Allgemeine Zeitung, Nr. 22, 6. Juni 1920.Allgemeine Zeitung 6. Juni 1920 [Spaltenumbruch] müßte. Die Meinung, daß man südlich des Mains wenn nicht gerade mit Seelenruhe, so doch ohne unmittelbare eigene Gefahr zusehen könnte, wie der deutsche Norden in neuen Revolutionen und Gegenrevolutionen sich zerfleischt, ist ein fundamentaler Jrrtum, der sich an Bayern selbst furchtbar rächen müßte. Aber allerdings hat der deutsche Süden das volle Recht Schicklalstag? Das besondere Kennzeichen der Wahlbewegung, die mit dem Unter diesen Gesichtspunkten kann man den 6. Juni wohl Was die Wahlen selbst anbelangt, so erweist sich die in Nr. 18 Die Prüfung des Abstimmungsergebnisses muß spätestens am [irrelevantes Material]
Allgemeine Zeitung 6. Juni 1920 [Spaltenumbruch] müßte. Die Meinung, daß man ſüdlich des Mains wenn nicht gerade mit Seelenruhe, ſo doch ohne unmittelbare eigene Gefahr zuſehen könnte, wie der deutſche Norden in neuen Revolutionen und Gegenrevolutionen ſich zerfleiſcht, iſt ein fundamentaler Jrrtum, der ſich an Bayern ſelbſt furchtbar rächen müßte. Aber allerdings hat der deutſche Süden das volle Recht Schicklalstag? Das beſondere Kennzeichen der Wahlbewegung, die mit dem Unter dieſen Geſichtspunkten kann man den 6. Juni wohl Was die Wahlen ſelbſt anbelangt, ſo erweiſt ſich die in Nr. 18 Die Prüfung des Abſtimmungsergebniſſes muß ſpäteſtens am [irrelevantes Material]
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Wenn dieſer Ausdruck aber<lb/> vielfach in dem Sinne gebraucht wird, als ob er unter allen<lb/> Umſtänden eine folgenſchwere Wendung in unſerem politiſchen<lb/> Leben bringen würde, ſo halten wir dieſe Prophezeiung nach wie<lb/> vor für durchaus unbegründet. Eine reaktionäre Mehrheit des<lb/> Reichstags erſcheint ebenſo ausgeſchloſſen, wie eine linksradikale,<lb/> d. h. die Regierung wird auch künftighin nur von einer Koalition<lb/> übernommen werden können und nach den Grundſätzen des par-<lb/> lamentariſchen Syſtems von einer ſolchen übernommen werden<lb/> müſſen. Für eine ſolche Koalition kommen aber ſelbſtverſtänd-<lb/> lich in erſter Linie die Mittelparteien, d. h. das Zentrum, die<lb/> Deutſche demokratiſche Partei und die Mehrheitsſozialdemokratie<lb/> in Betracht. Sollten dieſe drei Parteien zur Mehrheitsbildung<lb/> nicht ausreichen, was noch keineswegs feſtſteht, ſo müßten ſie<lb/> von rechts oder links oder auch von rechts und links, d. h. alſo<lb/> von der Deutſchen Dolkspartei oder von den Unabhängigen, ſo-<lb/> gar bzw. von beiden zugleich Derſtärkung ſuchen. Das wird<lb/> natürlich keine leichte Aufgabe ſein, aber unlösbar iſt ſie nicht,<lb/> weil ihre Löſung eine Lebensnotwendigkeit iſt. Alles Notwendige<lb/> iſt möglich und alles Notwendige iſt auch erlaubt, wenn nicht vor<lb/> dem geſchriebenen Geſetz, ſo doch vor dem ungeſchriebenen. Es wird<lb/> ſich alſo nur darum handeln, geſchickte Hände zu finden, die<lb/> nach dem 6. Juni die Konſeguenzen aus dem Wahlergebnis ziehen.<lb/><cb/> Leicht wird das um ſo weniger ſein, als die zur Verfügung<lb/> ſtehende Friſt ſehr knapp vorgeſehen iſt. 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Ungeheuer ſchwierig wird dieſe Aufgabe<lb/> ſein, weil Frankreich auf ſeinen unvermindert ſchroffen Stand-<lb/> punkt beharrt und weil es fraglich iſt, ob Jtalien ſeinen Ein-<lb/> fluß jetzt auch nur in demſelben Maße wird zur Geltung brin-<lb/> gen können, wie in San Remo.</p><lb/> <p>Was die Wahlen ſelbſt anbelangt, ſo erweiſt ſich die in Nr. 18<lb/> der Allgemeinen Zeitung ausgeſprochene Anſicht, das Syſtem der<lb/><hi rendition="#g">Reichs</hi> wahlliſten könne dazu dienen, für einzelne hervor-<lb/> ragende Perſönlichkeiten, die außerhalb der großen Parteien<lb/> ſtehen. die Wahlausſichten zu verbeſſern, als nicht richtig. Man<lb/> kann ſich zwar den Fall denken, daß ſich in allen Wahlkreiſen<lb/> je 50 Wähler befinden, die einen beſtimmten Kandidaten auf-<lb/> ſtellen, und daß dieſer Kandidat, der in keinem Wahlkreis Ausſicht<lb/> hat, gewählt zu werden, zugleich auf einen Reichswahlvorſchlag<lb/> geſtellt würde, zu deſſen Aufſtellung ja 20 Wähler genügen. Es<lb/> iſt aber keine Rede davon, daß die in den einzelnen Wahlkreiſen<lb/> etwa auf ihn entfallenden Stimmen in ihrer Zuſammenfaſſung<lb/> ausreichen könnten, ihm in der Reichswahl ein Mandat zu ver-<lb/> ſchaffen. Denn für die Reichswahlvorſchläge kommen nur <hi rendition="#g">Reſt</hi>-<lb/> ſtimmen im eigentlichen Sinne in Betracht, d. h. Stimmen, die<lb/> übrigbleiben, wenn mindeſtens ein Mann der betreffenden Liſte<lb/> in der Kreiswahl gewählt iſt. Es könnte alſo einem Eigen-<lb/> brötler dieſer Art im ganzen Reiche nicht nur 30,000 + 1<lb/> Stimmen, die ſonſt in dieſer letzten Jnſtanz genügen können, ſon-<lb/> dern volle 60,000 Stimmen erhalten, und er wäre doch nicht ge-<lb/> wählt, weil nach § 32 des Wahlgeſetzes einem Reichswahlvor-<lb/> ſchlage höchſtens die gleiche Zahl von Abgeordnetenſitzen zuge-<lb/> teilt werden kann, die auf die ihm angeſchloſſenen Kreiswahl-<lb/> vorſchläge entfallen ſind. 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Allgemeine Zeitung 6. Juni 1920
müßte. Die Meinung, daß man ſüdlich des Mains wenn
nicht gerade mit Seelenruhe, ſo doch ohne unmittelbare eigene
Gefahr zuſehen könnte, wie der deutſche Norden in neuen
Revolutionen und Gegenrevolutionen ſich zerfleiſcht, iſt ein
fundamentaler Jrrtum, der ſich an Bayern ſelbſt furchtbar
rächen müßte.
Aber allerdings hat der deutſche Süden das volle Recht
und die heilige Pflicht, ſeine warnende Stimme zu erheben,
wenn man in Berlin in der Politik der Kapitulation von
der einſeitigen und noch dazu namenlos kurzſichtigen Jnter-
eſſenpolitik der Arbeiterſchaft immer weiter gehen will, wenn
man insbeſondere verſucht, unſere wirtſchaftlichen Nöte mit
dem völlig untauglichen Mittel phantaſtiſcher Lohnerhöhun-
gen und endloſen Banknotendrucks zu bekämpfen. Denn am
Ende dieſes Weges, man kann es nicht oft genug ſagen, ſteht
der unausbleibliche allgemeine Zuſammenbruch, und
wenn erſt feſtſteht, daß dieſer Zuſammenbruch kommen muß,
dann wird die Selbſterhaltung ſchließlich auch zur Pflicht
der deutſchen Länder.
HD.
Schicklalstag?
Das beſondere Kennzeichen der Wahlbewegung, die mit dem
heutigen Tage ihr Ende findet, ſind die wilden Putſchgerüchte, die
Tag für Tag auftauchen und mit der Geſchwindigkeit der elek-
triſchen Welle von einem Ende Deutſchlands ans andere eilen. Es
iſt überaus charakteriſtiſch, daß die Angſt vor dem Putſch auf der
Linken ebenſo groß zu ſein ſcheint wie auf der Rechten und um-
gekehrt. Wir ſagen „ſcheint“, weil vielleicht Zweifel daran ge-
ſtattet ſind, ob man es überhaupt mit einer wirklichen Angſt zu
tun hat und nicht lediglich mit Wahlmanövern. Jedenfalls ſind
wir feſt überzeugt, daß dieſe Zeilen ins Land gehen werden, ohne
daß es irgendwie zu einem wirklichen Putſche gekommen iſt und
daß auch der große Wahltag ſelbſt in leidlicher Ruhe verlaufen
wird. Jode der extremen Parteien würde es offenbar als ein
großes Riſiko empfinden, wenn ſie ſich unterfangen wollte, die
Wahlen zu ſtören. Eine Zeitlang hörte man allerdings ver-
ſichern, daß man insbeſondere auch in den Kreiſen der Regie-
rungen und der Reichswehr die Gefahr eines Kommuniſten-
Putſches ziemlich ernſt nehme, ſchon weil man befürchte, daß die
Cruppen in der Stimmung, Derfaſſung und Zuſammenſetzung,
wie ſie aus dem Kapp-Putſch hervorgegangen ſind eine erfolg-
reiche Abwehr gegen dieſen Putſch, wenigſtens in den großen
Städten und in den Jnduſtriegebieten, wo ſie ja eigentlich in
Frage kommen kann, nicht verbürgen würden. Umgekehrt hat
man den Teuſel eines neuen reaktionären Putſches mit grellen
Strichen an die Wand gezeichnet, und ſo hat man von beiden
Seiten kräſtig zuſammengewirkt, um die Zerrüttung der poli-
tiſchen Nerven, die ohnedies einen bedauerlichen hohen Grad er-
reicht hat, noch weiter zu ſteigern.
Unter dieſen Geſichtspunkten kann man den 6. Juni wohl
als einen Schickſalstag bezeichnen. Wenn dieſer Ausdruck aber
vielfach in dem Sinne gebraucht wird, als ob er unter allen
Umſtänden eine folgenſchwere Wendung in unſerem politiſchen
Leben bringen würde, ſo halten wir dieſe Prophezeiung nach wie
vor für durchaus unbegründet. Eine reaktionäre Mehrheit des
Reichstags erſcheint ebenſo ausgeſchloſſen, wie eine linksradikale,
d. h. die Regierung wird auch künftighin nur von einer Koalition
übernommen werden können und nach den Grundſätzen des par-
lamentariſchen Syſtems von einer ſolchen übernommen werden
müſſen. Für eine ſolche Koalition kommen aber ſelbſtverſtänd-
lich in erſter Linie die Mittelparteien, d. h. das Zentrum, die
Deutſche demokratiſche Partei und die Mehrheitsſozialdemokratie
in Betracht. Sollten dieſe drei Parteien zur Mehrheitsbildung
nicht ausreichen, was noch keineswegs feſtſteht, ſo müßten ſie
von rechts oder links oder auch von rechts und links, d. h. alſo
von der Deutſchen Dolkspartei oder von den Unabhängigen, ſo-
gar bzw. von beiden zugleich Derſtärkung ſuchen. Das wird
natürlich keine leichte Aufgabe ſein, aber unlösbar iſt ſie nicht,
weil ihre Löſung eine Lebensnotwendigkeit iſt. Alles Notwendige
iſt möglich und alles Notwendige iſt auch erlaubt, wenn nicht vor
dem geſchriebenen Geſetz, ſo doch vor dem ungeſchriebenen. Es wird
ſich alſo nur darum handeln, geſchickte Hände zu finden, die
nach dem 6. Juni die Konſeguenzen aus dem Wahlergebnis ziehen.
Leicht wird das um ſo weniger ſein, als die zur Verfügung
ſtehende Friſt ſehr knapp vorgeſehen iſt. Die Reichsverfaſſung
beſagt allerdings nur, daß ein neugewählter Reichstag ſpäteſtens
30 Tage nach ſeiner Wahl zum erſtenmal zuſammentreten muß;
das wäre alſo am 6. Juli; aber die Konferenz in Spa ſoll, wie
nunmehr endgültig verſichert wird, ſchon am 21. Juni beginnen.
Bis dahin ſollte Deutſchland alſo eine Regierung haben, die Aus-
ſicht hat, mindeſtens den Sommer zu überdauern. Unbedingt
erforderlich iſt es ja nicht, daß die förmliche Neubildung der
Regierung bis zu dieſem Zeitpunkte ſchon vollzogen iſt; wenn
ſich mit einiger Sicherheit annehmen läßt, daß die gegenwärtige
Regierung im großen und ganzen auf das Vertrauen einer
Mehrheit im neuen Reichstag rechnen kann, ſo wird ſie auch die
Männer delegieren können, die mit ſoviel Autorität, wie wir ſie
eben unter den gegenwärtigen verworrenen Verhältniſſen haben
können, an die ungeheuer ſchwierige Aufgabe herantreten, die
ihrer in Spa wartet. Ungeheuer ſchwierig wird dieſe Aufgabe
ſein, weil Frankreich auf ſeinen unvermindert ſchroffen Stand-
punkt beharrt und weil es fraglich iſt, ob Jtalien ſeinen Ein-
fluß jetzt auch nur in demſelben Maße wird zur Geltung brin-
gen können, wie in San Remo.
Was die Wahlen ſelbſt anbelangt, ſo erweiſt ſich die in Nr. 18
der Allgemeinen Zeitung ausgeſprochene Anſicht, das Syſtem der
Reichs wahlliſten könne dazu dienen, für einzelne hervor-
ragende Perſönlichkeiten, die außerhalb der großen Parteien
ſtehen. die Wahlausſichten zu verbeſſern, als nicht richtig. Man
kann ſich zwar den Fall denken, daß ſich in allen Wahlkreiſen
je 50 Wähler befinden, die einen beſtimmten Kandidaten auf-
ſtellen, und daß dieſer Kandidat, der in keinem Wahlkreis Ausſicht
hat, gewählt zu werden, zugleich auf einen Reichswahlvorſchlag
geſtellt würde, zu deſſen Aufſtellung ja 20 Wähler genügen. Es
iſt aber keine Rede davon, daß die in den einzelnen Wahlkreiſen
etwa auf ihn entfallenden Stimmen in ihrer Zuſammenfaſſung
ausreichen könnten, ihm in der Reichswahl ein Mandat zu ver-
ſchaffen. Denn für die Reichswahlvorſchläge kommen nur Reſt-
ſtimmen im eigentlichen Sinne in Betracht, d. h. Stimmen, die
übrigbleiben, wenn mindeſtens ein Mann der betreffenden Liſte
in der Kreiswahl gewählt iſt. Es könnte alſo einem Eigen-
brötler dieſer Art im ganzen Reiche nicht nur 30,000 + 1
Stimmen, die ſonſt in dieſer letzten Jnſtanz genügen können, ſon-
dern volle 60,000 Stimmen erhalten, und er wäre doch nicht ge-
wählt, weil nach § 32 des Wahlgeſetzes einem Reichswahlvor-
ſchlage höchſtens die gleiche Zahl von Abgeordnetenſitzen zuge-
teilt werden kann, die auf die ihm angeſchloſſenen Kreiswahl-
vorſchläge entfallen ſind. Eine Partei, die bei den Kreiswahlen
nicht mindeſtens 60,000 Stimmen aufgebracht hat, kann alſo auch
in der Reichswahl keinen Sitz bekommen, ſondern höchſtens im
Wahlkreisverband, aber auch da nur unter der Vorausſetzung,
daß ſie in einem Einzelwahlkreiſe mindeſtens 30,000 Stimmen
aufgebracht hat. Bekanntlich iſt innerhalb eines Wahlkreisver-
bandes eine Verbindung von Wahlvorſchlägen für den Wahl-
kreisverband möglich. Es kann vorkommen, daß auf einen
Wahlvorſchlag im Einzelkreiſe kein Mandat entfällt, daß da-
gegen in dem zwei bis drei Kreiſe umfaſſenden Wahlkreisverband
die notwendige Zahl von 60,000 Stimmen erreicht wird. Der
Sitz oder es können bei deren den aus drei Wahlkreiſen be-
ſtehenden Wahlkreisverbänden auch zwei ſein, werden dann den
Kreiswahlvorſchlägen nach der Zahl ihrer Reſtſtimmen (und hier
iſt der Ausdruck nun im weiteren Sinne gebraucht) zugeteilt;
nur bleiben dieſe Reſtſtimmen unberückſichtigt, wenn nicht wenig-
ſtens für einen der drei verbundenen Wahlkreisvorſchläge
30,000 Stimmen abgegeben worden ſind.
Die Prüfung des Abſtimmungsergebniſſes muß ſpäteſtens am
Tage nach der Wahl ſtattfinden. Zur Ermittlung des Wahlergeb-
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(2023-04-24T12:00:00Z)
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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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