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Allgemeine Zeitung. Nr. 333. München, 1. Dezember 1890.

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Seite 2. München, Montag Allgemeine Zeitung 1. December 1890. Abendblatt Nr. 333.
Lage, wie in allen anderen Fällen, nur dem Willen der Kammer-
mehrheit entsprechend handeln."

Die Radicalen in Italien sehen sich wieder um
eine Hoffnung ärmer: sie hatten sich gerüstet, dem Mini-
sterium durch eine geräuschvoll inscenirte Interpellation
betreffs der Wahl des socialdemokratischen Deputirten
Costa, der sich einer über ihn verhängten Freiheitsstrafe
durch die Flucht entzogen hat, eine kleine Verlegenheit zu
bereiten, und nun veröffentlicht das Amtsblatt eine
Amnestie für verschiedene Kategorien politischer Delicte,
welche auch Costa straflos und die geplante Inter-
pellation gegenstandslos macht. Diese umfassende Amnestie
unmittelbar nach den Wahlen wird zweifellos im Lande
einen vortrefflichen Eindruck machen und die günstige
moralische Position des Cabinets noch mehr kräftigen.

Die Flitterwochen des reconstruirten conservativ-
junimistischen Cabinets Mano lassen sich recht rauh
an; kaum ins Dasein getreten, sieht sich das neue
Ministerium vor einem Conflict mit dem Senat, welcher
Alles, was Hr. Mano durch sein Entgegenkommen gegen-
über den Junimisten gewonnen zu haben hoffte, ernstlich
in Frage stellt, trotzdem daß er sich augenblicklich einer
Majorität in der Deputirtenkammer sicher weiß. Mit
einer Stimme Mehrheit hat die erste Kammer einen Oppo-
sitionellen zum Präsidenten gewählt und dadurch dem
Ministerium ein Mißtrauensvotum ertheilt, das Hrn.
Mano zu unverzüglicher Berichterstattung an den König
und diesen zur Berufung der Präsidenten beider Häuser
in das Palais veranlaßt hat. Erweist sich die junimistisch-
conservative Mehrheit in der Abgeordnetenkammer jetzt
standhaft, was nach den weitgehenden Zugeständnissen des
Cabinetschefs an die Junimisten vorausgesetzt werden darf,
dann steht Rumänien vor der Eventualität eines Con-
flicts zwischen den Kammern, wie ein ähnlicher sich vor
einigen Monaten anläßlich des Gesetzes über die opere
pie
in Italien entwickelt hat. Freilich wären die Aus-
sichten Mano's, den Widerstand des Senats zu brechen,
kaum so günstige, wie damals jene Crispi's, der über eine
starke und unbedingt zuverlässige Kammermehrheit ver-
fügte; das conservativ-junimistische Compromiß, auf wel-
chem das Cabinet Mano beruht, ist ein ziemlich loses Ge-
füge, welches ernsten und andauernden Erschütterungen
gegenüber sich kaum bewähren dürfte. Die noch immer ein-
flußreichen Nationalliberalen wie die conservativen Dissi-
denten werden aus dem Conflict mit dem Senat Kraft zu
erneutem Ansturme wider das Ministerium und sein
Reformprogramm schöpfen, so daß auch eine augenblick-
liche Beilegung der Krisis keine dauernde Gesundung der
allgemeinen politischen Lage bedeuten würde.

Der Conflict mit dem ökumenischen Pa-
triarchat,
der allmählich fast in Vergessenheit gerieth,
dürfte nach den neuesten Konstantinopeler Berichten nicht
mehr von langer Dauer sein. Die Pforte hat dem
Patriarchen eine goldene Brücke gebaut, indem sie die
letzten Forderungen desselben in sehr entgegenkommendem
Tone beantwortete, ohne freilich in den beiden Haupt-
fragen, Erklärung der bulgarischen Kirche als schismatisch
und Aenderung der bulgarischen Priestertracht, bindende
Zusagen zu machen. Von der ersteren Forderung wird
das Patriarchat um so eher abstehen können, als es ohne-
hin etwas Unzukömmliches ist, dem Oberhaupte der
Mohammedaner eine Entscheidung in dogmatischen Streit-
fragen christlicher Kirchen zuzuerkennen; bezüglich der
Priestertrachtfrage beschränkt sich der Bescheid der Pforte
auf die Zusage, die dem bulgarischen Exarchen früher
gemachten Vorschläge zu wiederholen. Den übrigen For-
derungen des Patriarchats betreffend Testaments- und
[Spaltenumbruch] Schulangelegenheiten hat die Pforte fast durchweg Rech-
nung getragen. Der Bescheid schließt mit der Aufforde-
rung an den Patriarchen, seine Functionen und den
Gottesdienst wieder aufzunehmen. Der Patriarch hat mit
dem Interdict einen derartigen Mißerfolg erzielt, daß er
sich nun wohl nicht mehr lange sperren dürfte, seinen
Frieden mit der Pforte zu machen.



Deutsches Reich.

Die heutige allgemeine Volks-
zählung
gemahnt an das nun bald zwanzigjährige Bestehen
des Deutschen Reiches und wird ein neues Zeugniß der mäch-
tigen Stellung und fortschreitenden Entwicklung desselben bieten.
Der erste deutsche Reichscensus fand am 1. December 1871
statt und ergab eine Reichsbevölkerung von 41 Millionen. In
neun weiteren Jahren war, wie die Zählung vom 1. December
1880 auswies, die Volkszahl des Reiches auf mehr als
45 Millionen angewachsen und nach der seitdem verflossenen
Dekade dürfen wir von dem heutigen Census erwarten, daß
die runde Summe von 50 Millionen nahezu erreicht, vielleicht
sogar übertroffen werden wird. Ist auch dieses Wachsthum
in den verschiedenen Theilen des Reiches nicht in gleichem Maße
erfolgt und zeigt die überwiegende Zunahme der städtischen Bevölke-
rung gegenüber der ländlichen auch manche Schattenseiten, so läßt
sich doch die Bedeutung der fortschreitenden Stärkung der deutschen
Volkskraft und damit auch der deutschen Wehrkraft um so
weniger verkennen, als Deutschland in dieser Hinsicht einen
wesentlichen Vorrang vor anderen Völkern, namentlich vor
unserm westlichen Nachbarvolke behauptet. Auch darf mit be-
rechtigter Genugthuung hervorgehoben werden, daß die sta-
tistischen Feststellungen des Deutschen Reiches an Zuverlässig-
keit von keinem fremden Staate übertroffen werden und daß
diese werthvollste Eigenschaft unsres Census durch die ge-
meinsinnige Mitwirkung vieler Tausende deutscher Bürger er-
reicht wird, welche sich an dem mühsamen Werke der Zählung
mit voller Bereitwilligkeit betheiligen. Bekanntlich ist das
Gleiche nicht überall der Fall und erst vor kurzem hat die
große Republik der Vereinigten Staaten Amerika's ein sehr
ungünstiges Gegenbild zu der Zählung geliefert, welche heute
im Deutschen Reiche vollzogen wird.


Die "Magdeburgische Ztg." bringt
die auffällige Mittheilung, in conservativen parlamen-
tarischen Kreisen glaube man eine Vorlage wegen Auf-
hebung des Jesuitengesetzes
mit Sicherheit erwarten zu
sollen. Wahrscheinlich ist diese Meldung darauf zurückzu-
führen, daß der "Reichsbote" erklärt, man rechne in conservativen
parlamentarischen Kreisen mit Sicherheit auf die Aufhebung des
Jesuitengesetzes, die conservative Fraction werde aber schwerlich
dafür stimmen. Aus den Blättern des Centrums erfährt man,
daß den Freunden des Hrn. Windthorst über "Aeußerungen con-
servativer Parlamentarier" nichts bekannt geworden ist. An eine
Regierungsvorlage betreffs des Jesuitengesetzes glaubt man in den
Kreisen des Centrums erst recht nicht.

Mitte December werden, wie die "Nat.-Lib. Corr." hört,
in Berlin auf Anregung des Handelsministers Besprechungen
über internationale Vereinbarungen hinsichtlich der Fort-
führung der Arbeiterschutzgesetzgebung
stattfinden.

In Helgoland sind dieser Tage, wie das "Helg. Wochenbl."
meldet, die auswärtigen Mitglieder der Befestigungscom-
mission,
deren Vorsitzender der Capitän zur See Thomsen ist,
auf dem Torpedodivisionsboote eingetroffen.

Mit Bezug auf die wiederholt besprochene Umwandlung der
Wissmann'schen Schutztruppe in Ostafrika in eine kaiser-
liche Schutztruppe
wird nach der "Köln. Ztg." ein Gesetz-
entwurf
in kürzester Frist dem Bundesrath und dem Reichstag
unterbreitet werden. Vor allem gelte es, in jenem Gesetzentwurf
die Rechtsverhältnisse der Truppe, die Disciplinarbefugnisse der Vor-
gesetzten, die Competenzen und Pensionsansprüche der Angehörigen
u. s. w. zu regeln. Außerdem würden dem Reichstag zwei Weiß-
bücher über Ostafrika
zugehen, das eine mit Bezug auf die
letzten Ereignisse im Schutzgebiete und das andere auf die Vor-
gänge im Witu-Gebiete.

Das Deutsche Emin Pascha-Comite ist auf den 12. De-
[Spaltenumbruch] cember zu einer Sitzung einberufen, welche seine Thätigkeit be-
schließen dürfte. Die Tagesordnung lautet: 1) Abnahme der Rech-
nung; 2) Beschluß über die Entlassung des Ausschusses und des
Dr. Peters; 3) Beschluß über den vorhandenen Ueberschuß;
4) Auflösung des Comite's. -- Zu Ehren von Dr. Karl Peters
wird am Freitag, den 5. December, vom hiesigen Verein deutscher
Studenten ein Festcommers in der Philharmonie veranstaltet
werden. Dabei wird Dr. Peters einen Vortrag halten, betitelt:
"Einige Episoden der deutschen Emin Pascha-Expedition". -- In
Kamerun ist, wie die "Frankf. Ztg." erfährt, der Pfälzer
G. Schmitt, der dort in Diensten der Basler Missionsgesellschaft
stand, an den Folgen des Klimas gestorben.

Der "Reichs-Anzeiger" veröffentlicht die vom Bundesrath
zur Ausführung der Invaliditäts - und Altersversicherung
kürzlich getroffenen Bestimmungen 1) über die Befreiung vorüber-
gehender Beschäftigungen von der Versicherungspflicht; 2) über die
Entwerthung und Vernichtung von Marken. In ersterer Beziehung
wird bestimmt: A. Vorübergehende Dienstleistungen sind in folgen-
den Fällen als eine die Versicherungspflicht begründende Beschäfti-
gung nicht anzusehen: 1) wenn sie von solchen Personen, welche
berufsmäßig Lohnarbeit überhaupt nicht verrichten, a. nur gelegent-
lich, insbefondere zu gelegentlicher Aushülfe, b. zwar in regelmäßiger
Wiederkehr, aber nur nebenher und gegen ein geringfügiges
Entgelt, welches zum Lebensunterhalt nicht ausreicht und zu den
Versicherungsbeiträgen nicht in entsprechendem Verhältniß steht,
c. zur Hülfsleistung bei Unglücksfällen oder Verheerungen durch
Naturereignisse verrichtet werden; 2) wenn sie von solchen Berufs-
arbeitern, die in einem regelmäßigen, die Versicherungspflicht
begründenden Arbeits- oder Dienstverhältniß zu einem bestimmten
Arbeitgeber stehen, ohne Unterbrechung dieses Verhältnisses bei anderen
Arbeitgebern nebenher, sei es nur gelegentlich zur Aushülfe, sei es
regelmäßig, verrichtet werden; 3) wenn sie auf Seeschiffen im Auslande
von solchen Personen verrichtet werden, die nicht zur Schiffsbesatzung
gehören; 4) wenn sie von Aufwärtern oder Aufwärterinnen und
ähnlichen zu niederen häuslichen Diensten von kurzer Dauer an
wechselnden Arbeitsstellen thätigen Personen verrichtet werden;
5) wenn sie in Verpslegungsstationen oder in ähnlichen Einrich-
tungen gegen eine Geldentschädigung verrichtet werden, welche
nicht als Entgelt für die gelieferte Arbeit, sondern als eine
Unterstützung zum Zweck des besseren Fortkommens gewährt
wird. B. Die Regierungen der einzelnen Bundesstaaten sind
ermächtigt, mit Zustimmung des Reichskanzlers widerruf-
lich anzuordnen, daß und inwieweit vorübergehende Dienst-
leistungen solcher Ausländer, denen der Aufenthalt in Grenz-
bezirken des Inlandes
auf fest bestimmte kurze Zeit behufs
Ausführung vorübergehender Arbeiten behördlich gestattet ist, sowie
vorübergehend im Inlande stattfindende Dienstleistungen solcher
Ausländer, welche übungsgemäß in Flößereibetrieben beschäftigt
werden, als eine die Versicherungspflicht begründende Beschäftigung
nicht anzusehen sind.

Die Entwerthung der Marken hat dadurch zu erfolgen,
daß die Marken handschriftlich oder unter Verwendung eines Stempels
mit einem die Marke in der Hälfte ihrer Höhe schneidenden
schwarzen, wagerechten, schmalen Strich durchstrichen werden. An-
dere auf die Marken gesetzte Zeichen gelten, solange die die Marken
enthaltende Quittungskarte noch nicht zum Umtausch eingereicht ist,
nicht als Entwerthungszeichen.

Der "Reichs-Anzeiger" bringt wiederum einen Artikel über
die Verbreitung der Maul- und Klauenseuche; derselbe
gipselt in der Erklärung, daß die veterinär-polizeilichen Maßregeln
allein zur Unterdrückung nicht genügen. Die Aufhebung der Sperr-
maßregeln dürse nur für diejenigen Städte erfolgen, welche aus-
schließlich Schlachthäuser, aber nicht damit verbundene Viehhöfe
besitzen. Die Einfuhr von lebenden Schweinen aus
Italien
in die öffentliche Schlachtanstalt hierselbst ist unter den
nachstehenden Bedingungen widerruflich gestattet: 1) Die betreffenden
Transporte müssen nach Maßgabe der Bekanntmachung des Reichs-
kanzlers vom 12. April 1883 von Ursprungsattesten be-
gleitet sein, in welchen auch die Gesundheit der Thiere
bescheinigt ist. 2) Die eingeführten Schweine sind an der
Reichsgrenze von einem deutschen beamteten Thierarzte, welcher
von dem Eintreffen der Transporte rechtzeitig zu benachrichtigen
ist, zu untersuchen und -- wenn gesund befunden -- in geschlossenen
Eisenbahnwagen ohne Umladung und unter thunlichster Vermei-
dung von Transportverzögerungen, sowie jeder Berührung mit an-
derem Vieh direct in die Schlachtanstalt des Bestimmungsortes zu
bringen, woselbst ihre alsbaldige Abschlachtung zu erfolgen hat.
3) Der Transport der Schweine von der Entladestelle des Be-
stimmungsortes nach der Schlachtanstalt hat mittelst gut schließen-
der Wagen zu erfolgen, sofern die Anstalt mit der Eisenbahn durch
Schienenstränge nicht in unmittelbarer Verbindung stehen sollte.
4) In der Schlachtanstalt dürfen die Schweine bis zur Abschlach-
tung, welche unter polizeilicher Controle zu erfolgen hat, mit
zum Weiterverkauf aufgetriebenem Vieh in keinerlei in Berührung
kommen.

Der Kaiser ist heute früh 8 Uhr 20 Minuten auf der
Station Wildpark angelangt. Später wohnten die Majestäten
dem Gottesdienst in der Friedenskirche bei. Im Laufe des Vor-
mittags empfing der Kaiser den Geh. Admiralitätsrath und vor-
tragenden Rath Dietrich aus Anlaß seiner Ernennung zum Chef-
constructeur der kaiserlichen Marine und den Generalintendanten
des Gardecorps, Wiedemann, in Audienz. Später empfingen die
Majestäten den Besuch des Landgrafen von Hessen, der an der
Mittagstafel theilnahm. Morgen Vormittag wird der Kaiser zur
Feier des Großen Kurfürsten nach Berlin kommen. Am Freitag,
5. December, früh wird sich der Kaiser zur Hofjagd nach
der Göhrde begeben und am Sonnabend Abend auf der
Station Wildpark wieder eintreffen. Gegen Mitte nächsten
Monats wird der Hof, der "Post" zufolge, vom Neuen Palais
nach Berlin übersiedeln. Was die Hoffestlichkeiten betrifft, so wird
die Berliner Hofgesellschaft voraussichtlich ihren Carneval haben,
wenn auch der Zeit nach etwas abgekürzt; es hängt das von dem
Eintreten eines Ereignisses ab, dem in der königlichen Familie
entgegengesehen wird. Bei diesen Hoffestlichkeiten wird der Weiße
Saal in diesem Winter zum letzten Male als Festraum dienen, er
soll dann einem vollständigen, mehr den Bedürfnissen der Gegen-
wart entsprechenden Umbau unterzogen werden -- eine Umwand-
lung, die mehrere Jahre in Anspruch nehmen wird.

In Charlottenburg erfolgte heute Nachmittag die feierliche
Enthüllung des Denkmals des heimgegangenen Kaisers Wilhelm
und die Uebergabe an die städtischen Behörden. Der Geh. Cabinets-
rath v. Lucanus überbrachte den Dank des Kaisers.

Die alljährlich im Monat December stattfindende General-
conferenz der deutschen Eisenbahnen
wird in diesem Jahre
am 12. December in Berlin auf dem Potsdamer Bahnhof ab-
gehalten werden. Es handelt sich bei diesen Verhandlungen um
die endgültige Beschlußfassung über die im Laufe des Jahres von
der ständigen Tarifcommission der deutschen Eisenbahnen, der auch
Vertreter der Industrie, des Handels und der Landwirthschaft an-
gehören, vorbereiteten und vorberathenen Verkehrsangelegenheiten,
Aenderungen der zusätzlichen Bestimmungen zu Betriebsvorschriften
für die Eisenbahnen Deutschlands, die Waarenclassisication der

[Spaltenumbruch]

des Apparats bringt es mit sich, daß die Entscheide zumeist In-
demnitäts-Erklärungen werden. Kürzlich wurde übrigens in einer
Sitzung constatirt, daß von den 20,000 Kellnern Berlins nur 250
der Kellnergewerkschaft angehören, und die Commission beschloß, da-
hin zu wirken, daß "bei Gabe von Trinkgeldern nur diejenigen
Kellner zu berücksichtigen sind, welche das von den Kellnern ein-
geführte Erkennungszeichen führen". Der Beschluß ist thöricht,
weil er undurchführbar ist: aber in der That, die Lage der Gast-
wirthsgehülfen ist eine mißliche, und ein Stück Arbeiterschutz könnte
für diese vielgeplagten Leute nichts schaden. -- Trübselig sieht es
auch beim Proletariat der Kopfarbeit aus; aus ihm recrutiren sich
die eifrigsten Agitatoren der Socialdemokratie. Ist es nicht ein
Zeichen der Zeit, daß der Wortführer der Hülfsarbeiter im statisti-
schen Reichsamt, der vor kurzem aus seiner Stellung entlassen wurde,
sein Heil in der Socialdemokratie sieht und im "Volksblatt" dafür
Zeugniß ablegt?

Die Rede des Kaisers im Landesökonomiecollegium hat großen
Eindruck gemacht. Daß von dieser Seite aus die Aufmerksamkeit
auf Mißstände in der Landwirthschaft gelenkt und die Für-
sorge für die ländlichen Arbeiter betont wurde, ist bedeutsam genug.
Augenblicklich beschäftigt sich alle Welt mit der Lage der Industrie-
arbeiter, und die beschreibende Nationalökonomie hat es bis heute
verabsäumt, über die Zustände der landarbeitenden Bevölkerung
Erhebungen anzustellen, wie sie Thun, Sax, Schnapper-Arndt
u. A. m. für die Industriebezirke erfolgreich durchgeführt haben.
Was Lengerke und v. d. Goltz mitgetheilt haben, ist theils ver-
altet, theils ungenügend, und Kärgers werthvolles Buch über die
Sachsengängerei behandelt nur den kleinen Ausschnitt eines
großen Organismus. Das Interesse, das unsre Großgrundbesitzer
für den Schutz der gewerblichen Arbeiter haben, sollte durch das
Interesse der Großindustriellen für das Geschick der Landarbeiter
ergänzt werden. Was man sporadisch von sachkundiger Seite
darüber hört, lautet nicht allzu tröstlich. Der "Arbeiter-
freund", das Organ des Centralvereins für das Wohl der
arbeitenden Classen, veröffentlicht einen Vortrag, welchen
Hr. Pastor Dr. Borchard in Ummendorf, Provinz Sachsen,
auf der Kreissynode über die sociale Frage auf dem Lande gehalten
hat. Borchard, ein competenter Beurtheiler, theilt eine Reihe
werthvoller Daten mit, die das Dorado der Sachsengänger, den
Regierungsbezirk Magdeburg, betreffen. Bereits im Jahre 1884
hatte er im "Arbeiterfreund" geschrieben: "Die Kluft zwischen
großen und kleinen Leuten auf dem Lande wird von Jahr zu Jahr
eine klaffendere .... Die socialdemokratischen Gefahren sind auf
dem Lande ebenso groß wie in der Stadt, ja größer, weil sie nicht
beachtet werden und nicht so offen hervortreten... Die social-
[Spaltenumbruch] demokratischen Gefühle und Gedanken haben Herz und Gemüth
unsrer ländlichen Arbeiter erfüllt." Die Februar-Wahlen von
1890 bestätigten die Richtigkeit der Borchard'schen Auffassung. Der
Arbeitslohn sei in den letzten zwanzig Jahren nicht gestiegen, wohl
aber seien die Preise der nothwendigen Lebensmittel erheblich in
die Höhe gegangen, der Pachtzins oder Kaufschilling für ein Stück
Land sei kaum noch zu erschwingen, da der Großbetrieb, den die
Rübenzuckerindustrie begünstige, die Grundstücke an sich reiße. Eine
sparsame, fleißige Arbeiterfamilie, bestehend aus Mann, Frau und
drei Kindern, brauche 800 Mark, der Baarverdienst belaufe sich aber
auf höchstens 200 bis 250 Mark, die Naturaleinnahmen seien
geringfügig; Milch gebe es für die ländlichen Arbeiter nicht, die
Wohnungen seien schlecht und theuer, 60 bis 72 Mark betrage die
Jahresmiethe. Pferdeknechte verdienten bei einem Arbeitstage von
16 bis 17 Stunden 8.90 Mark wöchentlich. Der freie ländliche
Arbeiter habe jährlich 80 Accordtage zu je 2 Mark und 220 Accord-
tage zu 1.50 Mark. Die Arbeit sei sehr schwer und aufreibend. Von
6 Uhr früh bis 6 Uhr Abends heiße es schaffen, um einen halben
Morgen Rüben auszunehmen. Dazu gehören drei Arbeitskräfte, ein
Mann und zwei Frauen, die insgesammt 5.50 Mk. dafür ein-
heimsen. Wollen sie 3/4 Morgen an einem Tage zwingen, so
können sie keine Mittagspause machen und müssen schon um 5 Uhr
in der Frühe ans Werk gehen. Man muß sie nur dabei gesehen
haben, wie sie sich dabei plagen. Es wird mir unvergeßlich sein,
wie ich zum ersten Male die Leute bei diesem Geschäfte sah. Vom
Schlachtberg bei Frankenhausen, wo 1525 Thomas Münzer mit
den Bauern gegen die Macht der Fürsten stritt, erblickte man im
Thal zahlreiche Männer und Weiber in gebückter Stellung, halb
knieend, wie sie im Erdboden unermüdlich wühlten; diese nahmen
die Rüben aus, jene trugen sie zusammen und behäusten sie.
Man mußte an La Bruyere's berühmte Schilderung der französi-
schen Landleute denken. "Et en effet, ils sont des hommes."
Pastor Borchard sagt es rund heraus: "Alles Reden über sociale
Aufgaben und sociale Pflichten auf dem Lande ist tönendes Erz
und leere Rede ohne genaue Kenntniß der Lage der ländlichen
Arbeiter." Man vergesse über den gewerblichen Arbeitern die
Landarbeiter nicht. Die Socialpolitik würde sehr zu ihrem eigenen
Schaden nur die ersteren berücksichtigen.


Die Gründung einer Section von
"Freiland", zur Verwirklichung der in dem bekannten gleichnamigen
Buche Hertzka's entwickelten utopistischen Pläne, ist gestern vor sich
gegangen. Die Anhänger Hertzka's suchen mit den unter Flür-
scheims Führung stehenden Bodenbesitzreformern in nähere Bezieh-
ungen zu treten.



Seite 2. München, Montag Allgemeine Zeitung 1. December 1890. Abendblatt Nr. 333.
Lage, wie in allen anderen Fällen, nur dem Willen der Kammer-
mehrheit entſprechend handeln.“

Die Radicalen in Italien ſehen ſich wieder um
eine Hoffnung ärmer: ſie hatten ſich gerüſtet, dem Mini-
ſterium durch eine geräuſchvoll inſcenirte Interpellation
betreffs der Wahl des ſocialdemokratiſchen Deputirten
Coſta, der ſich einer über ihn verhängten Freiheitsſtrafe
durch die Flucht entzogen hat, eine kleine Verlegenheit zu
bereiten, und nun veröffentlicht das Amtsblatt eine
Amneſtie für verſchiedene Kategorien politiſcher Delicte,
welche auch Coſta ſtraflos und die geplante Inter-
pellation gegenſtandslos macht. Dieſe umfaſſende Amneſtie
unmittelbar nach den Wahlen wird zweifellos im Lande
einen vortrefflichen Eindruck machen und die günſtige
moraliſche Poſition des Cabinets noch mehr kräftigen.

Die Flitterwochen des reconſtruirten conſervativ-
junimiſtiſchen Cabinets Mano laſſen ſich recht rauh
an; kaum ins Daſein getreten, ſieht ſich das neue
Miniſterium vor einem Conflict mit dem Senat, welcher
Alles, was Hr. Mano durch ſein Entgegenkommen gegen-
über den Junimiſten gewonnen zu haben hoffte, ernſtlich
in Frage ſtellt, trotzdem daß er ſich augenblicklich einer
Majorität in der Deputirtenkammer ſicher weiß. Mit
einer Stimme Mehrheit hat die erſte Kammer einen Oppo-
ſitionellen zum Präſidenten gewählt und dadurch dem
Miniſterium ein Mißtrauensvotum ertheilt, das Hrn.
Mano zu unverzüglicher Berichterſtattung an den König
und dieſen zur Berufung der Präſidenten beider Häuſer
in das Palais veranlaßt hat. Erweist ſich die junimiſtiſch-
conſervative Mehrheit in der Abgeordnetenkammer jetzt
ſtandhaft, was nach den weitgehenden Zugeſtändniſſen des
Cabinetschefs an die Junimiſten vorausgeſetzt werden darf,
dann ſteht Rumänien vor der Eventualität eines Con-
flicts zwiſchen den Kammern, wie ein ähnlicher ſich vor
einigen Monaten anläßlich des Geſetzes über die opere
pie
in Italien entwickelt hat. Freilich wären die Aus-
ſichten Mano’s, den Widerſtand des Senats zu brechen,
kaum ſo günſtige, wie damals jene Criſpi’s, der über eine
ſtarke und unbedingt zuverläſſige Kammermehrheit ver-
fügte; das conſervativ-junimiſtiſche Compromiß, auf wel-
chem das Cabinet Mano beruht, iſt ein ziemlich loſes Ge-
füge, welches ernſten und andauernden Erſchütterungen
gegenüber ſich kaum bewähren dürfte. Die noch immer ein-
flußreichen Nationalliberalen wie die conſervativen Diſſi-
denten werden aus dem Conflict mit dem Senat Kraft zu
erneutem Anſturme wider das Miniſterium und ſein
Reformprogramm ſchöpfen, ſo daß auch eine augenblick-
liche Beilegung der Kriſis keine dauernde Geſundung der
allgemeinen politiſchen Lage bedeuten würde.

Der Conflict mit dem ökumeniſchen Pa-
triarchat,
der allmählich faſt in Vergeſſenheit gerieth,
dürfte nach den neueſten Konſtantinopeler Berichten nicht
mehr von langer Dauer ſein. Die Pforte hat dem
Patriarchen eine goldene Brücke gebaut, indem ſie die
letzten Forderungen desſelben in ſehr entgegenkommendem
Tone beantwortete, ohne freilich in den beiden Haupt-
fragen, Erklärung der bulgariſchen Kirche als ſchismatiſch
und Aenderung der bulgariſchen Prieſtertracht, bindende
Zuſagen zu machen. Von der erſteren Forderung wird
das Patriarchat um ſo eher abſtehen können, als es ohne-
hin etwas Unzukömmliches iſt, dem Oberhaupte der
Mohammedaner eine Entſcheidung in dogmatiſchen Streit-
fragen chriſtlicher Kirchen zuzuerkennen; bezüglich der
Prieſtertrachtfrage beſchränkt ſich der Beſcheid der Pforte
auf die Zuſage, die dem bulgariſchen Exarchen früher
gemachten Vorſchläge zu wiederholen. Den übrigen For-
derungen des Patriarchats betreffend Teſtaments- und
[Spaltenumbruch] Schulangelegenheiten hat die Pforte faſt durchweg Rech-
nung getragen. Der Beſcheid ſchließt mit der Aufforde-
rung an den Patriarchen, ſeine Functionen und den
Gottesdienſt wieder aufzunehmen. Der Patriarch hat mit
dem Interdict einen derartigen Mißerfolg erzielt, daß er
ſich nun wohl nicht mehr lange ſperren dürfte, ſeinen
Frieden mit der Pforte zu machen.



Deutſches Reich.

Die heutige allgemeine Volks-
zählung
gemahnt an das nun bald zwanzigjährige Beſtehen
des Deutſchen Reiches und wird ein neues Zeugniß der mäch-
tigen Stellung und fortſchreitenden Entwicklung desſelben bieten.
Der erſte deutſche Reichscenſus fand am 1. December 1871
ſtatt und ergab eine Reichsbevölkerung von 41 Millionen. In
neun weiteren Jahren war, wie die Zählung vom 1. December
1880 auswies, die Volkszahl des Reiches auf mehr als
45 Millionen angewachſen und nach der ſeitdem verfloſſenen
Dekade dürfen wir von dem heutigen Cenſus erwarten, daß
die runde Summe von 50 Millionen nahezu erreicht, vielleicht
ſogar übertroffen werden wird. Iſt auch dieſes Wachsthum
in den verſchiedenen Theilen des Reiches nicht in gleichem Maße
erfolgt und zeigt die überwiegende Zunahme der ſtädtiſchen Bevölke-
rung gegenüber der ländlichen auch manche Schattenſeiten, ſo läßt
ſich doch die Bedeutung der fortſchreitenden Stärkung der deutſchen
Volkskraft und damit auch der deutſchen Wehrkraft um ſo
weniger verkennen, als Deutſchland in dieſer Hinſicht einen
weſentlichen Vorrang vor anderen Völkern, namentlich vor
unſerm weſtlichen Nachbarvolke behauptet. Auch darf mit be-
rechtigter Genugthuung hervorgehoben werden, daß die ſta-
tiſtiſchen Feſtſtellungen des Deutſchen Reiches an Zuverläſſig-
keit von keinem fremden Staate übertroffen werden und daß
dieſe werthvollſte Eigenſchaft unſres Cenſus durch die ge-
meinſinnige Mitwirkung vieler Tauſende deutſcher Bürger er-
reicht wird, welche ſich an dem mühſamen Werke der Zählung
mit voller Bereitwilligkeit betheiligen. Bekanntlich iſt das
Gleiche nicht überall der Fall und erſt vor kurzem hat die
große Republik der Vereinigten Staaten Amerika’s ein ſehr
ungünſtiges Gegenbild zu der Zählung geliefert, welche heute
im Deutſchen Reiche vollzogen wird.


Die „Magdeburgiſche Ztg.“ bringt
die auffällige Mittheilung, in conſervativen parlamen-
tariſchen Kreiſen glaube man eine Vorlage wegen Auf-
hebung des Jeſuitengeſetzes
mit Sicherheit erwarten zu
ſollen. Wahrſcheinlich iſt dieſe Meldung darauf zurückzu-
führen, daß der „Reichsbote“ erklärt, man rechne in conſervativen
parlamentariſchen Kreiſen mit Sicherheit auf die Aufhebung des
Jeſuitengeſetzes, die conſervative Fraction werde aber ſchwerlich
dafür ſtimmen. Aus den Blättern des Centrums erfährt man,
daß den Freunden des Hrn. Windthorſt über „Aeußerungen con-
ſervativer Parlamentarier“ nichts bekannt geworden iſt. An eine
Regierungsvorlage betreffs des Jeſuitengeſetzes glaubt man in den
Kreiſen des Centrums erſt recht nicht.

Mitte December werden, wie die „Nat.-Lib. Corr.“ hört,
in Berlin auf Anregung des Handelsminiſters Beſprechungen
über internationale Vereinbarungen hinſichtlich der Fort-
führung der Arbeiterſchutzgeſetzgebung
ſtattfinden.

In Helgoland ſind dieſer Tage, wie das „Helg. Wochenbl.“
meldet, die auswärtigen Mitglieder der Befeſtigungscom-
miſſion,
deren Vorſitzender der Capitän zur See Thomſen iſt,
auf dem Torpedodiviſionsboote eingetroffen.

Mit Bezug auf die wiederholt beſprochene Umwandlung der
Wiſſmann’ſchen Schutztruppe in Oſtafrika in eine kaiſer-
liche Schutztruppe
wird nach der „Köln. Ztg.“ ein Geſetz-
entwurf
in kürzeſter Friſt dem Bundesrath und dem Reichstag
unterbreitet werden. Vor allem gelte es, in jenem Geſetzentwurf
die Rechtsverhältniſſe der Truppe, die Diſciplinarbefugniſſe der Vor-
geſetzten, die Competenzen und Penſionsanſprüche der Angehörigen
u. ſ. w. zu regeln. Außerdem würden dem Reichstag zwei Weiß-
bücher über Oſtafrika
zugehen, das eine mit Bezug auf die
letzten Ereigniſſe im Schutzgebiete und das andere auf die Vor-
gänge im Witu-Gebiete.

Das Deutſche Emin Paſcha-Comité iſt auf den 12. De-
[Spaltenumbruch] cember zu einer Sitzung einberufen, welche ſeine Thätigkeit be-
ſchließen dürfte. Die Tagesordnung lautet: 1) Abnahme der Rech-
nung; 2) Beſchluß über die Entlaſſung des Ausſchuſſes und des
Dr. Peters; 3) Beſchluß über den vorhandenen Ueberſchuß;
4) Auflöſung des Comité’s. — Zu Ehren von Dr. Karl Peters
wird am Freitag, den 5. December, vom hieſigen Verein deutſcher
Studenten ein Feſtcommers in der Philharmonie veranſtaltet
werden. Dabei wird Dr. Peters einen Vortrag halten, betitelt:
„Einige Epiſoden der deutſchen Emin Paſcha-Expedition“. — In
Kamerun iſt, wie die „Frankf. Ztg.“ erfährt, der Pfälzer
G. Schmitt, der dort in Dienſten der Basler Miſſionsgeſellſchaft
ſtand, an den Folgen des Klimas geſtorben.

Der „Reichs-Anzeiger“ veröffentlicht die vom Bundesrath
zur Ausführung der Invaliditäts - und Altersverſicherung
kürzlich getroffenen Beſtimmungen 1) über die Befreiung vorüber-
gehender Beſchäftigungen von der Verſicherungspflicht; 2) über die
Entwerthung und Vernichtung von Marken. In erſterer Beziehung
wird beſtimmt: A. Vorübergehende Dienſtleiſtungen ſind in folgen-
den Fällen als eine die Verſicherungspflicht begründende Beſchäfti-
gung nicht anzuſehen: 1) wenn ſie von ſolchen Perſonen, welche
berufsmäßig Lohnarbeit überhaupt nicht verrichten, a. nur gelegent-
lich, insbefondere zu gelegentlicher Aushülfe, b. zwar in regelmäßiger
Wiederkehr, aber nur nebenher und gegen ein geringfügiges
Entgelt, welches zum Lebensunterhalt nicht ausreicht und zu den
Verſicherungsbeiträgen nicht in entſprechendem Verhältniß ſteht,
c. zur Hülfsleiſtung bei Unglücksfällen oder Verheerungen durch
Naturereigniſſe verrichtet werden; 2) wenn ſie von ſolchen Berufs-
arbeitern, die in einem regelmäßigen, die Verſicherungspflicht
begründenden Arbeits- oder Dienſtverhältniß zu einem beſtimmten
Arbeitgeber ſtehen, ohne Unterbrechung dieſes Verhältniſſes bei anderen
Arbeitgebern nebenher, ſei es nur gelegentlich zur Aushülfe, ſei es
regelmäßig, verrichtet werden; 3) wenn ſie auf Seeſchiffen im Auslande
von ſolchen Perſonen verrichtet werden, die nicht zur Schiffsbeſatzung
gehören; 4) wenn ſie von Aufwärtern oder Aufwärterinnen und
ähnlichen zu niederen häuslichen Dienſten von kurzer Dauer an
wechſelnden Arbeitsſtellen thätigen Perſonen verrichtet werden;
5) wenn ſie in Verpſlegungsſtationen oder in ähnlichen Einrich-
tungen gegen eine Geldentſchädigung verrichtet werden, welche
nicht als Entgelt für die gelieferte Arbeit, ſondern als eine
Unterſtützung zum Zweck des beſſeren Fortkommens gewährt
wird. B. Die Regierungen der einzelnen Bundesſtaaten ſind
ermächtigt, mit Zuſtimmung des Reichskanzlers widerruf-
lich anzuordnen, daß und inwieweit vorübergehende Dienſt-
leiſtungen ſolcher Ausländer, denen der Aufenthalt in Grenz-
bezirken des Inlandes
auf feſt beſtimmte kurze Zeit behufs
Ausführung vorübergehender Arbeiten behördlich geſtattet iſt, ſowie
vorübergehend im Inlande ſtattfindende Dienſtleiſtungen ſolcher
Ausländer, welche übungsgemäß in Flößereibetrieben beſchäftigt
werden, als eine die Verſicherungspflicht begründende Beſchäftigung
nicht anzuſehen ſind.

Die Entwerthung der Marken hat dadurch zu erfolgen,
daß die Marken handſchriftlich oder unter Verwendung eines Stempels
mit einem die Marke in der Hälfte ihrer Höhe ſchneidenden
ſchwarzen, wagerechten, ſchmalen Strich durchſtrichen werden. An-
dere auf die Marken geſetzte Zeichen gelten, ſolange die die Marken
enthaltende Quittungskarte noch nicht zum Umtauſch eingereicht iſt,
nicht als Entwerthungszeichen.

Der „Reichs-Anzeiger“ bringt wiederum einen Artikel über
die Verbreitung der Maul- und Klauenſeuche; derſelbe
gipſelt in der Erklärung, daß die veterinär-polizeilichen Maßregeln
allein zur Unterdrückung nicht genügen. Die Aufhebung der Sperr-
maßregeln dürſe nur für diejenigen Städte erfolgen, welche aus-
ſchließlich Schlachthäuſer, aber nicht damit verbundene Viehhöfe
beſitzen. Die Einfuhr von lebenden Schweinen aus
Italien
in die öffentliche Schlachtanſtalt hierſelbſt iſt unter den
nachſtehenden Bedingungen widerruflich geſtattet: 1) Die betreffenden
Transporte müſſen nach Maßgabe der Bekanntmachung des Reichs-
kanzlers vom 12. April 1883 von Urſprungsatteſten be-
gleitet ſein, in welchen auch die Geſundheit der Thiere
beſcheinigt iſt. 2) Die eingeführten Schweine ſind an der
Reichsgrenze von einem deutſchen beamteten Thierarzte, welcher
von dem Eintreffen der Transporte rechtzeitig zu benachrichtigen
iſt, zu unterſuchen und — wenn geſund befunden — in geſchloſſenen
Eiſenbahnwagen ohne Umladung und unter thunlichſter Vermei-
dung von Transportverzögerungen, ſowie jeder Berührung mit an-
derem Vieh direct in die Schlachtanſtalt des Beſtimmungsortes zu
bringen, woſelbſt ihre alsbaldige Abſchlachtung zu erfolgen hat.
3) Der Transport der Schweine von der Entladeſtelle des Be-
ſtimmungsortes nach der Schlachtanſtalt hat mittelſt gut ſchließen-
der Wagen zu erfolgen, ſofern die Anſtalt mit der Eiſenbahn durch
Schienenſtränge nicht in unmittelbarer Verbindung ſtehen ſollte.
4) In der Schlachtanſtalt dürfen die Schweine bis zur Abſchlach-
tung, welche unter polizeilicher Controle zu erfolgen hat, mit
zum Weiterverkauf aufgetriebenem Vieh in keinerlei in Berührung
kommen.

Der Kaiſer iſt heute früh 8 Uhr 20 Minuten auf der
Station Wildpark angelangt. Später wohnten die Majeſtäten
dem Gottesdienſt in der Friedenskirche bei. Im Laufe des Vor-
mittags empfing der Kaiſer den Geh. Admiralitätsrath und vor-
tragenden Rath Dietrich aus Anlaß ſeiner Ernennung zum Chef-
conſtructeur der kaiſerlichen Marine und den Generalintendanten
des Gardecorps, Wiedemann, in Audienz. Später empfingen die
Majeſtäten den Beſuch des Landgrafen von Heſſen, der an der
Mittagstafel theilnahm. Morgen Vormittag wird der Kaiſer zur
Feier des Großen Kurfürſten nach Berlin kommen. Am Freitag,
5. December, früh wird ſich der Kaiſer zur Hofjagd nach
der Göhrde begeben und am Sonnabend Abend auf der
Station Wildpark wieder eintreffen. Gegen Mitte nächſten
Monats wird der Hof, der „Poſt“ zufolge, vom Neuen Palais
nach Berlin überſiedeln. Was die Hoffeſtlichkeiten betrifft, ſo wird
die Berliner Hofgeſellſchaft vorausſichtlich ihren Carneval haben,
wenn auch der Zeit nach etwas abgekürzt; es hängt das von dem
Eintreten eines Ereigniſſes ab, dem in der königlichen Familie
entgegengeſehen wird. Bei dieſen Hoffeſtlichkeiten wird der Weiße
Saal in dieſem Winter zum letzten Male als Feſtraum dienen, er
ſoll dann einem vollſtändigen, mehr den Bedürfniſſen der Gegen-
wart entſprechenden Umbau unterzogen werden — eine Umwand-
lung, die mehrere Jahre in Anſpruch nehmen wird.

In Charlottenburg erfolgte heute Nachmittag die feierliche
Enthüllung des Denkmals des heimgegangenen Kaiſers Wilhelm
und die Uebergabe an die ſtädtiſchen Behörden. Der Geh. Cabinets-
rath v. Lucanus überbrachte den Dank des Kaiſers.

Die alljährlich im Monat December ſtattfindende General-
conferenz der deutſchen Eiſenbahnen
wird in dieſem Jahre
am 12. December in Berlin auf dem Potsdamer Bahnhof ab-
gehalten werden. Es handelt ſich bei dieſen Verhandlungen um
die endgültige Beſchlußfaſſung über die im Laufe des Jahres von
der ſtändigen Tarifcommiſſion der deutſchen Eiſenbahnen, der auch
Vertreter der Induſtrie, des Handels und der Landwirthſchaft an-
gehören, vorbereiteten und vorberathenen Verkehrsangelegenheiten,
Aenderungen der zuſätzlichen Beſtimmungen zu Betriebsvorſchriften
für die Eiſenbahnen Deutſchlands, die Waarenclaſſiſication der

[Spaltenumbruch]

des Apparats bringt es mit ſich, daß die Entſcheide zumeiſt In-
demnitäts-Erklärungen werden. Kürzlich wurde übrigens in einer
Sitzung conſtatirt, daß von den 20,000 Kellnern Berlins nur 250
der Kellnergewerkſchaft angehören, und die Commiſſion beſchloß, da-
hin zu wirken, daß „bei Gabe von Trinkgeldern nur diejenigen
Kellner zu berückſichtigen ſind, welche das von den Kellnern ein-
geführte Erkennungszeichen führen“. Der Beſchluß iſt thöricht,
weil er undurchführbar iſt: aber in der That, die Lage der Gaſt-
wirthsgehülfen iſt eine mißliche, und ein Stück Arbeiterſchutz könnte
für dieſe vielgeplagten Leute nichts ſchaden. — Trübſelig ſieht es
auch beim Proletariat der Kopfarbeit aus; aus ihm recrutiren ſich
die eifrigſten Agitatoren der Socialdemokratie. Iſt es nicht ein
Zeichen der Zeit, daß der Wortführer der Hülfsarbeiter im ſtatiſti-
ſchen Reichsamt, der vor kurzem aus ſeiner Stellung entlaſſen wurde,
ſein Heil in der Socialdemokratie ſieht und im „Volksblatt“ dafür
Zeugniß ablegt?

Die Rede des Kaiſers im Landesökonomiecollegium hat großen
Eindruck gemacht. Daß von dieſer Seite aus die Aufmerkſamkeit
auf Mißſtände in der Landwirthſchaft gelenkt und die Für-
ſorge für die ländlichen Arbeiter betont wurde, iſt bedeutſam genug.
Augenblicklich beſchäftigt ſich alle Welt mit der Lage der Induſtrie-
arbeiter, und die beſchreibende Nationalökonomie hat es bis heute
verabſäumt, über die Zuſtände der landarbeitenden Bevölkerung
Erhebungen anzuſtellen, wie ſie Thun, Sax, Schnapper-Arndt
u. A. m. für die Induſtriebezirke erfolgreich durchgeführt haben.
Was Lengerke und v. d. Goltz mitgetheilt haben, iſt theils ver-
altet, theils ungenügend, und Kärgers werthvolles Buch über die
Sachſengängerei behandelt nur den kleinen Ausſchnitt eines
großen Organismus. Das Intereſſe, das unſre Großgrundbeſitzer
für den Schutz der gewerblichen Arbeiter haben, ſollte durch das
Intereſſe der Großinduſtriellen für das Geſchick der Landarbeiter
ergänzt werden. Was man ſporadiſch von ſachkundiger Seite
darüber hört, lautet nicht allzu tröſtlich. Der „Arbeiter-
freund“, das Organ des Centralvereins für das Wohl der
arbeitenden Claſſen, veröffentlicht einen Vortrag, welchen
Hr. Paſtor Dr. Borchard in Ummendorf, Provinz Sachſen,
auf der Kreisſynode über die ſociale Frage auf dem Lande gehalten
hat. Borchard, ein competenter Beurtheiler, theilt eine Reihe
werthvoller Daten mit, die das Dorado der Sachſengänger, den
Regierungsbezirk Magdeburg, betreffen. Bereits im Jahre 1884
hatte er im „Arbeiterfreund“ geſchrieben: „Die Kluft zwiſchen
großen und kleinen Leuten auf dem Lande wird von Jahr zu Jahr
eine klaffendere .... Die ſocialdemokratiſchen Gefahren ſind auf
dem Lande ebenſo groß wie in der Stadt, ja größer, weil ſie nicht
beachtet werden und nicht ſo offen hervortreten... Die ſocial-
[Spaltenumbruch] demokratiſchen Gefühle und Gedanken haben Herz und Gemüth
unſrer ländlichen Arbeiter erfüllt.“ Die Februar-Wahlen von
1890 beſtätigten die Richtigkeit der Borchard’ſchen Auffaſſung. Der
Arbeitslohn ſei in den letzten zwanzig Jahren nicht geſtiegen, wohl
aber ſeien die Preiſe der nothwendigen Lebensmittel erheblich in
die Höhe gegangen, der Pachtzins oder Kaufſchilling für ein Stück
Land ſei kaum noch zu erſchwingen, da der Großbetrieb, den die
Rübenzuckerinduſtrie begünſtige, die Grundſtücke an ſich reiße. Eine
ſparſame, fleißige Arbeiterfamilie, beſtehend aus Mann, Frau und
drei Kindern, brauche 800 Mark, der Baarverdienſt belaufe ſich aber
auf höchſtens 200 bis 250 Mark, die Naturaleinnahmen ſeien
geringfügig; Milch gebe es für die ländlichen Arbeiter nicht, die
Wohnungen ſeien ſchlecht und theuer, 60 bis 72 Mark betrage die
Jahresmiethe. Pferdeknechte verdienten bei einem Arbeitstage von
16 bis 17 Stunden 8.90 Mark wöchentlich. Der freie ländliche
Arbeiter habe jährlich 80 Accordtage zu je 2 Mark und 220 Accord-
tage zu 1.50 Mark. Die Arbeit ſei ſehr ſchwer und aufreibend. Von
6 Uhr früh bis 6 Uhr Abends heiße es ſchaffen, um einen halben
Morgen Rüben auszunehmen. Dazu gehören drei Arbeitskräfte, ein
Mann und zwei Frauen, die insgeſammt 5.50 Mk. dafür ein-
heimſen. Wollen ſie ¾ Morgen an einem Tage zwingen, ſo
können ſie keine Mittagspauſe machen und müſſen ſchon um 5 Uhr
in der Frühe ans Werk gehen. Man muß ſie nur dabei geſehen
haben, wie ſie ſich dabei plagen. Es wird mir unvergeßlich ſein,
wie ich zum erſten Male die Leute bei dieſem Geſchäfte ſah. Vom
Schlachtberg bei Frankenhauſen, wo 1525 Thomas Münzer mit
den Bauern gegen die Macht der Fürſten ſtritt, erblickte man im
Thal zahlreiche Männer und Weiber in gebückter Stellung, halb
knieend, wie ſie im Erdboden unermüdlich wühlten; dieſe nahmen
die Rüben aus, jene trugen ſie zuſammen und behäuſten ſie.
Man mußte an La Bruyère’s berühmte Schilderung der franzöſi-
ſchen Landleute denken. „Et en effet, ils sont des hommes.
Paſtor Borchard ſagt es rund heraus: „Alles Reden über ſociale
Aufgaben und ſociale Pflichten auf dem Lande iſt tönendes Erz
und leere Rede ohne genaue Kenntniß der Lage der ländlichen
Arbeiter.“ Man vergeſſe über den gewerblichen Arbeitern die
Landarbeiter nicht. Die Socialpolitik würde ſehr zu ihrem eigenen
Schaden nur die erſteren berückſichtigen.


Die Gründung einer Section von
„Freiland“, zur Verwirklichung der in dem bekannten gleichnamigen
Buche Hertzka’s entwickelten utopiſtiſchen Pläne, iſt geſtern vor ſich
gegangen. Die Anhänger Hertzka’s ſuchen mit den unter Flür-
ſcheims Führung ſtehenden Bodenbeſitzreformern in nähere Bezieh-
ungen zu treten.



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&#x201E;Einige Epi&#x017F;oden der deut&#x017F;chen Emin Pa&#x017F;cha-Expedition&#x201C;. &#x2014; In<lb/>
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            <p>Der &#x201E;Reichs-Anzeiger&#x201C; veröffentlicht die vom Bundesrath<lb/>
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Entwerthung und Vernichtung von Marken. In er&#x017F;terer Beziehung<lb/>
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            <p>Der &#x201E;Reichs-Anzeiger&#x201C; bringt wiederum einen Artikel über<lb/>
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3) Der Transport der Schweine von der Entlade&#x017F;telle des Be-<lb/>
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4) In der Schlachtan&#x017F;talt dürfen die Schweine bis zur Ab&#x017F;chlach-<lb/>
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            <p>Der <hi rendition="#g">Kai&#x017F;er</hi> i&#x017F;t heute früh 8 Uhr 20 Minuten auf der<lb/>
Station Wildpark angelangt. Später wohnten die Maje&#x017F;täten<lb/>
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tragenden Rath Dietrich aus Anlaß &#x017F;einer Ernennung zum Chef-<lb/>
con&#x017F;tructeur der kai&#x017F;erlichen Marine und den Generalintendanten<lb/>
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Maje&#x017F;täten den Be&#x017F;uch des Landgrafen von He&#x017F;&#x017F;en, der an der<lb/>
Mittagstafel theilnahm. Morgen Vormittag wird der Kai&#x017F;er zur<lb/>
Feier des Großen Kurfür&#x017F;ten nach Berlin kommen. Am Freitag,<lb/>
5. December, früh wird &#x017F;ich der Kai&#x017F;er zur Hofjagd nach<lb/>
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            <p>Die alljährlich im Monat December &#x017F;tattfindende <hi rendition="#g">General-<lb/>
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[2/0002] Seite 2. München, Montag Allgemeine Zeitung 1. December 1890. Abendblatt Nr. 333. Lage, wie in allen anderen Fällen, nur dem Willen der Kammer- mehrheit entſprechend handeln.“ Die Radicalen in Italien ſehen ſich wieder um eine Hoffnung ärmer: ſie hatten ſich gerüſtet, dem Mini- ſterium durch eine geräuſchvoll inſcenirte Interpellation betreffs der Wahl des ſocialdemokratiſchen Deputirten Coſta, der ſich einer über ihn verhängten Freiheitsſtrafe durch die Flucht entzogen hat, eine kleine Verlegenheit zu bereiten, und nun veröffentlicht das Amtsblatt eine Amneſtie für verſchiedene Kategorien politiſcher Delicte, welche auch Coſta ſtraflos und die geplante Inter- pellation gegenſtandslos macht. Dieſe umfaſſende Amneſtie unmittelbar nach den Wahlen wird zweifellos im Lande einen vortrefflichen Eindruck machen und die günſtige moraliſche Poſition des Cabinets noch mehr kräftigen. Die Flitterwochen des reconſtruirten conſervativ- junimiſtiſchen Cabinets Mano laſſen ſich recht rauh an; kaum ins Daſein getreten, ſieht ſich das neue Miniſterium vor einem Conflict mit dem Senat, welcher Alles, was Hr. Mano durch ſein Entgegenkommen gegen- über den Junimiſten gewonnen zu haben hoffte, ernſtlich in Frage ſtellt, trotzdem daß er ſich augenblicklich einer Majorität in der Deputirtenkammer ſicher weiß. Mit einer Stimme Mehrheit hat die erſte Kammer einen Oppo- ſitionellen zum Präſidenten gewählt und dadurch dem Miniſterium ein Mißtrauensvotum ertheilt, das Hrn. Mano zu unverzüglicher Berichterſtattung an den König und dieſen zur Berufung der Präſidenten beider Häuſer in das Palais veranlaßt hat. Erweist ſich die junimiſtiſch- conſervative Mehrheit in der Abgeordnetenkammer jetzt ſtandhaft, was nach den weitgehenden Zugeſtändniſſen des Cabinetschefs an die Junimiſten vorausgeſetzt werden darf, dann ſteht Rumänien vor der Eventualität eines Con- flicts zwiſchen den Kammern, wie ein ähnlicher ſich vor einigen Monaten anläßlich des Geſetzes über die opere pie in Italien entwickelt hat. Freilich wären die Aus- ſichten Mano’s, den Widerſtand des Senats zu brechen, kaum ſo günſtige, wie damals jene Criſpi’s, der über eine ſtarke und unbedingt zuverläſſige Kammermehrheit ver- fügte; das conſervativ-junimiſtiſche Compromiß, auf wel- chem das Cabinet Mano beruht, iſt ein ziemlich loſes Ge- füge, welches ernſten und andauernden Erſchütterungen gegenüber ſich kaum bewähren dürfte. Die noch immer ein- flußreichen Nationalliberalen wie die conſervativen Diſſi- denten werden aus dem Conflict mit dem Senat Kraft zu erneutem Anſturme wider das Miniſterium und ſein Reformprogramm ſchöpfen, ſo daß auch eine augenblick- liche Beilegung der Kriſis keine dauernde Geſundung der allgemeinen politiſchen Lage bedeuten würde. Der Conflict mit dem ökumeniſchen Pa- triarchat, der allmählich faſt in Vergeſſenheit gerieth, dürfte nach den neueſten Konſtantinopeler Berichten nicht mehr von langer Dauer ſein. Die Pforte hat dem Patriarchen eine goldene Brücke gebaut, indem ſie die letzten Forderungen desſelben in ſehr entgegenkommendem Tone beantwortete, ohne freilich in den beiden Haupt- fragen, Erklärung der bulgariſchen Kirche als ſchismatiſch und Aenderung der bulgariſchen Prieſtertracht, bindende Zuſagen zu machen. Von der erſteren Forderung wird das Patriarchat um ſo eher abſtehen können, als es ohne- hin etwas Unzukömmliches iſt, dem Oberhaupte der Mohammedaner eine Entſcheidung in dogmatiſchen Streit- fragen chriſtlicher Kirchen zuzuerkennen; bezüglich der Prieſtertrachtfrage beſchränkt ſich der Beſcheid der Pforte auf die Zuſage, die dem bulgariſchen Exarchen früher gemachten Vorſchläge zu wiederholen. Den übrigen For- derungen des Patriarchats betreffend Teſtaments- und Schulangelegenheiten hat die Pforte faſt durchweg Rech- nung getragen. Der Beſcheid ſchließt mit der Aufforde- rung an den Patriarchen, ſeine Functionen und den Gottesdienſt wieder aufzunehmen. Der Patriarch hat mit dem Interdict einen derartigen Mißerfolg erzielt, daß er ſich nun wohl nicht mehr lange ſperren dürfte, ſeinen Frieden mit der Pforte zu machen. Deutſches Reich. * München, 1. Dec. Die heutige allgemeine Volks- zählung gemahnt an das nun bald zwanzigjährige Beſtehen des Deutſchen Reiches und wird ein neues Zeugniß der mäch- tigen Stellung und fortſchreitenden Entwicklung desſelben bieten. Der erſte deutſche Reichscenſus fand am 1. December 1871 ſtatt und ergab eine Reichsbevölkerung von 41 Millionen. In neun weiteren Jahren war, wie die Zählung vom 1. December 1880 auswies, die Volkszahl des Reiches auf mehr als 45 Millionen angewachſen und nach der ſeitdem verfloſſenen Dekade dürfen wir von dem heutigen Cenſus erwarten, daß die runde Summe von 50 Millionen nahezu erreicht, vielleicht ſogar übertroffen werden wird. Iſt auch dieſes Wachsthum in den verſchiedenen Theilen des Reiches nicht in gleichem Maße erfolgt und zeigt die überwiegende Zunahme der ſtädtiſchen Bevölke- rung gegenüber der ländlichen auch manche Schattenſeiten, ſo läßt ſich doch die Bedeutung der fortſchreitenden Stärkung der deutſchen Volkskraft und damit auch der deutſchen Wehrkraft um ſo weniger verkennen, als Deutſchland in dieſer Hinſicht einen weſentlichen Vorrang vor anderen Völkern, namentlich vor unſerm weſtlichen Nachbarvolke behauptet. Auch darf mit be- rechtigter Genugthuung hervorgehoben werden, daß die ſta- tiſtiſchen Feſtſtellungen des Deutſchen Reiches an Zuverläſſig- keit von keinem fremden Staate übertroffen werden und daß dieſe werthvollſte Eigenſchaft unſres Cenſus durch die ge- meinſinnige Mitwirkung vieler Tauſende deutſcher Bürger er- reicht wird, welche ſich an dem mühſamen Werke der Zählung mit voller Bereitwilligkeit betheiligen. Bekanntlich iſt das Gleiche nicht überall der Fall und erſt vor kurzem hat die große Republik der Vereinigten Staaten Amerika’s ein ſehr ungünſtiges Gegenbild zu der Zählung geliefert, welche heute im Deutſchen Reiche vollzogen wird. * Berlin, 30. Nov. Die „Magdeburgiſche Ztg.“ bringt die auffällige Mittheilung, in conſervativen parlamen- tariſchen Kreiſen glaube man eine Vorlage wegen Auf- hebung des Jeſuitengeſetzes mit Sicherheit erwarten zu ſollen. Wahrſcheinlich iſt dieſe Meldung darauf zurückzu- führen, daß der „Reichsbote“ erklärt, man rechne in conſervativen parlamentariſchen Kreiſen mit Sicherheit auf die Aufhebung des Jeſuitengeſetzes, die conſervative Fraction werde aber ſchwerlich dafür ſtimmen. Aus den Blättern des Centrums erfährt man, daß den Freunden des Hrn. Windthorſt über „Aeußerungen con- ſervativer Parlamentarier“ nichts bekannt geworden iſt. An eine Regierungsvorlage betreffs des Jeſuitengeſetzes glaubt man in den Kreiſen des Centrums erſt recht nicht. Mitte December werden, wie die „Nat.-Lib. Corr.“ hört, in Berlin auf Anregung des Handelsminiſters Beſprechungen über internationale Vereinbarungen hinſichtlich der Fort- führung der Arbeiterſchutzgeſetzgebung ſtattfinden. In Helgoland ſind dieſer Tage, wie das „Helg. Wochenbl.“ meldet, die auswärtigen Mitglieder der Befeſtigungscom- miſſion, deren Vorſitzender der Capitän zur See Thomſen iſt, auf dem Torpedodiviſionsboote eingetroffen. Mit Bezug auf die wiederholt beſprochene Umwandlung der Wiſſmann’ſchen Schutztruppe in Oſtafrika in eine kaiſer- liche Schutztruppe wird nach der „Köln. Ztg.“ ein Geſetz- entwurf in kürzeſter Friſt dem Bundesrath und dem Reichstag unterbreitet werden. Vor allem gelte es, in jenem Geſetzentwurf die Rechtsverhältniſſe der Truppe, die Diſciplinarbefugniſſe der Vor- geſetzten, die Competenzen und Penſionsanſprüche der Angehörigen u. ſ. w. zu regeln. Außerdem würden dem Reichstag zwei Weiß- bücher über Oſtafrika zugehen, das eine mit Bezug auf die letzten Ereigniſſe im Schutzgebiete und das andere auf die Vor- gänge im Witu-Gebiete. Das Deutſche Emin Paſcha-Comité iſt auf den 12. De- cember zu einer Sitzung einberufen, welche ſeine Thätigkeit be- ſchließen dürfte. Die Tagesordnung lautet: 1) Abnahme der Rech- nung; 2) Beſchluß über die Entlaſſung des Ausſchuſſes und des Dr. Peters; 3) Beſchluß über den vorhandenen Ueberſchuß; 4) Auflöſung des Comité’s. — Zu Ehren von Dr. Karl Peters wird am Freitag, den 5. December, vom hieſigen Verein deutſcher Studenten ein Feſtcommers in der Philharmonie veranſtaltet werden. Dabei wird Dr. Peters einen Vortrag halten, betitelt: „Einige Epiſoden der deutſchen Emin Paſcha-Expedition“. — In Kamerun iſt, wie die „Frankf. Ztg.“ erfährt, der Pfälzer G. Schmitt, der dort in Dienſten der Basler Miſſionsgeſellſchaft ſtand, an den Folgen des Klimas geſtorben. Der „Reichs-Anzeiger“ veröffentlicht die vom Bundesrath zur Ausführung der Invaliditäts - und Altersverſicherung kürzlich getroffenen Beſtimmungen 1) über die Befreiung vorüber- gehender Beſchäftigungen von der Verſicherungspflicht; 2) über die Entwerthung und Vernichtung von Marken. In erſterer Beziehung wird beſtimmt: A. Vorübergehende Dienſtleiſtungen ſind in folgen- den Fällen als eine die Verſicherungspflicht begründende Beſchäfti- gung nicht anzuſehen: 1) wenn ſie von ſolchen Perſonen, welche berufsmäßig Lohnarbeit überhaupt nicht verrichten, a. nur gelegent- lich, insbefondere zu gelegentlicher Aushülfe, b. zwar in regelmäßiger Wiederkehr, aber nur nebenher und gegen ein geringfügiges Entgelt, welches zum Lebensunterhalt nicht ausreicht und zu den Verſicherungsbeiträgen nicht in entſprechendem Verhältniß ſteht, c. zur Hülfsleiſtung bei Unglücksfällen oder Verheerungen durch Naturereigniſſe verrichtet werden; 2) wenn ſie von ſolchen Berufs- arbeitern, die in einem regelmäßigen, die Verſicherungspflicht begründenden Arbeits- oder Dienſtverhältniß zu einem beſtimmten Arbeitgeber ſtehen, ohne Unterbrechung dieſes Verhältniſſes bei anderen Arbeitgebern nebenher, ſei es nur gelegentlich zur Aushülfe, ſei es regelmäßig, verrichtet werden; 3) wenn ſie auf Seeſchiffen im Auslande von ſolchen Perſonen verrichtet werden, die nicht zur Schiffsbeſatzung gehören; 4) wenn ſie von Aufwärtern oder Aufwärterinnen und ähnlichen zu niederen häuslichen Dienſten von kurzer Dauer an wechſelnden Arbeitsſtellen thätigen Perſonen verrichtet werden; 5) wenn ſie in Verpſlegungsſtationen oder in ähnlichen Einrich- tungen gegen eine Geldentſchädigung verrichtet werden, welche nicht als Entgelt für die gelieferte Arbeit, ſondern als eine Unterſtützung zum Zweck des beſſeren Fortkommens gewährt wird. B. Die Regierungen der einzelnen Bundesſtaaten ſind ermächtigt, mit Zuſtimmung des Reichskanzlers widerruf- lich anzuordnen, daß und inwieweit vorübergehende Dienſt- leiſtungen ſolcher Ausländer, denen der Aufenthalt in Grenz- bezirken des Inlandes auf feſt beſtimmte kurze Zeit behufs Ausführung vorübergehender Arbeiten behördlich geſtattet iſt, ſowie vorübergehend im Inlande ſtattfindende Dienſtleiſtungen ſolcher Ausländer, welche übungsgemäß in Flößereibetrieben beſchäftigt werden, als eine die Verſicherungspflicht begründende Beſchäftigung nicht anzuſehen ſind. Die Entwerthung der Marken hat dadurch zu erfolgen, daß die Marken handſchriftlich oder unter Verwendung eines Stempels mit einem die Marke in der Hälfte ihrer Höhe ſchneidenden ſchwarzen, wagerechten, ſchmalen Strich durchſtrichen werden. An- dere auf die Marken geſetzte Zeichen gelten, ſolange die die Marken enthaltende Quittungskarte noch nicht zum Umtauſch eingereicht iſt, nicht als Entwerthungszeichen. Der „Reichs-Anzeiger“ bringt wiederum einen Artikel über die Verbreitung der Maul- und Klauenſeuche; derſelbe gipſelt in der Erklärung, daß die veterinär-polizeilichen Maßregeln allein zur Unterdrückung nicht genügen. Die Aufhebung der Sperr- maßregeln dürſe nur für diejenigen Städte erfolgen, welche aus- ſchließlich Schlachthäuſer, aber nicht damit verbundene Viehhöfe beſitzen. Die Einfuhr von lebenden Schweinen aus Italien in die öffentliche Schlachtanſtalt hierſelbſt iſt unter den nachſtehenden Bedingungen widerruflich geſtattet: 1) Die betreffenden Transporte müſſen nach Maßgabe der Bekanntmachung des Reichs- kanzlers vom 12. April 1883 von Urſprungsatteſten be- gleitet ſein, in welchen auch die Geſundheit der Thiere beſcheinigt iſt. 2) Die eingeführten Schweine ſind an der Reichsgrenze von einem deutſchen beamteten Thierarzte, welcher von dem Eintreffen der Transporte rechtzeitig zu benachrichtigen iſt, zu unterſuchen und — wenn geſund befunden — in geſchloſſenen Eiſenbahnwagen ohne Umladung und unter thunlichſter Vermei- dung von Transportverzögerungen, ſowie jeder Berührung mit an- derem Vieh direct in die Schlachtanſtalt des Beſtimmungsortes zu bringen, woſelbſt ihre alsbaldige Abſchlachtung zu erfolgen hat. 3) Der Transport der Schweine von der Entladeſtelle des Be- ſtimmungsortes nach der Schlachtanſtalt hat mittelſt gut ſchließen- der Wagen zu erfolgen, ſofern die Anſtalt mit der Eiſenbahn durch Schienenſtränge nicht in unmittelbarer Verbindung ſtehen ſollte. 4) In der Schlachtanſtalt dürfen die Schweine bis zur Abſchlach- tung, welche unter polizeilicher Controle zu erfolgen hat, mit zum Weiterverkauf aufgetriebenem Vieh in keinerlei in Berührung kommen. Der Kaiſer iſt heute früh 8 Uhr 20 Minuten auf der Station Wildpark angelangt. Später wohnten die Majeſtäten dem Gottesdienſt in der Friedenskirche bei. Im Laufe des Vor- mittags empfing der Kaiſer den Geh. Admiralitätsrath und vor- tragenden Rath Dietrich aus Anlaß ſeiner Ernennung zum Chef- conſtructeur der kaiſerlichen Marine und den Generalintendanten des Gardecorps, Wiedemann, in Audienz. Später empfingen die Majeſtäten den Beſuch des Landgrafen von Heſſen, der an der Mittagstafel theilnahm. Morgen Vormittag wird der Kaiſer zur Feier des Großen Kurfürſten nach Berlin kommen. Am Freitag, 5. December, früh wird ſich der Kaiſer zur Hofjagd nach der Göhrde begeben und am Sonnabend Abend auf der Station Wildpark wieder eintreffen. Gegen Mitte nächſten Monats wird der Hof, der „Poſt“ zufolge, vom Neuen Palais nach Berlin überſiedeln. Was die Hoffeſtlichkeiten betrifft, ſo wird die Berliner Hofgeſellſchaft vorausſichtlich ihren Carneval haben, wenn auch der Zeit nach etwas abgekürzt; es hängt das von dem Eintreten eines Ereigniſſes ab, dem in der königlichen Familie entgegengeſehen wird. Bei dieſen Hoffeſtlichkeiten wird der Weiße Saal in dieſem Winter zum letzten Male als Feſtraum dienen, er ſoll dann einem vollſtändigen, mehr den Bedürfniſſen der Gegen- wart entſprechenden Umbau unterzogen werden — eine Umwand- lung, die mehrere Jahre in Anſpruch nehmen wird. In Charlottenburg erfolgte heute Nachmittag die feierliche Enthüllung des Denkmals des heimgegangenen Kaiſers Wilhelm und die Uebergabe an die ſtädtiſchen Behörden. Der Geh. Cabinets- rath v. Lucanus überbrachte den Dank des Kaiſers. Die alljährlich im Monat December ſtattfindende General- conferenz der deutſchen Eiſenbahnen wird in dieſem Jahre am 12. December in Berlin auf dem Potsdamer Bahnhof ab- gehalten werden. Es handelt ſich bei dieſen Verhandlungen um die endgültige Beſchlußfaſſung über die im Laufe des Jahres von der ſtändigen Tarifcommiſſion der deutſchen Eiſenbahnen, der auch Vertreter der Induſtrie, des Handels und der Landwirthſchaft an- gehören, vorbereiteten und vorberathenen Verkehrsangelegenheiten, Aenderungen der zuſätzlichen Beſtimmungen zu Betriebsvorſchriften für die Eiſenbahnen Deutſchlands, die Waarenclaſſiſication der des Apparats bringt es mit ſich, daß die Entſcheide zumeiſt In- demnitäts-Erklärungen werden. Kürzlich wurde übrigens in einer Sitzung conſtatirt, daß von den 20,000 Kellnern Berlins nur 250 der Kellnergewerkſchaft angehören, und die Commiſſion beſchloß, da- hin zu wirken, daß „bei Gabe von Trinkgeldern nur diejenigen Kellner zu berückſichtigen ſind, welche das von den Kellnern ein- geführte Erkennungszeichen führen“. Der Beſchluß iſt thöricht, weil er undurchführbar iſt: aber in der That, die Lage der Gaſt- wirthsgehülfen iſt eine mißliche, und ein Stück Arbeiterſchutz könnte für dieſe vielgeplagten Leute nichts ſchaden. — Trübſelig ſieht es auch beim Proletariat der Kopfarbeit aus; aus ihm recrutiren ſich die eifrigſten Agitatoren der Socialdemokratie. Iſt es nicht ein Zeichen der Zeit, daß der Wortführer der Hülfsarbeiter im ſtatiſti- ſchen Reichsamt, der vor kurzem aus ſeiner Stellung entlaſſen wurde, ſein Heil in der Socialdemokratie ſieht und im „Volksblatt“ dafür Zeugniß ablegt? Die Rede des Kaiſers im Landesökonomiecollegium hat großen Eindruck gemacht. Daß von dieſer Seite aus die Aufmerkſamkeit auf Mißſtände in der Landwirthſchaft gelenkt und die Für- ſorge für die ländlichen Arbeiter betont wurde, iſt bedeutſam genug. Augenblicklich beſchäftigt ſich alle Welt mit der Lage der Induſtrie- arbeiter, und die beſchreibende Nationalökonomie hat es bis heute verabſäumt, über die Zuſtände der landarbeitenden Bevölkerung Erhebungen anzuſtellen, wie ſie Thun, Sax, Schnapper-Arndt u. A. m. für die Induſtriebezirke erfolgreich durchgeführt haben. Was Lengerke und v. d. Goltz mitgetheilt haben, iſt theils ver- altet, theils ungenügend, und Kärgers werthvolles Buch über die Sachſengängerei behandelt nur den kleinen Ausſchnitt eines großen Organismus. Das Intereſſe, das unſre Großgrundbeſitzer für den Schutz der gewerblichen Arbeiter haben, ſollte durch das Intereſſe der Großinduſtriellen für das Geſchick der Landarbeiter ergänzt werden. Was man ſporadiſch von ſachkundiger Seite darüber hört, lautet nicht allzu tröſtlich. Der „Arbeiter- freund“, das Organ des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Claſſen, veröffentlicht einen Vortrag, welchen Hr. Paſtor Dr. Borchard in Ummendorf, Provinz Sachſen, auf der Kreisſynode über die ſociale Frage auf dem Lande gehalten hat. Borchard, ein competenter Beurtheiler, theilt eine Reihe werthvoller Daten mit, die das Dorado der Sachſengänger, den Regierungsbezirk Magdeburg, betreffen. Bereits im Jahre 1884 hatte er im „Arbeiterfreund“ geſchrieben: „Die Kluft zwiſchen großen und kleinen Leuten auf dem Lande wird von Jahr zu Jahr eine klaffendere .... Die ſocialdemokratiſchen Gefahren ſind auf dem Lande ebenſo groß wie in der Stadt, ja größer, weil ſie nicht beachtet werden und nicht ſo offen hervortreten... Die ſocial- demokratiſchen Gefühle und Gedanken haben Herz und Gemüth unſrer ländlichen Arbeiter erfüllt.“ Die Februar-Wahlen von 1890 beſtätigten die Richtigkeit der Borchard’ſchen Auffaſſung. Der Arbeitslohn ſei in den letzten zwanzig Jahren nicht geſtiegen, wohl aber ſeien die Preiſe der nothwendigen Lebensmittel erheblich in die Höhe gegangen, der Pachtzins oder Kaufſchilling für ein Stück Land ſei kaum noch zu erſchwingen, da der Großbetrieb, den die Rübenzuckerinduſtrie begünſtige, die Grundſtücke an ſich reiße. Eine ſparſame, fleißige Arbeiterfamilie, beſtehend aus Mann, Frau und drei Kindern, brauche 800 Mark, der Baarverdienſt belaufe ſich aber auf höchſtens 200 bis 250 Mark, die Naturaleinnahmen ſeien geringfügig; Milch gebe es für die ländlichen Arbeiter nicht, die Wohnungen ſeien ſchlecht und theuer, 60 bis 72 Mark betrage die Jahresmiethe. Pferdeknechte verdienten bei einem Arbeitstage von 16 bis 17 Stunden 8.90 Mark wöchentlich. Der freie ländliche Arbeiter habe jährlich 80 Accordtage zu je 2 Mark und 220 Accord- tage zu 1.50 Mark. Die Arbeit ſei ſehr ſchwer und aufreibend. Von 6 Uhr früh bis 6 Uhr Abends heiße es ſchaffen, um einen halben Morgen Rüben auszunehmen. Dazu gehören drei Arbeitskräfte, ein Mann und zwei Frauen, die insgeſammt 5.50 Mk. dafür ein- heimſen. Wollen ſie ¾ Morgen an einem Tage zwingen, ſo können ſie keine Mittagspauſe machen und müſſen ſchon um 5 Uhr in der Frühe ans Werk gehen. Man muß ſie nur dabei geſehen haben, wie ſie ſich dabei plagen. Es wird mir unvergeßlich ſein, wie ich zum erſten Male die Leute bei dieſem Geſchäfte ſah. Vom Schlachtberg bei Frankenhauſen, wo 1525 Thomas Münzer mit den Bauern gegen die Macht der Fürſten ſtritt, erblickte man im Thal zahlreiche Männer und Weiber in gebückter Stellung, halb knieend, wie ſie im Erdboden unermüdlich wühlten; dieſe nahmen die Rüben aus, jene trugen ſie zuſammen und behäuſten ſie. Man mußte an La Bruyère’s berühmte Schilderung der franzöſi- ſchen Landleute denken. „Et en effet, ils sont des hommes.“ Paſtor Borchard ſagt es rund heraus: „Alles Reden über ſociale Aufgaben und ſociale Pflichten auf dem Lande iſt tönendes Erz und leere Rede ohne genaue Kenntniß der Lage der ländlichen Arbeiter.“ Man vergeſſe über den gewerblichen Arbeitern die Landarbeiter nicht. Die Socialpolitik würde ſehr zu ihrem eigenen Schaden nur die erſteren berückſichtigen. &#xfffc; Berlin, 30. Nov. Die Gründung einer Section von „Freiland“, zur Verwirklichung der in dem bekannten gleichnamigen Buche Hertzka’s entwickelten utopiſtiſchen Pläne, iſt geſtern vor ſich gegangen. Die Anhänger Hertzka’s ſuchen mit den unter Flür- ſcheims Führung ſtehenden Bodenbeſitzreformern in nähere Bezieh- ungen zu treten.

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2021-09-13T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 333. München, 1. Dezember 1890, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine333_1890/2>, abgerufen am 03.12.2024.