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Allgemeine Zeitung, Nr. 31, 1. August 1914.

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1. August 1914. Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch] Wunder, ohne an das Wunder zu glauben, entspringen die
eigentümlichen Gegensätze, welche in der Dichtung eine Aus-
gleichung bezwecken.

Das Werk erschien 1883. Der Stil desselben ist ein ganz
eigentümlich norwegischer, oft springend und absichtlich dunkel.
Die Uebersetzung macht den Versuch, diesen Charakter wieder-
zugeben."

Doch über diese dunkle Seite der Dichtung führt der
menschliche Gehalt des Werkes weit hinaus. Wie die ge-
brochene Frau, die als Opfer einer unendlichen Liebe für
ihren Gatten, den Pastor Sang, auf dem Krankenlager liegt,
an dem zweifelt, was er als sein Lebenswerk und Wesen
ansieht; wie der rationalistische Wesenszug eines Weibes aus
einer Kulturfamilie im Kampfe mit der innigsten Gattenliebe
liegt, die glauben möchte, das ist von dem Dichter ganz
meisterhaft gezeichnet und wurde von Frau Fehdmer gerade
meisterhaft zur Darstellung gebracht. Und nicht minder groß
war sie in der kurzen Szene des zweiten Aktes, da die Gatten-
liebe, über menschliche Kraft hinaus, das Wunder vollbringt
und die Kranke dem Gatten entgegentreibt, in dessen Armen
sie tot zusammensinkt und auch den Gatten, dessen Forderung
"auch über unsere Kraft ging", mit sich zieht. Die Aufführung
solcher Stücke reinigen die Atmosphäre des Theaters, und der
Beifall des Publikums erweckt die Hoffnung, daß die Bühne,
die heutzutage fast nur vom Gemeinen lebt, doch noch eine
andere Zukunft habe, als die Mirakel-Leute und andere
Industrielle der Zote und des Bluffs ihr bereiten möchten.



Ibsens "Peer Gynt" ist den Münchener Theaterfreunden
noch von der Aufführung her, die vor einer Reihe von Jahren
die dramatische Geseschaft (mit Paul Wiecke und Frau Con-
rad Ramlo) im Prinzregententheater veranstaltete, in guter
Erinnerung. Der Versuch, das dramatische Gedicht für die
Bühne zu gewinnen, ist auch schon von anderen Theatern
gemacht worden; aber es wird, trotz der Griegschen Musik,
die man auch in Konzertsälen zu hören bekommt, in Deutsch-
land stets beim Versuch bleiben. Die Dichtung hat für uns
insofern etwas Inkommensurables, als sie das norwegische
Werk des Dichters ist. Von Ibsen stammt das Wort, dichten
sei ein Selbstgericht; aber in dieser Dichtung hat er sich vor
allem mit seinen Landsleuten auseinanderzusetzen gesucht und
daß es dabei nicht ohne allerlei lustige oder bittere Ratio-
nalismen abging, liegt auf der Hand und ist begreiflich. In-
wiefern aber die Dichtung ein Gericht über die Landsleute
Ibsens bedeutet, könnte nur ein Norweger entscheiden, wobei
noch immer die Tatsache zu erwägen bliebe, daß ein ernster
Dichter kein Pamphletist ist. Auf die Dichtung, die 1867 ent-
stand, werfen die Briefe Ibsens manches interessante Seiten-
licht. Am 9. Dezember 1867 schreibt er aus Rom an Björnson:
"Mein Buch ist Poesie; und ist es keine, dann soll es Poesie
werden. Der Begriff Poesie wird sich in unserem Lande,
in Norwegen, schon dem Buche anpassen. Es gibt nichts
Stabiles in der Welt der Begriffe; die Skandinavier unseres
Jahrhunderts sind keine Griechen. Er (der Kritiker Clemens
Petersen) sagt, der fremde Passagier sei der Begriff der
"Angst". Wenn ich auf der Richtstatt stünde und mein Leben
mit dieser Erklärung retten könnte, sie wäre mir nicht ein-
gefallen. Ich habe nie daran gedacht; ich habe die Szene
heruntergeschmiert als eine Kaprize. Und ist etwa Peer Gynt
nicht eine Persönlichkeit -- abgeschlossen, individuell. Ich
weiß, daß er es ist. Ist es die Mutter nicht?" Daß er die
satirische Absicht nicht leugnete, beweist, daß er sich in einem
weiteren Briefe (vom 28. Dezember) an seinen damaligen
Freund und Rivalen sich einen "Staatssatirikus" nannte, der
allerdings der Meinung war, "man habe aus dem Buch, auch
in Dänemark, mehr Satire herausgelesen, als er beabsichtigt
hatte." "Warum kann man das Buch nicht als ein Gedicht
lesen? Denn als ein solches habe ich es geschrieben. Die
satirischen Parteien stehen ziemlich isoliert. Aber wenn die
heutigen Norweger, wie es ja den Anschein hat, in Peer
Gynts Person sich wiedererkennen werden, so mögen es die
guten Leute schließlich mit sich selber abmachen." (An den
Verleger Frederik Hegel, 24. Februar 1868.) Wie der Dich-
ter als "Staatssatirikus" zu dem Staatsproblem stand, geht
aus dem berühmten Briefe an Georg Brandes vom 17. Fe-
[Spaltenumbruch] bruar 1871 hervor. Da schreibt er: "Was die Freiheitsfrage
anbetrifft, so beschränkt sie sich, glaube ich, auf einen Streit
um Worte. Ich werde nie dafür zu haben sein, die Freiheit
als gleichbedeutend mit politischer Freiheit anzusehen. Was
Sie Freiheit nennen, nenne ich Freiheiten! und was ich
den Kampf für die Freiheit nenne, ist doch nichts anderes
als die ständige, lebendige Aneignung der Freiheitsidee. Wer
die Freiheit anders besitzt als das zu Erstrebende, der besitzt
sie tot und geistlos; denn der Freiheitsbegriff hat ja doch die
Eigenschaft, sich während der Aneignung stetig zu erweitern,
und wenn er deshalb während des Kampfes stehen bleibt
und sagt: jetzt habe ich sie! -- so zeigt er eben dadurch, daß
er sie verloren hat; aber gerade diese tote Art, einen gewissen
festgelegten Freiheitsstandpunkt zu haben, ist etwas für die
Staatsverbände Charakteristisches; und eben das habe
ich gemeint, als ich sagte, es sei nichts Gutes.

Ja, allerdings kann es etwas Gutes sein, Wahlfreiheit,
Steuerfreiheit usw. zu besitzen; aber für wen ist das gut?
Für den Bürger, nicht für das Individuum. Es liegt aber
für das Individuum absolut keine Notwendigkeit vor, Bürger
zu sein. Im Gegenteil. Der Staat ist der Fluch des Indi-
viduums. Womit ist Preußens Stärke als Staat erkauft?
Mit dem Aufgehen des Individuums in den politischen und
geographischen Begriff. Der Kellner ist der beste Soldat.
Und auf der andern Seite das Volk der Juden, der Adel
des Menschengeschlechts. Wodurch hat es sich in Absonde-
rung, in Poesie erhalten? Trotz aller Roheit von außen?
Dadurch, daß es sich nicht mit einem Staat herumzuschleppen
brauchte. Wäre es in Palästina geblieben, so wäre es schon
längst in seiner Konstitution untergegangen, wie alle anderen
Völker. Der Staat muß weg! Bei der Revolution tu ich
auch mit! Untergrabt den Staatsbegriff, stellt die Freiheit
und das geistig Verwandte als das für ein Bündnis einzig
Entscheidende auf, das ist der Anfang einer Freiheit, die
etwas wert ist. Ein Wechsel der Regierungsformen ist weiter
nichts als eine Pusselei mit Graden -- ein bißchen mehr
oder ein bißchen weniger Torheit, als alles zusammen.
Ja, lieber Freund, es gilt bloß, sich von der Ehrwürdigkeit
des Besitzes nicht schrecken zu lassen! Der Staat hat seine
Wurzel in der Zeit; er wird seinen Gipfel in der Zeit haben.
Es werden größere Dinge fallen als er, alle Religion wird
fallen. Weder die Moralbegriffe noch die Kunstformen haben
eine Ewigkeit für sich. Wie vielem gegenüber haben wir im
Grunde die Verpflichtung, es zu konservieren? Wer bürgt
mir dafür, daß zwei plus zwei nicht fünf sind auf dem Jupiter
oben?" Dieser Erguß, dessen Gehalt historisch bedingt ist,
ist nur bezeichnend für die Weltanschauung, mit der Ibsen
noch dem Siebziger Kriege seine Kritik der modernen Gesell-
schaft in seinen modernen Dramen antrat, die noch in seinem
Epilog "Wenn wir Toten erwachen" das Bekenntnis eines
Individualisten brachte.

Ueber den "Peer Gynt" hat sich dessen erster Uebersetzer
L. Passarge in einem kleinen Vorwort zu der ersten Auflage
(1881 bei Reclam) in einer Weise ausgesprochen, die wenig-
stens die wichtigsten Züge der Dichtung andeutet: "Die
große Frage nach der Stellung des einzelnen Menschen im
Leben, nach seinem Verhältnis zum Ewigen und Menschlichen
ist poetisch zuerst aufgeworfen und beantwortet von keinem
Geringeren als Dante. Das Altertum kannte sie nicht.
Immer schwieriger ist die Beantwortung geworden, seitdem
die Reformation die Freiheit des Geistes, die französische
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Freiheit bringt eine stark ausgeprägte selbständige Natur not-
wendig in Konflikte mit der Gesellschaft, welche auf die Unter-
ordnung des Einzelwillens gegründet ist. So gibt es zahl-
lose Gegensätze, die nach einer Ausgleichung ringen; denn sie
sind überall da, wo das Maßlose oder auch nur die Forde-
rung der Natur sich mit dem Anspruche auf Berechtigung der
Gesellschaft gegenüberstellt. Im "Peer Gynt" lautet das
Problem so: Wie wirkt ein Uebermaß der Phantasie, wenn
es sich nicht, wie beim Dichter und Künstler, produktiv zu
entladen vermag, sondern den Menschen in seinem rein
menschlichen Empfinden und Handeln beeinflußt?

Man denke sich einen Menschen, der an solchem Ueber-
maß der Phantasie leidet, ererbt von einer geistig unberechen-

1. Auguſt 1914. Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch] Wunder, ohne an das Wunder zu glauben, entſpringen die
eigentümlichen Gegenſätze, welche in der Dichtung eine Aus-
gleichung bezwecken.

Das Werk erſchien 1883. Der Stil desſelben iſt ein ganz
eigentümlich norwegiſcher, oft ſpringend und abſichtlich dunkel.
Die Ueberſetzung macht den Verſuch, dieſen Charakter wieder-
zugeben.“

Doch über dieſe dunkle Seite der Dichtung führt der
menſchliche Gehalt des Werkes weit hinaus. Wie die ge-
brochene Frau, die als Opfer einer unendlichen Liebe für
ihren Gatten, den Paſtor Sang, auf dem Krankenlager liegt,
an dem zweifelt, was er als ſein Lebenswerk und Weſen
anſieht; wie der rationaliſtiſche Weſenszug eines Weibes aus
einer Kulturfamilie im Kampfe mit der innigſten Gattenliebe
liegt, die glauben möchte, das iſt von dem Dichter ganz
meiſterhaft gezeichnet und wurde von Frau Fehdmer gerade
meiſterhaft zur Darſtellung gebracht. Und nicht minder groß
war ſie in der kurzen Szene des zweiten Aktes, da die Gatten-
liebe, über menſchliche Kraft hinaus, das Wunder vollbringt
und die Kranke dem Gatten entgegentreibt, in deſſen Armen
ſie tot zuſammenſinkt und auch den Gatten, deſſen Forderung
„auch über unſere Kraft ging“, mit ſich zieht. Die Aufführung
ſolcher Stücke reinigen die Atmoſphäre des Theaters, und der
Beifall des Publikums erweckt die Hoffnung, daß die Bühne,
die heutzutage faſt nur vom Gemeinen lebt, doch noch eine
andere Zukunft habe, als die Mirakel-Leute und andere
Induſtrielle der Zote und des Bluffs ihr bereiten möchten.



Ibſens „Peer Gynt“ iſt den Münchener Theaterfreunden
noch von der Aufführung her, die vor einer Reihe von Jahren
die dramatiſche Geſeſchaft (mit Paul Wiecke und Frau Con-
rad Ramlo) im Prinzregententheater veranſtaltete, in guter
Erinnerung. Der Verſuch, das dramatiſche Gedicht für die
Bühne zu gewinnen, iſt auch ſchon von anderen Theatern
gemacht worden; aber es wird, trotz der Griegſchen Muſik,
die man auch in Konzertſälen zu hören bekommt, in Deutſch-
land ſtets beim Verſuch bleiben. Die Dichtung hat für uns
inſofern etwas Inkommenſurables, als ſie das norwegiſche
Werk des Dichters iſt. Von Ibſen ſtammt das Wort, dichten
ſei ein Selbſtgericht; aber in dieſer Dichtung hat er ſich vor
allem mit ſeinen Landsleuten auseinanderzuſetzen geſucht und
daß es dabei nicht ohne allerlei luſtige oder bittere Ratio-
nalismen abging, liegt auf der Hand und iſt begreiflich. In-
wiefern aber die Dichtung ein Gericht über die Landsleute
Ibſens bedeutet, könnte nur ein Norweger entſcheiden, wobei
noch immer die Tatſache zu erwägen bliebe, daß ein ernſter
Dichter kein Pamphletiſt iſt. Auf die Dichtung, die 1867 ent-
ſtand, werfen die Briefe Ibſens manches intereſſante Seiten-
licht. Am 9. Dezember 1867 ſchreibt er aus Rom an Björnſon:
„Mein Buch iſt Poeſie; und iſt es keine, dann ſoll es Poeſie
werden. Der Begriff Poeſie wird ſich in unſerem Lande,
in Norwegen, ſchon dem Buche anpaſſen. Es gibt nichts
Stabiles in der Welt der Begriffe; die Skandinavier unſeres
Jahrhunderts ſind keine Griechen. Er (der Kritiker Clemens
Peterſen) ſagt, der fremde Paſſagier ſei der Begriff der
„Angſt“. Wenn ich auf der Richtſtatt ſtünde und mein Leben
mit dieſer Erklärung retten könnte, ſie wäre mir nicht ein-
gefallen. Ich habe nie daran gedacht; ich habe die Szene
heruntergeſchmiert als eine Kaprize. Und iſt etwa Peer Gynt
nicht eine Perſönlichkeit — abgeſchloſſen, individuell. Ich
weiß, daß er es iſt. Iſt es die Mutter nicht?“ Daß er die
ſatiriſche Abſicht nicht leugnete, beweiſt, daß er ſich in einem
weiteren Briefe (vom 28. Dezember) an ſeinen damaligen
Freund und Rivalen ſich einen „Staatsſatirikus“ nannte, der
allerdings der Meinung war, „man habe aus dem Buch, auch
in Dänemark, mehr Satire herausgeleſen, als er beabſichtigt
hatte.“ „Warum kann man das Buch nicht als ein Gedicht
leſen? Denn als ein ſolches habe ich es geſchrieben. Die
ſatiriſchen Parteien ſtehen ziemlich iſoliert. Aber wenn die
heutigen Norweger, wie es ja den Anſchein hat, in Peer
Gynts Perſon ſich wiedererkennen werden, ſo mögen es die
guten Leute ſchließlich mit ſich ſelber abmachen.“ (An den
Verleger Frederik Hegel, 24. Februar 1868.) Wie der Dich-
ter als „Staatsſatirikus“ zu dem Staatsproblem ſtand, geht
aus dem berühmten Briefe an Georg Brandes vom 17. Fe-
[Spaltenumbruch] bruar 1871 hervor. Da ſchreibt er: „Was die Freiheitsfrage
anbetrifft, ſo beſchränkt ſie ſich, glaube ich, auf einen Streit
um Worte. Ich werde nie dafür zu haben ſein, die Freiheit
als gleichbedeutend mit politiſcher Freiheit anzuſehen. Was
Sie Freiheit nennen, nenne ich Freiheiten! und was ich
den Kampf für die Freiheit nenne, iſt doch nichts anderes
als die ſtändige, lebendige Aneignung der Freiheitsidee. Wer
die Freiheit anders beſitzt als das zu Erſtrebende, der beſitzt
ſie tot und geiſtlos; denn der Freiheitsbegriff hat ja doch die
Eigenſchaft, ſich während der Aneignung ſtetig zu erweitern,
und wenn er deshalb während des Kampfes ſtehen bleibt
und ſagt: jetzt habe ich ſie! — ſo zeigt er eben dadurch, daß
er ſie verloren hat; aber gerade dieſe tote Art, einen gewiſſen
feſtgelegten Freiheitsſtandpunkt zu haben, iſt etwas für die
Staatsverbände Charakteriſtiſches; und eben das habe
ich gemeint, als ich ſagte, es ſei nichts Gutes.

Ja, allerdings kann es etwas Gutes ſein, Wahlfreiheit,
Steuerfreiheit uſw. zu beſitzen; aber für wen iſt das gut?
Für den Bürger, nicht für das Individuum. Es liegt aber
für das Individuum abſolut keine Notwendigkeit vor, Bürger
zu ſein. Im Gegenteil. Der Staat iſt der Fluch des Indi-
viduums. Womit iſt Preußens Stärke als Staat erkauft?
Mit dem Aufgehen des Individuums in den politiſchen und
geographiſchen Begriff. Der Kellner iſt der beſte Soldat.
Und auf der andern Seite das Volk der Juden, der Adel
des Menſchengeſchlechts. Wodurch hat es ſich in Abſonde-
rung, in Poeſie erhalten? Trotz aller Roheit von außen?
Dadurch, daß es ſich nicht mit einem Staat herumzuſchleppen
brauchte. Wäre es in Paläſtina geblieben, ſo wäre es ſchon
längſt in ſeiner Konſtitution untergegangen, wie alle anderen
Völker. Der Staat muß weg! Bei der Revolution tu ich
auch mit! Untergrabt den Staatsbegriff, ſtellt die Freiheit
und das geiſtig Verwandte als das für ein Bündnis einzig
Entſcheidende auf, das iſt der Anfang einer Freiheit, die
etwas wert iſt. Ein Wechſel der Regierungsformen iſt weiter
nichts als eine Puſſelei mit Graden — ein bißchen mehr
oder ein bißchen weniger Torheit, als alles zuſammen.
Ja, lieber Freund, es gilt bloß, ſich von der Ehrwürdigkeit
des Beſitzes nicht ſchrecken zu laſſen! Der Staat hat ſeine
Wurzel in der Zeit; er wird ſeinen Gipfel in der Zeit haben.
Es werden größere Dinge fallen als er, alle Religion wird
fallen. Weder die Moralbegriffe noch die Kunſtformen haben
eine Ewigkeit für ſich. Wie vielem gegenüber haben wir im
Grunde die Verpflichtung, es zu konſervieren? Wer bürgt
mir dafür, daß zwei plus zwei nicht fünf ſind auf dem Jupiter
oben?“ Dieſer Erguß, deſſen Gehalt hiſtoriſch bedingt iſt,
iſt nur bezeichnend für die Weltanſchauung, mit der Ibſen
noch dem Siebziger Kriege ſeine Kritik der modernen Geſell-
ſchaft in ſeinen modernen Dramen antrat, die noch in ſeinem
Epilog „Wenn wir Toten erwachen“ das Bekenntnis eines
Individualiſten brachte.

Ueber den „Peer Gynt“ hat ſich deſſen erſter Ueberſetzer
L. Paſſarge in einem kleinen Vorwort zu der erſten Auflage
(1881 bei Reclam) in einer Weiſe ausgeſprochen, die wenig-
ſtens die wichtigſten Züge der Dichtung andeutet: „Die
große Frage nach der Stellung des einzelnen Menſchen im
Leben, nach ſeinem Verhältnis zum Ewigen und Menſchlichen
iſt poetiſch zuerſt aufgeworfen und beantwortet von keinem
Geringeren als Dante. Das Altertum kannte ſie nicht.
Immer ſchwieriger iſt die Beantwortung geworden, ſeitdem
die Reformation die Freiheit des Geiſtes, die franzöſiſche
Revolution die Freiheit des Handels verkündet hat. Dieſe
Freiheit bringt eine ſtark ausgeprägte ſelbſtändige Natur not-
wendig in Konflikte mit der Geſellſchaft, welche auf die Unter-
ordnung des Einzelwillens gegründet iſt. So gibt es zahl-
loſe Gegenſätze, die nach einer Ausgleichung ringen; denn ſie
ſind überall da, wo das Maßloſe oder auch nur die Forde-
rung der Natur ſich mit dem Anſpruche auf Berechtigung der
Geſellſchaft gegenüberſtellt. Im „Peer Gynt“ lautet das
Problem ſo: Wie wirkt ein Uebermaß der Phantaſie, wenn
es ſich nicht, wie beim Dichter und Künſtler, produktiv zu
entladen vermag, ſondern den Menſchen in ſeinem rein
menſchlichen Empfinden und Handeln beeinflußt?

Man denke ſich einen Menſchen, der an ſolchem Ueber-
maß der Phantaſie leidet, ererbt von einer geiſtig unberechen-

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[493/0007] 1. Auguſt 1914. Allgemeine Zeitung Wunder, ohne an das Wunder zu glauben, entſpringen die eigentümlichen Gegenſätze, welche in der Dichtung eine Aus- gleichung bezwecken. Das Werk erſchien 1883. Der Stil desſelben iſt ein ganz eigentümlich norwegiſcher, oft ſpringend und abſichtlich dunkel. Die Ueberſetzung macht den Verſuch, dieſen Charakter wieder- zugeben.“ Doch über dieſe dunkle Seite der Dichtung führt der menſchliche Gehalt des Werkes weit hinaus. Wie die ge- brochene Frau, die als Opfer einer unendlichen Liebe für ihren Gatten, den Paſtor Sang, auf dem Krankenlager liegt, an dem zweifelt, was er als ſein Lebenswerk und Weſen anſieht; wie der rationaliſtiſche Weſenszug eines Weibes aus einer Kulturfamilie im Kampfe mit der innigſten Gattenliebe liegt, die glauben möchte, das iſt von dem Dichter ganz meiſterhaft gezeichnet und wurde von Frau Fehdmer gerade meiſterhaft zur Darſtellung gebracht. Und nicht minder groß war ſie in der kurzen Szene des zweiten Aktes, da die Gatten- liebe, über menſchliche Kraft hinaus, das Wunder vollbringt und die Kranke dem Gatten entgegentreibt, in deſſen Armen ſie tot zuſammenſinkt und auch den Gatten, deſſen Forderung „auch über unſere Kraft ging“, mit ſich zieht. Die Aufführung ſolcher Stücke reinigen die Atmoſphäre des Theaters, und der Beifall des Publikums erweckt die Hoffnung, daß die Bühne, die heutzutage faſt nur vom Gemeinen lebt, doch noch eine andere Zukunft habe, als die Mirakel-Leute und andere Induſtrielle der Zote und des Bluffs ihr bereiten möchten. Ibſens „Peer Gynt“ iſt den Münchener Theaterfreunden noch von der Aufführung her, die vor einer Reihe von Jahren die dramatiſche Geſeſchaft (mit Paul Wiecke und Frau Con- rad Ramlo) im Prinzregententheater veranſtaltete, in guter Erinnerung. Der Verſuch, das dramatiſche Gedicht für die Bühne zu gewinnen, iſt auch ſchon von anderen Theatern gemacht worden; aber es wird, trotz der Griegſchen Muſik, die man auch in Konzertſälen zu hören bekommt, in Deutſch- land ſtets beim Verſuch bleiben. Die Dichtung hat für uns inſofern etwas Inkommenſurables, als ſie das norwegiſche Werk des Dichters iſt. Von Ibſen ſtammt das Wort, dichten ſei ein Selbſtgericht; aber in dieſer Dichtung hat er ſich vor allem mit ſeinen Landsleuten auseinanderzuſetzen geſucht und daß es dabei nicht ohne allerlei luſtige oder bittere Ratio- nalismen abging, liegt auf der Hand und iſt begreiflich. In- wiefern aber die Dichtung ein Gericht über die Landsleute Ibſens bedeutet, könnte nur ein Norweger entſcheiden, wobei noch immer die Tatſache zu erwägen bliebe, daß ein ernſter Dichter kein Pamphletiſt iſt. Auf die Dichtung, die 1867 ent- ſtand, werfen die Briefe Ibſens manches intereſſante Seiten- licht. Am 9. Dezember 1867 ſchreibt er aus Rom an Björnſon: „Mein Buch iſt Poeſie; und iſt es keine, dann ſoll es Poeſie werden. Der Begriff Poeſie wird ſich in unſerem Lande, in Norwegen, ſchon dem Buche anpaſſen. Es gibt nichts Stabiles in der Welt der Begriffe; die Skandinavier unſeres Jahrhunderts ſind keine Griechen. Er (der Kritiker Clemens Peterſen) ſagt, der fremde Paſſagier ſei der Begriff der „Angſt“. Wenn ich auf der Richtſtatt ſtünde und mein Leben mit dieſer Erklärung retten könnte, ſie wäre mir nicht ein- gefallen. Ich habe nie daran gedacht; ich habe die Szene heruntergeſchmiert als eine Kaprize. Und iſt etwa Peer Gynt nicht eine Perſönlichkeit — abgeſchloſſen, individuell. Ich weiß, daß er es iſt. Iſt es die Mutter nicht?“ Daß er die ſatiriſche Abſicht nicht leugnete, beweiſt, daß er ſich in einem weiteren Briefe (vom 28. Dezember) an ſeinen damaligen Freund und Rivalen ſich einen „Staatsſatirikus“ nannte, der allerdings der Meinung war, „man habe aus dem Buch, auch in Dänemark, mehr Satire herausgeleſen, als er beabſichtigt hatte.“ „Warum kann man das Buch nicht als ein Gedicht leſen? Denn als ein ſolches habe ich es geſchrieben. Die ſatiriſchen Parteien ſtehen ziemlich iſoliert. Aber wenn die heutigen Norweger, wie es ja den Anſchein hat, in Peer Gynts Perſon ſich wiedererkennen werden, ſo mögen es die guten Leute ſchließlich mit ſich ſelber abmachen.“ (An den Verleger Frederik Hegel, 24. Februar 1868.) Wie der Dich- ter als „Staatsſatirikus“ zu dem Staatsproblem ſtand, geht aus dem berühmten Briefe an Georg Brandes vom 17. Fe- bruar 1871 hervor. Da ſchreibt er: „Was die Freiheitsfrage anbetrifft, ſo beſchränkt ſie ſich, glaube ich, auf einen Streit um Worte. Ich werde nie dafür zu haben ſein, die Freiheit als gleichbedeutend mit politiſcher Freiheit anzuſehen. Was Sie Freiheit nennen, nenne ich Freiheiten! und was ich den Kampf für die Freiheit nenne, iſt doch nichts anderes als die ſtändige, lebendige Aneignung der Freiheitsidee. Wer die Freiheit anders beſitzt als das zu Erſtrebende, der beſitzt ſie tot und geiſtlos; denn der Freiheitsbegriff hat ja doch die Eigenſchaft, ſich während der Aneignung ſtetig zu erweitern, und wenn er deshalb während des Kampfes ſtehen bleibt und ſagt: jetzt habe ich ſie! — ſo zeigt er eben dadurch, daß er ſie verloren hat; aber gerade dieſe tote Art, einen gewiſſen feſtgelegten Freiheitsſtandpunkt zu haben, iſt etwas für die Staatsverbände Charakteriſtiſches; und eben das habe ich gemeint, als ich ſagte, es ſei nichts Gutes. Ja, allerdings kann es etwas Gutes ſein, Wahlfreiheit, Steuerfreiheit uſw. zu beſitzen; aber für wen iſt das gut? Für den Bürger, nicht für das Individuum. Es liegt aber für das Individuum abſolut keine Notwendigkeit vor, Bürger zu ſein. Im Gegenteil. Der Staat iſt der Fluch des Indi- viduums. Womit iſt Preußens Stärke als Staat erkauft? Mit dem Aufgehen des Individuums in den politiſchen und geographiſchen Begriff. Der Kellner iſt der beſte Soldat. Und auf der andern Seite das Volk der Juden, der Adel des Menſchengeſchlechts. Wodurch hat es ſich in Abſonde- rung, in Poeſie erhalten? Trotz aller Roheit von außen? Dadurch, daß es ſich nicht mit einem Staat herumzuſchleppen brauchte. Wäre es in Paläſtina geblieben, ſo wäre es ſchon längſt in ſeiner Konſtitution untergegangen, wie alle anderen Völker. Der Staat muß weg! Bei der Revolution tu ich auch mit! Untergrabt den Staatsbegriff, ſtellt die Freiheit und das geiſtig Verwandte als das für ein Bündnis einzig Entſcheidende auf, das iſt der Anfang einer Freiheit, die etwas wert iſt. Ein Wechſel der Regierungsformen iſt weiter nichts als eine Puſſelei mit Graden — ein bißchen mehr oder ein bißchen weniger Torheit, als alles zuſammen. Ja, lieber Freund, es gilt bloß, ſich von der Ehrwürdigkeit des Beſitzes nicht ſchrecken zu laſſen! Der Staat hat ſeine Wurzel in der Zeit; er wird ſeinen Gipfel in der Zeit haben. Es werden größere Dinge fallen als er, alle Religion wird fallen. Weder die Moralbegriffe noch die Kunſtformen haben eine Ewigkeit für ſich. Wie vielem gegenüber haben wir im Grunde die Verpflichtung, es zu konſervieren? Wer bürgt mir dafür, daß zwei plus zwei nicht fünf ſind auf dem Jupiter oben?“ Dieſer Erguß, deſſen Gehalt hiſtoriſch bedingt iſt, iſt nur bezeichnend für die Weltanſchauung, mit der Ibſen noch dem Siebziger Kriege ſeine Kritik der modernen Geſell- ſchaft in ſeinen modernen Dramen antrat, die noch in ſeinem Epilog „Wenn wir Toten erwachen“ das Bekenntnis eines Individualiſten brachte. Ueber den „Peer Gynt“ hat ſich deſſen erſter Ueberſetzer L. Paſſarge in einem kleinen Vorwort zu der erſten Auflage (1881 bei Reclam) in einer Weiſe ausgeſprochen, die wenig- ſtens die wichtigſten Züge der Dichtung andeutet: „Die große Frage nach der Stellung des einzelnen Menſchen im Leben, nach ſeinem Verhältnis zum Ewigen und Menſchlichen iſt poetiſch zuerſt aufgeworfen und beantwortet von keinem Geringeren als Dante. Das Altertum kannte ſie nicht. Immer ſchwieriger iſt die Beantwortung geworden, ſeitdem die Reformation die Freiheit des Geiſtes, die franzöſiſche Revolution die Freiheit des Handels verkündet hat. Dieſe Freiheit bringt eine ſtark ausgeprägte ſelbſtändige Natur not- wendig in Konflikte mit der Geſellſchaft, welche auf die Unter- ordnung des Einzelwillens gegründet iſt. So gibt es zahl- loſe Gegenſätze, die nach einer Ausgleichung ringen; denn ſie ſind überall da, wo das Maßloſe oder auch nur die Forde- rung der Natur ſich mit dem Anſpruche auf Berechtigung der Geſellſchaft gegenüberſtellt. Im „Peer Gynt“ lautet das Problem ſo: Wie wirkt ein Uebermaß der Phantaſie, wenn es ſich nicht, wie beim Dichter und Künſtler, produktiv zu entladen vermag, ſondern den Menſchen in ſeinem rein menſchlichen Empfinden und Handeln beeinflußt? Man denke ſich einen Menſchen, der an ſolchem Ueber- maß der Phantaſie leidet, ererbt von einer geiſtig unberechen-

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 31, 1. August 1914, S. 493. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine31_1914/7>, abgerufen am 21.11.2024.