte ſich, hob den Zettel auf und las in Antjes Handſchrift die vier Worte: „Heute abends durchs Borderhaus.“ Hölle, Mord und Tod! Mit geballten Fäuſten ſchritt Andreas ſporenklirrend die Werkſtatt auf und wieder. Hatte er dazu vier Monate lang wie ein Mönch gelebt, damit ihm in ſeinem eigenen Hauſe dieſer Schul- bube Hörner aufſetzte? Und das Weib? Dieſes Weib! Wie hatte er es geliebt! Wie hatte er ſich auf es gefreut! Wie hatte er von ſeiner Heimkehr gefaſelt ſeit Wochen und Wochen! Ihn würgte der Ekel. Er ſtand wieder vor dem Bilde und ſtarrte es an. Er lachte ingrimmig auf, ſein Entſchluß war gefaßt. Er verriegelte die Tür der Werkſtatt von innen. Er löſte das Wehrgehenk. Er warf Degen und Stulpenhandſchuhe zu den Satteltaſchen in die Ecke. Nun entzündete er die ſtarke Lampe, die er bei nächtlicher Arbeit zu gebrauchen pflegte und verſchloß mit den Läden die Fenſter, die er außerdem noch dicht verhängte. Dann griff er zu Pin- ſel und Palette und arbeitete, ohne aufzu- blicken volle 8 Stunden. Dann legte er alles Gerät, deſſen er ſich bedient hatte, wieder an ſeinen Platz, ſo daß die Werkſtatt im vollen Mondlicht lag, und ſetzte ſich, den gezogenen Degen in der Hand, in eine dunkle Ecke nächſt dem Ausgang. Er brauchte nicht lange zu warten, bis er oben am Treppenkopf Türen öffnen und ſchließen hörte. Die Treppenſtufen knarrten leiſe unter behutſam ſchleichenden Schritten, die ſich dann auf den Steinflieſen der Werk- ſtatt in der Richtung nach dem Ausgang bewegten, plötzlich aber innehielten. In der Mitte des monderleuchteten Rau- mes ſtand Ferdinand, der erſtaunt nach ſei- ner Staffelei blickte, die er verhüllt verlaſſen hatte und nun unverhüllt vorfand. Noch mit dem Ausdrucke ſorgloſer Neugier ſchlen- derte er, dabei in immer helleres Mond- licht geratend, auf ſeinen Arbeitsplatz zu, rieb ſich die Augen, ſtürmte ein paar Schritte vor, prallte mit einem unterdrückten Schreckensruf zurück und blieb mit entſetzt aufgeriſſenen Augen, mit vorgeſtreckten Armen und vorgeſpreizten Fingern wie feſt- gebannt ſtehen. Das liebliche Bildnis war grauenhaft ver- ändert. Das Antlitz, das Leben geatmet hatte, war jetzt nichts, als Leichnam und Verweſung. Tiefe Schatten lagen in den Augenhöhlen und um die eingefallene Naſe. Zwiſchen den Lippen war die gequollene Zunge ſichtbar. Der Hals war von Schwer- tes Schärfe durchſchlagen und Klumpen ge- rinnenden Blutes ſpiegelten matt einzelne Teile des abgetrennten Hauptes. Aus dieſem Blute aber wanden ſich, teils aus den Blut- lachen zur Hälfte erſt entſtanden, teils in vollendeter Geſtalt Skorpione und Aſſeln, Molche und anderes ekle Gewürm. Aus den Haaren ſtiegen giftſtrotzende Flammen empor, Vipern und Otterngezücht. Sie umwanden einander mit den Leibern, ſie waren ineinander verknotet und in wilder Wut verbiſſen. All dieſe Höllenbrut bewegte ſich. Ja! Sie bewegte ſich und kroch langſam auf Ferdi- nand zu. Jetzt öffnete auch das bleiche, das tote Antlitz die Augenlider, Ferdinand fin- gerte mit beiden Händen am Halſe. Er verſuchte zu ſchreien, aber nur ein gurgelndes Röcheln brachte er hervor. Mit letzter An- ſtrengung riß er ſich von dem Bilde los und taumelte nach dem Ausgang. Dort aber ſtand Meiſter Andreas, hoch aufgereckt und ſtumm. Mit der Spitze des funkelnden Degens wies er unbarmherzig nach dem Bilde. und Ferdinand mußte ſtehen und der Meduſa ins Antlitz blicken. Er hätte jetzt ſeine Augen auch nicht mehr abwenden können, wenn er des Meiſters Waffe nicht an der Kehle gefühlt hätte. Als am Morgen Frau Antje durch die noch nicht von Schülern bevölkerte Werk- ſtatt ging, hörte ſie aus einer Ecke irres Lallen. Sie ging dem Ton nach und fand Ferdinand, der mit hinaufgezogenen Knien und das Geſicht in die Hände gedrückt auf einem Haufen alten Gerümpels hockte. Als ſie ihn anſprach und an der Schulter faßte, ſprang er auf, ſah ſie mit dem leeren Blicke des Wahnſinnigen an, ſchlug eine gellende Lache auf und rannte aus der Tür. Um dieſelbe Stunde trabte Meiſter. An- dreas auf ſeiner Fuchsſtute aus dem Tore der guten Stadt Leyden. Er ſaß wie ein Kriegsmann im Sattel, ſehnig und hager, ſchnauzbärtig und ſonnverbrannt. — Ein Leſſinghaus der Stadt Kamenz [Abbildung Im Mittelpunkt der Feiern, mit denen die Stadt Kamenz den 200. Geburtstag ihres größten Soh- nes — Leſſings — begangen hat, ſtand die Grundſteinlegung zu einem Leſſinghaus, das die Volks- bibliokhek und das Muſeum auſnehmen wird. Unſer Bild zeigt den von der Stadt zur Ausführung angenommenen Entwurf des Leſſinghauſes.] Eine neue Chaplin-Anekdote Momentan kurſiert eine funkelnagelneue Chaplin Anekdote. Hier iſt ſie: In Portland (Staat Oregon) veranſtaltet der Beſitzer des „Pomtages-Vaudevilles-Circuits“ einen Ball unter der Deviſe „Chaplin-Kopiſten“. Sämtliche Teilnehmer waren verpflichtet, im Koſtüm Chaplins zu erſcheinen. Die beſten Kopien ſollten, war angekündigt wor- den, prämiiert werden. Es war begreiflicherweiſe ein unerhörter Anblick. Lauter Chaplins! Hunderte von Chaplins; Hunderte von ſeinen Schnurr- bärten, ſeinen Melonenhütchen, ſeinen Rie- ſenſchuhen, ſeinen Stöckchen. Und man wußte nicht recht, ob man die Veranſtaltung eher unheimlich als komiſch finden ſollte. Wenn wenigſtens nur das Koſtüm in ſo rieſiger Auflage vorhanden geweſen wäre! Obwohl es natürlich bereits merkwürdig berührte, die extravagante Kleidung des genialen kleinen Mannes als Regiments- uniform zu ſehen ... Aber nun hatte ſich auch noch ein jeder bemüht, das Geſicht Chaplins zu wieder- holen. Jeder Chaplin hatte eine Nummer auf dem Rücken; das einzige, was ſie von- einander unterſchied. Und die Juroren lie- fen mit Notizblöcken und Bleiſtiften in der gleichförmigen Menge umher und verteilten Wertpunkte. Endlich war man ſoweit! Ein Tuſch ver- ſammelte die Teilnehmer, und die Jury ließ verkünden, am ähnlichſten ſähe dem Chaplin die Nummer 27. Die Nummer 27 ſtieg aufs Podium, ließ ſich applaudieren und nannte ihren Namen. Der Herr hieß, wie berichtet wird, Drinkwater. Den zweiten Preis erhielt die Nummer 14; es war ein Miſter Hou- ſton. Den dritten Preis bekam die Num- mer 31. Nummer 31 hieß — Charlie Chaplin. Es war nicht zu ändern: Chaplin befand ſich perſönlich auf dem Ball der Chaplin-Kopi- ſten und erhielt, unerkannterweiſe, die Zu- ſicherung, daß er ſich ſelber am dritt-ähn- lichſten ſähe! Die Herren Drinkwater und Houſton ähnelten ihm mehr als er ſelber. Ich habe dieſe Anekdote, nachdem ich ſie geleſen hatte, verſchiedenen Bekannten er- zählt. Manche haben darüber gelacht. An- dere nicht. Wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf: Ich halte es für angebrachter, über die Anekdote nicht zu lachen. Ich möchte aber niemanden die gute Laune ſtören. Es iſt nur meine unmaßgebliche Meinung. Erich Käſtner. _

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-01-02T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 19, 23. Januar 1929, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine19_1929/11>, abgerufen am 21.11.2024.