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Allgemeine Zeitung, Nr. 24, 20. Juni 1920.

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Allgemeine Zeitung 20. Juni 1920
[Spaltenumbruch]

sozialistischen Ministern kaum mehr die Möglichkeit ge-
geben. Dazu hat die innerpolitische Konstellation in Bayern
doch zu sehr sich gewandelt. Herr Hoffmann, der ehemalige
Ministerpräsident, der jetzt wieder in den Dolksschuldienst
zurückgekehrt sein soll, hatte für das Kommen dieser
Wandlung schon vor den Wahlen das richtige Gefühl. Ob
freilich das Mittel, das er gegen den im Geiste von ihm
schon vorausgesehenen "Ruck nach rechts" empfahl, sich
im Ernstfall als probat erweisen würde, steht auf einem
anderen Blatte. Mit dem Gedanken eines politischen
Generalstreikes wird ja auch sonst in Bayern und
namentlich in München in den sozialistischen Kreisen seit
einiger Zeit wieder lebhaft gespielt. Aber es ist bemerkens-
wert, daß selbst die Spartakisten diese in Bayern inzwischen
doch recht zweischneidig gewordene Waffe nur mehr mit
einer an ihnen ganz ungewohnten Dorsicht und Behutsam-
keit anzufassen wagen. Der Arbeiterschaft selbst scheint es
nicht mehr so ganz an dem Derständnis dafür zu fehlen,
daß heute ein politischer Generalstreik, der vielen Unter-
nehmern, die vor der Frage der Arbeiterentlassung und der
Betriebseinschränkung oder gar -einstellung infolge der
allgemeinen Geschäftsstockung stehen, sogar gelegen käme,
vielleicht sie selbst am meisten treffen würde. Mit diesem
Kampfmittel, das als ultima ralio im Hintergzunde ge-
halten, zweifellos lange eine wirksame Drohung war, ist
in den letzten zwei Jahren zu oft aus den nichtigsten An-
lässen gearbeitet worden, als daß es nicht allmählich auch
anfinge, stumpf zu werden. Außerdem steht die Staats-
autorität und stehen der Bürger und Bauer einem General-
streik der Arbeiterschaft heute keineswegs mehr so macht-
und hilflos gegenüber wie vor einem Jahre.

Auch der Selbsterhaltungstrieb gebietet der Mehrheits-
sozialdemokratie, jetzt in der Opposition und in enger
Fühlung mit ihren linksstehenden Genossen zu bleiben. Sie
haben zwar rund 300,000 Wähler verloren, die nicht nach
linkshin Anschluß gesucht haben, sondern unter die Nicht-
wähler gegangen sind. Die hoffnung auf die Wieder-
gewinnung dieser unzuverlässigen Konjektural-Wähler-
Elemente aber zur Grundlage ihrer Politik zu machen,
werden die Mehrheitssozialisten kaum wagen. Sie werden
es um so weniger wagen, als auf der andern Seite mehr
als 300,000 ihrer Wähler zu den Unabhängigen hinüber-
wochselten, weil ihnen die Politik ihrer Partei viel zu ge-
mäßigt war. Das zurückgebliebene, letzte, starke Drittel
des vor einem Jahre noch so stattlichen Parteigebildes ist
ganz unzweifelhaft in der Hauptsache so geartet, daß es
eine den heutigen Derhältnissen und dem Ausfall der Wah-
len entsprechende Regierungspolitik mitzumachen sich strikte
weigern dürfte, daß demnach die Mehrheitssozialdemokratie
als Regierungspartei Gefahr liefe, den letzten Rest ihrer Ge-
folgschaft, soweit er nicht etwa durch staatliche Dersorgung ge-
bunden und interessiert ist, den Unabhängigen in die Arme
zu treiben. Auch so geht ja, wenn nicht alles täuscht, die Ent-
wicklung sichtlich dahin, daß der Sozialismus in der Haupt-
masse seiner Anhänger, wenn auch unter gleichzeitiger nicht
unerheblicher Absplitterung nach links zum reinen Bolsche-
wismus, über kurz oder lang im unabhängigen Lager sich
wieder zusammenfinden wird. Das ist den Führern der
Mehrheitssozialdemokratie ebenfalls längst klar, und so
wohl sie sich auch in den Regierungsklubsesseln gefühlt haben
mögen, sie wissen, daß jetzt die Zeit des Scheidens gekom-
men ist und daß sie sich mit den Anabhängigen in eine Oppo-
sitionsfront stellen müssen, um den Anschluß und die Aus-
sicht nicht zu verpassen, auch im geeinigten Sozialismus
als bekehrte USP.-Paulusse die notwendige Rolle spielen
zu können.

Auch wenn formell eine sozialistische Einheitsfront in
Bayern zunächst nicht hergestellt werden sollte, so wird sie
sich aus dem politischen und parlamentarischen Leben
heraus sehr bald von selbst ergeben. Die Unabhängigen
werden sich nicht beeilen, da sie nur zu warten brauchen,
bis ihnen die reifen Früchte in den Schoß fallen. Auch bür-
gerliche Parteien haben in dem Wettbewerb untereinander
es schon mehr als einmal erfahren, daß in einem solchen

[Spaltenumbruch]

Verschmelzungsprozeß Führer und Sieger immer die Ent-
schlossensten, Rücksichtslosesten und in ihren Versprechungen
Skrupellosesten sind. Nun haben ja die Mehrheitssozialisten
in dieser Hinsicht während der Wahlbewegung einige ganz
hervorragende Proben abgelegt; allein ob sie auf die Dauer
in der Konkurrenz gegen Unabhängige und Kommunisten
den Rekord werden halten können, ist doch zweifelhaft. Es
kommt übrigens auch gar nicht auf den Namen der in
diesem Ringen obsiegenden Partei an, sondern einzig und
allein auf den Radikalismus ihrer Forderungen. Sobald
dieser letztere bei allen sozialistischen Richtungen in einer
ungefähr gleichlaufenden Linie sich bewegt, ist die sozia-
listische Einheitsfront in der Praxis hergestellt. Dem wer-
den auch die zur lieben Gewohnheit gewordenen kleinen
oder größeren häuslichen Zänkereien im sozialistischen
Familienkreise keinen Abbruch tun. Die Unabhängigen
sind der Mandatzahl nach aus der Wahlschlacht in fast
siebenfacher Stärke hervorgegangen, obwohl sie nur unge-
fähr die Hälfte der Stimmen an sich zu ziehen vermochten,
welche die Mehrheitssozialisten insgesamt verloren haben.
Die Unabhängigen selbst haben ihrerseits wieder an die
Kommunisten abgeben müssen, die zwei ihrer Kandidaten
durchzubringen imstande waren. Nun könnten diese wil-
den Männer auf dem verfassungsmäßigen Boden des Par-
lamentes brauchbare praktische Reformarbeit für das von
ihnen vorgeblich so sehr bemitleidete und beklagte, arme
Volk leisten, wenn es ihnen darum zu tun wäre. Sie wer-
den sich aber hüten, und es wird werden, wie es immer
war: So lange die Radikalinskis als unverantwortliche
Demagogen im Lande herumrasen und Leichtgläubige ohne
große Mühe beschwätzen können, erschöpfen sie sich in der
Negierung alles positiv Schaffenden und Aufbauenden und
in utopistischen Phantasien, werden sie aber wirklich einmal
auf den Platz gestellt, wo sie richtig in der Cour tanzen
sollen, dann können sie es nicht, dann versagen sie kläglich
und wissen trotz aller großen Sprüche nicht anzugeben, wie
man's besser macht. Das bayerische Volk hat am 6. Juni
mit seinem Wahlzettel deutlich genug bekundet, daß es keine
Lust hat, noch einmal einen solch verbrecherischen Dersuch
der Umsetzung von Wahnsinnstheorien in die Praxis zu
dulden, wie wir ihn schaudernd vor einem Jahr erlebt haben.

Es wird also aller Voraussicht nach in Bayern zu einer
reinlichen Scheidung in eine bürgerliche
Regierungsmehrheit
und eine sozialistische
Opposition
kommen, deren Zahlenverhältnis zu einan-
der sich mit den Demokraten auf bürgerlicher Seite wie
108:47, ohne die Demokraten wie 96:47 und mit den
Demokraten auf der sozialistischen Oppositionsseite (einen
Fall, den wir nicht als möglich in Betracht ziehen möchten)
wie 96:59 stellen würde. Wie man sieht, gewährt der
Wahlausfall der Bayerischen Volkspartei in der Bildung
von Regierungsmehrheiten geradezu idealen Spielraum,
nachdem die bürgerlichen Parteien zusammen über eine
starke Zweidrittelmehrheit verfügen und der Gesamtsozia-
lismus erheblich unter ein Drittel der Stimmen sowohl wie
der Mandate herabgesunken ist. Man braucht in Bayern
deswegen noch keine übertriebene Sorge zu haben, daß nun
Reaktion und Monarchie schon wieder auf dem Marsche
wären. Dazu ist das bayerische Zentrum viel zu klug und
vorsichtig. Seine führenden Geister pflegen gute Witterung
zu haben für das Mögliche und Nützliche. Und auf ihrer
jüngsten Landesversammlung hat sich die Partei ausdrück-
lich zu dem Grundsatz des Föderalismus ohne Monar-
chie und ohne Gewaltpolitik
bekannt. Die Be-
fürchtungen ängstlicher Gemüter, die schon einen blutigen
Bürgerkrieg voraussehen, wenn man die Mehrheitssozial-
demokratie nicht wieder zur Mitarbeit zu bewegen ver-
möchte, teilen wir nicht. Die sozialistische Presse hat natür-
lich ein lebhaftes Interesse daran, dieses Gespenst dem Bür-
gertum zur Einschüchterung möglichst blutrünstig an die
Wand zu malen. Jedoch, bange machen gilt nicht! Solche
Befürchtungen mögen im Reiche nördlich der Mainlinie viel-
leicht nicht ganz unbegründet sein; bei uns im Süden und
in Bayern ganz besonders sind die Voraussetzungen dafür
glücklicherweise nicht in dem Maße vorhanden, daß sie die

Allgemeine Zeitung 20. Juni 1920
[Spaltenumbruch]

ſozialiſtiſchen Miniſtern kaum mehr die Möglichkeit ge-
geben. Dazu hat die innerpolitiſche Konſtellation in Bayern
doch zu ſehr ſich gewandelt. Herr Hoffmann, der ehemalige
Miniſterpräſident, der jetzt wieder in den Dolksſchuldienſt
zurückgekehrt ſein ſoll, hatte für das Kommen dieſer
Wandlung ſchon vor den Wahlen das richtige Gefühl. Ob
freilich das Mittel, das er gegen den im Geiſte von ihm
ſchon vorausgeſehenen „Ruck nach rechts“ empfahl, ſich
im Ernſtfall als probat erweiſen würde, ſteht auf einem
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Generalſtreikes wird ja auch ſonſt in Bayern und
namentlich in München in den ſozialiſtiſchen Kreiſen ſeit
einiger Zeit wieder lebhaft geſpielt. Aber es iſt bemerkens-
wert, daß ſelbſt die Spartakiſten dieſe in Bayern inzwiſchen
doch recht zweiſchneidig gewordene Waffe nur mehr mit
einer an ihnen ganz ungewohnten Dorſicht und Behutſam-
keit anzufaſſen wagen. Der Arbeiterſchaft ſelbſt ſcheint es
nicht mehr ſo ganz an dem Derſtändnis dafür zu fehlen,
daß heute ein politiſcher Generalſtreik, der vielen Unter-
nehmern, die vor der Frage der Arbeiterentlaſſung und der
Betriebseinſchränkung oder gar -einſtellung infolge der
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vielleicht ſie ſelbſt am meiſten treffen würde. Mit dieſem
Kampfmittel, das als ultima ralio im Hintergzunde ge-
halten, zweifellos lange eine wirkſame Drohung war, iſt
in den letzten zwei Jahren zu oft aus den nichtigſten An-
läſſen gearbeitet worden, als daß es nicht allmählich auch
anfinge, ſtumpf zu werden. Außerdem ſteht die Staats-
autorität und ſtehen der Bürger und Bauer einem General-
ſtreik der Arbeiterſchaft heute keineswegs mehr ſo macht-
und hilflos gegenüber wie vor einem Jahre.

Auch der Selbſterhaltungstrieb gebietet der Mehrheits-
ſozialdemokratie, jetzt in der Oppoſition und in enger
Fühlung mit ihren linksſtehenden Genoſſen zu bleiben. Sie
haben zwar rund 300,000 Wähler verloren, die nicht nach
linkshin Anſchluß geſucht haben, ſondern unter die Nicht-
wähler gegangen ſind. Die hoffnung auf die Wieder-
gewinnung dieſer unzuverläſſigen Konjektural-Wähler-
Elemente aber zur Grundlage ihrer Politik zu machen,
werden die Mehrheitsſozialiſten kaum wagen. Sie werden
es um ſo weniger wagen, als auf der andern Seite mehr
als 300,000 ihrer Wähler zu den Unabhängigen hinüber-
wochſelten, weil ihnen die Politik ihrer Partei viel zu ge-
mäßigt war. Das zurückgebliebene, letzte, ſtarke Drittel
des vor einem Jahre noch ſo ſtattlichen Parteigebildes iſt
ganz unzweifelhaft in der Hauptſache ſo geartet, daß es
eine den heutigen Derhältniſſen und dem Ausfall der Wah-
len entſprechende Regierungspolitik mitzumachen ſich ſtrikte
weigern dürfte, daß demnach die Mehrheitsſozialdemokratie
als Regierungspartei Gefahr liefe, den letzten Reſt ihrer Ge-
folgſchaft, ſoweit er nicht etwa durch ſtaatliche Derſorgung ge-
bunden und intereſſiert iſt, den Unabhängigen in die Arme
zu treiben. Auch ſo geht ja, wenn nicht alles täuſcht, die Ent-
wicklung ſichtlich dahin, daß der Sozialismus in der Haupt-
maſſe ſeiner Anhänger, wenn auch unter gleichzeitiger nicht
unerheblicher Abſplitterung nach links zum reinen Bolſche-
wismus, über kurz oder lang im unabhängigen Lager ſich
wieder zuſammenfinden wird. Das iſt den Führern der
Mehrheitsſozialdemokratie ebenfalls längſt klar, und ſo
wohl ſie ſich auch in den Regierungsklubſeſſeln gefühlt haben
mögen, ſie wiſſen, daß jetzt die Zeit des Scheidens gekom-
men iſt und daß ſie ſich mit den Anabhängigen in eine Oppo-
ſitionsfront ſtellen müſſen, um den Anſchluß und die Aus-
ſicht nicht zu verpaſſen, auch im geeinigten Sozialismus
als bekehrte USP.-Pauluſſe die notwendige Rolle ſpielen
zu können.

Auch wenn formell eine ſozialiſtiſche Einheitsfront in
Bayern zunächſt nicht hergeſtellt werden ſollte, ſo wird ſie
ſich aus dem politiſchen und parlamentariſchen Leben
heraus ſehr bald von ſelbſt ergeben. Die Unabhängigen
werden ſich nicht beeilen, da ſie nur zu warten brauchen,
bis ihnen die reifen Früchte in den Schoß fallen. Auch bür-
gerliche Parteien haben in dem Wettbewerb untereinander
es ſchon mehr als einmal erfahren, daß in einem ſolchen

[Spaltenumbruch]

Verſchmelzungsprozeß Führer und Sieger immer die Ent-
ſchloſſenſten, Rückſichtsloſeſten und in ihren Verſprechungen
Skrupelloſeſten ſind. Nun haben ja die Mehrheitsſozialiſten
in dieſer Hinſicht während der Wahlbewegung einige ganz
hervorragende Proben abgelegt; allein ob ſie auf die Dauer
in der Konkurrenz gegen Unabhängige und Kommuniſten
den Rekord werden halten können, iſt doch zweifelhaft. Es
kommt übrigens auch gar nicht auf den Namen der in
dieſem Ringen obſiegenden Partei an, ſondern einzig und
allein auf den Radikalismus ihrer Forderungen. Sobald
dieſer letztere bei allen ſozialiſtiſchen Richtungen in einer
ungefähr gleichlaufenden Linie ſich bewegt, iſt die ſozia-
liſtiſche Einheitsfront in der Praxis hergeſtellt. Dem wer-
den auch die zur lieben Gewohnheit gewordenen kleinen
oder größeren häuslichen Zänkereien im ſozialiſtiſchen
Familienkreiſe keinen Abbruch tun. Die Unabhängigen
ſind der Mandatzahl nach aus der Wahlſchlacht in faſt
ſiebenfacher Stärke hervorgegangen, obwohl ſie nur unge-
fähr die Hälfte der Stimmen an ſich zu ziehen vermochten,
welche die Mehrheitsſozialiſten insgeſamt verloren haben.
Die Unabhängigen ſelbſt haben ihrerſeits wieder an die
Kommuniſten abgeben müſſen, die zwei ihrer Kandidaten
durchzubringen imſtande waren. Nun könnten dieſe wil-
den Männer auf dem verfaſſungsmäßigen Boden des Par-
lamentes brauchbare praktiſche Reformarbeit für das von
ihnen vorgeblich ſo ſehr bemitleidete und beklagte, arme
Volk leiſten, wenn es ihnen darum zu tun wäre. Sie wer-
den ſich aber hüten, und es wird werden, wie es immer
war: So lange die Radikalinskis als unverantwortliche
Demagogen im Lande herumraſen und Leichtgläubige ohne
große Mühe beſchwätzen können, erſchöpfen ſie ſich in der
Negierung alles poſitiv Schaffenden und Aufbauenden und
in utopiſtiſchen Phantaſien, werden ſie aber wirklich einmal
auf den Platz geſtellt, wo ſie richtig in der Cour tanzen
ſollen, dann können ſie es nicht, dann verſagen ſie kläglich
und wiſſen trotz aller großen Sprüche nicht anzugeben, wie
man’s beſſer macht. Das bayeriſche Volk hat am 6. Juni
mit ſeinem Wahlzettel deutlich genug bekundet, daß es keine
Luſt hat, noch einmal einen ſolch verbrecheriſchen Derſuch
der Umſetzung von Wahnſinnstheorien in die Praxis zu
dulden, wie wir ihn ſchaudernd vor einem Jahr erlebt haben.

Es wird alſo aller Vorausſicht nach in Bayern zu einer
reinlichen Scheidung in eine bürgerliche
Regierungsmehrheit
und eine ſozialiſtiſche
Oppoſition
kommen, deren Zahlenverhältnis zu einan-
der ſich mit den Demokraten auf bürgerlicher Seite wie
108:47, ohne die Demokraten wie 96:47 und mit den
Demokraten auf der ſozialiſtiſchen Oppoſitionsſeite (einen
Fall, den wir nicht als möglich in Betracht ziehen möchten)
wie 96:59 ſtellen würde. Wie man ſieht, gewährt der
Wahlausfall der Bayeriſchen Volkspartei in der Bildung
von Regierungsmehrheiten geradezu idealen Spielraum,
nachdem die bürgerlichen Parteien zuſammen über eine
ſtarke Zweidrittelmehrheit verfügen und der Geſamtſozia-
lismus erheblich unter ein Drittel der Stimmen ſowohl wie
der Mandate herabgeſunken iſt. Man braucht in Bayern
deswegen noch keine übertriebene Sorge zu haben, daß nun
Reaktion und Monarchie ſchon wieder auf dem Marſche
wären. Dazu iſt das bayeriſche Zentrum viel zu klug und
vorſichtig. Seine führenden Geiſter pflegen gute Witterung
zu haben für das Mögliche und Nützliche. Und auf ihrer
jüngſten Landesverſammlung hat ſich die Partei ausdrück-
lich zu dem Grundſatz des Föderalismus ohne Monar-
chie und ohne Gewaltpolitik
bekannt. Die Be-
fürchtungen ängſtlicher Gemüter, die ſchon einen blutigen
Bürgerkrieg vorausſehen, wenn man die Mehrheitsſozial-
demokratie nicht wieder zur Mitarbeit zu bewegen ver-
möchte, teilen wir nicht. Die ſozialiſtiſche Preſſe hat natür-
lich ein lebhaftes Intereſſe daran, dieſes Geſpenſt dem Bür-
gertum zur Einſchüchterung möglichſt blutrünſtig an die
Wand zu malen. Jedoch, bange machen gilt nicht! Solche
Befürchtungen mögen im Reiche nördlich der Mainlinie viel-
leicht nicht ganz unbegründet ſein; bei uns im Süden und
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[228/0006] Allgemeine Zeitung 20. Juni 1920 ſozialiſtiſchen Miniſtern kaum mehr die Möglichkeit ge- geben. Dazu hat die innerpolitiſche Konſtellation in Bayern doch zu ſehr ſich gewandelt. Herr Hoffmann, der ehemalige Miniſterpräſident, der jetzt wieder in den Dolksſchuldienſt zurückgekehrt ſein ſoll, hatte für das Kommen dieſer Wandlung ſchon vor den Wahlen das richtige Gefühl. Ob freilich das Mittel, das er gegen den im Geiſte von ihm ſchon vorausgeſehenen „Ruck nach rechts“ empfahl, ſich im Ernſtfall als probat erweiſen würde, ſteht auf einem anderen Blatte. Mit dem Gedanken eines politiſchen Generalſtreikes wird ja auch ſonſt in Bayern und namentlich in München in den ſozialiſtiſchen Kreiſen ſeit einiger Zeit wieder lebhaft geſpielt. Aber es iſt bemerkens- wert, daß ſelbſt die Spartakiſten dieſe in Bayern inzwiſchen doch recht zweiſchneidig gewordene Waffe nur mehr mit einer an ihnen ganz ungewohnten Dorſicht und Behutſam- keit anzufaſſen wagen. Der Arbeiterſchaft ſelbſt ſcheint es nicht mehr ſo ganz an dem Derſtändnis dafür zu fehlen, daß heute ein politiſcher Generalſtreik, der vielen Unter- nehmern, die vor der Frage der Arbeiterentlaſſung und der Betriebseinſchränkung oder gar -einſtellung infolge der allgemeinen Geſchäftsſtockung ſtehen, ſogar gelegen käme, vielleicht ſie ſelbſt am meiſten treffen würde. Mit dieſem Kampfmittel, das als ultima ralio im Hintergzunde ge- halten, zweifellos lange eine wirkſame Drohung war, iſt in den letzten zwei Jahren zu oft aus den nichtigſten An- läſſen gearbeitet worden, als daß es nicht allmählich auch anfinge, ſtumpf zu werden. Außerdem ſteht die Staats- autorität und ſtehen der Bürger und Bauer einem General- ſtreik der Arbeiterſchaft heute keineswegs mehr ſo macht- und hilflos gegenüber wie vor einem Jahre. Auch der Selbſterhaltungstrieb gebietet der Mehrheits- ſozialdemokratie, jetzt in der Oppoſition und in enger Fühlung mit ihren linksſtehenden Genoſſen zu bleiben. Sie haben zwar rund 300,000 Wähler verloren, die nicht nach linkshin Anſchluß geſucht haben, ſondern unter die Nicht- wähler gegangen ſind. Die hoffnung auf die Wieder- gewinnung dieſer unzuverläſſigen Konjektural-Wähler- Elemente aber zur Grundlage ihrer Politik zu machen, werden die Mehrheitsſozialiſten kaum wagen. Sie werden es um ſo weniger wagen, als auf der andern Seite mehr als 300,000 ihrer Wähler zu den Unabhängigen hinüber- wochſelten, weil ihnen die Politik ihrer Partei viel zu ge- mäßigt war. Das zurückgebliebene, letzte, ſtarke Drittel des vor einem Jahre noch ſo ſtattlichen Parteigebildes iſt ganz unzweifelhaft in der Hauptſache ſo geartet, daß es eine den heutigen Derhältniſſen und dem Ausfall der Wah- len entſprechende Regierungspolitik mitzumachen ſich ſtrikte weigern dürfte, daß demnach die Mehrheitsſozialdemokratie als Regierungspartei Gefahr liefe, den letzten Reſt ihrer Ge- folgſchaft, ſoweit er nicht etwa durch ſtaatliche Derſorgung ge- bunden und intereſſiert iſt, den Unabhängigen in die Arme zu treiben. Auch ſo geht ja, wenn nicht alles täuſcht, die Ent- wicklung ſichtlich dahin, daß der Sozialismus in der Haupt- maſſe ſeiner Anhänger, wenn auch unter gleichzeitiger nicht unerheblicher Abſplitterung nach links zum reinen Bolſche- wismus, über kurz oder lang im unabhängigen Lager ſich wieder zuſammenfinden wird. Das iſt den Führern der Mehrheitsſozialdemokratie ebenfalls längſt klar, und ſo wohl ſie ſich auch in den Regierungsklubſeſſeln gefühlt haben mögen, ſie wiſſen, daß jetzt die Zeit des Scheidens gekom- men iſt und daß ſie ſich mit den Anabhängigen in eine Oppo- ſitionsfront ſtellen müſſen, um den Anſchluß und die Aus- ſicht nicht zu verpaſſen, auch im geeinigten Sozialismus als bekehrte USP.-Pauluſſe die notwendige Rolle ſpielen zu können. Auch wenn formell eine ſozialiſtiſche Einheitsfront in Bayern zunächſt nicht hergeſtellt werden ſollte, ſo wird ſie ſich aus dem politiſchen und parlamentariſchen Leben heraus ſehr bald von ſelbſt ergeben. Die Unabhängigen werden ſich nicht beeilen, da ſie nur zu warten brauchen, bis ihnen die reifen Früchte in den Schoß fallen. Auch bür- gerliche Parteien haben in dem Wettbewerb untereinander es ſchon mehr als einmal erfahren, daß in einem ſolchen Verſchmelzungsprozeß Führer und Sieger immer die Ent- ſchloſſenſten, Rückſichtsloſeſten und in ihren Verſprechungen Skrupelloſeſten ſind. Nun haben ja die Mehrheitsſozialiſten in dieſer Hinſicht während der Wahlbewegung einige ganz hervorragende Proben abgelegt; allein ob ſie auf die Dauer in der Konkurrenz gegen Unabhängige und Kommuniſten den Rekord werden halten können, iſt doch zweifelhaft. Es kommt übrigens auch gar nicht auf den Namen der in dieſem Ringen obſiegenden Partei an, ſondern einzig und allein auf den Radikalismus ihrer Forderungen. Sobald dieſer letztere bei allen ſozialiſtiſchen Richtungen in einer ungefähr gleichlaufenden Linie ſich bewegt, iſt die ſozia- liſtiſche Einheitsfront in der Praxis hergeſtellt. Dem wer- den auch die zur lieben Gewohnheit gewordenen kleinen oder größeren häuslichen Zänkereien im ſozialiſtiſchen Familienkreiſe keinen Abbruch tun. Die Unabhängigen ſind der Mandatzahl nach aus der Wahlſchlacht in faſt ſiebenfacher Stärke hervorgegangen, obwohl ſie nur unge- fähr die Hälfte der Stimmen an ſich zu ziehen vermochten, welche die Mehrheitsſozialiſten insgeſamt verloren haben. Die Unabhängigen ſelbſt haben ihrerſeits wieder an die Kommuniſten abgeben müſſen, die zwei ihrer Kandidaten durchzubringen imſtande waren. Nun könnten dieſe wil- den Männer auf dem verfaſſungsmäßigen Boden des Par- lamentes brauchbare praktiſche Reformarbeit für das von ihnen vorgeblich ſo ſehr bemitleidete und beklagte, arme Volk leiſten, wenn es ihnen darum zu tun wäre. Sie wer- den ſich aber hüten, und es wird werden, wie es immer war: So lange die Radikalinskis als unverantwortliche Demagogen im Lande herumraſen und Leichtgläubige ohne große Mühe beſchwätzen können, erſchöpfen ſie ſich in der Negierung alles poſitiv Schaffenden und Aufbauenden und in utopiſtiſchen Phantaſien, werden ſie aber wirklich einmal auf den Platz geſtellt, wo ſie richtig in der Cour tanzen ſollen, dann können ſie es nicht, dann verſagen ſie kläglich und wiſſen trotz aller großen Sprüche nicht anzugeben, wie man’s beſſer macht. Das bayeriſche Volk hat am 6. Juni mit ſeinem Wahlzettel deutlich genug bekundet, daß es keine Luſt hat, noch einmal einen ſolch verbrecheriſchen Derſuch der Umſetzung von Wahnſinnstheorien in die Praxis zu dulden, wie wir ihn ſchaudernd vor einem Jahr erlebt haben. Es wird alſo aller Vorausſicht nach in Bayern zu einer reinlichen Scheidung in eine bürgerliche Regierungsmehrheit und eine ſozialiſtiſche Oppoſition kommen, deren Zahlenverhältnis zu einan- der ſich mit den Demokraten auf bürgerlicher Seite wie 108:47, ohne die Demokraten wie 96:47 und mit den Demokraten auf der ſozialiſtiſchen Oppoſitionsſeite (einen Fall, den wir nicht als möglich in Betracht ziehen möchten) wie 96:59 ſtellen würde. Wie man ſieht, gewährt der Wahlausfall der Bayeriſchen Volkspartei in der Bildung von Regierungsmehrheiten geradezu idealen Spielraum, nachdem die bürgerlichen Parteien zuſammen über eine ſtarke Zweidrittelmehrheit verfügen und der Geſamtſozia- lismus erheblich unter ein Drittel der Stimmen ſowohl wie der Mandate herabgeſunken iſt. Man braucht in Bayern deswegen noch keine übertriebene Sorge zu haben, daß nun Reaktion und Monarchie ſchon wieder auf dem Marſche wären. Dazu iſt das bayeriſche Zentrum viel zu klug und vorſichtig. Seine führenden Geiſter pflegen gute Witterung zu haben für das Mögliche und Nützliche. Und auf ihrer jüngſten Landesverſammlung hat ſich die Partei ausdrück- lich zu dem Grundſatz des Föderalismus ohne Monar- chie und ohne Gewaltpolitik bekannt. Die Be- fürchtungen ängſtlicher Gemüter, die ſchon einen blutigen Bürgerkrieg vorausſehen, wenn man die Mehrheitsſozial- demokratie nicht wieder zur Mitarbeit zu bewegen ver- möchte, teilen wir nicht. Die ſozialiſtiſche Preſſe hat natür- lich ein lebhaftes Intereſſe daran, dieſes Geſpenſt dem Bür- gertum zur Einſchüchterung möglichſt blutrünſtig an die Wand zu malen. Jedoch, bange machen gilt nicht! Solche Befürchtungen mögen im Reiche nördlich der Mainlinie viel- leicht nicht ganz unbegründet ſein; bei uns im Süden und in Bayern ganz beſonders ſind die Vorausſetzungen dafür glücklicherweiſe nicht in dem Maße vorhanden, daß ſie die

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-04-24T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 24, 20. Juni 1920, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine24_1920/6>, abgerufen am 03.12.2024.