Allgemeine Zeitung, Nr. 31, 1. August 1914.1. August 1914. Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
Wunder, ohne an das Wunder zu glauben, entspringen dieeigentümlichen Gegensätze, welche in der Dichtung eine Aus- gleichung bezwecken. Das Werk erschien 1883. Der Stil desselben ist ein ganz Doch über diese dunkle Seite der Dichtung führt der Ibsens "Peer Gynt" ist den Münchener Theaterfreunden Ja, allerdings kann es etwas Gutes sein, Wahlfreiheit, Ueber den "Peer Gynt" hat sich dessen erster Uebersetzer Man denke sich einen Menschen, der an solchem Ueber- 1. Auguſt 1914. Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
Wunder, ohne an das Wunder zu glauben, entſpringen dieeigentümlichen Gegenſätze, welche in der Dichtung eine Aus- gleichung bezwecken. Das Werk erſchien 1883. Der Stil desſelben iſt ein ganz Doch über dieſe dunkle Seite der Dichtung führt der Ibſens „Peer Gynt“ iſt den Münchener Theaterfreunden Ja, allerdings kann es etwas Gutes ſein, Wahlfreiheit, Ueber den „Peer Gynt“ hat ſich deſſen erſter Ueberſetzer Man denke ſich einen Menſchen, der an ſolchem Ueber- <TEI> <text> <body> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div type="jArticle" n="4"> <p><pb facs="#f0007" n="493"/><fw place="top" type="header">1. Auguſt 1914. <hi rendition="#b">Allgemeine Zeitung</hi></fw><lb/><cb/> Wunder, ohne an das Wunder zu glauben, entſpringen die<lb/> eigentümlichen Gegenſätze, welche in der Dichtung eine Aus-<lb/> gleichung bezwecken.</p><lb/> <p>Das Werk erſchien 1883. Der Stil desſelben iſt ein ganz<lb/> eigentümlich norwegiſcher, oft ſpringend und abſichtlich dunkel.<lb/> Die Ueberſetzung macht den Verſuch, dieſen Charakter wieder-<lb/> zugeben.“</p><lb/> <p>Doch über dieſe dunkle Seite der Dichtung führt der<lb/> menſchliche Gehalt des Werkes weit hinaus. Wie die ge-<lb/> brochene Frau, die als Opfer einer unendlichen Liebe für<lb/> ihren Gatten, den Paſtor Sang, auf dem Krankenlager liegt,<lb/> an dem zweifelt, was er als ſein Lebenswerk und Weſen<lb/> anſieht; wie der rationaliſtiſche Weſenszug eines Weibes aus<lb/> einer Kulturfamilie im Kampfe mit der innigſten Gattenliebe<lb/> liegt, die glauben möchte, das iſt von dem Dichter ganz<lb/> meiſterhaft gezeichnet und wurde von Frau Fehdmer gerade<lb/> meiſterhaft zur Darſtellung gebracht. Und nicht minder groß<lb/> war ſie in der kurzen Szene des zweiten Aktes, da die Gatten-<lb/> liebe, über menſchliche Kraft hinaus, das Wunder vollbringt<lb/> und die Kranke dem Gatten entgegentreibt, in deſſen Armen<lb/> ſie tot zuſammenſinkt und auch den Gatten, deſſen Forderung<lb/> „auch über unſere Kraft ging“, mit ſich zieht. Die Aufführung<lb/> ſolcher Stücke reinigen die Atmoſphäre des Theaters, und der<lb/> Beifall des Publikums erweckt die Hoffnung, daß die Bühne,<lb/> die heutzutage faſt nur vom Gemeinen lebt, doch noch eine<lb/> andere Zukunft habe, als die Mirakel-Leute und andere<lb/> Induſtrielle der Zote und des Bluffs ihr bereiten möchten.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div><lb/> <div type="jArticle" n="4"><lb/> <p>Ibſens „Peer Gynt“ iſt den Münchener Theaterfreunden<lb/> noch von der Aufführung her, die vor einer Reihe von Jahren<lb/> die dramatiſche Geſeſchaft (mit Paul Wiecke und Frau Con-<lb/> rad Ramlo) im Prinzregententheater veranſtaltete, in guter<lb/> Erinnerung. Der Verſuch, das dramatiſche Gedicht für die<lb/> Bühne zu gewinnen, iſt auch ſchon von anderen Theatern<lb/> gemacht worden; aber es wird, trotz der Griegſchen Muſik,<lb/> die man auch in Konzertſälen zu hören bekommt, in Deutſch-<lb/> land ſtets beim Verſuch bleiben. Die Dichtung hat für uns<lb/> inſofern etwas Inkommenſurables, als ſie das norwegiſche<lb/> Werk des Dichters iſt. Von Ibſen ſtammt das Wort, dichten<lb/> ſei ein Selbſtgericht; aber in dieſer Dichtung hat er ſich vor<lb/> allem mit ſeinen Landsleuten auseinanderzuſetzen geſucht und<lb/> daß es dabei nicht ohne allerlei luſtige oder bittere Ratio-<lb/> nalismen abging, liegt auf der Hand und iſt begreiflich. In-<lb/> wiefern aber die Dichtung ein Gericht über die Landsleute<lb/> Ibſens bedeutet, könnte nur ein Norweger entſcheiden, wobei<lb/> noch immer die Tatſache zu erwägen bliebe, daß ein ernſter<lb/> Dichter kein Pamphletiſt iſt. Auf die Dichtung, die 1867 ent-<lb/> ſtand, werfen die Briefe Ibſens manches intereſſante Seiten-<lb/> licht. Am 9. Dezember 1867 ſchreibt er aus Rom an Björnſon:<lb/> „Mein Buch <hi rendition="#g">iſt</hi> Poeſie; und iſt es keine, dann ſoll es Poeſie<lb/> werden. Der Begriff Poeſie wird ſich in unſerem Lande,<lb/> in Norwegen, ſchon dem Buche anpaſſen. Es gibt nichts<lb/> Stabiles in der Welt der Begriffe; die Skandinavier unſeres<lb/> Jahrhunderts ſind keine Griechen. Er (der Kritiker Clemens<lb/> Peterſen) ſagt, der fremde Paſſagier ſei der Begriff der<lb/> „Angſt“. Wenn ich auf der Richtſtatt ſtünde und mein Leben<lb/> mit dieſer Erklärung retten könnte, ſie wäre mir nicht ein-<lb/> gefallen. Ich habe nie daran gedacht; ich habe die Szene<lb/> heruntergeſchmiert als eine Kaprize. Und iſt etwa Peer Gynt<lb/> nicht eine Perſönlichkeit — abgeſchloſſen, individuell. Ich<lb/> weiß, daß er es iſt. Iſt es die Mutter nicht?“ Daß er die<lb/> ſatiriſche Abſicht nicht leugnete, beweiſt, daß er ſich in einem<lb/> weiteren Briefe (vom 28. Dezember) an ſeinen damaligen<lb/> Freund und Rivalen ſich einen „Staatsſatirikus“ nannte, der<lb/> allerdings der Meinung war, „man habe aus dem Buch, auch<lb/> in Dänemark, mehr Satire herausgeleſen, als er beabſichtigt<lb/> hatte.“ „Warum kann man das Buch nicht als ein Gedicht<lb/> leſen? Denn als ein ſolches habe ich es geſchrieben. Die<lb/> ſatiriſchen Parteien ſtehen ziemlich iſoliert. Aber wenn die<lb/> heutigen Norweger, wie es ja den Anſchein hat, in Peer<lb/> Gynts Perſon ſich wiedererkennen werden, ſo mögen es die<lb/> guten Leute ſchließlich mit ſich ſelber abmachen.“ (An den<lb/> Verleger Frederik Hegel, 24. Februar 1868.) Wie der Dich-<lb/> ter als „Staatsſatirikus“ zu dem Staatsproblem ſtand, geht<lb/> aus dem berühmten Briefe an Georg Brandes vom 17. Fe-<lb/><cb/> bruar 1871 hervor. Da ſchreibt er: „Was die Freiheitsfrage<lb/> anbetrifft, ſo beſchränkt ſie ſich, glaube ich, auf einen Streit<lb/> um Worte. Ich werde nie dafür zu haben ſein, die Freiheit<lb/> als gleichbedeutend mit politiſcher Freiheit anzuſehen. Was<lb/> Sie Freiheit nennen, nenne ich Freiheiten! und was ich<lb/> den Kampf für die Freiheit nenne, iſt doch nichts anderes<lb/> als die ſtändige, lebendige Aneignung der Freiheitsidee. Wer<lb/> die Freiheit anders beſitzt als das zu Erſtrebende, der beſitzt<lb/> ſie tot und geiſtlos; denn der Freiheitsbegriff hat ja doch die<lb/> Eigenſchaft, ſich während der Aneignung ſtetig zu erweitern,<lb/> und wenn er deshalb während des Kampfes ſtehen bleibt<lb/> und ſagt: jetzt habe ich ſie! — ſo zeigt er eben dadurch, daß<lb/> er ſie verloren hat; aber gerade dieſe tote Art, einen gewiſſen<lb/> feſtgelegten Freiheitsſtandpunkt zu haben, iſt etwas für die<lb/><hi rendition="#g">Staatsverbände</hi> Charakteriſtiſches; und eben das habe<lb/> ich gemeint, als ich ſagte, es ſei nichts Gutes.</p><lb/> <p>Ja, allerdings kann es etwas Gutes ſein, Wahlfreiheit,<lb/> Steuerfreiheit uſw. zu beſitzen; aber für wen iſt das gut?<lb/> Für den Bürger, nicht für das Individuum. Es liegt aber<lb/> für das Individuum abſolut keine Notwendigkeit vor, Bürger<lb/> zu ſein. Im Gegenteil. Der Staat iſt der Fluch des Indi-<lb/> viduums. Womit iſt Preußens Stärke als Staat erkauft?<lb/> Mit dem Aufgehen des Individuums in den politiſchen und<lb/> geographiſchen Begriff. Der Kellner iſt der beſte Soldat.<lb/> Und auf der andern Seite das Volk der Juden, der Adel<lb/> des Menſchengeſchlechts. Wodurch hat es ſich in Abſonde-<lb/> rung, in Poeſie erhalten? Trotz aller Roheit von außen?<lb/> Dadurch, daß es ſich nicht mit einem Staat herumzuſchleppen<lb/> brauchte. Wäre es in Paläſtina geblieben, ſo wäre es ſchon<lb/> längſt in ſeiner Konſtitution untergegangen, wie alle anderen<lb/> Völker. Der Staat muß weg! Bei <hi rendition="#g">der</hi> Revolution tu ich<lb/> auch mit! Untergrabt den Staatsbegriff, ſtellt die Freiheit<lb/> und das geiſtig Verwandte als das für ein Bündnis einzig<lb/> Entſcheidende auf, das iſt der Anfang einer Freiheit, die<lb/> etwas wert iſt. Ein Wechſel der Regierungsformen iſt weiter<lb/> nichts als eine Puſſelei mit Graden — ein bißchen mehr<lb/> oder ein bißchen weniger Torheit, als alles zuſammen.<lb/> Ja, lieber Freund, es gilt bloß, ſich von der Ehrwürdigkeit<lb/> des Beſitzes nicht ſchrecken zu laſſen! Der Staat hat ſeine<lb/> Wurzel in der Zeit; er wird ſeinen Gipfel in der Zeit haben.<lb/> Es werden größere Dinge fallen als er, alle Religion wird<lb/> fallen. Weder die Moralbegriffe noch die Kunſtformen haben<lb/> eine Ewigkeit für ſich. Wie vielem gegenüber haben wir im<lb/> Grunde die Verpflichtung, es zu konſervieren? Wer bürgt<lb/> mir dafür, daß zwei plus zwei nicht fünf ſind auf dem Jupiter<lb/> oben?“ Dieſer Erguß, deſſen Gehalt hiſtoriſch bedingt iſt,<lb/> iſt nur bezeichnend für die Weltanſchauung, mit der Ibſen<lb/> noch dem Siebziger Kriege ſeine Kritik der modernen Geſell-<lb/> ſchaft in ſeinen modernen Dramen antrat, die noch in ſeinem<lb/> Epilog „Wenn wir Toten erwachen“ das Bekenntnis eines<lb/> Individualiſten brachte.</p><lb/> <p>Ueber den „Peer Gynt“ hat ſich deſſen erſter Ueberſetzer<lb/> L. Paſſarge in einem kleinen Vorwort zu der erſten Auflage<lb/> (1881 bei Reclam) in einer Weiſe ausgeſprochen, die wenig-<lb/> ſtens die wichtigſten Züge der Dichtung andeutet: „Die<lb/> große Frage nach der Stellung des einzelnen Menſchen im<lb/> Leben, nach ſeinem Verhältnis zum Ewigen und Menſchlichen<lb/> iſt poetiſch zuerſt aufgeworfen und beantwortet von keinem<lb/> Geringeren als Dante. Das Altertum kannte ſie nicht.<lb/> Immer ſchwieriger iſt die Beantwortung geworden, ſeitdem<lb/> die Reformation die Freiheit des Geiſtes, die franzöſiſche<lb/> Revolution die Freiheit des Handels verkündet hat. Dieſe<lb/> Freiheit bringt eine ſtark ausgeprägte ſelbſtändige Natur not-<lb/> wendig in Konflikte mit der Geſellſchaft, welche auf die Unter-<lb/> ordnung des Einzelwillens gegründet iſt. So gibt es zahl-<lb/> loſe Gegenſätze, die nach einer Ausgleichung ringen; denn ſie<lb/> ſind überall da, wo das Maßloſe oder auch nur die Forde-<lb/> rung der Natur ſich mit dem Anſpruche auf Berechtigung der<lb/> Geſellſchaft gegenüberſtellt. Im „Peer Gynt“ lautet das<lb/> Problem ſo: Wie wirkt ein Uebermaß der Phantaſie, wenn<lb/> es ſich nicht, wie beim Dichter und Künſtler, produktiv zu<lb/> entladen vermag, ſondern den Menſchen in ſeinem rein<lb/> menſchlichen Empfinden und Handeln beeinflußt?</p><lb/> <p>Man denke ſich einen Menſchen, der an ſolchem Ueber-<lb/> maß der Phantaſie leidet, ererbt von einer geiſtig unberechen-<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [493/0007]
1. Auguſt 1914. Allgemeine Zeitung
Wunder, ohne an das Wunder zu glauben, entſpringen die
eigentümlichen Gegenſätze, welche in der Dichtung eine Aus-
gleichung bezwecken.
Das Werk erſchien 1883. Der Stil desſelben iſt ein ganz
eigentümlich norwegiſcher, oft ſpringend und abſichtlich dunkel.
Die Ueberſetzung macht den Verſuch, dieſen Charakter wieder-
zugeben.“
Doch über dieſe dunkle Seite der Dichtung führt der
menſchliche Gehalt des Werkes weit hinaus. Wie die ge-
brochene Frau, die als Opfer einer unendlichen Liebe für
ihren Gatten, den Paſtor Sang, auf dem Krankenlager liegt,
an dem zweifelt, was er als ſein Lebenswerk und Weſen
anſieht; wie der rationaliſtiſche Weſenszug eines Weibes aus
einer Kulturfamilie im Kampfe mit der innigſten Gattenliebe
liegt, die glauben möchte, das iſt von dem Dichter ganz
meiſterhaft gezeichnet und wurde von Frau Fehdmer gerade
meiſterhaft zur Darſtellung gebracht. Und nicht minder groß
war ſie in der kurzen Szene des zweiten Aktes, da die Gatten-
liebe, über menſchliche Kraft hinaus, das Wunder vollbringt
und die Kranke dem Gatten entgegentreibt, in deſſen Armen
ſie tot zuſammenſinkt und auch den Gatten, deſſen Forderung
„auch über unſere Kraft ging“, mit ſich zieht. Die Aufführung
ſolcher Stücke reinigen die Atmoſphäre des Theaters, und der
Beifall des Publikums erweckt die Hoffnung, daß die Bühne,
die heutzutage faſt nur vom Gemeinen lebt, doch noch eine
andere Zukunft habe, als die Mirakel-Leute und andere
Induſtrielle der Zote und des Bluffs ihr bereiten möchten.
Ibſens „Peer Gynt“ iſt den Münchener Theaterfreunden
noch von der Aufführung her, die vor einer Reihe von Jahren
die dramatiſche Geſeſchaft (mit Paul Wiecke und Frau Con-
rad Ramlo) im Prinzregententheater veranſtaltete, in guter
Erinnerung. Der Verſuch, das dramatiſche Gedicht für die
Bühne zu gewinnen, iſt auch ſchon von anderen Theatern
gemacht worden; aber es wird, trotz der Griegſchen Muſik,
die man auch in Konzertſälen zu hören bekommt, in Deutſch-
land ſtets beim Verſuch bleiben. Die Dichtung hat für uns
inſofern etwas Inkommenſurables, als ſie das norwegiſche
Werk des Dichters iſt. Von Ibſen ſtammt das Wort, dichten
ſei ein Selbſtgericht; aber in dieſer Dichtung hat er ſich vor
allem mit ſeinen Landsleuten auseinanderzuſetzen geſucht und
daß es dabei nicht ohne allerlei luſtige oder bittere Ratio-
nalismen abging, liegt auf der Hand und iſt begreiflich. In-
wiefern aber die Dichtung ein Gericht über die Landsleute
Ibſens bedeutet, könnte nur ein Norweger entſcheiden, wobei
noch immer die Tatſache zu erwägen bliebe, daß ein ernſter
Dichter kein Pamphletiſt iſt. Auf die Dichtung, die 1867 ent-
ſtand, werfen die Briefe Ibſens manches intereſſante Seiten-
licht. Am 9. Dezember 1867 ſchreibt er aus Rom an Björnſon:
„Mein Buch iſt Poeſie; und iſt es keine, dann ſoll es Poeſie
werden. Der Begriff Poeſie wird ſich in unſerem Lande,
in Norwegen, ſchon dem Buche anpaſſen. Es gibt nichts
Stabiles in der Welt der Begriffe; die Skandinavier unſeres
Jahrhunderts ſind keine Griechen. Er (der Kritiker Clemens
Peterſen) ſagt, der fremde Paſſagier ſei der Begriff der
„Angſt“. Wenn ich auf der Richtſtatt ſtünde und mein Leben
mit dieſer Erklärung retten könnte, ſie wäre mir nicht ein-
gefallen. Ich habe nie daran gedacht; ich habe die Szene
heruntergeſchmiert als eine Kaprize. Und iſt etwa Peer Gynt
nicht eine Perſönlichkeit — abgeſchloſſen, individuell. Ich
weiß, daß er es iſt. Iſt es die Mutter nicht?“ Daß er die
ſatiriſche Abſicht nicht leugnete, beweiſt, daß er ſich in einem
weiteren Briefe (vom 28. Dezember) an ſeinen damaligen
Freund und Rivalen ſich einen „Staatsſatirikus“ nannte, der
allerdings der Meinung war, „man habe aus dem Buch, auch
in Dänemark, mehr Satire herausgeleſen, als er beabſichtigt
hatte.“ „Warum kann man das Buch nicht als ein Gedicht
leſen? Denn als ein ſolches habe ich es geſchrieben. Die
ſatiriſchen Parteien ſtehen ziemlich iſoliert. Aber wenn die
heutigen Norweger, wie es ja den Anſchein hat, in Peer
Gynts Perſon ſich wiedererkennen werden, ſo mögen es die
guten Leute ſchließlich mit ſich ſelber abmachen.“ (An den
Verleger Frederik Hegel, 24. Februar 1868.) Wie der Dich-
ter als „Staatsſatirikus“ zu dem Staatsproblem ſtand, geht
aus dem berühmten Briefe an Georg Brandes vom 17. Fe-
bruar 1871 hervor. Da ſchreibt er: „Was die Freiheitsfrage
anbetrifft, ſo beſchränkt ſie ſich, glaube ich, auf einen Streit
um Worte. Ich werde nie dafür zu haben ſein, die Freiheit
als gleichbedeutend mit politiſcher Freiheit anzuſehen. Was
Sie Freiheit nennen, nenne ich Freiheiten! und was ich
den Kampf für die Freiheit nenne, iſt doch nichts anderes
als die ſtändige, lebendige Aneignung der Freiheitsidee. Wer
die Freiheit anders beſitzt als das zu Erſtrebende, der beſitzt
ſie tot und geiſtlos; denn der Freiheitsbegriff hat ja doch die
Eigenſchaft, ſich während der Aneignung ſtetig zu erweitern,
und wenn er deshalb während des Kampfes ſtehen bleibt
und ſagt: jetzt habe ich ſie! — ſo zeigt er eben dadurch, daß
er ſie verloren hat; aber gerade dieſe tote Art, einen gewiſſen
feſtgelegten Freiheitsſtandpunkt zu haben, iſt etwas für die
Staatsverbände Charakteriſtiſches; und eben das habe
ich gemeint, als ich ſagte, es ſei nichts Gutes.
Ja, allerdings kann es etwas Gutes ſein, Wahlfreiheit,
Steuerfreiheit uſw. zu beſitzen; aber für wen iſt das gut?
Für den Bürger, nicht für das Individuum. Es liegt aber
für das Individuum abſolut keine Notwendigkeit vor, Bürger
zu ſein. Im Gegenteil. Der Staat iſt der Fluch des Indi-
viduums. Womit iſt Preußens Stärke als Staat erkauft?
Mit dem Aufgehen des Individuums in den politiſchen und
geographiſchen Begriff. Der Kellner iſt der beſte Soldat.
Und auf der andern Seite das Volk der Juden, der Adel
des Menſchengeſchlechts. Wodurch hat es ſich in Abſonde-
rung, in Poeſie erhalten? Trotz aller Roheit von außen?
Dadurch, daß es ſich nicht mit einem Staat herumzuſchleppen
brauchte. Wäre es in Paläſtina geblieben, ſo wäre es ſchon
längſt in ſeiner Konſtitution untergegangen, wie alle anderen
Völker. Der Staat muß weg! Bei der Revolution tu ich
auch mit! Untergrabt den Staatsbegriff, ſtellt die Freiheit
und das geiſtig Verwandte als das für ein Bündnis einzig
Entſcheidende auf, das iſt der Anfang einer Freiheit, die
etwas wert iſt. Ein Wechſel der Regierungsformen iſt weiter
nichts als eine Puſſelei mit Graden — ein bißchen mehr
oder ein bißchen weniger Torheit, als alles zuſammen.
Ja, lieber Freund, es gilt bloß, ſich von der Ehrwürdigkeit
des Beſitzes nicht ſchrecken zu laſſen! Der Staat hat ſeine
Wurzel in der Zeit; er wird ſeinen Gipfel in der Zeit haben.
Es werden größere Dinge fallen als er, alle Religion wird
fallen. Weder die Moralbegriffe noch die Kunſtformen haben
eine Ewigkeit für ſich. Wie vielem gegenüber haben wir im
Grunde die Verpflichtung, es zu konſervieren? Wer bürgt
mir dafür, daß zwei plus zwei nicht fünf ſind auf dem Jupiter
oben?“ Dieſer Erguß, deſſen Gehalt hiſtoriſch bedingt iſt,
iſt nur bezeichnend für die Weltanſchauung, mit der Ibſen
noch dem Siebziger Kriege ſeine Kritik der modernen Geſell-
ſchaft in ſeinen modernen Dramen antrat, die noch in ſeinem
Epilog „Wenn wir Toten erwachen“ das Bekenntnis eines
Individualiſten brachte.
Ueber den „Peer Gynt“ hat ſich deſſen erſter Ueberſetzer
L. Paſſarge in einem kleinen Vorwort zu der erſten Auflage
(1881 bei Reclam) in einer Weiſe ausgeſprochen, die wenig-
ſtens die wichtigſten Züge der Dichtung andeutet: „Die
große Frage nach der Stellung des einzelnen Menſchen im
Leben, nach ſeinem Verhältnis zum Ewigen und Menſchlichen
iſt poetiſch zuerſt aufgeworfen und beantwortet von keinem
Geringeren als Dante. Das Altertum kannte ſie nicht.
Immer ſchwieriger iſt die Beantwortung geworden, ſeitdem
die Reformation die Freiheit des Geiſtes, die franzöſiſche
Revolution die Freiheit des Handels verkündet hat. Dieſe
Freiheit bringt eine ſtark ausgeprägte ſelbſtändige Natur not-
wendig in Konflikte mit der Geſellſchaft, welche auf die Unter-
ordnung des Einzelwillens gegründet iſt. So gibt es zahl-
loſe Gegenſätze, die nach einer Ausgleichung ringen; denn ſie
ſind überall da, wo das Maßloſe oder auch nur die Forde-
rung der Natur ſich mit dem Anſpruche auf Berechtigung der
Geſellſchaft gegenüberſtellt. Im „Peer Gynt“ lautet das
Problem ſo: Wie wirkt ein Uebermaß der Phantaſie, wenn
es ſich nicht, wie beim Dichter und Künſtler, produktiv zu
entladen vermag, ſondern den Menſchen in ſeinem rein
menſchlichen Empfinden und Handeln beeinflußt?
Man denke ſich einen Menſchen, der an ſolchem Ueber-
maß der Phantaſie leidet, ererbt von einer geiſtig unberechen-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Christopher Georgi, Susanne Haaf, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |