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Allgemeine Zeitung. Nr. 333. München, 1. Dezember 1890.

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Allgemeine Zeitung.
Nr. 333. -- 92. Jahrgang.
Abendblatt.
München, Montag, 1. December 1890.


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Redaktion u. Expedi-
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Portugal und Spanien A. Ammel und C. Klincksieck in Paris; für Italien H. Loescher und Frat.
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amt in Wien oder Triest; für Nordamerika F. W. Christern, E. Steiger u. Co., Gust. E. Stechert,
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Verantwortlicher Rebakteur: Hugo Jacobi in München.
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Hamburg bei W. Wilckens u. Ad. Steiner, New York bei der Intern. Publishing Agency, 710 Broadway.
Druck und Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung Nachfolger in Stuttgart und München.


[Spaltenumbruch]
Inhalts-Uebersicht.
Politische Rundschau. -- Deutsches Reich. München: Volks-
zählung. Berlin: Jesuitengesetz. Verleumdung des Fürsten
Bismarck. Colonialangelegenheiten. Helgoland. Arbeiterschutzgesetz-
gebung. Invaliditäts- und Altersversicherung. Vieheinfuhr. Hof-
und Personalnachrichten. Verschiedenes. [] Der Reichstag.
Vp. Bremen: Emin Pascha. Frankfurt a. M.: Oberbürger-
meister Adickes. [] Karlsruhe: Zur Aufhebung des Identitäts-
nachweises. Eine Verordnung des erzbischöflichen Ordinariats.
Oesterreich-Ungarn. Wien: Vom Ausgleichsschauplatz. Vieh-
seuchenconvention mit der Schweiz. Reform der Frachtentarife.
Militärisches. Verschiedenes. F. Deutsch-österreichischer Handels-
vertrag. Lemberg: Landtag.
Großbritannien. London: Parnells Manifest. Preßstimmen.
Gladstone. Die liberale Partei. Die irische Fraction. Ritua-
lismus.
Frankreich. Paris: Die Kammer und Rouvier. Zum Colonial-
budget. Die Gesellschaft der Russenfreunde.
Rumänien. H. Bukarest: Die Lösung der Cabinetsfrage.
[] Hiezu: Beilage.



In Berlin wird heute, mit einer allerdings wesentlich
militärischen Feier, der 250. Jahrestag der Thronbestei-
gung des Großen Kurfürsten begangen. Kurfürst Fried-
rich Wilhelm, der heute vor 250 Jahren die Regierung
der kleinen, durch den dreißigjährigen Krieg aufs ärgste
verwüsteten und ausgesogenen Kurmark antrat, hinterließ
nach einer 48jährigen Regierung einen wohlgeordneten,
festgefugten Staat von europäischem Charakter, das Funda-
ment, auf welchem das heutige Preußen und mit
ihm das heutige Deutschland steht. Das Königreich,
für welches sein Sohn und Nachfolger die äußere
Form schuf, war vom Großen Kurfürsten bereits
begründet als ein Staatswesen, beruhend auf einem
tüchtigen sieggewohnten Heere, stark und wohl-
gegliedert, mit einer für damalige Verhältnisse schnell und
scharf ineinander greifenden Organisation. Der Name des
Siegers von Fehrbellin und Warschau ward in allen
europäischen Ländern mit hoher Achtung genannt, und wie
weit der großartige Fernblick des Kurfürsten reichte, be-
weist seine Schöpfung einer brandenburgischen Marine
und brandenburgischer Colonien in Afrika. Erst zwei-
hundert Jahre später haben die Enkel jene Arbeit auf
dem Meere und jenseit des Meeres wieder aufgenom-
men, welche er vorschauenden Geistes als Erbe der
erloschenen Hansa angetreten, und erst der Adler des
Deutschen Reiches ist dem Fluge gefolgt, welchen zwei-
hundert Jahre zuvor der rothe Aar von Kurbrandenburg
an die Küsten von Afrika nahm. Wenn Kaiser Wilhelm
heute dankerfüllt mit seinem Hause den Manen des großen
Ahnherrn den Zoll der Huldigung darbringt, so begeht
er damit einen Act der Pietät, bei welchem er sich mit der
[Spaltenumbruch] großen Mehrzahl der Deutschen eins wissen darf. Außer-
ordentliche organisatorische Kraft, Entschlossenheit und
Umsicht in der Friedensarbeit wie auf dem Schlachtfelde, her-
vorragende Gewandtheit in der Staatskunst und hoher per-
sönlicher Heldenmuth im Gefecht haben dem großen Branden-
burger in der gesammten deutschen Geschichte einen Ehrenplatz
für alle Zeiten gesichert, und es ist wohl nicht zu viel ge-
sagt, daß namentlich das protestantische Deutschland in
ihm den Fürsten verehrt, dessen kraftvolles Walten nach
den schweren Erschütterungen des dreißigjährigen Krieges --
mehr noch als die Bestimmungen des westfälischen Friedens --
dem protestantischen Bekenntniß nicht nur in Deutschland
das Bürgerrecht sicherte, sondern auch den verfolgten Pro-
testanten des Auslandes eine Zuflucht in den branden-
burgischen Marken erössnete, die sich für diese letzteren
selbst zu hohem Segen gestaltet hat.

Die Ultramontanen in Ungarn zeigen sich beslissen,
die Ankündigung des Cultusministers Grafen Csaky, seinen
Erlaß bezüglich der Wegtaufungen dahin zu modificiren,
daß die Matrikelauszüge von den wegtaufenden Seelsorgern
an die politische Behörde einzusenden seien, als einen
Rückzug der Regierung hinzustellen. Dieser Darstellung
gegenüber verweisen die liberalen Blätter darauf, daß diese
Modification eine bloß formale sei und das Wesen des
Erlasses nicht tangire, der in der Hauptsache dahin ziele,
daß ein weggetauftes Kind nicht der Confession entzogen
werden dürfe, welcher es kraft des Gesetzes anzugehören
hat, und darauf, daß diese "Concession" schon vor mehreren
Monaten, lange bevor die Agitation des niederen Klerus
um sich gegriffen hatte, der Curie angeboten, von dieser
aber damals als ungenügend abgelehnt worden sei. Wenn die
Curie nunmehr, wie es scheine, diese Modification acceptiren
wolle, dann sei es doch nicht das Ministerium, welches einen
Rückzug antrete. Thatsächlich läge zu einem solchen nach
dem großartigen Vertrauensvotum des Abgeordnetenhauses
für den Grafen Csaly keinerlei Veranlassung vor, und
auch die heute eingelaufene Meldung über den Eherechts-
entwurf des Justizministers deutet durchaus nicht darauf
hin, daß an ein Zurückweichen seitens der Regierung ge-
dacht wird. Hr. v. Szilagyi hat, wie die "Pol. Corr."
meldet, an die Einlösung seines Wortes betreffs Ein-
führung der Civilehe sein weiteres Verbleiben im Amte
geknüpft; nachdem selbst Graf Apponyi sich für die
Schaffung dieser Institution ausgesprochen hat, kann nur
noch darüber ein Zweifel bestehen, ob dem Reichstag die
von Szilagyi beabsichtigte Einführung der Nothcivilehe,
wie sie auch in Oesterreich besteht, als genügend erscheinen
oder ob die obligatorische Civilehe für unerläßlich betrachtet
werden wird.

Parnell ist nach Cork abgereist, um sich von seinen
Wählern ein Vertrauensvotum ertheilen zu lassen. Ein
solches scheint seine Stellung aber nicht mehr retten zu
[Spaltenumbruch] können, da versichert wird, die Mehrheit der irischen Ab-
geordneten werde in der auf heute angesetzten neuen
Fractionssitzung seine Führerschaft fallen lassen, und nur
ein schwaches Drittel seiner bisherigen Gefolgschaft werde
ihm treu bleiben. Selbst die Herren Dillon und O'Brien
haben aus Amerika ihre Absage von Parnell erklärt und
in einem von Chicago aus erlassenen Manifest ausgespro-
chen, daß derselbe unmöglich länger der Führer der Partei
bleiben könne; auch tadeln sie darin den feindseligen Ton,
welchen Parnell in seinem Manifest gegen Gladstone, Mor-
ley und das englische Volk überhaupt angeschlagen hat.
Ob der Empfang Parnells in Cork wirklich so großartig
sein wird, wie ihn ein Telegramm ankündigt, wird sich
erst zeigen müssen, wenigstens hat sich die katholische Geist-
lichkeit von Cork gegen Parnell erklärt, und auch die Erz-
bischöfe von Dublin und Cashel, die HH. Walsh und
Croke, haben sich für den Rücktritt desselben von der Führung
der irischen Fraction ausgesprochen. Wird Parnells Führer-
schaft beseitigt, so will Gladstone die Verbindung der Libe-
ralen mit den Iren weiter bestehen lassen.

Man hatte aus den Erklärungen des Erzbischofs von
Algier und einiger anderen Bischöfe zu Gunsten der Repu-
blik, sowie aus ihren Berufungen auf die Autorität des
Papstes da und dort geschlossen, daß die französische
Regierung
dem Papste allerlei Versprechungen gemacht
haben könnte, sowohl was die innere Politik Frankreichs
als gewisse Fragen in Bezug auf die Stellung des päpst-
lichen Stuhles selbst betreffe. Man hat sich für diese
Combinationen zwar nicht auf bestimmte Besprechungen
zwischen der Diplomatie Frankreichs und der des päpst-
lichen Stuhles berufen können; aber man hat sie aus der
Stellung, welche Frankreich und der päpstliche Stuhl gegen-
über Italien einnehmen, sowie daraus schöpfen zu dürfen
geglaubt, daß die Bischöfe Frankreichs ihren Anschluß an
die Republik denn doch nicht ohne jeden Preis oder jede
Hoffnung auf einen solchen ausgesprochen haben werden.
Von Seiten der französischen Regierung scheint diese Schluß-
folgerung sehr bestimmt bestritten zu werden; wenigstens
schreibt uns ein aus ihren Kreisen öfters gut informirter
Correspondent:

"In diesen Combinationen liegt eine vollständige Verkennung
der Situation. Die französische Regierung ist der Ausdruck des
in der Kammer ausgesprochenen Volkswillens, welcher sich in ganz
anderer Richtung bewegt. Die Kammermehrheit betreibt seit mehr
als einem Jahrzehnt die vollständige Verweltlichung des Staates,
an der sie mit eiserner Consequenz festhält, da sie darin die Existenz
der Republik begründet sieht. Für die französische Regierung steht
daher die Kirche ebenso außerhalb des Staates als dieser außer-
halb der Kirche. Von einer politischen Verständigung mit dem
Papste kann also für sie keine Rede sein. Die französischen Prä-
laten mögen, mit oder ohne Zustimmung des Papstes, ihren Bei-
tritt zur Republik erklären, diese wird dadurch in keiner Weise be-
rührt, zur Abweichung von ihrer bisherigen Richtung, von ihren
Principien bewogen werden. Die Negierung aber wird in dieser



Zur Arbeiterbewegung.

Die Feststimmung, welche die
Halle'sche Campagne erzeugt hat, ist noch nicht gewichen, und wenn
die Angrisse der Gegner nicht wären, die mitunter recht verdrieß-
lich sind, könnte Hr. Liebknecht, der Chef des "Volksblattes", ruhig
schlafen. Es ist für denjenigen, der, wie Ihr Correspondent, den
Amtsverkündiger der deutschen Socialdemokratie genau zu lesen pflegt,
keine angenehme Aufgabe gewesen, sich durch den endlosen Streit
mit Eugen Richter und den Männern der "Germania" hindurch-
zuarbeiten. Der "Zukunftsstaat", nach welchem die Wißbegierde
der Widerfacher unausgesetzt sich erkundigte, bildete den Erisapfel.
Man kann nicht behaupten, daß das "Volksblatt" sich besonders
geschickt aus dieser Affaire gezogen hat, obwohl Hr. Richter im
Grunde nichts wiederholte, als die aristotelischen Einwände gegen
den platonischen Staat, eine moderne Kampfpartei aber wahrlich
mit näherliegenden Fragen zu thun hat, als mit der Ausmalung
von Utopien. Das Buch Bellamy's gibt ja die bündigste Aus-
kunst für neugierige Frager, und es verdient festgestellt zu werden,
daß dasselbe einen ungeahnten Erfolg gerade in den Kreisen der
Gebildeten davongetragen hat. In der Sommerfrische, auf der
Eisenbahn, im Pferdebahnwagen, überall begegnete man dem
rothen Heftchen aus der Reclam'schen Bibliothek, das die von dem
Berliner Philosophie - Professor Georg v. Gizycli veranstaltete
Uebertragung des Looking backward aller Welt für 40 Pf. zu-
gänglich macht. Im Thiergarten, im Concertsaal, überall spricht
man über Bellamy, und alte Geheimräthe, die sonst nie einen
Roman in die Hand nehmen, lesen das Buch des Amerikaners.
Besonders die Frauen fesselt die Lectüre, und die Wirkung äußert
sich in zuweilen "recht verfänglichen Fragen". Der Socialismus liegt
in der Luft, unsre Politik dreht sich um die Arbeiterfrage, unsre
Dramendichter behandeln sociale Probleme, das "Deutsche Theater"
führt uns einen Strike auf offener Bühne vor, und Sudermann
prophezeit nicht bloß den Besuchern des Lessing-Theaters das
Schicksal der unseligen Bewohner von Sodom. Wie ich höre, soll
demnächst hier eine öffentliche Aufforderung an alle mildherzigen
Capitalisten und an wahlverwandte Seelen ergehen, die geneigt
sind, mit Rath und That, durch Wort und Schrift, mit guten Lehren
und vollen Händen die Gründung von "Freiland", wie es der
phantasievolle Hertzka geträumt hat, zu unterstützen. Wo das neue
[Spaltenumbruch] Staatsgebilde aussprießen soll, darüber wird geschwiegen. Das
eben Mitgetheilte aber ist gutverbürgt. Die Spielart des socia-
listischen Studenten, die unter der Herrschaft des Ausnahmegesetzes
nahezu ausgestorben war, fängt unter dem milderen Klima der
neuen Aera wieder an, sich zu vermehren, und der "Reichsbote",
welchen der Sturz seines Schutzpatrons gar zu griesgrämig gemacht
hat, sieht bereits, wie unsre Bureaukratie dem Hecker'schen Schlapp-
hut des Hrn. Paul Singer "die Reverenz erweist". Das officielle
Arbeiterwitzblatt "Der wahre Jakob", das in einer Auflage von rund
100,000 Exemplaren alle vierzehn Tage erscheint, hat nicht ohne Grund
eine Congreß-Jubelnummer ausgegeben, die in hübscher Ausstattung
verschiedene Scenen des Parteitages illustrirt und die Hauptfiguren
desselben im Bilde vereinigt. Daß die sonnige Göttin des Humors
bei dieser seriösen Kundgebung nicht Pathendienste geleistet hat,
fällt nicht ins Gewicht. Man bedenke, was die Auflageziffer dieser
Unterhaltungsschrift, welche der Arbeiter neben seiner politischen
Zeitung und seinem Gewerkschaftsorgan hält, zu bedeuten hat, ganz
abgesehen von der nichtperiodischen Literatur socialistischer Färbung,
als deren ständiger Käufer das deutsche politisch organisirte Prole-
tariat austritt.

Das Lesebedürfniß und der Bildungstrieb der Arbeiter können
für gewisse Schichten der Besitzenden recht beschämend wirken, die
mit dem Lesen eines farblosen Klatschblättchens und irgend
eines Schauerromans ihrer Zeit genug gethan zu haben glau-
ben. Es kommt hier gar nicht darauf an, ob die geistige Bewe-
gung der Arbeiterclasse sich in den richtigen Bahnen befinde
oder nicht, die einfache Thatsache des großen und unausgesetzt
wachsenden geistigen Verzehrs unter den Arbeitern spricht ganze
Bände. Waren doch dieser Tage Berliner Arbeiter versammelt,
um allen Ernstes die Gründung einer "Akademie" zu besprechen,
eines "Allgemeinen Arbeiterbildungsvereines", der die Ideen der
Socialdemokratie durch Vorträge, Errichtung einer reich aus-
gestatteten Bibliothek, "Schulung von Rednern" zu fördern be-
zweckt -- ein Plan, der übrigens schon einmal in den siebziger
Jahren, als die Fritzsche, Most und Genossen noch zu den Füßen
des Hrn. Eugen Dühring saßen, eifrig erwogen worden ist. Wer
jahrelang die Versammlungen der Arbeiter besucht hat, wird die
Beobachtung gemacht haben, daß die Redegewandtheit sich erheblich
gesteigert hat, daß ein moderner Fabrikarbeiter im Stande ist, in
verständlicher Weise fließend seine Ansichten darzulegen. Im selben
[Spaltenumbruch] Verhältniß, in welchem die Redekunst sich hier entfaltet, nimmt sie
bei den Gebildeten ab. Der kurze, als schneidig geltende Ton,
der in Interjectionen und Satzbruchstücken sich gefällt, verdrängt
bedauerlicherweise die rednerische Technik, welche in unsrer parla-
mentarischen Zeit die Vorbedingung für ein öffentliches Auftreten
ist. Die Christlich-Socialen haben auf diese Mängel bereits hin-
gewiesen und gleichfalls die Gründung von Rednerschulen an-
empfohlen. Dialektische Sicherheit gepaart mit gründlicher social-
politischer Bildung sind die Waffen, ohne welche ein Turnier der
Geister in unsern stürmisch bewegten Tagen nicht durchzusechten ist.

Der nahende Winter macht sich bereits deutlich bemerkbar,
die Saisongewerbe, welche nur für bestimmte Jahreszeiten Hände
brauchen, beginnen, ihre Arbeitskräfte freizusetzen. Die Bauindustrie,
die in Berlin eine hervorragende Stellung einnimmt, wird mit dem
Sinken des Thermometers ihre Thätigkeit mehr und mehr ein-
schränken und die Ziffer der Arbeitslosen, deren es das ganze
Jahr hindurch eine große Menge gibt, muß sich vermehren. Die
Jagd nach einer vorübergehenden Beschäftigung, die ein paar
Groschen einbringt, hebt wieder an, und vor der Expedition des
"Intelligenzblattes" mit seinen zahllosen Inseraten sammeln sich
Hunderte und Aberhunderte von Stellensuchenden. Namentlich
gilt dies von den Arbeiterinnen. Wer aber nun annähme, daß
die Organisation dieser letzteren eine feste werden müsse, da ja die
Logik der Thatsachen zu einem Kampf für bessere Zustände nöthigt,
der ist im Irrthum. Sind die Berliner Gewerkschaftsverhältnisse
zerfahren und verworren, so ist die vielgenannte Frauenbewegung
der Gipfel der Verworrenheit. Eitel Zank, persönliche Reibereien
und Eifersüchteleien, Austausch handfester Liebenswürdigkeiten bilden
das Um und Auf der Debatten in den Arbeiterinnenvereinen. Ab
und zu kommen freilich Dinge zu Tage, die ein grelles Streiflicht
auf arge Mißstände werfen.

Die Zersplitterung in ungezählte Massen von Vereinchen und
Vereinen ist ein charakteristisches Merkmal der gewerkschaftlichen
Bewegung in Berlin. Die vielen Gerngroße müssen wenigstens
im kleinen und kleinsten Conventikel den Jupiter tragiren, und das
Partikelchen einer Theilorganisation eines Branchentheils ist
der Olymp, von welchem sie zu donnern belieben. Eine
Strikecontrolcommission soll zwar die Vorgänge auf dem
Arbeitsmarkt überwachen, und ihr Entscheid bestimmt, ob ein Strike
berechtigt und daher zu unterstützen sei. Aber die Schwerfälligkeit


Allgemeine Zeitung.
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Druck und Verlag der J. G. Cottaſchen Buchhandlung Nachfolger in Stuttgart und München.


[Spaltenumbruch]
Inhalts-Ueberſicht.
Politiſche Rundſchau. — Deutſches Reich. München: Volks-
zählung. Berlin: Jeſuitengeſetz. Verleumdung des Fürſten
Bismarck. Colonialangelegenheiten. Helgoland. Arbeiterſchutzgeſetz-
gebung. Invaliditäts- und Altersverſicherung. Vieheinfuhr. Hof-
und Perſonalnachrichten. Verſchiedenes. [] Der Reichstag.
Vp. Bremen: Emin Paſcha. Frankfurt a. M.: Oberbürger-
meiſter Adickes. [≐] Karlsruhe: Zur Aufhebung des Identitäts-
nachweiſes. Eine Verordnung des erzbiſchöflichen Ordinariats.
Oeſterreich-Ungarn. Wien: Vom Ausgleichsſchauplatz. Vieh-
ſeuchenconvention mit der Schweiz. Reform der Frachtentarife.
Militäriſches. Verſchiedenes. F. Deutſch-öſterreichiſcher Handels-
vertrag. Lemberg: Landtag.
Großbritannien. London: Parnells Manifeſt. Preßſtimmen.
Gladſtone. Die liberale Partei. Die iriſche Fraction. Ritua-
lismus.
Frankreich. Paris: Die Kammer und Rouvier. Zum Colonial-
budget. Die Geſellſchaft der Ruſſenfreunde.
Rumänien. H. Bukareſt: Die Löſung der Cabinetsfrage.
[] Hiezu: Beilage.



In Berlin wird heute, mit einer allerdings weſentlich
militäriſchen Feier, der 250. Jahrestag der Thronbeſtei-
gung des Großen Kurfürſten begangen. Kurfürſt Fried-
rich Wilhelm, der heute vor 250 Jahren die Regierung
der kleinen, durch den dreißigjährigen Krieg aufs ärgſte
verwüſteten und ausgeſogenen Kurmark antrat, hinterließ
nach einer 48jährigen Regierung einen wohlgeordneten,
feſtgefugten Staat von europäiſchem Charakter, das Funda-
ment, auf welchem das heutige Preußen und mit
ihm das heutige Deutſchland ſteht. Das Königreich,
für welches ſein Sohn und Nachfolger die äußere
Form ſchuf, war vom Großen Kurfürſten bereits
begründet als ein Staatsweſen, beruhend auf einem
tüchtigen ſieggewohnten Heere, ſtark und wohl-
gegliedert, mit einer für damalige Verhältniſſe ſchnell und
ſcharf ineinander greifenden Organiſation. Der Name des
Siegers von Fehrbellin und Warſchau ward in allen
europäiſchen Ländern mit hoher Achtung genannt, und wie
weit der großartige Fernblick des Kurfürſten reichte, be-
weist ſeine Schöpfung einer brandenburgiſchen Marine
und brandenburgiſcher Colonien in Afrika. Erſt zwei-
hundert Jahre ſpäter haben die Enkel jene Arbeit auf
dem Meere und jenſeit des Meeres wieder aufgenom-
men, welche er vorſchauenden Geiſtes als Erbe der
erloſchenen Hanſa angetreten, und erſt der Adler des
Deutſchen Reiches iſt dem Fluge gefolgt, welchen zwei-
hundert Jahre zuvor der rothe Aar von Kurbrandenburg
an die Küſten von Afrika nahm. Wenn Kaiſer Wilhelm
heute dankerfüllt mit ſeinem Hauſe den Manen des großen
Ahnherrn den Zoll der Huldigung darbringt, ſo begeht
er damit einen Act der Pietät, bei welchem er ſich mit der
[Spaltenumbruch] großen Mehrzahl der Deutſchen eins wiſſen darf. Außer-
ordentliche organiſatoriſche Kraft, Entſchloſſenheit und
Umſicht in der Friedensarbeit wie auf dem Schlachtfelde, her-
vorragende Gewandtheit in der Staatskunſt und hoher per-
ſönlicher Heldenmuth im Gefecht haben dem großen Branden-
burger in der geſammten deutſchen Geſchichte einen Ehrenplatz
für alle Zeiten geſichert, und es iſt wohl nicht zu viel ge-
ſagt, daß namentlich das proteſtantiſche Deutſchland in
ihm den Fürſten verehrt, deſſen kraftvolles Walten nach
den ſchweren Erſchütterungen des dreißigjährigen Krieges —
mehr noch als die Beſtimmungen des weſtfäliſchen Friedens —
dem proteſtantiſchen Bekenntniß nicht nur in Deutſchland
das Bürgerrecht ſicherte, ſondern auch den verfolgten Pro-
teſtanten des Auslandes eine Zuflucht in den branden-
burgiſchen Marken eröſſnete, die ſich für dieſe letzteren
ſelbſt zu hohem Segen geſtaltet hat.

Die Ultramontanen in Ungarn zeigen ſich beſliſſen,
die Ankündigung des Cultusminiſters Grafen Cſáky, ſeinen
Erlaß bezüglich der Wegtaufungen dahin zu modificiren,
daß die Matrikelauszüge von den wegtaufenden Seelſorgern
an die politiſche Behörde einzuſenden ſeien, als einen
Rückzug der Regierung hinzuſtellen. Dieſer Darſtellung
gegenüber verweiſen die liberalen Blätter darauf, daß dieſe
Modification eine bloß formale ſei und das Weſen des
Erlaſſes nicht tangire, der in der Hauptſache dahin ziele,
daß ein weggetauftes Kind nicht der Confeſſion entzogen
werden dürfe, welcher es kraft des Geſetzes anzugehören
hat, und darauf, daß dieſe „Conceſſion“ ſchon vor mehreren
Monaten, lange bevor die Agitation des niederen Klerus
um ſich gegriffen hatte, der Curie angeboten, von dieſer
aber damals als ungenügend abgelehnt worden ſei. Wenn die
Curie nunmehr, wie es ſcheine, dieſe Modification acceptiren
wolle, dann ſei es doch nicht das Miniſterium, welches einen
Rückzug antrete. Thatſächlich läge zu einem ſolchen nach
dem großartigen Vertrauensvotum des Abgeordnetenhauſes
für den Grafen Cſály keinerlei Veranlaſſung vor, und
auch die heute eingelaufene Meldung über den Eherechts-
entwurf des Juſtizminiſters deutet durchaus nicht darauf
hin, daß an ein Zurückweichen ſeitens der Regierung ge-
dacht wird. Hr. v. Szilagyi hat, wie die „Pol. Corr.“
meldet, an die Einlöſung ſeines Wortes betreffs Ein-
führung der Civilehe ſein weiteres Verbleiben im Amte
geknüpft; nachdem ſelbſt Graf Apponyi ſich für die
Schaffung dieſer Inſtitution ausgeſprochen hat, kann nur
noch darüber ein Zweifel beſtehen, ob dem Reichstag die
von Szilagyi beabſichtigte Einführung der Nothcivilehe,
wie ſie auch in Oeſterreich beſteht, als genügend erſcheinen
oder ob die obligatoriſche Civilehe für unerläßlich betrachtet
werden wird.

Parnell iſt nach Cork abgereist, um ſich von ſeinen
Wählern ein Vertrauensvotum ertheilen zu laſſen. Ein
ſolches ſcheint ſeine Stellung aber nicht mehr retten zu
[Spaltenumbruch] können, da verſichert wird, die Mehrheit der iriſchen Ab-
geordneten werde in der auf heute angeſetzten neuen
Fractionsſitzung ſeine Führerſchaft fallen laſſen, und nur
ein ſchwaches Drittel ſeiner bisherigen Gefolgſchaft werde
ihm treu bleiben. Selbſt die Herren Dillon und O’Brien
haben aus Amerika ihre Abſage von Parnell erklärt und
in einem von Chicago aus erlaſſenen Manifeſt ausgeſpro-
chen, daß derſelbe unmöglich länger der Führer der Partei
bleiben könne; auch tadeln ſie darin den feindſeligen Ton,
welchen Parnell in ſeinem Manifeſt gegen Gladſtone, Mor-
ley und das engliſche Volk überhaupt angeſchlagen hat.
Ob der Empfang Parnells in Cork wirklich ſo großartig
ſein wird, wie ihn ein Telegramm ankündigt, wird ſich
erſt zeigen müſſen, wenigſtens hat ſich die katholiſche Geiſt-
lichkeit von Cork gegen Parnell erklärt, und auch die Erz-
biſchöfe von Dublin und Caſhel, die HH. Walſh und
Croke, haben ſich für den Rücktritt desſelben von der Führung
der iriſchen Fraction ausgeſprochen. Wird Parnells Führer-
ſchaft beſeitigt, ſo will Gladſtone die Verbindung der Libe-
ralen mit den Iren weiter beſtehen laſſen.

Man hatte aus den Erklärungen des Erzbiſchofs von
Algier und einiger anderen Biſchöfe zu Gunſten der Repu-
blik, ſowie aus ihren Berufungen auf die Autorität des
Papſtes da und dort geſchloſſen, daß die franzöſiſche
Regierung
dem Papſte allerlei Verſprechungen gemacht
haben könnte, ſowohl was die innere Politik Frankreichs
als gewiſſe Fragen in Bezug auf die Stellung des päpſt-
lichen Stuhles ſelbſt betreffe. Man hat ſich für dieſe
Combinationen zwar nicht auf beſtimmte Beſprechungen
zwiſchen der Diplomatie Frankreichs und der des päpſt-
lichen Stuhles berufen können; aber man hat ſie aus der
Stellung, welche Frankreich und der päpſtliche Stuhl gegen-
über Italien einnehmen, ſowie daraus ſchöpfen zu dürfen
geglaubt, daß die Biſchöfe Frankreichs ihren Anſchluß an
die Republik denn doch nicht ohne jeden Preis oder jede
Hoffnung auf einen ſolchen ausgeſprochen haben werden.
Von Seiten der franzöſiſchen Regierung ſcheint dieſe Schluß-
folgerung ſehr beſtimmt beſtritten zu werden; wenigſtens
ſchreibt uns ein aus ihren Kreiſen öfters gut informirter
Correſpondent:

„In dieſen Combinationen liegt eine vollſtändige Verkennung
der Situation. Die franzöſiſche Regierung iſt der Ausdruck des
in der Kammer ausgeſprochenen Volkswillens, welcher ſich in ganz
anderer Richtung bewegt. Die Kammermehrheit betreibt ſeit mehr
als einem Jahrzehnt die vollſtändige Verweltlichung des Staates,
an der ſie mit eiſerner Conſequenz feſthält, da ſie darin die Exiſtenz
der Republik begründet ſieht. Für die franzöſiſche Regierung ſteht
daher die Kirche ebenſo außerhalb des Staates als dieſer außer-
halb der Kirche. Von einer politiſchen Verſtändigung mit dem
Papſte kann alſo für ſie keine Rede ſein. Die franzöſiſchen Prä-
laten mögen, mit oder ohne Zuſtimmung des Papſtes, ihren Bei-
tritt zur Republik erklären, dieſe wird dadurch in keiner Weiſe be-
rührt, zur Abweichung von ihrer bisherigen Richtung, von ihren
Principien bewogen werden. Die Negierung aber wird in dieſer



Zur Arbeiterbewegung.

Die Feſtſtimmung, welche die
Halle’ſche Campagne erzeugt hat, iſt noch nicht gewichen, und wenn
die Angriſſe der Gegner nicht wären, die mitunter recht verdrieß-
lich ſind, könnte Hr. Liebknecht, der Chef des „Volksblattes“, ruhig
ſchlafen. Es iſt für denjenigen, der, wie Ihr Correſpondent, den
Amtsverkündiger der deutſchen Socialdemokratie genau zu leſen pflegt,
keine angenehme Aufgabe geweſen, ſich durch den endloſen Streit
mit Eugen Richter und den Männern der „Germania“ hindurch-
zuarbeiten. Der „Zukunftsſtaat“, nach welchem die Wißbegierde
der Widerfacher unausgeſetzt ſich erkundigte, bildete den Erisapfel.
Man kann nicht behaupten, daß das „Volksblatt“ ſich beſonders
geſchickt aus dieſer Affaire gezogen hat, obwohl Hr. Richter im
Grunde nichts wiederholte, als die ariſtoteliſchen Einwände gegen
den platoniſchen Staat, eine moderne Kampfpartei aber wahrlich
mit näherliegenden Fragen zu thun hat, als mit der Ausmalung
von Utopien. Das Buch Bellamy’s gibt ja die bündigſte Aus-
kunſt für neugierige Frager, und es verdient feſtgeſtellt zu werden,
daß dasſelbe einen ungeahnten Erfolg gerade in den Kreiſen der
Gebildeten davongetragen hat. In der Sommerfriſche, auf der
Eiſenbahn, im Pferdebahnwagen, überall begegnete man dem
rothen Heftchen aus der Reclam’ſchen Bibliothek, das die von dem
Berliner Philoſophie - Profeſſor Georg v. Giźycli veranſtaltete
Uebertragung des Looking backward aller Welt für 40 Pf. zu-
gänglich macht. Im Thiergarten, im Concertſaal, überall ſpricht
man über Bellamy, und alte Geheimräthe, die ſonſt nie einen
Roman in die Hand nehmen, leſen das Buch des Amerikaners.
Beſonders die Frauen feſſelt die Lectüre, und die Wirkung äußert
ſich in zuweilen „recht verfänglichen Fragen“. Der Socialismus liegt
in der Luft, unſre Politik dreht ſich um die Arbeiterfrage, unſre
Dramendichter behandeln ſociale Probleme, das „Deutſche Theater“
führt uns einen Strike auf offener Bühne vor, und Sudermann
prophezeit nicht bloß den Beſuchern des Leſſing-Theaters das
Schickſal der unſeligen Bewohner von Sodom. Wie ich höre, ſoll
demnächſt hier eine öffentliche Aufforderung an alle mildherzigen
Capitaliſten und an wahlverwandte Seelen ergehen, die geneigt
ſind, mit Rath und That, durch Wort und Schrift, mit guten Lehren
und vollen Händen die Gründung von „Freiland“, wie es der
phantaſievolle Hertzka geträumt hat, zu unterſtützen. Wo das neue
[Spaltenumbruch] Staatsgebilde auſſprießen ſoll, darüber wird geſchwiegen. Das
eben Mitgetheilte aber iſt gutverbürgt. Die Spielart des ſocia-
liſtiſchen Studenten, die unter der Herrſchaft des Ausnahmegeſetzes
nahezu ausgeſtorben war, fängt unter dem milderen Klima der
neuen Aera wieder an, ſich zu vermehren, und der „Reichsbote“,
welchen der Sturz ſeines Schutzpatrons gar zu griesgrämig gemacht
hat, ſieht bereits, wie unſre Bureaukratie dem Hecker’ſchen Schlapp-
hut des Hrn. Paul Singer „die Reverenz erweist“. Das officielle
Arbeiterwitzblatt „Der wahre Jakob“, das in einer Auflage von rund
100,000 Exemplaren alle vierzehn Tage erſcheint, hat nicht ohne Grund
eine Congreß-Jubelnummer ausgegeben, die in hübſcher Ausſtattung
verſchiedene Scenen des Parteitages illuſtrirt und die Hauptfiguren
desſelben im Bilde vereinigt. Daß die ſonnige Göttin des Humors
bei dieſer ſeriöſen Kundgebung nicht Pathendienſte geleiſtet hat,
fällt nicht ins Gewicht. Man bedenke, was die Auflageziffer dieſer
Unterhaltungsſchrift, welche der Arbeiter neben ſeiner politiſchen
Zeitung und ſeinem Gewerkſchaftsorgan hält, zu bedeuten hat, ganz
abgeſehen von der nichtperiodiſchen Literatur ſocialiſtiſcher Färbung,
als deren ſtändiger Käufer das deutſche politiſch organiſirte Prole-
tariat auſtritt.

Das Leſebedürfniß und der Bildungstrieb der Arbeiter können
für gewiſſe Schichten der Beſitzenden recht beſchämend wirken, die
mit dem Leſen eines farbloſen Klatſchblättchens und irgend
eines Schauerromans ihrer Zeit genug gethan zu haben glau-
ben. Es kommt hier gar nicht darauf an, ob die geiſtige Bewe-
gung der Arbeiterclaſſe ſich in den richtigen Bahnen befinde
oder nicht, die einfache Thatſache des großen und unausgeſetzt
wachſenden geiſtigen Verzehrs unter den Arbeitern ſpricht ganze
Bände. Waren doch dieſer Tage Berliner Arbeiter verſammelt,
um allen Ernſtes die Gründung einer „Akademie“ zu beſprechen,
eines „Allgemeinen Arbeiterbildungsvereines“, der die Ideen der
Socialdemokratie durch Vorträge, Errichtung einer reich aus-
geſtatteten Bibliothek, „Schulung von Rednern“ zu fördern be-
zweckt — ein Plan, der übrigens ſchon einmal in den ſiebziger
Jahren, als die Fritzſche, Moſt und Genoſſen noch zu den Füßen
des Hrn. Eugen Dühring ſaßen, eifrig erwogen worden iſt. Wer
jahrelang die Verſammlungen der Arbeiter beſucht hat, wird die
Beobachtung gemacht haben, daß die Redegewandtheit ſich erheblich
geſteigert hat, daß ein moderner Fabrikarbeiter im Stande iſt, in
verſtändlicher Weiſe fließend ſeine Anſichten darzulegen. Im ſelben
[Spaltenumbruch] Verhältniß, in welchem die Redekunſt ſich hier entfaltet, nimmt ſie
bei den Gebildeten ab. Der kurze, als ſchneidig geltende Ton,
der in Interjectionen und Satzbruchſtücken ſich gefällt, verdrängt
bedauerlicherweiſe die redneriſche Technik, welche in unſrer parla-
mentariſchen Zeit die Vorbedingung für ein öffentliches Auftreten
iſt. Die Chriſtlich-Socialen haben auf dieſe Mängel bereits hin-
gewieſen und gleichfalls die Gründung von Rednerſchulen an-
empfohlen. Dialektiſche Sicherheit gepaart mit gründlicher ſocial-
politiſcher Bildung ſind die Waffen, ohne welche ein Turnier der
Geiſter in unſern ſtürmiſch bewegten Tagen nicht durchzuſechten iſt.

Der nahende Winter macht ſich bereits deutlich bemerkbar,
die Saiſongewerbe, welche nur für beſtimmte Jahreszeiten Hände
brauchen, beginnen, ihre Arbeitskräfte freizuſetzen. Die Bauinduſtrie,
die in Berlin eine hervorragende Stellung einnimmt, wird mit dem
Sinken des Thermometers ihre Thätigkeit mehr und mehr ein-
ſchränken und die Ziffer der Arbeitsloſen, deren es das ganze
Jahr hindurch eine große Menge gibt, muß ſich vermehren. Die
Jagd nach einer vorübergehenden Beſchäftigung, die ein paar
Groſchen einbringt, hebt wieder an, und vor der Expedition des
„Intelligenzblattes“ mit ſeinen zahlloſen Inſeraten ſammeln ſich
Hunderte und Aberhunderte von Stellenſuchenden. Namentlich
gilt dies von den Arbeiterinnen. Wer aber nun annähme, daß
die Organiſation dieſer letzteren eine feſte werden müſſe, da ja die
Logik der Thatſachen zu einem Kampf für beſſere Zuſtände nöthigt,
der iſt im Irrthum. Sind die Berliner Gewerkſchaftsverhältniſſe
zerfahren und verworren, ſo iſt die vielgenannte Frauenbewegung
der Gipfel der Verworrenheit. Eitel Zank, perſönliche Reibereien
und Eiferſüchteleien, Austauſch handfeſter Liebenswürdigkeiten bilden
das Um und Auf der Debatten in den Arbeiterinnenvereinen. Ab
und zu kommen freilich Dinge zu Tage, die ein grelles Streiflicht
auf arge Mißſtände werfen.

Die Zerſplitterung in ungezählte Maſſen von Vereinchen und
Vereinen iſt ein charakteriſtiſches Merkmal der gewerkſchaftlichen
Bewegung in Berlin. Die vielen Gerngroße müſſen wenigſtens
im kleinen und kleinſten Conventikel den Jupiter tragiren, und das
Partikelchen einer Theilorganiſation eines Branchentheils iſt
der Olymp, von welchem ſie zu donnern belieben. Eine
Strikecontrolcommiſſion ſoll zwar die Vorgänge auf dem
Arbeitsmarkt überwachen, und ihr Entſcheid beſtimmt, ob ein Strike
berechtigt und daher zu unterſtützen ſei. Aber die Schwerfälligkeit

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Von Seiten der franzö&#x017F;i&#x017F;chen Regierung &#x017F;cheint die&#x017F;e Schluß-<lb/>
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Pap&#x017F;te kann al&#x017F;o für &#x017F;ie keine Rede &#x017F;ein. Die franzö&#x017F;i&#x017F;chen Prä-<lb/>
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&#x017F;chlafen. Es i&#x017F;t für denjenigen, der, wie Ihr Corre&#x017F;pondent, den<lb/>
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Man kann nicht behaupten, daß das &#x201E;Volksblatt&#x201C; &#x017F;ich be&#x017F;onders<lb/>
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Gebildeten davongetragen hat. In der Sommerfri&#x017F;che, auf der<lb/>
Ei&#x017F;enbahn, im Pferdebahnwagen, überall begegnete man dem<lb/>
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Uebertragung des <hi rendition="#aq">Looking backward</hi> aller Welt für 40 Pf. zu-<lb/>
gänglich macht. Im Thiergarten, im Concert&#x017F;aal, überall &#x017F;pricht<lb/>
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Be&#x017F;onders die Frauen fe&#x017F;&#x017F;elt die Lectüre, und die Wirkung äußert<lb/>
&#x017F;ich in zuweilen &#x201E;recht verfänglichen Fragen&#x201C;. Der Socialismus liegt<lb/>
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Dramendichter behandeln &#x017F;ociale Probleme, das &#x201E;Deut&#x017F;che Theater&#x201C;<lb/>
führt uns einen Strike auf offener Bühne vor, und Sudermann<lb/>
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Schick&#x017F;al der un&#x017F;eligen Bewohner von Sodom. Wie ich höre, &#x017F;oll<lb/>
demnäch&#x017F;t hier eine öffentliche Aufforderung an alle mildherzigen<lb/>
Capitali&#x017F;ten und an wahlverwandte Seelen ergehen, die geneigt<lb/>
&#x017F;ind, mit Rath und That, durch Wort und Schrift, mit guten Lehren<lb/>
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Staatsgebilde au&#x017F;&#x017F;prießen &#x017F;oll, darüber wird ge&#x017F;chwiegen. Das<lb/>
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li&#x017F;ti&#x017F;chen Studenten, die unter der Herr&#x017F;chaft des Ausnahmege&#x017F;etzes<lb/>
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welchen der Sturz &#x017F;eines Schutzpatrons gar zu griesgrämig gemacht<lb/>
hat, &#x017F;ieht bereits, wie un&#x017F;re Bureaukratie dem Hecker&#x2019;&#x017F;chen Schlapp-<lb/>
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Arbeiterwitzblatt &#x201E;Der wahre Jakob&#x201C;, das in einer Auflage von rund<lb/>
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eine Congreß-Jubelnummer ausgegeben, die in hüb&#x017F;cher Aus&#x017F;tattung<lb/>
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Unterhaltungs&#x017F;chrift, welche der Arbeiter neben &#x017F;einer politi&#x017F;chen<lb/>
Zeitung und &#x017F;einem Gewerk&#x017F;chaftsorgan hält, zu bedeuten hat, ganz<lb/>
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tariat au&#x017F;tritt.</p><lb/>
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oder nicht, die einfache That&#x017F;ache des großen und unausge&#x017F;etzt<lb/>
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Bände. Waren doch die&#x017F;er Tage Berliner Arbeiter ver&#x017F;ammelt,<lb/>
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Socialdemokratie durch Vorträge, Errichtung einer reich aus-<lb/>
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des Hrn. Eugen Dühring &#x017F;aßen, eifrig erwogen worden i&#x017F;t. Wer<lb/>
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Verhältniß, in welchem die Redekun&#x017F;t &#x017F;ich hier entfaltet, nimmt &#x017F;ie<lb/>
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mentari&#x017F;chen Zeit die Vorbedingung für ein öffentliches Auftreten<lb/>
i&#x017F;t. Die Chri&#x017F;tlich-Socialen haben auf die&#x017F;e Mängel bereits hin-<lb/>
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          <p>Der nahende Winter macht &#x017F;ich bereits deutlich bemerkbar,<lb/>
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[0001] Allgemeine Zeitung.Nr. 333. — 92. Jahrgang. Abendblatt. München, Montag, 1. December 1890. Abonnementspreis in München d. d. Ex- pedition oder den im Stadtbezirk errichte- ten Depots abgeholt monatl. M. 2. —, bei 2malig. Zuſtellung ins Haus M. 2.50; durch d. Poſt bezogen: vier- teljährlich f. Deutſchl. u. Oeſterreich M. 9. -, für d. Ausl. mit ent- ſprechendem Zuſchlag. Direkter Bezug unter Streifband für Deutſchland u. Oeſterreich monatl. M. 4. —, Ausland M. 5.60. Inſertionspreis v. Colonelzeile 25 Pf.; finanzielle Anzeigen 35 Pf.; Lokalanzeigen 20 Pf.; kleine Anzei- gen i. gewöhnl. Schrift 3 Pf., in ſetter Schrift 5 Pf. für das Wort. Redaktion u. Expedi- tion befinden ſich Schwanthalerſtr. 73 in München. Berichte ſind an die Redaktion, Inſerat- aufträge an die Ex- pedition franko einzu- ſenden. Abonnements für das Ausland nehmen an: für England A. Siegle, 30 Lime Str. London; für Frankreich, Portugal und Spanien A. Ammel und C. Klinckſieck in Paris; für Italien H. Loeſcher und Frat. Bocca in Turin, Florenz und Rom, U. Hoepli in Mailand; für den Orient das kaiſerlich königliche Poſt- amt in Wien oder Trieſt; für Nordamerika F. W. Chriſtern, E. Steiger u. Co., Guſt. E. Stechert, Weſtermann u. Co., International Publiſhing Agency, 710 Broadway, in New York. Verantwortlicher Rebakteur: Hugo Jacobi in München. [Abbildung] Inſeratenannahme in München b. d. Expedition, Schwanthalerſtraße 73, ferner in Berlin, Hamburg, Breslau, Köln, Leipzig, Frankfurt a. M., Stuttgart, Nürnberg, Wien, Paris, London, Zürich, Baſel ꝛc. b. d Annoncenbureaux G. L. Daube u. Co., Haaſenſtein u. Bogler u. R. Moſſe. In den Filialen der Zeitungsbureaux Invalidendank zu Berlin, Dresden, Leipzig, Chemnitz ꝛc. Außerdem in: Berlin bei B. Arndt (Mohrenſtr. 26) und S. Kornik (Krauſenſtr. 12), Hamburg bei W. Wilckens u. Ad. Steiner, New York bei der Intern. Publiſhing Agency, 710 Broadway. Druck und Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung Nachfolger in Stuttgart und München. Inhalts-Ueberſicht. Politiſche Rundſchau. — Deutſches Reich. München: Volks- zählung. Berlin: Jeſuitengeſetz. Verleumdung des Fürſten Bismarck. Colonialangelegenheiten. Helgoland. Arbeiterſchutzgeſetz- gebung. Invaliditäts- und Altersverſicherung. Vieheinfuhr. Hof- und Perſonalnachrichten. Verſchiedenes. &#xfffc; Der Reichstag. Vp. Bremen: Emin Paſcha. Frankfurt a. M.: Oberbürger- meiſter Adickes. ≐ Karlsruhe: Zur Aufhebung des Identitäts- nachweiſes. Eine Verordnung des erzbiſchöflichen Ordinariats. Oeſterreich-Ungarn. Wien: Vom Ausgleichsſchauplatz. Vieh- ſeuchenconvention mit der Schweiz. Reform der Frachtentarife. Militäriſches. Verſchiedenes. F. Deutſch-öſterreichiſcher Handels- vertrag. Lemberg: Landtag. Großbritannien. London: Parnells Manifeſt. Preßſtimmen. Gladſtone. Die liberale Partei. Die iriſche Fraction. Ritua- lismus. Frankreich. Paris: Die Kammer und Rouvier. Zum Colonial- budget. Die Geſellſchaft der Ruſſenfreunde. Rumänien. H. Bukareſt: Die Löſung der Cabinetsfrage. &#xfffc; Hiezu: Beilage. München, 1. December. In Berlin wird heute, mit einer allerdings weſentlich militäriſchen Feier, der 250. Jahrestag der Thronbeſtei- gung des Großen Kurfürſten begangen. Kurfürſt Fried- rich Wilhelm, der heute vor 250 Jahren die Regierung der kleinen, durch den dreißigjährigen Krieg aufs ärgſte verwüſteten und ausgeſogenen Kurmark antrat, hinterließ nach einer 48jährigen Regierung einen wohlgeordneten, feſtgefugten Staat von europäiſchem Charakter, das Funda- ment, auf welchem das heutige Preußen und mit ihm das heutige Deutſchland ſteht. Das Königreich, für welches ſein Sohn und Nachfolger die äußere Form ſchuf, war vom Großen Kurfürſten bereits begründet als ein Staatsweſen, beruhend auf einem tüchtigen ſieggewohnten Heere, ſtark und wohl- gegliedert, mit einer für damalige Verhältniſſe ſchnell und ſcharf ineinander greifenden Organiſation. Der Name des Siegers von Fehrbellin und Warſchau ward in allen europäiſchen Ländern mit hoher Achtung genannt, und wie weit der großartige Fernblick des Kurfürſten reichte, be- weist ſeine Schöpfung einer brandenburgiſchen Marine und brandenburgiſcher Colonien in Afrika. Erſt zwei- hundert Jahre ſpäter haben die Enkel jene Arbeit auf dem Meere und jenſeit des Meeres wieder aufgenom- men, welche er vorſchauenden Geiſtes als Erbe der erloſchenen Hanſa angetreten, und erſt der Adler des Deutſchen Reiches iſt dem Fluge gefolgt, welchen zwei- hundert Jahre zuvor der rothe Aar von Kurbrandenburg an die Küſten von Afrika nahm. Wenn Kaiſer Wilhelm heute dankerfüllt mit ſeinem Hauſe den Manen des großen Ahnherrn den Zoll der Huldigung darbringt, ſo begeht er damit einen Act der Pietät, bei welchem er ſich mit der großen Mehrzahl der Deutſchen eins wiſſen darf. Außer- ordentliche organiſatoriſche Kraft, Entſchloſſenheit und Umſicht in der Friedensarbeit wie auf dem Schlachtfelde, her- vorragende Gewandtheit in der Staatskunſt und hoher per- ſönlicher Heldenmuth im Gefecht haben dem großen Branden- burger in der geſammten deutſchen Geſchichte einen Ehrenplatz für alle Zeiten geſichert, und es iſt wohl nicht zu viel ge- ſagt, daß namentlich das proteſtantiſche Deutſchland in ihm den Fürſten verehrt, deſſen kraftvolles Walten nach den ſchweren Erſchütterungen des dreißigjährigen Krieges — mehr noch als die Beſtimmungen des weſtfäliſchen Friedens — dem proteſtantiſchen Bekenntniß nicht nur in Deutſchland das Bürgerrecht ſicherte, ſondern auch den verfolgten Pro- teſtanten des Auslandes eine Zuflucht in den branden- burgiſchen Marken eröſſnete, die ſich für dieſe letzteren ſelbſt zu hohem Segen geſtaltet hat. Die Ultramontanen in Ungarn zeigen ſich beſliſſen, die Ankündigung des Cultusminiſters Grafen Cſáky, ſeinen Erlaß bezüglich der Wegtaufungen dahin zu modificiren, daß die Matrikelauszüge von den wegtaufenden Seelſorgern an die politiſche Behörde einzuſenden ſeien, als einen Rückzug der Regierung hinzuſtellen. Dieſer Darſtellung gegenüber verweiſen die liberalen Blätter darauf, daß dieſe Modification eine bloß formale ſei und das Weſen des Erlaſſes nicht tangire, der in der Hauptſache dahin ziele, daß ein weggetauftes Kind nicht der Confeſſion entzogen werden dürfe, welcher es kraft des Geſetzes anzugehören hat, und darauf, daß dieſe „Conceſſion“ ſchon vor mehreren Monaten, lange bevor die Agitation des niederen Klerus um ſich gegriffen hatte, der Curie angeboten, von dieſer aber damals als ungenügend abgelehnt worden ſei. Wenn die Curie nunmehr, wie es ſcheine, dieſe Modification acceptiren wolle, dann ſei es doch nicht das Miniſterium, welches einen Rückzug antrete. Thatſächlich läge zu einem ſolchen nach dem großartigen Vertrauensvotum des Abgeordnetenhauſes für den Grafen Cſály keinerlei Veranlaſſung vor, und auch die heute eingelaufene Meldung über den Eherechts- entwurf des Juſtizminiſters deutet durchaus nicht darauf hin, daß an ein Zurückweichen ſeitens der Regierung ge- dacht wird. Hr. v. Szilagyi hat, wie die „Pol. Corr.“ meldet, an die Einlöſung ſeines Wortes betreffs Ein- führung der Civilehe ſein weiteres Verbleiben im Amte geknüpft; nachdem ſelbſt Graf Apponyi ſich für die Schaffung dieſer Inſtitution ausgeſprochen hat, kann nur noch darüber ein Zweifel beſtehen, ob dem Reichstag die von Szilagyi beabſichtigte Einführung der Nothcivilehe, wie ſie auch in Oeſterreich beſteht, als genügend erſcheinen oder ob die obligatoriſche Civilehe für unerläßlich betrachtet werden wird. Parnell iſt nach Cork abgereist, um ſich von ſeinen Wählern ein Vertrauensvotum ertheilen zu laſſen. Ein ſolches ſcheint ſeine Stellung aber nicht mehr retten zu können, da verſichert wird, die Mehrheit der iriſchen Ab- geordneten werde in der auf heute angeſetzten neuen Fractionsſitzung ſeine Führerſchaft fallen laſſen, und nur ein ſchwaches Drittel ſeiner bisherigen Gefolgſchaft werde ihm treu bleiben. Selbſt die Herren Dillon und O’Brien haben aus Amerika ihre Abſage von Parnell erklärt und in einem von Chicago aus erlaſſenen Manifeſt ausgeſpro- chen, daß derſelbe unmöglich länger der Führer der Partei bleiben könne; auch tadeln ſie darin den feindſeligen Ton, welchen Parnell in ſeinem Manifeſt gegen Gladſtone, Mor- ley und das engliſche Volk überhaupt angeſchlagen hat. Ob der Empfang Parnells in Cork wirklich ſo großartig ſein wird, wie ihn ein Telegramm ankündigt, wird ſich erſt zeigen müſſen, wenigſtens hat ſich die katholiſche Geiſt- lichkeit von Cork gegen Parnell erklärt, und auch die Erz- biſchöfe von Dublin und Caſhel, die HH. Walſh und Croke, haben ſich für den Rücktritt desſelben von der Führung der iriſchen Fraction ausgeſprochen. Wird Parnells Führer- ſchaft beſeitigt, ſo will Gladſtone die Verbindung der Libe- ralen mit den Iren weiter beſtehen laſſen. Man hatte aus den Erklärungen des Erzbiſchofs von Algier und einiger anderen Biſchöfe zu Gunſten der Repu- blik, ſowie aus ihren Berufungen auf die Autorität des Papſtes da und dort geſchloſſen, daß die franzöſiſche Regierung dem Papſte allerlei Verſprechungen gemacht haben könnte, ſowohl was die innere Politik Frankreichs als gewiſſe Fragen in Bezug auf die Stellung des päpſt- lichen Stuhles ſelbſt betreffe. Man hat ſich für dieſe Combinationen zwar nicht auf beſtimmte Beſprechungen zwiſchen der Diplomatie Frankreichs und der des päpſt- lichen Stuhles berufen können; aber man hat ſie aus der Stellung, welche Frankreich und der päpſtliche Stuhl gegen- über Italien einnehmen, ſowie daraus ſchöpfen zu dürfen geglaubt, daß die Biſchöfe Frankreichs ihren Anſchluß an die Republik denn doch nicht ohne jeden Preis oder jede Hoffnung auf einen ſolchen ausgeſprochen haben werden. Von Seiten der franzöſiſchen Regierung ſcheint dieſe Schluß- folgerung ſehr beſtimmt beſtritten zu werden; wenigſtens ſchreibt uns ein aus ihren Kreiſen öfters gut informirter Correſpondent: „In dieſen Combinationen liegt eine vollſtändige Verkennung der Situation. Die franzöſiſche Regierung iſt der Ausdruck des in der Kammer ausgeſprochenen Volkswillens, welcher ſich in ganz anderer Richtung bewegt. Die Kammermehrheit betreibt ſeit mehr als einem Jahrzehnt die vollſtändige Verweltlichung des Staates, an der ſie mit eiſerner Conſequenz feſthält, da ſie darin die Exiſtenz der Republik begründet ſieht. Für die franzöſiſche Regierung ſteht daher die Kirche ebenſo außerhalb des Staates als dieſer außer- halb der Kirche. Von einer politiſchen Verſtändigung mit dem Papſte kann alſo für ſie keine Rede ſein. Die franzöſiſchen Prä- laten mögen, mit oder ohne Zuſtimmung des Papſtes, ihren Bei- tritt zur Republik erklären, dieſe wird dadurch in keiner Weiſe be- rührt, zur Abweichung von ihrer bisherigen Richtung, von ihren Principien bewogen werden. Die Negierung aber wird in dieſer Zur Arbeiterbewegung. &#xfffc; Berlin, Ende Nov. Die Feſtſtimmung, welche die Halle’ſche Campagne erzeugt hat, iſt noch nicht gewichen, und wenn die Angriſſe der Gegner nicht wären, die mitunter recht verdrieß- lich ſind, könnte Hr. Liebknecht, der Chef des „Volksblattes“, ruhig ſchlafen. Es iſt für denjenigen, der, wie Ihr Correſpondent, den Amtsverkündiger der deutſchen Socialdemokratie genau zu leſen pflegt, keine angenehme Aufgabe geweſen, ſich durch den endloſen Streit mit Eugen Richter und den Männern der „Germania“ hindurch- zuarbeiten. Der „Zukunftsſtaat“, nach welchem die Wißbegierde der Widerfacher unausgeſetzt ſich erkundigte, bildete den Erisapfel. Man kann nicht behaupten, daß das „Volksblatt“ ſich beſonders geſchickt aus dieſer Affaire gezogen hat, obwohl Hr. Richter im Grunde nichts wiederholte, als die ariſtoteliſchen Einwände gegen den platoniſchen Staat, eine moderne Kampfpartei aber wahrlich mit näherliegenden Fragen zu thun hat, als mit der Ausmalung von Utopien. Das Buch Bellamy’s gibt ja die bündigſte Aus- kunſt für neugierige Frager, und es verdient feſtgeſtellt zu werden, daß dasſelbe einen ungeahnten Erfolg gerade in den Kreiſen der Gebildeten davongetragen hat. In der Sommerfriſche, auf der Eiſenbahn, im Pferdebahnwagen, überall begegnete man dem rothen Heftchen aus der Reclam’ſchen Bibliothek, das die von dem Berliner Philoſophie - Profeſſor Georg v. Giźycli veranſtaltete Uebertragung des Looking backward aller Welt für 40 Pf. zu- gänglich macht. Im Thiergarten, im Concertſaal, überall ſpricht man über Bellamy, und alte Geheimräthe, die ſonſt nie einen Roman in die Hand nehmen, leſen das Buch des Amerikaners. Beſonders die Frauen feſſelt die Lectüre, und die Wirkung äußert ſich in zuweilen „recht verfänglichen Fragen“. Der Socialismus liegt in der Luft, unſre Politik dreht ſich um die Arbeiterfrage, unſre Dramendichter behandeln ſociale Probleme, das „Deutſche Theater“ führt uns einen Strike auf offener Bühne vor, und Sudermann prophezeit nicht bloß den Beſuchern des Leſſing-Theaters das Schickſal der unſeligen Bewohner von Sodom. Wie ich höre, ſoll demnächſt hier eine öffentliche Aufforderung an alle mildherzigen Capitaliſten und an wahlverwandte Seelen ergehen, die geneigt ſind, mit Rath und That, durch Wort und Schrift, mit guten Lehren und vollen Händen die Gründung von „Freiland“, wie es der phantaſievolle Hertzka geträumt hat, zu unterſtützen. Wo das neue Staatsgebilde auſſprießen ſoll, darüber wird geſchwiegen. Das eben Mitgetheilte aber iſt gutverbürgt. Die Spielart des ſocia- liſtiſchen Studenten, die unter der Herrſchaft des Ausnahmegeſetzes nahezu ausgeſtorben war, fängt unter dem milderen Klima der neuen Aera wieder an, ſich zu vermehren, und der „Reichsbote“, welchen der Sturz ſeines Schutzpatrons gar zu griesgrämig gemacht hat, ſieht bereits, wie unſre Bureaukratie dem Hecker’ſchen Schlapp- hut des Hrn. Paul Singer „die Reverenz erweist“. Das officielle Arbeiterwitzblatt „Der wahre Jakob“, das in einer Auflage von rund 100,000 Exemplaren alle vierzehn Tage erſcheint, hat nicht ohne Grund eine Congreß-Jubelnummer ausgegeben, die in hübſcher Ausſtattung verſchiedene Scenen des Parteitages illuſtrirt und die Hauptfiguren desſelben im Bilde vereinigt. Daß die ſonnige Göttin des Humors bei dieſer ſeriöſen Kundgebung nicht Pathendienſte geleiſtet hat, fällt nicht ins Gewicht. Man bedenke, was die Auflageziffer dieſer Unterhaltungsſchrift, welche der Arbeiter neben ſeiner politiſchen Zeitung und ſeinem Gewerkſchaftsorgan hält, zu bedeuten hat, ganz abgeſehen von der nichtperiodiſchen Literatur ſocialiſtiſcher Färbung, als deren ſtändiger Käufer das deutſche politiſch organiſirte Prole- tariat auſtritt. Das Leſebedürfniß und der Bildungstrieb der Arbeiter können für gewiſſe Schichten der Beſitzenden recht beſchämend wirken, die mit dem Leſen eines farbloſen Klatſchblättchens und irgend eines Schauerromans ihrer Zeit genug gethan zu haben glau- ben. Es kommt hier gar nicht darauf an, ob die geiſtige Bewe- gung der Arbeiterclaſſe ſich in den richtigen Bahnen befinde oder nicht, die einfache Thatſache des großen und unausgeſetzt wachſenden geiſtigen Verzehrs unter den Arbeitern ſpricht ganze Bände. Waren doch dieſer Tage Berliner Arbeiter verſammelt, um allen Ernſtes die Gründung einer „Akademie“ zu beſprechen, eines „Allgemeinen Arbeiterbildungsvereines“, der die Ideen der Socialdemokratie durch Vorträge, Errichtung einer reich aus- geſtatteten Bibliothek, „Schulung von Rednern“ zu fördern be- zweckt — ein Plan, der übrigens ſchon einmal in den ſiebziger Jahren, als die Fritzſche, Moſt und Genoſſen noch zu den Füßen des Hrn. Eugen Dühring ſaßen, eifrig erwogen worden iſt. Wer jahrelang die Verſammlungen der Arbeiter beſucht hat, wird die Beobachtung gemacht haben, daß die Redegewandtheit ſich erheblich geſteigert hat, daß ein moderner Fabrikarbeiter im Stande iſt, in verſtändlicher Weiſe fließend ſeine Anſichten darzulegen. Im ſelben Verhältniß, in welchem die Redekunſt ſich hier entfaltet, nimmt ſie bei den Gebildeten ab. Der kurze, als ſchneidig geltende Ton, der in Interjectionen und Satzbruchſtücken ſich gefällt, verdrängt bedauerlicherweiſe die redneriſche Technik, welche in unſrer parla- mentariſchen Zeit die Vorbedingung für ein öffentliches Auftreten iſt. Die Chriſtlich-Socialen haben auf dieſe Mängel bereits hin- gewieſen und gleichfalls die Gründung von Rednerſchulen an- empfohlen. Dialektiſche Sicherheit gepaart mit gründlicher ſocial- politiſcher Bildung ſind die Waffen, ohne welche ein Turnier der Geiſter in unſern ſtürmiſch bewegten Tagen nicht durchzuſechten iſt. Der nahende Winter macht ſich bereits deutlich bemerkbar, die Saiſongewerbe, welche nur für beſtimmte Jahreszeiten Hände brauchen, beginnen, ihre Arbeitskräfte freizuſetzen. Die Bauinduſtrie, die in Berlin eine hervorragende Stellung einnimmt, wird mit dem Sinken des Thermometers ihre Thätigkeit mehr und mehr ein- ſchränken und die Ziffer der Arbeitsloſen, deren es das ganze Jahr hindurch eine große Menge gibt, muß ſich vermehren. Die Jagd nach einer vorübergehenden Beſchäftigung, die ein paar Groſchen einbringt, hebt wieder an, und vor der Expedition des „Intelligenzblattes“ mit ſeinen zahlloſen Inſeraten ſammeln ſich Hunderte und Aberhunderte von Stellenſuchenden. Namentlich gilt dies von den Arbeiterinnen. Wer aber nun annähme, daß die Organiſation dieſer letzteren eine feſte werden müſſe, da ja die Logik der Thatſachen zu einem Kampf für beſſere Zuſtände nöthigt, der iſt im Irrthum. Sind die Berliner Gewerkſchaftsverhältniſſe zerfahren und verworren, ſo iſt die vielgenannte Frauenbewegung der Gipfel der Verworrenheit. Eitel Zank, perſönliche Reibereien und Eiferſüchteleien, Austauſch handfeſter Liebenswürdigkeiten bilden das Um und Auf der Debatten in den Arbeiterinnenvereinen. Ab und zu kommen freilich Dinge zu Tage, die ein grelles Streiflicht auf arge Mißſtände werfen. Die Zerſplitterung in ungezählte Maſſen von Vereinchen und Vereinen iſt ein charakteriſtiſches Merkmal der gewerkſchaftlichen Bewegung in Berlin. Die vielen Gerngroße müſſen wenigſtens im kleinen und kleinſten Conventikel den Jupiter tragiren, und das Partikelchen einer Theilorganiſation eines Branchentheils iſt der Olymp, von welchem ſie zu donnern belieben. Eine Strikecontrolcommiſſion ſoll zwar die Vorgänge auf dem Arbeitsmarkt überwachen, und ihr Entſcheid beſtimmt, ob ein Strike berechtigt und daher zu unterſtützen ſei. Aber die Schwerfälligkeit

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2021-09-13T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 333. München, 1. Dezember 1890, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine333_1890/1>, abgerufen am 21.11.2024.