Allgemeine Zeitung, Nr. 24, 20. Juni 1920.20. Juni 1920 Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
des Radikalismus hineingezogen hatte, zu dämmern be- Das ist als Symptom der Gesundung von der Krank- Ein zweites Hauptmerkmal dieser Wahlen ist die Die starken Linkstendenzen der Demokratie im tuch zwischen sich und dem Bürgertum zerschneiden. Der Daß in der neuen Regierungskoalition, welche der 20. Juni 1920 Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
des Radikalismus hineingezogen hatte, zu dämmern be- Das iſt als Symptom der Geſundung von der Krank- Ein zweites Hauptmerkmal dieſer Wahlen iſt die Die ſtarken Linkstendenzen der Demokratie im tuch zwiſchen ſich und dem Bürgertum zerſchneiden. Der Daß in der neuen Regierungskoalition, welche der <TEI> <text> <body> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div type="jComment" n="2"> <pb facs="#f0005" n="227"/> <fw place="top" type="header">20. Juni 1920 <hi rendition="#b">Allgemeine Zeitung</hi></fw><lb/> <cb/> <p>des Radikalismus hineingezogen hatte, zu dämmern be-<lb/> ginnt. Man hat geſehen, daß der Sozialismus in der<lb/> Zeit ſeines maßgebenden Einfluſſes namentlich im Reiche<lb/> auch nicht in der Lage geweſen iſt, ſeine Verſprechungen<lb/> einzulöſen und wendet ſich von ihm ab.</p><lb/> <p>Das iſt als Symptom der Geſundung von der Krank-<lb/> heit des Radikalismus ſicher aufs freudigſte zu begrüßen.<lb/> Allein es birgt doch auch eine große Gefahr in ſich, über<lb/> die ſich rechtzeitig klar zu werden und der mit entſprechen-<lb/> dem Handeln zu begegnen man im bürgerlichen Lager gut-<lb/> tun wird. Die Abkehr vom Sozialismus geſchieht natür-<lb/> lich in der Hoffnung und Erwartung, daß die anderen, die<lb/> nun ans Ruder treten, es beſſer machen werden. Verſagen<lb/> auch dieſe anderen, vermögen auch ſie keine Ordnung in<lb/> die Wirtſchaft zu bringen, gelingt es ihnen nicht, einiger-<lb/> maßen wenigſtens einen Einklang zwiſchen Preiſen und<lb/> Löhnen herzuſtellen und ſtabilere Verhältniſſe auf dieſem<lb/> Gebiete zu ſchaffen, dann darf man ſich keiner Cäuſchung<lb/> darüber hingeben, daß ſie das Vertrauen des Volkes aufs<lb/> neue verlieren und daß dieſes einen Rückfall in die radikale<lb/> Krankheit erleiden wird, der ſchlimmer als der erſte An-<lb/> fall wäre. Mit Mundſpitzen allein, das nun ſchon zwei<lb/> Jahre lang geübt wurde, iſt es nicht getan, jetzt muß end-<lb/> lich gepfiffen werden. Allen wird die Melodie nicht immer<lb/> erfreulich in den Ohren klingen, aber das Volk muß<lb/> hören, daß man überhaupt eine Melodie hat. Nur unter<lb/> dieſer Vorausſetzung kann der Erfolg, den das Bürgertum<lb/> am 6. Juni in Bayern unſtreitig errungen hat, auch aus-<lb/> gewertet werden, ſonſt müßte er ſich ſehr bald als Schein-<lb/> erfolg erweiſen.</p><lb/> <p>Ein zweites Hauptmerkmal dieſer Wahlen iſt die<lb/><hi rendition="#g">Flucht der Wähler aus der Mitte</hi> und das da-<lb/> durch bedingte <hi rendition="#g">Anſchwellen der extremen Kich-<lb/> tungen auf beiden Seiten.</hi> Dieſe Erſcheinung iſt<lb/> ſonderlich zwei Parteien zum Verhängnis geworden: den<lb/> Demokraten und den Mehrheitsſozialiſten. Bei beiden kann<lb/> man ohne Uebertreibung von einem Zuſammenbruch<lb/> ſprechen. Und wie es meiſt im Leben geht, ſo auch hier:<lb/> der Zuſammenbruch des einen iſt der Aufſtieg des andern.<lb/> Von dem Rieſenverluſt der Mehrheitsſozialiſten bereicherten<lb/> ſich die links davon ſtehenden Geſinnungsgenoſſen der USP.<lb/> und KPD. und die Abwanderung aus der Demokratie hat<lb/> der mehr rechts gerichteten deutſchen Volkspartei, welcher<lb/> die erſte Revolutionswahl faſt zur Vernichtung geworden<lb/> war, zu ungeahnter neuer Blüte verholfen. Aeußerlich tritt<lb/> das zwar nicht deutlich in die Erſcheinung, weil infolge<lb/> des Wahlbündniſſes mit der Mittelpartei die Stimmen der<lb/> deutſchen Volkspartei nicht zu zählen ſind; aber wer die<lb/> innerpolitiſchen Verhältniſſe Bayerns kennt und unvor-<lb/> eingenommen die Dinge betrachtet, weiß, daß es ſo iſt. Es<lb/> iſt ja auch ein ganz natürlicher Vorgang. Die alten<lb/> Nationalliberalen, die in den Stürmen der Revolution<lb/> zur Demokratie ſich geflüchtet hatten, ohne jemals ſo recht<lb/> mit ihrem Herzen in dieſem Lager zu ſein, haben wieder<lb/> heimgefunden.</p><lb/> <p>Die ſtarken Linkstendenzen der <hi rendition="#g">Demokratie</hi> im<lb/> Reiche ſind ihrer Partei in Bayern zum Verderben gewor-<lb/> den. Das kleine Häuflein der bayeriſchen Anhänger dieſer<lb/> Linkstendenzen, deſſen Führer das ſchlimme Wort geprägt<lb/> hatte „Nur Haaresbreite trennt uns von der Sozialdemo-<lb/> kratie“, wird hoffentlich das Menetekel des 6. Juni nicht<lb/> in den Wind ſchlagen und vor allem die eine Lehre daraus<lb/> ziehen, daß Bayern nicht das Reich iſt, d. h., daß die Ver-<lb/> hältniſſe im Reiche nicht ohne weiteres auf Bayern über-<lb/> tragbar ſind. Man ſpricht jetzt davon, daß die bayeriſchen<lb/> Demokraten nun nach ihrem Wahlmißerfolg in den<lb/> Schmollwinkel ſich zurückziehen und aus dieſem heraus der<lb/> weiteren Entwicklung der Dinge zuſchauen wollen. Das<lb/> wäre unſeres Erachtens das Verkehrteſte, was ſie tun könn-<lb/> ten. Zugegeben: die Situation iſt nichts weniger als an-<lb/> genehm für ſie. Sich in grundſätzlicher Oppoſition zur<lb/> ſozialiſtiſchen Einheitsfront zu geſellen und mit Kom-<lb/> muniſten und Unabhängigen in einer Kampflinie zu ſtehen,<lb/> iſt unmöglich. Denn das hieße ein für allemal das Tiſch-</p><lb/> <cb/> <p>tuch zwiſchen ſich und dem Bürgertum zerſchneiden. Der<lb/> Schritt würde auch praktiſch wenig beſagen; denn die<lb/> Demokraten ſind nicht mehr in der Lage, durch den Zuzug<lb/> ihres auf zwölf Köpfe zuſammengeſchmolzenen Fähnleins<lb/> der Sozialdemokratie zu einer Mehrheit zu verhelfen.<lb/> Allein und in vollſtändiger Iſolierung zu bleiben, wäre<lb/> ebenſo ſinnlos, weil es einfach die Selbſtausſchaltung be-<lb/> deutete, die man vor den eigenen Wählern kaum verant-<lb/> worten könnte. Mit der Mittelpartei und der Deutſchen<lb/> Volkspartei zuſammen in einer Koalition zu ſitzen, mag<lb/> nicht leicht fallen, nachdem man ſeinerzeit den Fehler be-<lb/> gangen, die eigene Ceilnahme an der parlamentariſchen<lb/> Koalition für das Miniſterium Kahr von dem Ausſchluß<lb/> der Mittelpartei abhängig zu machen. Aber es iſt beſſer,<lb/> einen Fehler einzugeſtehen, als ihn ein zweites Mal zu be-<lb/> gehen. Es mag den Demokraten auch ſchmerzlich ſein, wenn<lb/> ſie jetzt in der erweiterten bürgerlichen Koalition nicht<lb/> mehr die Rolle wie bisher ſpielen werden. Allein auch das<lb/> kann kein Grund ſein, eine Rolle nun überhaupt nicht<lb/> mehr ſpielen zu wollen. Es iſt die Aufgabe der Demokraten<lb/> und des Bauernbundes, dafür zu ſorgen, daß der Kurs des<lb/> Staatsſchiffes nicht allzuweit nach rechts gelegt wird. Dieſe<lb/> Aufgabe können ſie nur erfüllen, wenn ſie ihre Mitarbeit<lb/> in einer Vereinigung aller bürgerlichen Parteien nicht ver-<lb/> weigern. Von ihren zwei Sitzen, welche ſie bisher im Mini-<lb/> ſterium innegehabt, werden die Demokraten einen wohl an<lb/> die Mittelpartei abgeben müſſen. Unter der Voraus-<lb/> ſetzung, daß das Landwirtſchaftsminiſterium dem Bauern-<lb/> bunde verbleibt, was angenommen werden darf, da die<lb/> Mitwirkung dieſer Partei wohl nur um dieſen Preis zu<lb/> haben iſt, würde ſich die Verteilung der Kabinettsplätze ſo<lb/> regeln, daß die Bayeriſche Volkspartei wie bisher vier be-<lb/> ſetzt, die drei anderen bürgerlichen Parteien je einen,<lb/> Mittelpartei und Deutſche Volkspartei dabei als eine ge-<lb/> rechnet, da die beiden, wie man hört, auch künftig wie bis-<lb/> lang im Landtag als einheitliche Fraktion aufzutreten be-<lb/> abſichtigen. Die Verteilung entſpräche ungefähr der Stärke<lb/> der Fraktionen im Landtag. Wenn die Bayeriſche Volks-<lb/> partei beſonders großmütig ſein wollte, könnte ſie der<lb/> Mittelpartei einen zweiten Miniſterſeſſel von den ihrigen<lb/> vier ablaſſen, ſo daß dann auch die Deutſche Volkspartiei<lb/> Berückſichtigung fände. Das hätte nebenbei auch noch den<lb/> Vorzug, den Zuſtand zu beſeitigen, daß eine einzige Partei<lb/> im Miniſterrat für ſich allein die Mehrheit hat und die<lb/> anderen jederzeit zu überſtimmen vermag.</p><lb/> <p>Daß in der neuen Regierungskoalition, welche der<lb/> Ende Juni oder Anfang Juli zuſammentretende erſte<lb/> ordentliche Landtag der Republik zu bilden haben wird, die<lb/><hi rendition="#g">Mehrheitsſozialiſten</hi> nicht mehr Unterkommen<lb/> ſuchen und finden werden, das darf bereits als ziemlich<lb/> ſicher gelten. Es ſteht heute ſchon ſo gut wie feſt, daß das<lb/><hi rendition="#g">Miniſterium Kahr</hi>, wenn auch mit einigen Verände-<lb/> rungen an ſeinem Platze bleiben wird. Dieſem Mini-<lb/> ſterium und inſonderheit ſeinem Chef haben aber die Mehr-<lb/> heitsſozialiſten wiederholt ihr ſchärfſtes Mißtrauen bekun-<lb/> det, was für beide Ceile ein Zuſammenarbeiten kaum mehr<lb/> geſtattet. Zwar hat die Bayeriſche Volkspartei erklärt,<lb/> daß ſie einer Mitarbeit der Sozialdemokratie kein Hinder-<lb/> nis in den Weg legen wolle. Jndes werden die Mehrheits-<lb/> ſozialiſten noch weniger als ſeinerzeit die Demokraten mit<lb/> den Mittelparteilern und den Deutſchen Volksparteilern<lb/> auf ein und derſelben Regierungsbank ſitzen wollen. Auch<lb/> würden ſie mit ihren 25 Männlein gegenüber der erdrük-<lb/> kenden Uebermacht der Rechtsparteien (64 Bayeriſche Volks-<lb/> partei <hi rendition="#aq">plus</hi> 20 Mittelpartei und Deutſche Volkspartei) nur<lb/> ſehr beſcheidene Bedingungen für ihre Mitwirkung ſtellen<lb/> können. Die Ceilnahme an der Regierungskoalition hatte<lb/> für die Mehrheitsſozialiſten nur ſo lange einen Reiz, als<lb/> ſie ſelbſt ſtark und mächtig waren und dort den Con an-<lb/> geben und wenn auch nicht ihre Endziele völlig durchſetzen,<lb/> ſo doch ihnen den Boden bereiten konnten. Für eine ſolche<lb/> unter dem Deckmantel der Demokratie halb verſteckt, halb<lb/> offen betriebene Vorarbeit für den rein ſozialiſtiſchen<lb/> Staat wäre in einem Miniſterium Kahr auch ein paar</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [227/0005]
20. Juni 1920 Allgemeine Zeitung
des Radikalismus hineingezogen hatte, zu dämmern be-
ginnt. Man hat geſehen, daß der Sozialismus in der
Zeit ſeines maßgebenden Einfluſſes namentlich im Reiche
auch nicht in der Lage geweſen iſt, ſeine Verſprechungen
einzulöſen und wendet ſich von ihm ab.
Das iſt als Symptom der Geſundung von der Krank-
heit des Radikalismus ſicher aufs freudigſte zu begrüßen.
Allein es birgt doch auch eine große Gefahr in ſich, über
die ſich rechtzeitig klar zu werden und der mit entſprechen-
dem Handeln zu begegnen man im bürgerlichen Lager gut-
tun wird. Die Abkehr vom Sozialismus geſchieht natür-
lich in der Hoffnung und Erwartung, daß die anderen, die
nun ans Ruder treten, es beſſer machen werden. Verſagen
auch dieſe anderen, vermögen auch ſie keine Ordnung in
die Wirtſchaft zu bringen, gelingt es ihnen nicht, einiger-
maßen wenigſtens einen Einklang zwiſchen Preiſen und
Löhnen herzuſtellen und ſtabilere Verhältniſſe auf dieſem
Gebiete zu ſchaffen, dann darf man ſich keiner Cäuſchung
darüber hingeben, daß ſie das Vertrauen des Volkes aufs
neue verlieren und daß dieſes einen Rückfall in die radikale
Krankheit erleiden wird, der ſchlimmer als der erſte An-
fall wäre. Mit Mundſpitzen allein, das nun ſchon zwei
Jahre lang geübt wurde, iſt es nicht getan, jetzt muß end-
lich gepfiffen werden. Allen wird die Melodie nicht immer
erfreulich in den Ohren klingen, aber das Volk muß
hören, daß man überhaupt eine Melodie hat. Nur unter
dieſer Vorausſetzung kann der Erfolg, den das Bürgertum
am 6. Juni in Bayern unſtreitig errungen hat, auch aus-
gewertet werden, ſonſt müßte er ſich ſehr bald als Schein-
erfolg erweiſen.
Ein zweites Hauptmerkmal dieſer Wahlen iſt die
Flucht der Wähler aus der Mitte und das da-
durch bedingte Anſchwellen der extremen Kich-
tungen auf beiden Seiten. Dieſe Erſcheinung iſt
ſonderlich zwei Parteien zum Verhängnis geworden: den
Demokraten und den Mehrheitsſozialiſten. Bei beiden kann
man ohne Uebertreibung von einem Zuſammenbruch
ſprechen. Und wie es meiſt im Leben geht, ſo auch hier:
der Zuſammenbruch des einen iſt der Aufſtieg des andern.
Von dem Rieſenverluſt der Mehrheitsſozialiſten bereicherten
ſich die links davon ſtehenden Geſinnungsgenoſſen der USP.
und KPD. und die Abwanderung aus der Demokratie hat
der mehr rechts gerichteten deutſchen Volkspartei, welcher
die erſte Revolutionswahl faſt zur Vernichtung geworden
war, zu ungeahnter neuer Blüte verholfen. Aeußerlich tritt
das zwar nicht deutlich in die Erſcheinung, weil infolge
des Wahlbündniſſes mit der Mittelpartei die Stimmen der
deutſchen Volkspartei nicht zu zählen ſind; aber wer die
innerpolitiſchen Verhältniſſe Bayerns kennt und unvor-
eingenommen die Dinge betrachtet, weiß, daß es ſo iſt. Es
iſt ja auch ein ganz natürlicher Vorgang. Die alten
Nationalliberalen, die in den Stürmen der Revolution
zur Demokratie ſich geflüchtet hatten, ohne jemals ſo recht
mit ihrem Herzen in dieſem Lager zu ſein, haben wieder
heimgefunden.
Die ſtarken Linkstendenzen der Demokratie im
Reiche ſind ihrer Partei in Bayern zum Verderben gewor-
den. Das kleine Häuflein der bayeriſchen Anhänger dieſer
Linkstendenzen, deſſen Führer das ſchlimme Wort geprägt
hatte „Nur Haaresbreite trennt uns von der Sozialdemo-
kratie“, wird hoffentlich das Menetekel des 6. Juni nicht
in den Wind ſchlagen und vor allem die eine Lehre daraus
ziehen, daß Bayern nicht das Reich iſt, d. h., daß die Ver-
hältniſſe im Reiche nicht ohne weiteres auf Bayern über-
tragbar ſind. Man ſpricht jetzt davon, daß die bayeriſchen
Demokraten nun nach ihrem Wahlmißerfolg in den
Schmollwinkel ſich zurückziehen und aus dieſem heraus der
weiteren Entwicklung der Dinge zuſchauen wollen. Das
wäre unſeres Erachtens das Verkehrteſte, was ſie tun könn-
ten. Zugegeben: die Situation iſt nichts weniger als an-
genehm für ſie. Sich in grundſätzlicher Oppoſition zur
ſozialiſtiſchen Einheitsfront zu geſellen und mit Kom-
muniſten und Unabhängigen in einer Kampflinie zu ſtehen,
iſt unmöglich. Denn das hieße ein für allemal das Tiſch-
tuch zwiſchen ſich und dem Bürgertum zerſchneiden. Der
Schritt würde auch praktiſch wenig beſagen; denn die
Demokraten ſind nicht mehr in der Lage, durch den Zuzug
ihres auf zwölf Köpfe zuſammengeſchmolzenen Fähnleins
der Sozialdemokratie zu einer Mehrheit zu verhelfen.
Allein und in vollſtändiger Iſolierung zu bleiben, wäre
ebenſo ſinnlos, weil es einfach die Selbſtausſchaltung be-
deutete, die man vor den eigenen Wählern kaum verant-
worten könnte. Mit der Mittelpartei und der Deutſchen
Volkspartei zuſammen in einer Koalition zu ſitzen, mag
nicht leicht fallen, nachdem man ſeinerzeit den Fehler be-
gangen, die eigene Ceilnahme an der parlamentariſchen
Koalition für das Miniſterium Kahr von dem Ausſchluß
der Mittelpartei abhängig zu machen. Aber es iſt beſſer,
einen Fehler einzugeſtehen, als ihn ein zweites Mal zu be-
gehen. Es mag den Demokraten auch ſchmerzlich ſein, wenn
ſie jetzt in der erweiterten bürgerlichen Koalition nicht
mehr die Rolle wie bisher ſpielen werden. Allein auch das
kann kein Grund ſein, eine Rolle nun überhaupt nicht
mehr ſpielen zu wollen. Es iſt die Aufgabe der Demokraten
und des Bauernbundes, dafür zu ſorgen, daß der Kurs des
Staatsſchiffes nicht allzuweit nach rechts gelegt wird. Dieſe
Aufgabe können ſie nur erfüllen, wenn ſie ihre Mitarbeit
in einer Vereinigung aller bürgerlichen Parteien nicht ver-
weigern. Von ihren zwei Sitzen, welche ſie bisher im Mini-
ſterium innegehabt, werden die Demokraten einen wohl an
die Mittelpartei abgeben müſſen. Unter der Voraus-
ſetzung, daß das Landwirtſchaftsminiſterium dem Bauern-
bunde verbleibt, was angenommen werden darf, da die
Mitwirkung dieſer Partei wohl nur um dieſen Preis zu
haben iſt, würde ſich die Verteilung der Kabinettsplätze ſo
regeln, daß die Bayeriſche Volkspartei wie bisher vier be-
ſetzt, die drei anderen bürgerlichen Parteien je einen,
Mittelpartei und Deutſche Volkspartei dabei als eine ge-
rechnet, da die beiden, wie man hört, auch künftig wie bis-
lang im Landtag als einheitliche Fraktion aufzutreten be-
abſichtigen. Die Verteilung entſpräche ungefähr der Stärke
der Fraktionen im Landtag. Wenn die Bayeriſche Volks-
partei beſonders großmütig ſein wollte, könnte ſie der
Mittelpartei einen zweiten Miniſterſeſſel von den ihrigen
vier ablaſſen, ſo daß dann auch die Deutſche Volkspartiei
Berückſichtigung fände. Das hätte nebenbei auch noch den
Vorzug, den Zuſtand zu beſeitigen, daß eine einzige Partei
im Miniſterrat für ſich allein die Mehrheit hat und die
anderen jederzeit zu überſtimmen vermag.
Daß in der neuen Regierungskoalition, welche der
Ende Juni oder Anfang Juli zuſammentretende erſte
ordentliche Landtag der Republik zu bilden haben wird, die
Mehrheitsſozialiſten nicht mehr Unterkommen
ſuchen und finden werden, das darf bereits als ziemlich
ſicher gelten. Es ſteht heute ſchon ſo gut wie feſt, daß das
Miniſterium Kahr, wenn auch mit einigen Verände-
rungen an ſeinem Platze bleiben wird. Dieſem Mini-
ſterium und inſonderheit ſeinem Chef haben aber die Mehr-
heitsſozialiſten wiederholt ihr ſchärfſtes Mißtrauen bekun-
det, was für beide Ceile ein Zuſammenarbeiten kaum mehr
geſtattet. Zwar hat die Bayeriſche Volkspartei erklärt,
daß ſie einer Mitarbeit der Sozialdemokratie kein Hinder-
nis in den Weg legen wolle. Jndes werden die Mehrheits-
ſozialiſten noch weniger als ſeinerzeit die Demokraten mit
den Mittelparteilern und den Deutſchen Volksparteilern
auf ein und derſelben Regierungsbank ſitzen wollen. Auch
würden ſie mit ihren 25 Männlein gegenüber der erdrük-
kenden Uebermacht der Rechtsparteien (64 Bayeriſche Volks-
partei plus 20 Mittelpartei und Deutſche Volkspartei) nur
ſehr beſcheidene Bedingungen für ihre Mitwirkung ſtellen
können. Die Ceilnahme an der Regierungskoalition hatte
für die Mehrheitsſozialiſten nur ſo lange einen Reiz, als
ſie ſelbſt ſtark und mächtig waren und dort den Con an-
geben und wenn auch nicht ihre Endziele völlig durchſetzen,
ſo doch ihnen den Boden bereiten konnten. Für eine ſolche
unter dem Deckmantel der Demokratie halb verſteckt, halb
offen betriebene Vorarbeit für den rein ſozialiſtiſchen
Staat wäre in einem Miniſterium Kahr auch ein paar
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(2023-04-24T12:00:00Z)
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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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