Allgemeine Zeitung. Nr. 333. München, 1. Dezember 1890.Allgemeine Zeitung. Nr. 333. -- 92. Jahrgang. Abendblatt. München, Montag, 1. December 1890.Abonnementspreis in München d. d. Ex- pedition oder den im Stadtbezirk errichte- ten Depots abgeholt monatl. M. 2. --, bei 2malig. Zustellung ins Haus M. 2.50; durch d. Post bezogen: vier- teljährlich f. Deutschl. u. Oesterreich M. 9. -, für d. Ausl. mit ent- sprechendem Zuschlag. Direkter Bezug unter Streifband für Deutschland u. Oesterreich monatl. M. 4. --, Ausland M. 5.60. Insertionspreis v. Colonelzeile 25 Pf.; finanzielle Anzeigen 35 Pf.; Lokalanzeigen 20 Pf.; kleine Anzei- gen i. gewöhnl. Schrift 3 Pf., in setter Schrift 5 Pf. für das Wort. Redaktion u. Expedi- tion befinden sich Schwanthalerstr. 73 in München. Berichte sind an die Redaktion, Inserat- aufträge an die Ex- pedition franko einzu- senden. Abonnements für das Ausland nehmen an: für England A. Siegle, 30 Lime Str. London; für Frankreich, Portugal und Spanien A. Ammel und C. Klincksieck in Paris; für Italien H. Loescher und Frat. Bocca in Turin, Florenz und Rom, U. Hoepli in Mailand; für den Orient das kaiserlich königliche Post- amt in Wien oder Triest; für Nordamerika F. W. Christern, E. Steiger u. Co., Gust. E. Stechert, Westermann u. Co., International Publishing Agency, 710 Broadway, in New York. Verantwortlicher Rebakteur: Hugo Jacobi in München. [Abbildung]
Inseratenannahme in München b. d. Expedition, Schwanthalerstraße 73, ferner in Berlin, Hamburg, Breslau, Köln, Leipzig, Frankfurt a. M., Stuttgart, Nürnberg, Wien, Paris, London, Zürich, Basel etc. b. d Annoncenbureaux G. L. Daube u. Co., Haasenstein u. Bogler u. R. Mosse. In den Filialen der Zeitungsbureaux Invalidendank zu Berlin, Dresden, Leipzig, Chemnitz etc. Außerdem in: Berlin bei B. Arndt (Mohrenstr. 26) und S. Kornik (Krausenstr. 12), Hamburg bei W. Wilckens u. Ad. Steiner, New York bei der Intern. Publishing Agency, 710 Broadway. Druck und Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung Nachfolger in Stuttgart und München. [Spaltenumbruch] Inhalts-Uebersicht. Politische Rundschau. -- Deutsches Reich. München: Volks- zählung. Berlin: Jesuitengesetz. Verleumdung des Fürsten Bismarck. Colonialangelegenheiten. Helgoland. Arbeiterschutzgesetz- gebung. Invaliditäts- und Altersversicherung. Vieheinfuhr. Hof- und Personalnachrichten. Verschiedenes. [] Der Reichstag. Vp. Bremen: Emin Pascha. Frankfurt a. M.: Oberbürger- meister Adickes. [] Karlsruhe: Zur Aufhebung des Identitäts- nachweises. Eine Verordnung des erzbischöflichen Ordinariats. Oesterreich-Ungarn. Wien: Vom Ausgleichsschauplatz. Vieh- seuchenconvention mit der Schweiz. Reform der Frachtentarife. Militärisches. Verschiedenes. F. Deutsch-österreichischer Handels- vertrag. Lemberg: Landtag. Großbritannien. London: Parnells Manifest. Preßstimmen. Gladstone. Die liberale Partei. Die irische Fraction. Ritua- lismus. Frankreich. Paris: Die Kammer und Rouvier. Zum Colonial- budget. Die Gesellschaft der Russenfreunde. Rumänien. H. Bukarest: Die Lösung der Cabinetsfrage. [] Hiezu: Beilage. München, 1. December. In Berlin wird heute, mit einer allerdings wesentlich Die Ultramontanen in Ungarn zeigen sich beslissen, Parnell ist nach Cork abgereist, um sich von seinen Man hatte aus den Erklärungen des Erzbischofs von "In diesen Combinationen liegt eine vollständige Verkennung Zur Arbeiterbewegung. [] Berlin, Ende Nov.Die Feststimmung, welche die Das Lesebedürfniß und der Bildungstrieb der Arbeiter können Der nahende Winter macht sich bereits deutlich bemerkbar, Die Zersplitterung in ungezählte Massen von Vereinchen und Allgemeine Zeitung. Nr. 333. — 92. Jahrgang. Abendblatt. München, Montag, 1. December 1890.Abonnementspreis in München d. d. Ex- pedition oder den im Stadtbezirk errichte- ten Depots abgeholt monatl. M. 2. —, bei 2malig. Zuſtellung ins Haus M. 2.50; durch d. Poſt bezogen: vier- teljährlich f. Deutſchl. u. Oeſterreich M. 9. -, für d. Ausl. mit ent- ſprechendem Zuſchlag. Direkter Bezug unter Streifband für Deutſchland u. Oeſterreich monatl. M. 4. —, Ausland M. 5.60. Inſertionspreis v. Colonelzeile 25 Pf.; finanzielle Anzeigen 35 Pf.; Lokalanzeigen 20 Pf.; kleine Anzei- gen i. gewöhnl. Schrift 3 Pf., in ſetter Schrift 5 Pf. für das Wort. Redaktion u. Expedi- tion befinden ſich Schwanthalerſtr. 73 in München. Berichte ſind an die Redaktion, Inſerat- aufträge an die Ex- pedition franko einzu- ſenden. Abonnements für das Ausland nehmen an: für England A. Siegle, 30 Lime Str. London; für Frankreich, Portugal und Spanien A. Ammel und C. Klinckſieck in Paris; für Italien H. Loeſcher und Frat. Bocca in Turin, Florenz und Rom, U. Hoepli in Mailand; für den Orient das kaiſerlich königliche Poſt- amt in Wien oder Trieſt; für Nordamerika F. W. Chriſtern, E. Steiger u. Co., Guſt. E. Stechert, Weſtermann u. Co., International Publiſhing Agency, 710 Broadway, in New York. Verantwortlicher Rebakteur: Hugo Jacobi in München. [Abbildung]
Inſeratenannahme in München b. d. Expedition, Schwanthalerſtraße 73, ferner in Berlin, Hamburg, Breslau, Köln, Leipzig, Frankfurt a. M., Stuttgart, Nürnberg, Wien, Paris, London, Zürich, Baſel ꝛc. b. d Annoncenbureaux G. L. Daube u. Co., Haaſenſtein u. Bogler u. R. Moſſe. In den Filialen der Zeitungsbureaux Invalidendank zu Berlin, Dresden, Leipzig, Chemnitz ꝛc. Außerdem in: Berlin bei B. Arndt (Mohrenſtr. 26) und S. Kornik (Krauſenſtr. 12), Hamburg bei W. Wilckens u. Ad. Steiner, New York bei der Intern. Publiſhing Agency, 710 Broadway. Druck und Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung Nachfolger in Stuttgart und München. [Spaltenumbruch] Inhalts-Ueberſicht. Politiſche Rundſchau. — Deutſches Reich. München: Volks- zählung. Berlin: Jeſuitengeſetz. Verleumdung des Fürſten Bismarck. Colonialangelegenheiten. Helgoland. Arbeiterſchutzgeſetz- gebung. Invaliditäts- und Altersverſicherung. Vieheinfuhr. Hof- und Perſonalnachrichten. Verſchiedenes. [] Der Reichstag. Vp. Bremen: Emin Paſcha. Frankfurt a. M.: Oberbürger- meiſter Adickes. [≐] Karlsruhe: Zur Aufhebung des Identitäts- nachweiſes. Eine Verordnung des erzbiſchöflichen Ordinariats. Oeſterreich-Ungarn. Wien: Vom Ausgleichsſchauplatz. Vieh- ſeuchenconvention mit der Schweiz. Reform der Frachtentarife. Militäriſches. Verſchiedenes. F. Deutſch-öſterreichiſcher Handels- vertrag. Lemberg: Landtag. Großbritannien. London: Parnells Manifeſt. Preßſtimmen. Gladſtone. Die liberale Partei. Die iriſche Fraction. Ritua- lismus. Frankreich. Paris: Die Kammer und Rouvier. Zum Colonial- budget. Die Geſellſchaft der Ruſſenfreunde. Rumänien. H. Bukareſt: Die Löſung der Cabinetsfrage. [] Hiezu: Beilage. München, 1. December. In Berlin wird heute, mit einer allerdings weſentlich Die Ultramontanen in Ungarn zeigen ſich beſliſſen, Parnell iſt nach Cork abgereist, um ſich von ſeinen Man hatte aus den Erklärungen des Erzbiſchofs von „In dieſen Combinationen liegt eine vollſtändige Verkennung Zur Arbeiterbewegung. 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Kurfürſt Fried-<lb/> rich Wilhelm, der heute vor 250 Jahren die Regierung<lb/> der kleinen, durch den dreißigjährigen Krieg aufs ärgſte<lb/> verwüſteten und ausgeſogenen Kurmark antrat, hinterließ<lb/> nach einer 48jährigen Regierung einen wohlgeordneten,<lb/> feſtgefugten Staat von europäiſchem Charakter, das Funda-<lb/> ment, auf welchem das heutige Preußen und mit<lb/> ihm das heutige Deutſchland ſteht. Das Königreich,<lb/> für welches ſein Sohn und Nachfolger die äußere<lb/> Form ſchuf, war vom Großen Kurfürſten bereits<lb/> begründet als ein Staatsweſen, beruhend auf einem<lb/> tüchtigen ſieggewohnten Heere, ſtark und wohl-<lb/> gegliedert, mit einer für damalige Verhältniſſe ſchnell und<lb/> ſcharf ineinander greifenden Organiſation. Der Name des<lb/> Siegers von Fehrbellin und Warſchau ward in allen<lb/> europäiſchen Ländern mit hoher Achtung genannt, und wie<lb/> weit der großartige Fernblick des Kurfürſten reichte, be-<lb/> weist ſeine Schöpfung einer brandenburgiſchen Marine<lb/> und brandenburgiſcher Colonien in Afrika. Erſt zwei-<lb/> hundert Jahre ſpäter haben die Enkel jene Arbeit auf<lb/> dem Meere und jenſeit des Meeres wieder aufgenom-<lb/> men, welche er vorſchauenden Geiſtes als Erbe der<lb/> erloſchenen Hanſa angetreten, und erſt der Adler des<lb/> Deutſchen Reiches iſt dem Fluge gefolgt, welchen zwei-<lb/> hundert Jahre zuvor der rothe Aar von Kurbrandenburg<lb/> an die Küſten von Afrika nahm. Wenn Kaiſer Wilhelm<lb/> heute dankerfüllt mit ſeinem Hauſe den Manen des großen<lb/> Ahnherrn den Zoll der Huldigung darbringt, ſo begeht<lb/> er damit einen Act der Pietät, bei welchem er ſich mit der<lb/><cb/> großen Mehrzahl der Deutſchen eins wiſſen darf. Außer-<lb/> ordentliche organiſatoriſche Kraft, Entſchloſſenheit und<lb/> Umſicht in der Friedensarbeit wie auf dem Schlachtfelde, her-<lb/> vorragende Gewandtheit in der Staatskunſt und hoher per-<lb/> ſönlicher Heldenmuth im Gefecht haben dem großen Branden-<lb/> burger in der geſammten deutſchen Geſchichte einen Ehrenplatz<lb/> für alle Zeiten geſichert, und es iſt wohl nicht zu viel ge-<lb/> ſagt, daß namentlich das proteſtantiſche Deutſchland in<lb/> ihm den Fürſten verehrt, deſſen kraftvolles Walten nach<lb/> den ſchweren Erſchütterungen des dreißigjährigen Krieges —<lb/> mehr noch als die Beſtimmungen des weſtfäliſchen Friedens —<lb/> dem proteſtantiſchen Bekenntniß nicht nur in Deutſchland<lb/> das Bürgerrecht ſicherte, ſondern auch den verfolgten Pro-<lb/> teſtanten des Auslandes eine Zuflucht in den branden-<lb/> burgiſchen Marken eröſſnete, die ſich für dieſe letzteren<lb/> ſelbſt zu hohem Segen geſtaltet hat.</p><lb/> <p>Die Ultramontanen in <hi rendition="#g">Ungarn</hi> zeigen ſich beſliſſen,<lb/> die Ankündigung des Cultusminiſters Grafen Cſ<hi rendition="#aq">á</hi>ky, ſeinen<lb/> Erlaß bezüglich der Wegtaufungen dahin zu modificiren,<lb/> daß die Matrikelauszüge von den wegtaufenden Seelſorgern<lb/> an die politiſche Behörde einzuſenden ſeien, als einen<lb/> Rückzug der Regierung hinzuſtellen. Dieſer Darſtellung<lb/> gegenüber verweiſen die liberalen Blätter darauf, daß dieſe<lb/> Modification eine bloß formale ſei und das Weſen des<lb/> Erlaſſes nicht tangire, der in der Hauptſache dahin ziele,<lb/> daß ein weggetauftes Kind nicht der Confeſſion entzogen<lb/> werden dürfe, welcher es kraft des Geſetzes anzugehören<lb/> hat, und darauf, daß dieſe „Conceſſion“ ſchon vor mehreren<lb/> Monaten, lange bevor die Agitation des niederen Klerus<lb/> um ſich gegriffen hatte, der Curie angeboten, von dieſer<lb/> aber damals als ungenügend abgelehnt worden ſei. Wenn die<lb/> Curie nunmehr, wie es ſcheine, dieſe Modification acceptiren<lb/> wolle, dann ſei es doch nicht das Miniſterium, welches einen<lb/> Rückzug antrete. Thatſächlich läge zu einem ſolchen nach<lb/> dem großartigen Vertrauensvotum des Abgeordnetenhauſes<lb/> für den Grafen Cſ<hi rendition="#aq">á</hi>ly keinerlei Veranlaſſung vor, und<lb/> auch die heute eingelaufene Meldung über den Eherechts-<lb/> entwurf des Juſtizminiſters deutet durchaus nicht darauf<lb/> hin, daß an ein Zurückweichen ſeitens der Regierung ge-<lb/> dacht wird. Hr. v. Szilagyi hat, wie die „Pol. Corr.“<lb/> meldet, an die Einlöſung ſeines Wortes betreffs Ein-<lb/> führung der Civilehe ſein weiteres Verbleiben im Amte<lb/> geknüpft; nachdem ſelbſt Graf Apponyi ſich für die<lb/> Schaffung dieſer Inſtitution ausgeſprochen hat, kann nur<lb/> noch darüber ein Zweifel beſtehen, ob dem Reichstag die<lb/> von Szilagyi beabſichtigte Einführung der Nothcivilehe,<lb/> wie ſie auch in Oeſterreich beſteht, als genügend erſcheinen<lb/> oder ob die obligatoriſche Civilehe für unerläßlich betrachtet<lb/> werden wird.</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Parnell</hi> iſt nach Cork abgereist, um ſich von ſeinen<lb/> Wählern ein Vertrauensvotum ertheilen zu laſſen. Ein<lb/> ſolches ſcheint ſeine Stellung aber nicht mehr retten zu<lb/><cb/> können, da verſichert wird, die Mehrheit der iriſchen Ab-<lb/> geordneten werde in der auf heute angeſetzten neuen<lb/> Fractionsſitzung ſeine Führerſchaft fallen laſſen, und nur<lb/> ein ſchwaches Drittel ſeiner bisherigen Gefolgſchaft werde<lb/> ihm treu bleiben. Selbſt die Herren Dillon und O’Brien<lb/> haben aus Amerika ihre Abſage von Parnell erklärt und<lb/> in einem von Chicago aus erlaſſenen Manifeſt ausgeſpro-<lb/> chen, daß derſelbe unmöglich länger der Führer der Partei<lb/> bleiben könne; auch tadeln ſie darin den feindſeligen Ton,<lb/> welchen Parnell in ſeinem Manifeſt gegen Gladſtone, Mor-<lb/> ley und das engliſche Volk überhaupt angeſchlagen hat.<lb/> Ob der Empfang Parnells in Cork wirklich ſo großartig<lb/> ſein wird, wie ihn ein Telegramm ankündigt, wird ſich<lb/> erſt zeigen müſſen, wenigſtens hat ſich die katholiſche Geiſt-<lb/> lichkeit von Cork gegen Parnell erklärt, und auch die Erz-<lb/> biſchöfe von Dublin und Caſhel, die HH. Walſh und<lb/> Croke, haben ſich für den Rücktritt desſelben von der Führung<lb/> der iriſchen Fraction ausgeſprochen. Wird Parnells Führer-<lb/> ſchaft beſeitigt, ſo will Gladſtone die Verbindung der Libe-<lb/> ralen mit den Iren weiter beſtehen laſſen.</p><lb/> <p>Man hatte aus den Erklärungen des Erzbiſchofs von<lb/> Algier und einiger anderen Biſchöfe zu Gunſten der Repu-<lb/> blik, ſowie aus ihren Berufungen auf die Autorität des<lb/> Papſtes da und dort geſchloſſen, daß die <hi rendition="#g">franzöſiſche<lb/> Regierung</hi> dem Papſte allerlei Verſprechungen gemacht<lb/> haben könnte, ſowohl was die innere Politik Frankreichs<lb/> als gewiſſe Fragen in Bezug auf die Stellung des päpſt-<lb/> lichen Stuhles ſelbſt betreffe. Man hat ſich für dieſe<lb/> Combinationen zwar nicht auf beſtimmte Beſprechungen<lb/> zwiſchen der Diplomatie Frankreichs und der des päpſt-<lb/> lichen Stuhles berufen können; aber man hat ſie aus der<lb/> Stellung, welche Frankreich und der päpſtliche Stuhl gegen-<lb/> über Italien einnehmen, ſowie daraus ſchöpfen zu dürfen<lb/> geglaubt, daß die Biſchöfe Frankreichs ihren Anſchluß an<lb/> die Republik denn doch nicht ohne jeden Preis oder jede<lb/> Hoffnung auf einen ſolchen ausgeſprochen haben werden.<lb/> Von Seiten der franzöſiſchen Regierung ſcheint dieſe Schluß-<lb/> folgerung ſehr beſtimmt beſtritten zu werden; wenigſtens<lb/> ſchreibt uns ein aus ihren Kreiſen öfters gut informirter<lb/> Correſpondent:</p><lb/> <cit> <quote>„In dieſen Combinationen liegt eine vollſtändige Verkennung<lb/> der Situation. Die franzöſiſche Regierung iſt der Ausdruck des<lb/> in der Kammer ausgeſprochenen Volkswillens, welcher ſich in ganz<lb/> anderer Richtung bewegt. Die Kammermehrheit betreibt ſeit mehr<lb/> als einem Jahrzehnt die vollſtändige Verweltlichung des Staates,<lb/> an der ſie mit eiſerner Conſequenz feſthält, da ſie darin die Exiſtenz<lb/> der Republik begründet ſieht. Für die franzöſiſche Regierung ſteht<lb/> daher die Kirche ebenſo außerhalb des Staates als dieſer außer-<lb/> halb der Kirche. Von einer politiſchen Verſtändigung mit dem<lb/> Papſte kann alſo für ſie keine Rede ſein. Die franzöſiſchen Prä-<lb/> laten mögen, mit oder ohne Zuſtimmung des Papſtes, ihren Bei-<lb/> tritt zur Republik erklären, dieſe wird dadurch in keiner Weiſe be-<lb/> rührt, zur Abweichung von ihrer bisherigen Richtung, von ihren<lb/> Principien bewogen werden. Die Negierung aber wird in dieſer</quote> </cit><lb/> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div xml:id="a02a" n="2" type="jComment" next="#a02b"> <head> <hi rendition="#b">Zur Arbeiterbewegung.</hi> </head><lb/> <dateline><hi rendition="#b"><supplied>&#xfffc;</supplied> Berlin,</hi> Ende Nov.</dateline><lb/> <p>Die Feſtſtimmung, welche die<lb/> Halle’ſche Campagne erzeugt hat, iſt noch nicht gewichen, und wenn<lb/> die Angriſſe der Gegner nicht wären, die mitunter recht verdrieß-<lb/> lich ſind, könnte Hr. Liebknecht, der Chef des „Volksblattes“, ruhig<lb/> ſchlafen. Es iſt für denjenigen, der, wie Ihr Correſpondent, den<lb/> Amtsverkündiger der deutſchen Socialdemokratie genau zu leſen pflegt,<lb/> keine angenehme Aufgabe geweſen, ſich durch den endloſen Streit<lb/> mit Eugen Richter und den Männern der „Germania“ hindurch-<lb/> zuarbeiten. Der „Zukunftsſtaat“, nach welchem die Wißbegierde<lb/> der Widerfacher unausgeſetzt ſich erkundigte, bildete den Erisapfel.<lb/> Man kann nicht behaupten, daß das „Volksblatt“ ſich beſonders<lb/> geſchickt aus dieſer Affaire gezogen hat, obwohl Hr. Richter im<lb/> Grunde nichts wiederholte, als die ariſtoteliſchen Einwände gegen<lb/> den platoniſchen Staat, eine moderne Kampfpartei aber wahrlich<lb/> mit näherliegenden Fragen zu thun hat, als mit der Ausmalung<lb/> von Utopien. Das Buch Bellamy’s gibt ja die bündigſte Aus-<lb/> kunſt für neugierige Frager, und es verdient feſtgeſtellt zu werden,<lb/> daß dasſelbe einen ungeahnten Erfolg gerade in den Kreiſen der<lb/> Gebildeten davongetragen hat. In der Sommerfriſche, auf der<lb/> Eiſenbahn, im Pferdebahnwagen, überall begegnete man dem<lb/> rothen Heftchen aus der Reclam’ſchen Bibliothek, das die von dem<lb/> Berliner Philoſophie - Profeſſor Georg v. Gi<hi rendition="#aq">ź</hi>ycli veranſtaltete<lb/> Uebertragung des <hi rendition="#aq">Looking backward</hi> aller Welt für 40 Pf. zu-<lb/> gänglich macht. Im Thiergarten, im Concertſaal, überall ſpricht<lb/> man über Bellamy, und alte Geheimräthe, die ſonſt nie einen<lb/> Roman in die Hand nehmen, leſen das Buch des Amerikaners.<lb/> Beſonders die Frauen feſſelt die Lectüre, und die Wirkung äußert<lb/> ſich in zuweilen „recht verfänglichen Fragen“. Der Socialismus liegt<lb/> in der Luft, unſre Politik dreht ſich um die Arbeiterfrage, unſre<lb/> Dramendichter behandeln ſociale Probleme, das „Deutſche Theater“<lb/> führt uns einen Strike auf offener Bühne vor, und Sudermann<lb/> prophezeit nicht bloß den Beſuchern des Leſſing-Theaters das<lb/> Schickſal der unſeligen Bewohner von Sodom. Wie ich höre, ſoll<lb/> demnächſt hier eine öffentliche Aufforderung an alle mildherzigen<lb/> Capitaliſten und an wahlverwandte Seelen ergehen, die geneigt<lb/> ſind, mit Rath und That, durch Wort und Schrift, mit guten Lehren<lb/> und vollen Händen die Gründung von „Freiland“, wie es der<lb/> phantaſievolle Hertzka geträumt hat, zu unterſtützen. Wo das neue<lb/><cb/> Staatsgebilde auſſprießen ſoll, darüber wird geſchwiegen. Das<lb/> eben Mitgetheilte aber iſt gutverbürgt. Die Spielart des ſocia-<lb/> liſtiſchen Studenten, die unter der Herrſchaft des Ausnahmegeſetzes<lb/> nahezu ausgeſtorben war, fängt unter dem milderen Klima der<lb/> neuen Aera wieder an, ſich zu vermehren, und der „Reichsbote“,<lb/> welchen der Sturz ſeines Schutzpatrons gar zu griesgrämig gemacht<lb/> hat, ſieht bereits, wie unſre Bureaukratie dem Hecker’ſchen Schlapp-<lb/> hut des Hrn. Paul Singer „die Reverenz erweist“. Das officielle<lb/> Arbeiterwitzblatt „Der wahre Jakob“, das in einer Auflage von rund<lb/> 100,000 Exemplaren alle vierzehn Tage erſcheint, hat nicht ohne Grund<lb/> eine Congreß-Jubelnummer ausgegeben, die in hübſcher Ausſtattung<lb/> verſchiedene Scenen des Parteitages illuſtrirt und die Hauptfiguren<lb/> desſelben im Bilde vereinigt. Daß die ſonnige Göttin des Humors<lb/> bei dieſer ſeriöſen Kundgebung nicht Pathendienſte geleiſtet hat,<lb/> fällt nicht ins Gewicht. Man bedenke, was die Auflageziffer dieſer<lb/> Unterhaltungsſchrift, welche der Arbeiter neben ſeiner politiſchen<lb/> Zeitung und ſeinem Gewerkſchaftsorgan hält, zu bedeuten hat, ganz<lb/> abgeſehen von der nichtperiodiſchen Literatur ſocialiſtiſcher Färbung,<lb/> als deren ſtändiger Käufer das deutſche politiſch organiſirte Prole-<lb/> tariat auſtritt.</p><lb/> <p>Das Leſebedürfniß und der Bildungstrieb der Arbeiter können<lb/> für gewiſſe Schichten der Beſitzenden recht beſchämend wirken, die<lb/> mit dem Leſen eines farbloſen Klatſchblättchens und irgend<lb/> eines Schauerromans ihrer Zeit genug gethan zu haben glau-<lb/> ben. Es kommt hier gar nicht darauf an, ob die geiſtige Bewe-<lb/> gung der Arbeiterclaſſe ſich in den richtigen Bahnen befinde<lb/> oder nicht, die einfache Thatſache des großen und unausgeſetzt<lb/> wachſenden geiſtigen Verzehrs unter den Arbeitern ſpricht ganze<lb/> Bände. Waren doch dieſer Tage Berliner Arbeiter verſammelt,<lb/> um allen Ernſtes die Gründung einer „Akademie“ zu beſprechen,<lb/> eines „Allgemeinen Arbeiterbildungsvereines“, der die Ideen der<lb/> Socialdemokratie durch Vorträge, Errichtung einer reich aus-<lb/> geſtatteten Bibliothek, „Schulung von Rednern“ zu fördern be-<lb/> zweckt — ein Plan, der übrigens ſchon einmal in den ſiebziger<lb/> Jahren, als die Fritzſche, Moſt und Genoſſen noch zu den Füßen<lb/> des Hrn. Eugen Dühring ſaßen, eifrig erwogen worden iſt. Wer<lb/> jahrelang die Verſammlungen der Arbeiter beſucht hat, wird die<lb/> Beobachtung gemacht haben, daß die Redegewandtheit ſich erheblich<lb/> geſteigert hat, daß ein moderner Fabrikarbeiter im Stande iſt, in<lb/> verſtändlicher Weiſe fließend ſeine Anſichten darzulegen. Im ſelben<lb/><cb/> Verhältniß, in welchem die Redekunſt ſich hier entfaltet, nimmt ſie<lb/> bei den Gebildeten ab. Der kurze, als ſchneidig geltende Ton,<lb/> der in Interjectionen und Satzbruchſtücken ſich gefällt, verdrängt<lb/> bedauerlicherweiſe die redneriſche Technik, welche in unſrer parla-<lb/> mentariſchen Zeit die Vorbedingung für ein öffentliches Auftreten<lb/> iſt. Die Chriſtlich-Socialen haben auf dieſe Mängel bereits hin-<lb/> gewieſen und gleichfalls die Gründung von Rednerſchulen an-<lb/> empfohlen. Dialektiſche Sicherheit gepaart mit gründlicher ſocial-<lb/> politiſcher Bildung ſind die Waffen, ohne welche ein Turnier der<lb/> Geiſter in unſern ſtürmiſch bewegten Tagen nicht durchzuſechten iſt.</p><lb/> <p>Der nahende Winter macht ſich bereits deutlich bemerkbar,<lb/> die Saiſongewerbe, welche nur für beſtimmte Jahreszeiten Hände<lb/> brauchen, beginnen, ihre Arbeitskräfte freizuſetzen. Die Bauinduſtrie,<lb/> die in Berlin eine hervorragende Stellung einnimmt, wird mit dem<lb/> Sinken des Thermometers ihre Thätigkeit mehr und mehr ein-<lb/> ſchränken und die Ziffer der Arbeitsloſen, deren es das ganze<lb/> Jahr hindurch eine große Menge gibt, muß ſich vermehren. Die<lb/> Jagd nach einer vorübergehenden Beſchäftigung, die ein paar<lb/> Groſchen einbringt, hebt wieder an, und vor der Expedition des<lb/> „Intelligenzblattes“ mit ſeinen zahlloſen Inſeraten ſammeln ſich<lb/> Hunderte und Aberhunderte von Stellenſuchenden. Namentlich<lb/> gilt dies von den Arbeiterinnen. Wer aber nun annähme, daß<lb/> die Organiſation dieſer letzteren eine feſte werden müſſe, da ja die<lb/> Logik der Thatſachen zu einem Kampf für beſſere Zuſtände nöthigt,<lb/> der iſt im Irrthum. Sind die Berliner Gewerkſchaftsverhältniſſe<lb/> zerfahren und verworren, ſo iſt die vielgenannte Frauenbewegung<lb/> der Gipfel der Verworrenheit. Eitel Zank, perſönliche Reibereien<lb/> und Eiferſüchteleien, Austauſch handfeſter Liebenswürdigkeiten bilden<lb/> das Um und Auf der Debatten in den Arbeiterinnenvereinen. Ab<lb/> und zu kommen freilich Dinge zu Tage, die ein grelles Streiflicht<lb/> auf arge Mißſtände werfen.</p><lb/> <p>Die Zerſplitterung in ungezählte Maſſen von Vereinchen und<lb/> Vereinen iſt ein charakteriſtiſches Merkmal der gewerkſchaftlichen<lb/> Bewegung in Berlin. Die vielen Gerngroße müſſen wenigſtens<lb/> im kleinen und kleinſten Conventikel den Jupiter tragiren, und das<lb/> Partikelchen einer Theilorganiſation eines Branchentheils iſt<lb/> der Olymp, von welchem ſie zu donnern belieben. Eine<lb/> Strikecontrolcommiſſion ſoll zwar die Vorgänge auf dem<lb/> Arbeitsmarkt überwachen, und ihr Entſcheid beſtimmt, ob ein Strike<lb/> berechtigt und daher zu unterſtützen ſei. Aber die Schwerfälligkeit</p><lb/> </div> </div><lb/> </body> </text> </TEI> [0001]
Allgemeine Zeitung.Nr. 333. — 92. Jahrgang. Abendblatt. München, Montag, 1. December 1890.
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Druck und Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung Nachfolger in Stuttgart und München.
Inhalts-Ueberſicht.
Politiſche Rundſchau. — Deutſches Reich. München: Volks-
zählung. Berlin: Jeſuitengeſetz. Verleumdung des Fürſten
Bismarck. Colonialangelegenheiten. Helgoland. Arbeiterſchutzgeſetz-
gebung. Invaliditäts- und Altersverſicherung. Vieheinfuhr. Hof-
und Perſonalnachrichten. Verſchiedenes.  Der Reichstag.
Vp. Bremen: Emin Paſcha. Frankfurt a. M.: Oberbürger-
meiſter Adickes. ≐ Karlsruhe: Zur Aufhebung des Identitäts-
nachweiſes. Eine Verordnung des erzbiſchöflichen Ordinariats.
Oeſterreich-Ungarn. Wien: Vom Ausgleichsſchauplatz. Vieh-
ſeuchenconvention mit der Schweiz. Reform der Frachtentarife.
Militäriſches. Verſchiedenes. F. Deutſch-öſterreichiſcher Handels-
vertrag. Lemberg: Landtag.
Großbritannien. London: Parnells Manifeſt. Preßſtimmen.
Gladſtone. Die liberale Partei. Die iriſche Fraction. Ritua-
lismus.
Frankreich. Paris: Die Kammer und Rouvier. Zum Colonial-
budget. Die Geſellſchaft der Ruſſenfreunde.
Rumänien. H. Bukareſt: Die Löſung der Cabinetsfrage.
 Hiezu: Beilage.
München, 1. December.
In Berlin wird heute, mit einer allerdings weſentlich
militäriſchen Feier, der 250. Jahrestag der Thronbeſtei-
gung des Großen Kurfürſten begangen. Kurfürſt Fried-
rich Wilhelm, der heute vor 250 Jahren die Regierung
der kleinen, durch den dreißigjährigen Krieg aufs ärgſte
verwüſteten und ausgeſogenen Kurmark antrat, hinterließ
nach einer 48jährigen Regierung einen wohlgeordneten,
feſtgefugten Staat von europäiſchem Charakter, das Funda-
ment, auf welchem das heutige Preußen und mit
ihm das heutige Deutſchland ſteht. Das Königreich,
für welches ſein Sohn und Nachfolger die äußere
Form ſchuf, war vom Großen Kurfürſten bereits
begründet als ein Staatsweſen, beruhend auf einem
tüchtigen ſieggewohnten Heere, ſtark und wohl-
gegliedert, mit einer für damalige Verhältniſſe ſchnell und
ſcharf ineinander greifenden Organiſation. Der Name des
Siegers von Fehrbellin und Warſchau ward in allen
europäiſchen Ländern mit hoher Achtung genannt, und wie
weit der großartige Fernblick des Kurfürſten reichte, be-
weist ſeine Schöpfung einer brandenburgiſchen Marine
und brandenburgiſcher Colonien in Afrika. Erſt zwei-
hundert Jahre ſpäter haben die Enkel jene Arbeit auf
dem Meere und jenſeit des Meeres wieder aufgenom-
men, welche er vorſchauenden Geiſtes als Erbe der
erloſchenen Hanſa angetreten, und erſt der Adler des
Deutſchen Reiches iſt dem Fluge gefolgt, welchen zwei-
hundert Jahre zuvor der rothe Aar von Kurbrandenburg
an die Küſten von Afrika nahm. Wenn Kaiſer Wilhelm
heute dankerfüllt mit ſeinem Hauſe den Manen des großen
Ahnherrn den Zoll der Huldigung darbringt, ſo begeht
er damit einen Act der Pietät, bei welchem er ſich mit der
großen Mehrzahl der Deutſchen eins wiſſen darf. Außer-
ordentliche organiſatoriſche Kraft, Entſchloſſenheit und
Umſicht in der Friedensarbeit wie auf dem Schlachtfelde, her-
vorragende Gewandtheit in der Staatskunſt und hoher per-
ſönlicher Heldenmuth im Gefecht haben dem großen Branden-
burger in der geſammten deutſchen Geſchichte einen Ehrenplatz
für alle Zeiten geſichert, und es iſt wohl nicht zu viel ge-
ſagt, daß namentlich das proteſtantiſche Deutſchland in
ihm den Fürſten verehrt, deſſen kraftvolles Walten nach
den ſchweren Erſchütterungen des dreißigjährigen Krieges —
mehr noch als die Beſtimmungen des weſtfäliſchen Friedens —
dem proteſtantiſchen Bekenntniß nicht nur in Deutſchland
das Bürgerrecht ſicherte, ſondern auch den verfolgten Pro-
teſtanten des Auslandes eine Zuflucht in den branden-
burgiſchen Marken eröſſnete, die ſich für dieſe letzteren
ſelbſt zu hohem Segen geſtaltet hat.
Die Ultramontanen in Ungarn zeigen ſich beſliſſen,
die Ankündigung des Cultusminiſters Grafen Cſáky, ſeinen
Erlaß bezüglich der Wegtaufungen dahin zu modificiren,
daß die Matrikelauszüge von den wegtaufenden Seelſorgern
an die politiſche Behörde einzuſenden ſeien, als einen
Rückzug der Regierung hinzuſtellen. Dieſer Darſtellung
gegenüber verweiſen die liberalen Blätter darauf, daß dieſe
Modification eine bloß formale ſei und das Weſen des
Erlaſſes nicht tangire, der in der Hauptſache dahin ziele,
daß ein weggetauftes Kind nicht der Confeſſion entzogen
werden dürfe, welcher es kraft des Geſetzes anzugehören
hat, und darauf, daß dieſe „Conceſſion“ ſchon vor mehreren
Monaten, lange bevor die Agitation des niederen Klerus
um ſich gegriffen hatte, der Curie angeboten, von dieſer
aber damals als ungenügend abgelehnt worden ſei. Wenn die
Curie nunmehr, wie es ſcheine, dieſe Modification acceptiren
wolle, dann ſei es doch nicht das Miniſterium, welches einen
Rückzug antrete. Thatſächlich läge zu einem ſolchen nach
dem großartigen Vertrauensvotum des Abgeordnetenhauſes
für den Grafen Cſály keinerlei Veranlaſſung vor, und
auch die heute eingelaufene Meldung über den Eherechts-
entwurf des Juſtizminiſters deutet durchaus nicht darauf
hin, daß an ein Zurückweichen ſeitens der Regierung ge-
dacht wird. Hr. v. Szilagyi hat, wie die „Pol. Corr.“
meldet, an die Einlöſung ſeines Wortes betreffs Ein-
führung der Civilehe ſein weiteres Verbleiben im Amte
geknüpft; nachdem ſelbſt Graf Apponyi ſich für die
Schaffung dieſer Inſtitution ausgeſprochen hat, kann nur
noch darüber ein Zweifel beſtehen, ob dem Reichstag die
von Szilagyi beabſichtigte Einführung der Nothcivilehe,
wie ſie auch in Oeſterreich beſteht, als genügend erſcheinen
oder ob die obligatoriſche Civilehe für unerläßlich betrachtet
werden wird.
Parnell iſt nach Cork abgereist, um ſich von ſeinen
Wählern ein Vertrauensvotum ertheilen zu laſſen. Ein
ſolches ſcheint ſeine Stellung aber nicht mehr retten zu
können, da verſichert wird, die Mehrheit der iriſchen Ab-
geordneten werde in der auf heute angeſetzten neuen
Fractionsſitzung ſeine Führerſchaft fallen laſſen, und nur
ein ſchwaches Drittel ſeiner bisherigen Gefolgſchaft werde
ihm treu bleiben. Selbſt die Herren Dillon und O’Brien
haben aus Amerika ihre Abſage von Parnell erklärt und
in einem von Chicago aus erlaſſenen Manifeſt ausgeſpro-
chen, daß derſelbe unmöglich länger der Führer der Partei
bleiben könne; auch tadeln ſie darin den feindſeligen Ton,
welchen Parnell in ſeinem Manifeſt gegen Gladſtone, Mor-
ley und das engliſche Volk überhaupt angeſchlagen hat.
Ob der Empfang Parnells in Cork wirklich ſo großartig
ſein wird, wie ihn ein Telegramm ankündigt, wird ſich
erſt zeigen müſſen, wenigſtens hat ſich die katholiſche Geiſt-
lichkeit von Cork gegen Parnell erklärt, und auch die Erz-
biſchöfe von Dublin und Caſhel, die HH. Walſh und
Croke, haben ſich für den Rücktritt desſelben von der Führung
der iriſchen Fraction ausgeſprochen. Wird Parnells Führer-
ſchaft beſeitigt, ſo will Gladſtone die Verbindung der Libe-
ralen mit den Iren weiter beſtehen laſſen.
Man hatte aus den Erklärungen des Erzbiſchofs von
Algier und einiger anderen Biſchöfe zu Gunſten der Repu-
blik, ſowie aus ihren Berufungen auf die Autorität des
Papſtes da und dort geſchloſſen, daß die franzöſiſche
Regierung dem Papſte allerlei Verſprechungen gemacht
haben könnte, ſowohl was die innere Politik Frankreichs
als gewiſſe Fragen in Bezug auf die Stellung des päpſt-
lichen Stuhles ſelbſt betreffe. Man hat ſich für dieſe
Combinationen zwar nicht auf beſtimmte Beſprechungen
zwiſchen der Diplomatie Frankreichs und der des päpſt-
lichen Stuhles berufen können; aber man hat ſie aus der
Stellung, welche Frankreich und der päpſtliche Stuhl gegen-
über Italien einnehmen, ſowie daraus ſchöpfen zu dürfen
geglaubt, daß die Biſchöfe Frankreichs ihren Anſchluß an
die Republik denn doch nicht ohne jeden Preis oder jede
Hoffnung auf einen ſolchen ausgeſprochen haben werden.
Von Seiten der franzöſiſchen Regierung ſcheint dieſe Schluß-
folgerung ſehr beſtimmt beſtritten zu werden; wenigſtens
ſchreibt uns ein aus ihren Kreiſen öfters gut informirter
Correſpondent:
„In dieſen Combinationen liegt eine vollſtändige Verkennung
der Situation. Die franzöſiſche Regierung iſt der Ausdruck des
in der Kammer ausgeſprochenen Volkswillens, welcher ſich in ganz
anderer Richtung bewegt. Die Kammermehrheit betreibt ſeit mehr
als einem Jahrzehnt die vollſtändige Verweltlichung des Staates,
an der ſie mit eiſerner Conſequenz feſthält, da ſie darin die Exiſtenz
der Republik begründet ſieht. Für die franzöſiſche Regierung ſteht
daher die Kirche ebenſo außerhalb des Staates als dieſer außer-
halb der Kirche. Von einer politiſchen Verſtändigung mit dem
Papſte kann alſo für ſie keine Rede ſein. Die franzöſiſchen Prä-
laten mögen, mit oder ohne Zuſtimmung des Papſtes, ihren Bei-
tritt zur Republik erklären, dieſe wird dadurch in keiner Weiſe be-
rührt, zur Abweichung von ihrer bisherigen Richtung, von ihren
Principien bewogen werden. Die Negierung aber wird in dieſer
Zur Arbeiterbewegung.
 Berlin, Ende Nov.
Die Feſtſtimmung, welche die
Halle’ſche Campagne erzeugt hat, iſt noch nicht gewichen, und wenn
die Angriſſe der Gegner nicht wären, die mitunter recht verdrieß-
lich ſind, könnte Hr. Liebknecht, der Chef des „Volksblattes“, ruhig
ſchlafen. Es iſt für denjenigen, der, wie Ihr Correſpondent, den
Amtsverkündiger der deutſchen Socialdemokratie genau zu leſen pflegt,
keine angenehme Aufgabe geweſen, ſich durch den endloſen Streit
mit Eugen Richter und den Männern der „Germania“ hindurch-
zuarbeiten. Der „Zukunftsſtaat“, nach welchem die Wißbegierde
der Widerfacher unausgeſetzt ſich erkundigte, bildete den Erisapfel.
Man kann nicht behaupten, daß das „Volksblatt“ ſich beſonders
geſchickt aus dieſer Affaire gezogen hat, obwohl Hr. Richter im
Grunde nichts wiederholte, als die ariſtoteliſchen Einwände gegen
den platoniſchen Staat, eine moderne Kampfpartei aber wahrlich
mit näherliegenden Fragen zu thun hat, als mit der Ausmalung
von Utopien. Das Buch Bellamy’s gibt ja die bündigſte Aus-
kunſt für neugierige Frager, und es verdient feſtgeſtellt zu werden,
daß dasſelbe einen ungeahnten Erfolg gerade in den Kreiſen der
Gebildeten davongetragen hat. In der Sommerfriſche, auf der
Eiſenbahn, im Pferdebahnwagen, überall begegnete man dem
rothen Heftchen aus der Reclam’ſchen Bibliothek, das die von dem
Berliner Philoſophie - Profeſſor Georg v. Giźycli veranſtaltete
Uebertragung des Looking backward aller Welt für 40 Pf. zu-
gänglich macht. Im Thiergarten, im Concertſaal, überall ſpricht
man über Bellamy, und alte Geheimräthe, die ſonſt nie einen
Roman in die Hand nehmen, leſen das Buch des Amerikaners.
Beſonders die Frauen feſſelt die Lectüre, und die Wirkung äußert
ſich in zuweilen „recht verfänglichen Fragen“. Der Socialismus liegt
in der Luft, unſre Politik dreht ſich um die Arbeiterfrage, unſre
Dramendichter behandeln ſociale Probleme, das „Deutſche Theater“
führt uns einen Strike auf offener Bühne vor, und Sudermann
prophezeit nicht bloß den Beſuchern des Leſſing-Theaters das
Schickſal der unſeligen Bewohner von Sodom. Wie ich höre, ſoll
demnächſt hier eine öffentliche Aufforderung an alle mildherzigen
Capitaliſten und an wahlverwandte Seelen ergehen, die geneigt
ſind, mit Rath und That, durch Wort und Schrift, mit guten Lehren
und vollen Händen die Gründung von „Freiland“, wie es der
phantaſievolle Hertzka geträumt hat, zu unterſtützen. Wo das neue
Staatsgebilde auſſprießen ſoll, darüber wird geſchwiegen. Das
eben Mitgetheilte aber iſt gutverbürgt. Die Spielart des ſocia-
liſtiſchen Studenten, die unter der Herrſchaft des Ausnahmegeſetzes
nahezu ausgeſtorben war, fängt unter dem milderen Klima der
neuen Aera wieder an, ſich zu vermehren, und der „Reichsbote“,
welchen der Sturz ſeines Schutzpatrons gar zu griesgrämig gemacht
hat, ſieht bereits, wie unſre Bureaukratie dem Hecker’ſchen Schlapp-
hut des Hrn. Paul Singer „die Reverenz erweist“. Das officielle
Arbeiterwitzblatt „Der wahre Jakob“, das in einer Auflage von rund
100,000 Exemplaren alle vierzehn Tage erſcheint, hat nicht ohne Grund
eine Congreß-Jubelnummer ausgegeben, die in hübſcher Ausſtattung
verſchiedene Scenen des Parteitages illuſtrirt und die Hauptfiguren
desſelben im Bilde vereinigt. Daß die ſonnige Göttin des Humors
bei dieſer ſeriöſen Kundgebung nicht Pathendienſte geleiſtet hat,
fällt nicht ins Gewicht. Man bedenke, was die Auflageziffer dieſer
Unterhaltungsſchrift, welche der Arbeiter neben ſeiner politiſchen
Zeitung und ſeinem Gewerkſchaftsorgan hält, zu bedeuten hat, ganz
abgeſehen von der nichtperiodiſchen Literatur ſocialiſtiſcher Färbung,
als deren ſtändiger Käufer das deutſche politiſch organiſirte Prole-
tariat auſtritt.
Das Leſebedürfniß und der Bildungstrieb der Arbeiter können
für gewiſſe Schichten der Beſitzenden recht beſchämend wirken, die
mit dem Leſen eines farbloſen Klatſchblättchens und irgend
eines Schauerromans ihrer Zeit genug gethan zu haben glau-
ben. Es kommt hier gar nicht darauf an, ob die geiſtige Bewe-
gung der Arbeiterclaſſe ſich in den richtigen Bahnen befinde
oder nicht, die einfache Thatſache des großen und unausgeſetzt
wachſenden geiſtigen Verzehrs unter den Arbeitern ſpricht ganze
Bände. Waren doch dieſer Tage Berliner Arbeiter verſammelt,
um allen Ernſtes die Gründung einer „Akademie“ zu beſprechen,
eines „Allgemeinen Arbeiterbildungsvereines“, der die Ideen der
Socialdemokratie durch Vorträge, Errichtung einer reich aus-
geſtatteten Bibliothek, „Schulung von Rednern“ zu fördern be-
zweckt — ein Plan, der übrigens ſchon einmal in den ſiebziger
Jahren, als die Fritzſche, Moſt und Genoſſen noch zu den Füßen
des Hrn. Eugen Dühring ſaßen, eifrig erwogen worden iſt. Wer
jahrelang die Verſammlungen der Arbeiter beſucht hat, wird die
Beobachtung gemacht haben, daß die Redegewandtheit ſich erheblich
geſteigert hat, daß ein moderner Fabrikarbeiter im Stande iſt, in
verſtändlicher Weiſe fließend ſeine Anſichten darzulegen. Im ſelben
Verhältniß, in welchem die Redekunſt ſich hier entfaltet, nimmt ſie
bei den Gebildeten ab. Der kurze, als ſchneidig geltende Ton,
der in Interjectionen und Satzbruchſtücken ſich gefällt, verdrängt
bedauerlicherweiſe die redneriſche Technik, welche in unſrer parla-
mentariſchen Zeit die Vorbedingung für ein öffentliches Auftreten
iſt. Die Chriſtlich-Socialen haben auf dieſe Mängel bereits hin-
gewieſen und gleichfalls die Gründung von Rednerſchulen an-
empfohlen. Dialektiſche Sicherheit gepaart mit gründlicher ſocial-
politiſcher Bildung ſind die Waffen, ohne welche ein Turnier der
Geiſter in unſern ſtürmiſch bewegten Tagen nicht durchzuſechten iſt.
Der nahende Winter macht ſich bereits deutlich bemerkbar,
die Saiſongewerbe, welche nur für beſtimmte Jahreszeiten Hände
brauchen, beginnen, ihre Arbeitskräfte freizuſetzen. Die Bauinduſtrie,
die in Berlin eine hervorragende Stellung einnimmt, wird mit dem
Sinken des Thermometers ihre Thätigkeit mehr und mehr ein-
ſchränken und die Ziffer der Arbeitsloſen, deren es das ganze
Jahr hindurch eine große Menge gibt, muß ſich vermehren. Die
Jagd nach einer vorübergehenden Beſchäftigung, die ein paar
Groſchen einbringt, hebt wieder an, und vor der Expedition des
„Intelligenzblattes“ mit ſeinen zahlloſen Inſeraten ſammeln ſich
Hunderte und Aberhunderte von Stellenſuchenden. Namentlich
gilt dies von den Arbeiterinnen. Wer aber nun annähme, daß
die Organiſation dieſer letzteren eine feſte werden müſſe, da ja die
Logik der Thatſachen zu einem Kampf für beſſere Zuſtände nöthigt,
der iſt im Irrthum. Sind die Berliner Gewerkſchaftsverhältniſſe
zerfahren und verworren, ſo iſt die vielgenannte Frauenbewegung
der Gipfel der Verworrenheit. Eitel Zank, perſönliche Reibereien
und Eiferſüchteleien, Austauſch handfeſter Liebenswürdigkeiten bilden
das Um und Auf der Debatten in den Arbeiterinnenvereinen. Ab
und zu kommen freilich Dinge zu Tage, die ein grelles Streiflicht
auf arge Mißſtände werfen.
Die Zerſplitterung in ungezählte Maſſen von Vereinchen und
Vereinen iſt ein charakteriſtiſches Merkmal der gewerkſchaftlichen
Bewegung in Berlin. Die vielen Gerngroße müſſen wenigſtens
im kleinen und kleinſten Conventikel den Jupiter tragiren, und das
Partikelchen einer Theilorganiſation eines Branchentheils iſt
der Olymp, von welchem ſie zu donnern belieben. Eine
Strikecontrolcommiſſion ſoll zwar die Vorgänge auf dem
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(2021-09-13T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
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