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Allgemeine Zeitung, Nr. 335, 3. Dezember 1890.

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Allgemeine Zeitung.
Nr. 335. -- 92. Jahrgang.
Morgenblatt.
München, Mittwoch, 3. December 1890.


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Verantwortlicher Redakteur: Hugo Jacobi in München.
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Dresden, Leipzig, Chemnitz etc. Außerdem in: Berlin bei B. Arndt (Mohrenstr. 26) und S. Kornik (Krausenstr. 12),
Hamburg bei W. Wilckens u. Ad. Steiner, New York bei der Intern. Publishing Agency, 710 Broadway.
Druck und Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung Nachfolger in Stuttgart und München.


[Spaltenumbruch]
Inhalts-Uebersicht.

Cardinal Lavigerie und die russisch-französische Allianz.
Deutsches Reich. * Berlin: Reichstag. Kaiserrede. Canal-
angelegenheiten. Bekämpfung der Socialdemokratie. Aus der
Biographie des Kriegsministers v. Roon.
Oesterreich-Ungarn. Pest: Die Resultate der Budgetdebatte.
Serbien. x Belgrad: Adresse. Handelsvertrag mit Rußland.
Feuilleton: Berliner Concerte. Von Hans Müller.
Bayerische Chronik. -- Weitere telegraphische Nachrichten.
Hiezu: Zweites Morgenblatt.
München, 2 December.


Cardinal Lavigerie und die russisch-französische
Allianz.

Wie sich voraussehen ließ, ist die
neulich an dieser Stelle besprochene Kundgebung des Cardinals
Lavigerie
auf der Tagesordnung geblieben und es hat an
Einwendungen gegen die republicanisirenden Aussprüche des
Cardinals weder bei höheren noch bei niederen Geistlichen ge-
fehlt. Das Schweigen, welches ein erheblicher Theil der Prä-
latur gegenüber den Aeußerungen Lavigerie's und des Bischofs
von Annecy beobachtet hat, wird allgemein als Nichtzustim-
mung, d. h. als Widerspruch gedeutet, dem man aus Anstands-
rücksichten keinen öffentlichen Ausdruck gibt.

Gestatten Sie mir, bei dieser Gelegenheit auf einen Punkt
einzugehen, der bisher nirgends erörtert worden ist, nichtsdesto-
weniger aber einige Aufmerksamkeit verdient. Unter den Fragen,
rücksichtlich welcher tiefgehende Meinungsverschiedenheiten zwischen
dem Klerus aller Schattirungen und der herrschenden
republicanischen Partei bestehen, nimmt das Verhältniß zu dem
russisch-französischen Allianzproject eine nicht unwichtige Stelle
ein. Während die Masse der Tagespolitiker sich bereit zeigt,
Frankreichs orientalische, d. h. katholische Interessen der Freund-
schaft für Rußland zu opfern, sehen die Katholiken in dem
Zarenreiche nach wie vor eine schismatische Macht, deren An-
sprüche auf die Vorherrschaft über das Morgenland mit allen
Frankreich zu Gebote stehenden Mitteln bekämpft werden müßten.
In dieser Hinsicht besteht zwischen dem in die orientalischen,
bezw. jerusalemitischen Kirchenstreitigkeiten tief eingeweihten Erz-
bischof von Karthago und den Prälaten der strengen Observanz
auch nicht der Schatten einer Meinungsverschiedenheit. Für
das russisch-französische Allianzproject hat Monseigneur Lavigerie
trotz aller Connivenz gegen die Republik und die Republicaner
niemals auch nur ein Wort übrig gehabt, sondern im Gegen-
theil wiederholt und ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, daß
er Italien zu Frankreich herüberzuziehen und -- soweit davon
überhaupt die Rede sein kann -- mit der Curie ausgesöhnt zu
fehen wünschte. Wie dieser Kirchenfürst über Rußland denkt,
hat er in einem vom 26. d. Mts. datirten, an einen Freund
gerichteten Brief verblümt, aber immerhin verständlich ange-
deutet. Er citirt a. a. O. den bekannten, von Napoleon I.
gethanen Ausspruch, daß Europa binnen hundert Jahren "ent-
weder republicanisch oder kosakisch" sein werde, und bemerkt dazu:
"Er (Napoleon) würde das letztere Wort (kosakisch) vielleicht
[Spaltenumbruch] unterdrückt haben, wenn er, gleich uns, Zeuge der zunehmenden
Kühnheit des Nihilismus gewesen wäre."
In dem heutigen
Frankreich und von einem Manne wie Lavigerie gesprochen,
redet dieses kurze Wort Bände, denn es bedeutet eine Miß-
trauenserklärung gegen die Machterweiterung und Solidität
des russischen Staatskolosses, die zu dem in Frankreich herr-
schenden bedingungslos-optimistischen Nussencultus im vollsten
Gegensatz steht. Damit stimmt die lebhafte Abneigung, welche
der Cardinal den russenfreundlichen Nevancheschreiern Voulanger-
Deroulede'scher Schule jeder Zeit bewiesen hat.

Daß die eigentlichen Ultramontanen (Freppel und Ge-
nossen) Nußland mindestens ebenso abgeneigt sind, wie der von
ihnen als Italienerfreund und Halbrepublicaner beanstandete
Cardinal-Erzbischof von Algier, hat seine guten, den Ein-
geweihten längst bekannten Gründe. Abgesehen davon, daß
diese Herren die polnische Sache keineswegs so vollständig auf-
gegeben haben, wie ihre republicanischen Gegner, sind dieselben
bereits seit Jahr und Tag an einem Werke thätig, das direct
auf Bekämpfung der russischen Orient-Politik abzielt. Franzö-
sische Geistliche stehen an der Spitze der katholischen Propaganda,
welche den griechisch-bulgarischen Kirchenstreit in ziemlich erfolg-
reicher Weise zu Conversionen für die Kirche Roms ausbeutet.
Zum hohen Mißvergnügen Nußlands sind Tausende von dem
griechischen Klerus bedrängte bulgarische Makedonier zu der
sogenannten unirten, in Wirklichkeit katholischen Kirche über-
getreten, die ihnen mittelbar den Schutz der französischen
Botschaft gegen ihre phanariotischen Bedränger sichert.
Wenn Frankreich zu der im Herbst dieses Jahres erfolgten
Einsetzung bulgarischer Bischöfe in Makedonien scheel gesehen
hat, so ist das nicht sowohl aus Gefälligkeit gegen Nußland,
als aus Verdruß darüber geschehen, daß dieses Zugeständniß
an die Bulgaren der katholischen Propaganda den Boden zu
entziehen droht. Von der katholischen Sache im Orient kann
die französische Politik sich aber schlechterdings nicht lossagen,
weil sie damit den wichtigsten Hebel ihres dortigen Einflusses
aus den Händen geben, bezw. Oesterreich-Ungarn zum obersten und
alleinigen Schutzherrn der römischen Kirche des Morgenlandes
machen würde.

Dieser den Ignoranten der republicanischen Russengemeinde
niemals verständlich gewordene Zusammenbang der Dinge wird
in den Kreisen der französischen Kirchenpolitiker eifrig gepflegt,
genau überwacht und niemals aus den Augen verloren, -- Lavigerie
aber dürfte zu den Prälaten gehören, welche der Sache die
meiste Aufmerksamkeit zuwenden und dieselbe am wirksamsten
unterstützen. Sollte (was bisher nicht abzusehen ist) sein
Einfluß weitere Fortschritte machen und an einem Theil des
Klerus Nückhalt finden, so wird der bisher ignorirte Gegensatz
katbolischer und vulgär-republicanischer Auffassungen des franco-
russischen Allianzplanes unzweiselhaft in den Vordergrund
treten. (Vgl. auch das Pariser Telegramm im gestrigen Abend-
blatt. D. R.)



Deutsches Reich.

Telegramm. Der Reichstag
eröffnete heute den zweiten Theil seiner ersten Session mit der
Berathung der Vorlage über die Einverleibung von
Helgoland
. Staatssecretär v. Boetticher erklärte, seit der
Anwesenheit des Kaisers auf Helgoland blicken die Helgo-
[Spaltenumbruch] länder mit Vertrauen in die Zukunft. Die Insel sei zu klein,
um selbständig zu bleiben, und solle deßhalb an Preußen an-
geschlossen werden. Und zwar solle die Einverleibung am
1. April 1891 erfolgen. Die Frage, ob Helgoland zu einem
Kriegshafen eingerichtet werden wird, sei noch nicht spruchreif.
Abg. v. Benda (nat.-lib.) spricht die Hoffnung aus, daß alle
Mitglieder des Reichstags der Vorlage mit Freuden zustimmen
werden, und schließt mit den Worten: Gott sei Dank, daß
wir unser Helgoland wieder haben. Der Abg. Windthorst
betont ebenfalls die allgemeine Einmüthigkeit der Vorlage
gegenüber und dankt der Regierung für die Erwerbung der
Insel. Abg. Richter stimmt gleichfalls der Vorlage rück-
haltlos zu, ebenso der conservative Abg. v. Manteuffel.
Nur der Abg. Stadthagen (Socialist) wünscht Commissions-
berathung. Minister v. Boetticher betont schließlich noch
das den Helgoländern bis zum 1. Januar 1892 zustehende
Recht, für England zu optiren. Darauf wird der Antrag auf
Commissionsberathung abgelehnt. Nächste Sitzung morgen
1 Uhr. Auf der Tagesordnung stehen Rechnungssachen.


Telegramm. Die Rede des Kaisers
bei der gestrigen Mittagstafel lautete wie folgt: "Wir feiern
heute einen für uns Preußen und uns Brandenburger hoch-
bedeutsamen Tag: wir feiern die Thronbesteigung des Großen
Kurfürsten. Vergegenwärtigen wir uns einen Augenblick, wie es
damals bei uns aussah, und es wird uns dann klar werden, was
wir dem hohen Herrn alles zu verdanken haben. Was war
die Mark? Ein verachtetes Land, verödet, verwüstet, der
Kampf- und Tummelplatz sämmtlicher Parteien des in sich
zersplitterten Reiches, von Freund und Feind ausgesogen.
Was war Berlin? Eine kleine Stadt, gebrandschatzt, heimge-
sucht von Noth und Krankheiten, mit wenig Tausend Einwohnern;
der Landesfürst in schwerer Krankheit mit dem Tode ringend,
fern in Königsberg weilend, Niemand, der sich um das Land
kümmerte, kein Mensch, der ein Herz für die Noth des Volkes
hatte: in dieser Verfassung mußte der Große Kurfürst mit
seinen zwanzig Jahren ganz allein die Aufgabe übernehmen,
sein Land wieder emporzubringen. Er hatte keinen Menschen
damals; der Staatsmann, der seinem Vater gedient hatte,
er hatte für sich gearbeitet, und dem jungen Herrn lag
es ob, allein einen neuen Weg für sich einzuschlagen.
Kraft seines unerschütterlichen Muthes, seines gewalti-
gen Seherblickes, der fern in die Zukunft sah, seines
unerschütterlichen Gottvertrauens gelang es ihm, aus nichts ein Heer
zu schaffen, mit diesem aber sich bei Freund und Feind gleich ge-
achtet zu machen. Gleich einem Sturmwind fegte er bei Fehr-
bellin den Feind aus seinen Grenzen, und wo er nur seine
Truppen auftreten ließ und wo seine Dragoner und Musketiere
sich zeigten, war Freude bei den Alliirten und Angst und
Schrecken bei dem Feinde. Doch nicht genug damit, sich ein Heer zu
schaffen, schaffte er auch im Lande Ruhe und Ordnung, und wir sehen
diesesverachtete Ländchen, "des Reiches Streusandbüchse" aufblühen
und unmittelbar hinter dem schwer verwüstenden 30 jährigen Kriege
einen Aufschwung nehmen, der nie geahnt wurde und das kleine
Ländchen zur Vormacht im Deutschen Reich machte. Wir
sehen, daß es dem Großen Kurfürsten möglich war, am Schluß
seiner Regierung mit einer wohlgeschulten Armee von 24,000
Mann der Welt eine gebietende Stellung zu zeigen, eine Flotte
zu besitzen, überseeische Colonien zu haben. Er trieb Politik
im großen Stile, weitausschauend, wie man sie jetzt treibt,



Feuilleton.
Berliner Concerte.

* Gelobet seist du jeder Zeit, Frau Musica! So hat wohl
Jeder von Herzen als Bruder Studio im Kreise fröhlicher Ge-
nossen einmal mitgefungen und auch an die Aufrichtigkeit seiner
Kunstbegeisterung geglaubt. Wer aber heutigen Tages berufs-
mäßig in das musikalische Leben einer Großstadt, wie Berlin,
hineingesetzt wird, der würde keineswegs ehrlich handeln, wenn
er nicht hin und wieder in heimlichen Stunden und unter ver-
haltenen Seufzern zu dem Geständniß gelangte, daß die edle
Frau Musica recht häufig des Guten zu viel thut, daß die An-
sprüche, die sie an die Empfänglichkeit und Leistungsfähigkeit
eines gewöhnlichen Sterblichen stellt, durchschnittlich zu hoch
bemessen sind. Kaum hat man zu Anfang October den Kopf
wieder in das Riesennest gesteckt, und kaum ist nach herrlichen
Naturgenüssen im Hochgebirge und an der See der Reisestaub
einigermaßen abgeschüttelt, so wird man mit Macht in den
Strudel der musikalischen Wellen hineingerissen, welche die
Reichshauptstadt für mehrere Monate überfluthen.

Die Physiognomie des diesjährigen Kampfes der Instru-
mente und Gesänge hat sich nicht wesentlich geändert, nachdem
erst vor wenigen Jahren ein ziemlich bedeutender Umschwung
in der äußeren Gestaltung einiger Hauptunternehmungen voll-
zogen war. Es sind keine neuen Concertsäle gebaut oder alte
umgebaut worden, obwohl auch dies nicht mehr lange auf sich
warten lassen kann, da immer dringender das Bedürsniß nach
einem ausreichenden, akustischen und -- bierluftfreien Concert-
kocale zu Tage tritt. In den Plänen der neuen Kunstakademie
ist, so viel man erfährt, bereits Rücksicht darauf genommen.
Auch hat man keine neuen Veranstaltungen von nennenswerther
Bedeutung neben den altbewährten gegründet. Freilich äußert
sich auch nirgendwo ein Bedürfniß nach Vermehrung, höchstens
hie und da ein stiller Wunsch nach Vervollkommnung. Eins
aber tritt immer deutlicher hervor, eine gewisse Unterscheidung
zwischen Concerten für Reiche und solchen für -- Arme kann
man nicht schlankweg sagen, sondern für -- Unbemitteltere, und
gerade in den letzteren trifft man immer mehr das gebildetste
[Spaltenumbruch] und andächtigste Publicum. Namentlich bewährt, was für den
guten musikalischen Geschmack spricht, die Kammermusik eine
große Anziehungskraft.

So begannen die Professoren Barth, de Ahna und
Hausmann ihre im vorigen Jahre mit so großem Beifall
aufgenommenen volksthümlichen Kammermusik-Concerte mit
einem Beethoven-Abend und sahen die großen Räume der
Philharmonie wiederum bis auf den letzten Platz gefüllt. Die
vornehmsten künstlerischen Offenbarungen Berlins sind und
bleiben aber die Joachim'schen Quartett-Concerte, zu
denen de Ahna und Hausmann ihre werthvolle Beihülfe geben.
Das sind Musikabende, die sich aus dem Strom des Concert-
lebens hervorheben, wie die Gefilde der Seligen, und wohin
man sehnsuchtsvoll wie zu einem weihevollen Feste hinpilgert.
Joachim hat sich längst die Palme gesichert, als unerreichter
Vertreter der classischen Kunst, als edelster Verkündiger reiner,
unvergänglicher Schönheit, dem man am liebsten mit gefalteten
Händen zuhört. Darüber redet man nicht viel, da geht man
hin und genießt in schweigender, dankbarer Bewunderung.
Meisterwerke und Meisterleistungen ohne gleichen sprechen hier
ihre überzeugende Sprache. Als Solist stellt Joachim in
Berlin vor allem seine Kunst in den Dienst der Wohl-
thätigkeit. Allezeit bereit, zu helfen und zu fördern, spielte
er neuerdings in einem Concert zum Besten der Unter-
stützungscassen des Vereins der Berliner Musiklehrer und
-Lehrerinnen in der neuen Kirche Bachs Ciacona, sowie Adagio
und Allegro von Tartini, während Robert Radecke an der
Orgel saß und unter anderem eine Orgelphantasie von
H. v. Herzogenberg vortrug, und Hausmann verschiedene Cello-
soli von Corelli und Bargiel zu Gehör brachte. Ein anderes
Mal entzückte er zu Gunsten einer Kinderheilanstalt einen ex-
clusiv vornehmen Cirkel in der Kriegsakademie durch Brahms'
ungarische Tänze.

Eines guten Zuspruchs erfreuen sich die neu begründeten
Kammermusik-Abende von Concertmeister Kruse, Markers,
Müller, Dechert, die auch die Pflege der neueren Musik ins
Auge fassen und Gesangsvorträge einlegen. Ein Kammer-
musik-Abend der Herren Papendick und Genossen brachte eines
der ungedruckten Streichquartette des Grafen Hochberg zur
Aufführung, welches großen Beifall gewann.

[Spaltenumbruch]

Auch von den großen Orchester- und Choraufführungen
ist mancherlei Gutes zu berichten. Ueber alle Erwartung
günstig gestalten sich die Erfolge der Bülow-Concerte, die
allemal nicht allein am Abend der Vorführung selbst -- sie
finden Montags statt --, sondern auch in den Generalproben
des voraufgehenden Sonntagvormittags vollständig ausverkauft
sind. In der That scheint Bülow wie kein zweiter dem Ge-
schmack des Verliner Publicums zuzusagen. Die unvergleich-
liche Exactheit, die eiserne Fuchtel dieses Dirigenten, sein fabel-
haftes Wissen und Können, das sich freilich mehr zu einer Art
von Kunstwissenschaft wie zu einer Kunstweihe verbindet, sein
verstandesmäßiges, vorwiegend kühles Zerlegen und Zergliedern
des Kunstwerks, sein mehr lehrhafter als begeisterter Vor-
trag, -- alle diese Eigenschaften passen ganz besonders gut
zu der sachlichen, klarheitliebenden und kritischen Natur
des norddeutschen Volkscharakters in den breiteren Gesell-
schaftsschichten. Das Programm des ersten Bülow-Concerts
enthielt als Orchesterstücke Bachs D-dur-Orchestersuite,
von Mendelssohn und David "eingerichtet", sodann Brahms'
Variationen über ein Thema von Haydn (op. 56a) und
Beethovens vierte B-dur-Symphonie. Als Solistin trat Fr.
Teresa Carreno auf mit einem ziemlich effectvollen, aber
auch ziemlich rohen Concerte von Saint-Saens, eine merk-
würdige Clavierspielerin, die auch recht in die etwas rauhe
nordische Luft paßt, trotz ihrer südlichen Herkunst. Das Männ-
liche, Kraftvolle, Harte ihres Spiels, das absichtlich jede feinere
Empfindung, jede Schwärmerei und Poesie zu unterdrücken
scheint, erregt mehr Erstaunen als Bewunderung. Die Hervor-
kehrung des Technischen und Mechanischen, des Sicheren und
Unfehlbaren beweist viel mehr moderne Vernunft und trotzigen
Kampf als liebevolles Versenken in die Kunst. Das zweite
philharmonische Concert brachte neben anderen die leider
viel zu selten aufgeführte dreisätzige D-dur-Symphonie (Nr. 38)
von Mozart aus dem Jahre 1786, die sich, was Wohllaut und
Ursprünglichkeit der Erfindung und Empfindung angeht, kühn-
lich an die Seite der zwei Jahre später entstandenen drei
großen Symphonien stellen kann. Sodann erfreute nach langer
Abwesenheit Fr. Lilli Lehmann wieder einmal das Berliner
Publicum durch die Größe ihrer Stimmittel und Auffassung
im Vortrag der beiden großen dramatischen Arien der Donna


Allgemeine Zeitung.
Nr. 335. — 92. Jahrgang.
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München, Mittwoch, 3. December 1890.


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3 Pf., in fetter Schrift
5 Pf. für das Wort.


Redaktion u. Expedi-
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Schwanthalerſtr. 73
in München.


Berichte ſind an die
Redaktion, Inſerat-
aufträge an die Ex-
pedktion franko einzu-
ſenden.
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Abonnements für das Ausland nehmen an: für England A. Siegle. 30 Lime Str. London: für Frankreich,
Portugal und Spanien A. Ammel und C. Klinckſieck in Paris: für Italien H. Loeſcher und Frat.
Bocca
in Turin, Florenz und Rom, U. Hoepli in Mailand; für den Orient das kaiſerlich königliche Poſt-
amt in Wien oder Trieſt; für Nordamerika F. W. Chriſtern, E Steiger u. Co., Guſt. E. Stechert,
Weſtermann u. Co., International Publiſhing Agency,
710 Broadway, in New York.
Verantwortlicher Redakteur: Hugo Jacobi in München.
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Inſeratenannahme in München b. d. Expedition, Schwanthalerſtraße 73, ſerner in Berlin, Hamburg, Breslau, Köln,
Leipzig, Frankfurt a. M., Stuttgart, Nürnberg, Wien, Paris, London, Zürich, Baſel ꝛc. b. d. Annoncenbureaux G. L. Daube
u. Co., Haaſenſtein u. Vogler u. R. Moſſe
. In den Filialen der Zeitungsbureaux Invalidendank zu Berlin,
Dresden, Leipzig, Chemnitz ꝛc. Außerdem in: Berlin bei B. Arndt (Mohrenſtr. 26) und S. Kornik (Krauſenſtr. 12),
Hamburg bei W. Wilckens u. Ad. Steiner, New York bei der Intern. Publiſhing Agency, 710 Broadway.
Druck und Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung Nachfolger in Stuttgart und München.


[Spaltenumbruch]
Inhalts-Ueberſicht.

Cardinal Lavigerie und die ruſſiſch-franzöſiſche Allianz.
Deutſches Reich. * Berlin: Reichstag. Kaiſerrede. Canal-
angelegenheiten. Bekämpfung der Socialdemokratie. Aus der
Biographie des Kriegsminiſters v. Roon.
Oeſterreich-Ungarn.Peſt: Die Reſultate der Budgetdebatte.
Serbien. × Belgrad: Adreſſe. Handelsvertrag mit Rußland.
Feuilleton: Berliner Concerte. Von Hans Müller.
Bayeriſche Chronik. — Weitere telegraphiſche Nachrichten.
Hiezu: Zweites Morgenblatt.
München, 2 December.


Cardinal Lavigerie und die ruſſiſch-franzöſiſche
Allianz.

Wie ſich vorausſehen ließ, iſt die
neulich an dieſer Stelle beſprochene Kundgebung des Cardinals
Lavigerie
auf der Tagesordnung geblieben und es hat an
Einwendungen gegen die republicaniſirenden Ausſprüche des
Cardinals weder bei höheren noch bei niederen Geiſtlichen ge-
fehlt. Das Schweigen, welches ein erheblicher Theil der Prä-
latur gegenüber den Aeußerungen Lavigerie’s und des Biſchofs
von Annecy beobachtet hat, wird allgemein als Nichtzuſtim-
mung, d. h. als Widerſpruch gedeutet, dem man aus Anſtands-
rückſichten keinen öffentlichen Ausdruck gibt.

Geſtatten Sie mir, bei dieſer Gelegenheit auf einen Punkt
einzugehen, der bisher nirgends erörtert worden iſt, nichtsdeſto-
weniger aber einige Aufmerkſamkeit verdient. Unter den Fragen,
rückſichtlich welcher tiefgehende Meinungsverſchiedenheiten zwiſchen
dem Klerus aller Schattirungen und der herrſchenden
republicaniſchen Partei beſtehen, nimmt das Verhältniß zu dem
ruſſiſch-franzöſiſchen Allianzproject eine nicht unwichtige Stelle
ein. Während die Maſſe der Tagespolitiker ſich bereit zeigt,
Frankreichs orientaliſche, d. h. katholiſche Intereſſen der Freund-
ſchaft für Rußland zu opfern, ſehen die Katholiken in dem
Zarenreiche nach wie vor eine ſchismatiſche Macht, deren An-
ſprüche auf die Vorherrſchaft über das Morgenland mit allen
Frankreich zu Gebote ſtehenden Mitteln bekämpft werden müßten.
In dieſer Hinſicht beſteht zwiſchen dem in die orientaliſchen,
bezw. jeruſalemitiſchen Kirchenſtreitigkeiten tief eingeweihten Erz-
biſchof von Karthago und den Prälaten der ſtrengen Obſervanz
auch nicht der Schatten einer Meinungsverſchiedenheit. Für
das ruſſiſch-franzöſiſche Allianzproject hat Monſeigneur Lavigerie
trotz aller Connivenz gegen die Republik und die Republicaner
niemals auch nur ein Wort übrig gehabt, ſondern im Gegen-
theil wiederholt und ziemlich deutlich zu verſtehen gegeben, daß
er Italien zu Frankreich herüberzuziehen und — ſoweit davon
überhaupt die Rede ſein kann — mit der Curie ausgeſöhnt zu
fehen wünſchte. Wie dieſer Kirchenfürſt über Rußland denkt,
hat er in einem vom 26. d. Mts. datirten, an einen Freund
gerichteten Brief verblümt, aber immerhin verſtändlich ange-
deutet. Er citirt a. a. O. den bekannten, von Napoleon I.
gethanen Ausſpruch, daß Europa binnen hundert Jahren „ent-
weder republicaniſch oder koſakiſch“ ſein werde, und bemerkt dazu:
„Er (Napoleon) würde das letztere Wort (koſakiſch) vielleicht
[Spaltenumbruch] unterdrückt haben, wenn er, gleich uns, Zeuge der zunehmenden
Kühnheit des Nihilismus geweſen wäre.“
In dem heutigen
Frankreich und von einem Manne wie Lavigerie geſprochen,
redet dieſes kurze Wort Bände, denn es bedeutet eine Miß-
trauenserklärung gegen die Machterweiterung und Solidität
des ruſſiſchen Staatskoloſſes, die zu dem in Frankreich herr-
ſchenden bedingungslos-optimiſtiſchen Nuſſencultus im vollſten
Gegenſatz ſteht. Damit ſtimmt die lebhafte Abneigung, welche
der Cardinal den ruſſenfreundlichen Nevancheſchreiern Voulanger-
Déroulède’ſcher Schule jeder Zeit bewieſen hat.

Daß die eigentlichen Ultramontanen (Freppel und Ge-
noſſen) Nußland mindeſtens ebenſo abgeneigt ſind, wie der von
ihnen als Italienerfreund und Halbrepublicaner beanſtandete
Cardinal-Erzbiſchof von Algier, hat ſeine guten, den Ein-
geweihten längſt bekannten Gründe. Abgeſehen davon, daß
dieſe Herren die polniſche Sache keineswegs ſo vollſtändig auf-
gegeben haben, wie ihre republicaniſchen Gegner, ſind dieſelben
bereits ſeit Jahr und Tag an einem Werke thätig, das direct
auf Bekämpfung der ruſſiſchen Orient-Politik abzielt. Franzö-
ſiſche Geiſtliche ſtehen an der Spitze der katholiſchen Propaganda,
welche den griechiſch-bulgariſchen Kirchenſtreit in ziemlich erfolg-
reicher Weiſe zu Converſionen für die Kirche Roms ausbeutet.
Zum hohen Mißvergnügen Nußlands ſind Tauſende von dem
griechiſchen Klerus bedrängte bulgariſche Makedonier zu der
ſogenannten unirten, in Wirklichkeit katholiſchen Kirche über-
getreten, die ihnen mittelbar den Schutz der franzöſiſchen
Botſchaft gegen ihre phanariotiſchen Bedränger ſichert.
Wenn Frankreich zu der im Herbſt dieſes Jahres erfolgten
Einſetzung bulgariſcher Biſchöfe in Makedonien ſcheel geſehen
hat, ſo iſt das nicht ſowohl aus Gefälligkeit gegen Nußland,
als aus Verdruß darüber geſchehen, daß dieſes Zugeſtändniß
an die Bulgaren der katholiſchen Propaganda den Boden zu
entziehen droht. Von der katholiſchen Sache im Orient kann
die franzöſiſche Politik ſich aber ſchlechterdings nicht losſagen,
weil ſie damit den wichtigſten Hebel ihres dortigen Einfluſſes
aus den Händen geben, bezw. Oeſterreich-Ungarn zum oberſten und
alleinigen Schutzherrn der römiſchen Kirche des Morgenlandes
machen würde.

Dieſer den Ignoranten der republicaniſchen Ruſſengemeinde
niemals verſtändlich gewordene Zuſammenbang der Dinge wird
in den Kreiſen der franzöſiſchen Kirchenpolitiker eifrig gepflegt,
genau überwacht und niemals aus den Augen verloren, — Lavigerie
aber dürfte zu den Prälaten gehören, welche der Sache die
meiſte Aufmerkſamkeit zuwenden und dieſelbe am wirkſamſten
unterſtützen. Sollte (was bisher nicht abzuſehen iſt) ſein
Einfluß weitere Fortſchritte machen und an einem Theil des
Klerus Nückhalt finden, ſo wird der bisher ignorirte Gegenſatz
katboliſcher und vulgär-republicaniſcher Auffaſſungen des franco-
ruſſiſchen Allianzplanes unzweiſelhaft in den Vordergrund
treten. (Vgl. auch das Pariſer Telegramm im geſtrigen Abend-
blatt. D. R.)



Deutſches Reich.

Telegramm. Der Reichstag
eröffnete heute den zweiten Theil ſeiner erſten Seſſion mit der
Berathung der Vorlage über die Einverleibung von
Helgoland
. Staatsſecretär v. Boetticher erklärte, ſeit der
Anweſenheit des Kaiſers auf Helgoland blicken die Helgo-
[Spaltenumbruch] länder mit Vertrauen in die Zukunft. Die Inſel ſei zu klein,
um ſelbſtändig zu bleiben, und ſolle deßhalb an Preußen an-
geſchloſſen werden. Und zwar ſolle die Einverleibung am
1. April 1891 erfolgen. Die Frage, ob Helgoland zu einem
Kriegshafen eingerichtet werden wird, ſei noch nicht ſpruchreif.
Abg. v. Benda (nat.-lib.) ſpricht die Hoffnung aus, daß alle
Mitglieder des Reichstags der Vorlage mit Freuden zuſtimmen
werden, und ſchließt mit den Worten: Gott ſei Dank, daß
wir unſer Helgoland wieder haben. Der Abg. Windthorſt
betont ebenfalls die allgemeine Einmüthigkeit der Vorlage
gegenüber und dankt der Regierung für die Erwerbung der
Inſel. Abg. Richter ſtimmt gleichfalls der Vorlage rück-
haltlos zu, ebenſo der conſervative Abg. v. Manteuffel.
Nur der Abg. Stadthagen (Socialiſt) wünſcht Commiſſions-
berathung. Miniſter v. Boetticher betont ſchließlich noch
das den Helgoländern bis zum 1. Januar 1892 zuſtehende
Recht, für England zu optiren. Darauf wird der Antrag auf
Commiſſionsberathung abgelehnt. Nächſte Sitzung morgen
1 Uhr. Auf der Tagesordnung ſtehen Rechnungsſachen.


Telegramm. Die Rede des Kaiſers
bei der geſtrigen Mittagstafel lautete wie folgt: „Wir feiern
heute einen für uns Preußen und uns Brandenburger hoch-
bedeutſamen Tag: wir feiern die Thronbeſteigung des Großen
Kurfürſten. Vergegenwärtigen wir uns einen Augenblick, wie es
damals bei uns ausſah, und es wird uns dann klar werden, was
wir dem hohen Herrn alles zu verdanken haben. Was war
die Mark? Ein verachtetes Land, verödet, verwüſtet, der
Kampf- und Tummelplatz ſämmtlicher Parteien des in ſich
zerſplitterten Reiches, von Freund und Feind ausgeſogen.
Was war Berlin? Eine kleine Stadt, gebrandſchatzt, heimge-
ſucht von Noth und Krankheiten, mit wenig Tauſend Einwohnern;
der Landesfürſt in ſchwerer Krankheit mit dem Tode ringend,
fern in Königsberg weilend, Niemand, der ſich um das Land
kümmerte, kein Menſch, der ein Herz für die Noth des Volkes
hatte: in dieſer Verfaſſung mußte der Große Kurfürſt mit
ſeinen zwanzig Jahren ganz allein die Aufgabe übernehmen,
ſein Land wieder emporzubringen. Er hatte keinen Menſchen
damals; der Staatsmann, der ſeinem Vater gedient hatte,
er hatte für ſich gearbeitet, und dem jungen Herrn lag
es ob, allein einen neuen Weg für ſich einzuſchlagen.
Kraft ſeines unerſchütterlichen Muthes, ſeines gewalti-
gen Seherblickes, der fern in die Zukunft ſah, ſeines
unerſchütterlichen Gottvertrauens gelang es ihm, aus nichts ein Heer
zu ſchaffen, mit dieſem aber ſich bei Freund und Feind gleich ge-
achtet zu machen. Gleich einem Sturmwind fegte er bei Fehr-
bellin den Feind aus ſeinen Grenzen, und wo er nur ſeine
Truppen auftreten ließ und wo ſeine Dragoner und Musketiere
ſich zeigten, war Freude bei den Alliirten und Angſt und
Schrecken bei dem Feinde. Doch nicht genug damit, ſich ein Heer zu
ſchaffen, ſchaffte er auch im Lande Ruhe und Ordnung, und wir ſehen
dieſesverachtete Ländchen, „des Reiches Streuſandbüchſe“ aufblühen
und unmittelbar hinter dem ſchwer verwüſtenden 30 jährigen Kriege
einen Aufſchwung nehmen, der nie geahnt wurde und das kleine
Ländchen zur Vormacht im Deutſchen Reich machte. Wir
ſehen, daß es dem Großen Kurfürſten möglich war, am Schluß
ſeiner Regierung mit einer wohlgeſchulten Armee von 24,000
Mann der Welt eine gebietende Stellung zu zeigen, eine Flotte
zu beſitzen, überſeeiſche Colonien zu haben. Er trieb Politik
im großen Stile, weitausſchauend, wie man ſie jetzt treibt,



Feuilleton.
Berliner Concerte.

* Gelobet ſeiſt du jeder Zeit, Frau Muſica! So hat wohl
Jeder von Herzen als Bruder Studio im Kreiſe fröhlicher Ge-
noſſen einmal mitgefungen und auch an die Aufrichtigkeit ſeiner
Kunſtbegeiſterung geglaubt. Wer aber heutigen Tages berufs-
mäßig in das muſikaliſche Leben einer Großſtadt, wie Berlin,
hineingeſetzt wird, der würde keineswegs ehrlich handeln, wenn
er nicht hin und wieder in heimlichen Stunden und unter ver-
haltenen Seufzern zu dem Geſtändniß gelangte, daß die edle
Frau Muſica recht häufig des Guten zu viel thut, daß die An-
ſprüche, die ſie an die Empfänglichkeit und Leiſtungsfähigkeit
eines gewöhnlichen Sterblichen ſtellt, durchſchnittlich zu hoch
bemeſſen ſind. Kaum hat man zu Anfang October den Kopf
wieder in das Rieſenneſt geſteckt, und kaum iſt nach herrlichen
Naturgenüſſen im Hochgebirge und an der See der Reiſeſtaub
einigermaßen abgeſchüttelt, ſo wird man mit Macht in den
Strudel der muſikaliſchen Wellen hineingeriſſen, welche die
Reichshauptſtadt für mehrere Monate überfluthen.

Die Phyſiognomie des diesjährigen Kampfes der Inſtru-
mente und Geſänge hat ſich nicht weſentlich geändert, nachdem
erſt vor wenigen Jahren ein ziemlich bedeutender Umſchwung
in der äußeren Geſtaltung einiger Hauptunternehmungen voll-
zogen war. Es ſind keine neuen Concertſäle gebaut oder alte
umgebaut worden, obwohl auch dies nicht mehr lange auf ſich
warten laſſen kann, da immer dringender das Bedürſniß nach
einem ausreichenden, akuſtiſchen und — bierluftfreien Concert-
kocale zu Tage tritt. In den Plänen der neuen Kunſtakademie
iſt, ſo viel man erfährt, bereits Rückſicht darauf genommen.
Auch hat man keine neuen Veranſtaltungen von nennenswerther
Bedeutung neben den altbewährten gegründet. Freilich äußert
ſich auch nirgendwo ein Bedürfniß nach Vermehrung, höchſtens
hie und da ein ſtiller Wunſch nach Vervollkommnung. Eins
aber tritt immer deutlicher hervor, eine gewiſſe Unterſcheidung
zwiſchen Concerten für Reiche und ſolchen für — Arme kann
man nicht ſchlankweg ſagen, ſondern für — Unbemitteltere, und
gerade in den letzteren trifft man immer mehr das gebildetſte
[Spaltenumbruch] und andächtigſte Publicum. Namentlich bewährt, was für den
guten muſikaliſchen Geſchmack ſpricht, die Kammermuſik eine
große Anziehungskraft.

So begannen die Profeſſoren Barth, de Ahna und
Hausmann ihre im vorigen Jahre mit ſo großem Beifall
aufgenommenen volksthümlichen Kammermuſik-Concerte mit
einem Beethoven-Abend und ſahen die großen Räume der
Philharmonie wiederum bis auf den letzten Platz gefüllt. Die
vornehmſten künſtleriſchen Offenbarungen Berlins ſind und
bleiben aber die Joachim’ſchen Quartett-Concerte, zu
denen de Ahna und Hausmann ihre werthvolle Beihülfe geben.
Das ſind Muſikabende, die ſich aus dem Strom des Concert-
lebens hervorheben, wie die Gefilde der Seligen, und wohin
man ſehnſuchtsvoll wie zu einem weihevollen Feſte hinpilgert.
Joachim hat ſich längſt die Palme geſichert, als unerreichter
Vertreter der claſſiſchen Kunſt, als edelſter Verkündiger reiner,
unvergänglicher Schönheit, dem man am liebſten mit gefalteten
Händen zuhört. Darüber redet man nicht viel, da geht man
hin und genießt in ſchweigender, dankbarer Bewunderung.
Meiſterwerke und Meiſterleiſtungen ohne gleichen ſprechen hier
ihre überzeugende Sprache. Als Soliſt ſtellt Joachim in
Berlin vor allem ſeine Kunſt in den Dienſt der Wohl-
thätigkeit. Allezeit bereit, zu helfen und zu fördern, ſpielte
er neuerdings in einem Concert zum Beſten der Unter-
ſtützungscaſſen des Vereins der Berliner Muſiklehrer und
-Lehrerinnen in der neuen Kirche Bachs Ciacona, ſowie Adagio
und Allegro von Tartini, während Robert Radecke an der
Orgel ſaß und unter anderem eine Orgelphantaſie von
H. v. Herzogenberg vortrug, und Hausmann verſchiedene Cello-
ſoli von Corelli und Bargiel zu Gehör brachte. Ein anderes
Mal entzückte er zu Gunſten einer Kinderheilanſtalt einen ex-
cluſiv vornehmen Cirkel in der Kriegsakademie durch Brahms’
ungariſche Tänze.

Eines guten Zuſpruchs erfreuen ſich die neu begründeten
Kammermuſik-Abende von Concertmeiſter Kruſe, Markers,
Müller, Dechert, die auch die Pflege der neueren Muſik ins
Auge faſſen und Geſangsvorträge einlegen. Ein Kammer-
muſik-Abend der Herren Papendick und Genoſſen brachte eines
der ungedruckten Streichquartette des Grafen Hochberg zur
Aufführung, welches großen Beifall gewann.

[Spaltenumbruch]

Auch von den großen Orcheſter- und Choraufführungen
iſt mancherlei Gutes zu berichten. Ueber alle Erwartung
günſtig geſtalten ſich die Erfolge der Bülow-Concerte, die
allemal nicht allein am Abend der Vorführung ſelbſt — ſie
finden Montags ſtatt —, ſondern auch in den Generalproben
des voraufgehenden Sonntagvormittags vollſtändig ausverkauft
ſind. In der That ſcheint Bülow wie kein zweiter dem Ge-
ſchmack des Verliner Publicums zuzuſagen. Die unvergleich-
liche Exactheit, die eiſerne Fuchtel dieſes Dirigenten, ſein fabel-
haftes Wiſſen und Können, das ſich freilich mehr zu einer Art
von Kunſtwiſſenſchaft wie zu einer Kunſtweihe verbindet, ſein
verſtandesmäßiges, vorwiegend kühles Zerlegen und Zergliedern
des Kunſtwerks, ſein mehr lehrhafter als begeiſterter Vor-
trag, — alle dieſe Eigenſchaften paſſen ganz beſonders gut
zu der ſachlichen, klarheitliebenden und kritiſchen Natur
des norddeutſchen Volkscharakters in den breiteren Geſell-
ſchaftsſchichten. Das Programm des erſten Bülow-Concerts
enthielt als Orcheſterſtücke Bachs D-dur-Orcheſterſuite,
von Mendelsſohn und David „eingerichtet“, ſodann Brahms’
Variationen über ein Thema von Haydn (op. 56a) und
Beethovens vierte B-dur-Symphonie. Als Soliſtin trat Fr.
Tereſa Carreno auf mit einem ziemlich effectvollen, aber
auch ziemlich rohen Concerte von Saint-Saëns, eine merk-
würdige Clavierſpielerin, die auch recht in die etwas rauhe
nordiſche Luft paßt, trotz ihrer ſüdlichen Herkunſt. Das Männ-
liche, Kraftvolle, Harte ihres Spiels, das abſichtlich jede feinere
Empfindung, jede Schwärmerei und Poeſie zu unterdrücken
ſcheint, erregt mehr Erſtaunen als Bewunderung. Die Hervor-
kehrung des Techniſchen und Mechaniſchen, des Sicheren und
Unfehlbaren beweist viel mehr moderne Vernunft und trotzigen
Kampf als liebevolles Verſenken in die Kunſt. Das zweite
philharmoniſche Concert brachte neben anderen die leider
viel zu ſelten aufgeführte dreiſätzige D-dur-Symphonie (Nr. 38)
von Mozart aus dem Jahre 1786, die ſich, was Wohllaut und
Urſprünglichkeit der Erfindung und Empfindung angeht, kühn-
lich an die Seite der zwei Jahre ſpäter entſtandenen drei
großen Symphonien ſtellen kann. Sodann erfreute nach langer
Abweſenheit Fr. Lilli Lehmann wieder einmal das Berliner
Publicum durch die Größe ihrer Stimmittel und Auffaſſung
im Vortrag der beiden großen dramatiſchen Arien der Donna

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[0001] Allgemeine Zeitung.Nr. 335. — 92. Jahrgang. Morgenblatt. München, Mittwoch, 3. December 1890. Abonnementspreis in München b. d. Ex- pedition oder den im Stadtbezirk errichte- ten Depots abgeholt monatl. M. 2.—, bei 2malig. Zuſtellung ins Haus M. 2.50; durch d. Poſt bejogen: vier- teljährlich f. Dentſchl. u. Oeſterreich M. 9.—, für d. Ausl. mit ent- ſprechendem Zuſchlag. Direkter Bezug unter Streifband für Deutſchland à. Oeſterreich monatl. M. 4. —, Ausland M. 5. 60. Inſertionspreis v. Colonelzeile 25 Pf.; finanzielle Anzeigen 35 Pf.; Lokalanzeigen 20 Pf.; kleine Anzei- gen i. gewöhnl. Schrift 3 Pf., in fetter Schrift 5 Pf. für das Wort. Redaktion u. Expedi- tion befinden ſich Schwanthalerſtr. 73 in München. Berichte ſind an die Redaktion, Inſerat- aufträge an die Ex- pedktion franko einzu- ſenden. Abonnements für das Ausland nehmen an: für England A. Siegle. 30 Lime Str. London: für Frankreich, Portugal und Spanien A. Ammel und C. Klinckſieck in Paris: für Italien H. 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Inhalts-Ueberſicht. Cardinal Lavigerie und die ruſſiſch-franzöſiſche Allianz. Deutſches Reich. * Berlin: Reichstag. Kaiſerrede. Canal- angelegenheiten. Bekämpfung der Socialdemokratie. Aus der Biographie des Kriegsminiſters v. Roon. Oeſterreich-Ungarn. ☊ Peſt: Die Reſultate der Budgetdebatte. Serbien. × Belgrad: Adreſſe. Handelsvertrag mit Rußland. Feuilleton: Berliner Concerte. Von Hans Müller. Bayeriſche Chronik. — Weitere telegraphiſche Nachrichten. Hiezu: Zweites Morgenblatt. München, 2 December. Cardinal Lavigerie und die ruſſiſch-franzöſiſche Allianz. E. Paris, 30. Nov. Wie ſich vorausſehen ließ, iſt die neulich an dieſer Stelle beſprochene Kundgebung des Cardinals Lavigerie auf der Tagesordnung geblieben und es hat an Einwendungen gegen die republicaniſirenden Ausſprüche des Cardinals weder bei höheren noch bei niederen Geiſtlichen ge- fehlt. Das Schweigen, welches ein erheblicher Theil der Prä- latur gegenüber den Aeußerungen Lavigerie’s und des Biſchofs von Annecy beobachtet hat, wird allgemein als Nichtzuſtim- mung, d. h. als Widerſpruch gedeutet, dem man aus Anſtands- rückſichten keinen öffentlichen Ausdruck gibt. Geſtatten Sie mir, bei dieſer Gelegenheit auf einen Punkt einzugehen, der bisher nirgends erörtert worden iſt, nichtsdeſto- weniger aber einige Aufmerkſamkeit verdient. Unter den Fragen, rückſichtlich welcher tiefgehende Meinungsverſchiedenheiten zwiſchen dem Klerus aller Schattirungen und der herrſchenden republicaniſchen Partei beſtehen, nimmt das Verhältniß zu dem ruſſiſch-franzöſiſchen Allianzproject eine nicht unwichtige Stelle ein. Während die Maſſe der Tagespolitiker ſich bereit zeigt, Frankreichs orientaliſche, d. h. katholiſche Intereſſen der Freund- ſchaft für Rußland zu opfern, ſehen die Katholiken in dem Zarenreiche nach wie vor eine ſchismatiſche Macht, deren An- ſprüche auf die Vorherrſchaft über das Morgenland mit allen Frankreich zu Gebote ſtehenden Mitteln bekämpft werden müßten. In dieſer Hinſicht beſteht zwiſchen dem in die orientaliſchen, bezw. jeruſalemitiſchen Kirchenſtreitigkeiten tief eingeweihten Erz- biſchof von Karthago und den Prälaten der ſtrengen Obſervanz auch nicht der Schatten einer Meinungsverſchiedenheit. Für das ruſſiſch-franzöſiſche Allianzproject hat Monſeigneur Lavigerie trotz aller Connivenz gegen die Republik und die Republicaner niemals auch nur ein Wort übrig gehabt, ſondern im Gegen- theil wiederholt und ziemlich deutlich zu verſtehen gegeben, daß er Italien zu Frankreich herüberzuziehen und — ſoweit davon überhaupt die Rede ſein kann — mit der Curie ausgeſöhnt zu fehen wünſchte. Wie dieſer Kirchenfürſt über Rußland denkt, hat er in einem vom 26. d. Mts. datirten, an einen Freund gerichteten Brief verblümt, aber immerhin verſtändlich ange- deutet. Er citirt a. a. O. den bekannten, von Napoleon I. gethanen Ausſpruch, daß Europa binnen hundert Jahren „ent- weder republicaniſch oder koſakiſch“ ſein werde, und bemerkt dazu: „Er (Napoleon) würde das letztere Wort (koſakiſch) vielleicht unterdrückt haben, wenn er, gleich uns, Zeuge der zunehmenden Kühnheit des Nihilismus geweſen wäre.“ In dem heutigen Frankreich und von einem Manne wie Lavigerie geſprochen, redet dieſes kurze Wort Bände, denn es bedeutet eine Miß- trauenserklärung gegen die Machterweiterung und Solidität des ruſſiſchen Staatskoloſſes, die zu dem in Frankreich herr- ſchenden bedingungslos-optimiſtiſchen Nuſſencultus im vollſten Gegenſatz ſteht. Damit ſtimmt die lebhafte Abneigung, welche der Cardinal den ruſſenfreundlichen Nevancheſchreiern Voulanger- Déroulède’ſcher Schule jeder Zeit bewieſen hat. Daß die eigentlichen Ultramontanen (Freppel und Ge- noſſen) Nußland mindeſtens ebenſo abgeneigt ſind, wie der von ihnen als Italienerfreund und Halbrepublicaner beanſtandete Cardinal-Erzbiſchof von Algier, hat ſeine guten, den Ein- geweihten längſt bekannten Gründe. Abgeſehen davon, daß dieſe Herren die polniſche Sache keineswegs ſo vollſtändig auf- gegeben haben, wie ihre republicaniſchen Gegner, ſind dieſelben bereits ſeit Jahr und Tag an einem Werke thätig, das direct auf Bekämpfung der ruſſiſchen Orient-Politik abzielt. Franzö- ſiſche Geiſtliche ſtehen an der Spitze der katholiſchen Propaganda, welche den griechiſch-bulgariſchen Kirchenſtreit in ziemlich erfolg- reicher Weiſe zu Converſionen für die Kirche Roms ausbeutet. Zum hohen Mißvergnügen Nußlands ſind Tauſende von dem griechiſchen Klerus bedrängte bulgariſche Makedonier zu der ſogenannten unirten, in Wirklichkeit katholiſchen Kirche über- getreten, die ihnen mittelbar den Schutz der franzöſiſchen Botſchaft gegen ihre phanariotiſchen Bedränger ſichert. Wenn Frankreich zu der im Herbſt dieſes Jahres erfolgten Einſetzung bulgariſcher Biſchöfe in Makedonien ſcheel geſehen hat, ſo iſt das nicht ſowohl aus Gefälligkeit gegen Nußland, als aus Verdruß darüber geſchehen, daß dieſes Zugeſtändniß an die Bulgaren der katholiſchen Propaganda den Boden zu entziehen droht. Von der katholiſchen Sache im Orient kann die franzöſiſche Politik ſich aber ſchlechterdings nicht losſagen, weil ſie damit den wichtigſten Hebel ihres dortigen Einfluſſes aus den Händen geben, bezw. Oeſterreich-Ungarn zum oberſten und alleinigen Schutzherrn der römiſchen Kirche des Morgenlandes machen würde. Dieſer den Ignoranten der republicaniſchen Ruſſengemeinde niemals verſtändlich gewordene Zuſammenbang der Dinge wird in den Kreiſen der franzöſiſchen Kirchenpolitiker eifrig gepflegt, genau überwacht und niemals aus den Augen verloren, — Lavigerie aber dürfte zu den Prälaten gehören, welche der Sache die meiſte Aufmerkſamkeit zuwenden und dieſelbe am wirkſamſten unterſtützen. Sollte (was bisher nicht abzuſehen iſt) ſein Einfluß weitere Fortſchritte machen und an einem Theil des Klerus Nückhalt finden, ſo wird der bisher ignorirte Gegenſatz katboliſcher und vulgär-republicaniſcher Auffaſſungen des franco- ruſſiſchen Allianzplanes unzweiſelhaft in den Vordergrund treten. (Vgl. auch das Pariſer Telegramm im geſtrigen Abend- blatt. D. R.) Deutſches Reich. * Berlin, 2. Dec. Telegramm. Der Reichstag eröffnete heute den zweiten Theil ſeiner erſten Seſſion mit der Berathung der Vorlage über die Einverleibung von Helgoland. Staatsſecretär v. Boetticher erklärte, ſeit der Anweſenheit des Kaiſers auf Helgoland blicken die Helgo- länder mit Vertrauen in die Zukunft. Die Inſel ſei zu klein, um ſelbſtändig zu bleiben, und ſolle deßhalb an Preußen an- geſchloſſen werden. Und zwar ſolle die Einverleibung am 1. April 1891 erfolgen. Die Frage, ob Helgoland zu einem Kriegshafen eingerichtet werden wird, ſei noch nicht ſpruchreif. Abg. v. Benda (nat.-lib.) ſpricht die Hoffnung aus, daß alle Mitglieder des Reichstags der Vorlage mit Freuden zuſtimmen werden, und ſchließt mit den Worten: Gott ſei Dank, daß wir unſer Helgoland wieder haben. Der Abg. Windthorſt betont ebenfalls die allgemeine Einmüthigkeit der Vorlage gegenüber und dankt der Regierung für die Erwerbung der Inſel. Abg. Richter ſtimmt gleichfalls der Vorlage rück- haltlos zu, ebenſo der conſervative Abg. v. Manteuffel. Nur der Abg. Stadthagen (Socialiſt) wünſcht Commiſſions- berathung. Miniſter v. Boetticher betont ſchließlich noch das den Helgoländern bis zum 1. Januar 1892 zuſtehende Recht, für England zu optiren. Darauf wird der Antrag auf Commiſſionsberathung abgelehnt. Nächſte Sitzung morgen 1 Uhr. Auf der Tagesordnung ſtehen Rechnungsſachen. * Berlin, 2. Dec. Telegramm. Die Rede des Kaiſers bei der geſtrigen Mittagstafel lautete wie folgt: „Wir feiern heute einen für uns Preußen und uns Brandenburger hoch- bedeutſamen Tag: wir feiern die Thronbeſteigung des Großen Kurfürſten. Vergegenwärtigen wir uns einen Augenblick, wie es damals bei uns ausſah, und es wird uns dann klar werden, was wir dem hohen Herrn alles zu verdanken haben. Was war die Mark? Ein verachtetes Land, verödet, verwüſtet, der Kampf- und Tummelplatz ſämmtlicher Parteien des in ſich zerſplitterten Reiches, von Freund und Feind ausgeſogen. Was war Berlin? Eine kleine Stadt, gebrandſchatzt, heimge- ſucht von Noth und Krankheiten, mit wenig Tauſend Einwohnern; der Landesfürſt in ſchwerer Krankheit mit dem Tode ringend, fern in Königsberg weilend, Niemand, der ſich um das Land kümmerte, kein Menſch, der ein Herz für die Noth des Volkes hatte: in dieſer Verfaſſung mußte der Große Kurfürſt mit ſeinen zwanzig Jahren ganz allein die Aufgabe übernehmen, ſein Land wieder emporzubringen. Er hatte keinen Menſchen damals; der Staatsmann, der ſeinem Vater gedient hatte, er hatte für ſich gearbeitet, und dem jungen Herrn lag es ob, allein einen neuen Weg für ſich einzuſchlagen. Kraft ſeines unerſchütterlichen Muthes, ſeines gewalti- gen Seherblickes, der fern in die Zukunft ſah, ſeines unerſchütterlichen Gottvertrauens gelang es ihm, aus nichts ein Heer zu ſchaffen, mit dieſem aber ſich bei Freund und Feind gleich ge- achtet zu machen. Gleich einem Sturmwind fegte er bei Fehr- bellin den Feind aus ſeinen Grenzen, und wo er nur ſeine Truppen auftreten ließ und wo ſeine Dragoner und Musketiere ſich zeigten, war Freude bei den Alliirten und Angſt und Schrecken bei dem Feinde. Doch nicht genug damit, ſich ein Heer zu ſchaffen, ſchaffte er auch im Lande Ruhe und Ordnung, und wir ſehen dieſesverachtete Ländchen, „des Reiches Streuſandbüchſe“ aufblühen und unmittelbar hinter dem ſchwer verwüſtenden 30 jährigen Kriege einen Aufſchwung nehmen, der nie geahnt wurde und das kleine Ländchen zur Vormacht im Deutſchen Reich machte. Wir ſehen, daß es dem Großen Kurfürſten möglich war, am Schluß ſeiner Regierung mit einer wohlgeſchulten Armee von 24,000 Mann der Welt eine gebietende Stellung zu zeigen, eine Flotte zu beſitzen, überſeeiſche Colonien zu haben. Er trieb Politik im großen Stile, weitausſchauend, wie man ſie jetzt treibt, Feuilleton. Berliner Concerte. Berlin, Ende November. * Gelobet ſeiſt du jeder Zeit, Frau Muſica! So hat wohl Jeder von Herzen als Bruder Studio im Kreiſe fröhlicher Ge- noſſen einmal mitgefungen und auch an die Aufrichtigkeit ſeiner Kunſtbegeiſterung geglaubt. Wer aber heutigen Tages berufs- mäßig in das muſikaliſche Leben einer Großſtadt, wie Berlin, hineingeſetzt wird, der würde keineswegs ehrlich handeln, wenn er nicht hin und wieder in heimlichen Stunden und unter ver- haltenen Seufzern zu dem Geſtändniß gelangte, daß die edle Frau Muſica recht häufig des Guten zu viel thut, daß die An- ſprüche, die ſie an die Empfänglichkeit und Leiſtungsfähigkeit eines gewöhnlichen Sterblichen ſtellt, durchſchnittlich zu hoch bemeſſen ſind. Kaum hat man zu Anfang October den Kopf wieder in das Rieſenneſt geſteckt, und kaum iſt nach herrlichen Naturgenüſſen im Hochgebirge und an der See der Reiſeſtaub einigermaßen abgeſchüttelt, ſo wird man mit Macht in den Strudel der muſikaliſchen Wellen hineingeriſſen, welche die Reichshauptſtadt für mehrere Monate überfluthen. Die Phyſiognomie des diesjährigen Kampfes der Inſtru- mente und Geſänge hat ſich nicht weſentlich geändert, nachdem erſt vor wenigen Jahren ein ziemlich bedeutender Umſchwung in der äußeren Geſtaltung einiger Hauptunternehmungen voll- zogen war. Es ſind keine neuen Concertſäle gebaut oder alte umgebaut worden, obwohl auch dies nicht mehr lange auf ſich warten laſſen kann, da immer dringender das Bedürſniß nach einem ausreichenden, akuſtiſchen und — bierluftfreien Concert- kocale zu Tage tritt. In den Plänen der neuen Kunſtakademie iſt, ſo viel man erfährt, bereits Rückſicht darauf genommen. Auch hat man keine neuen Veranſtaltungen von nennenswerther Bedeutung neben den altbewährten gegründet. Freilich äußert ſich auch nirgendwo ein Bedürfniß nach Vermehrung, höchſtens hie und da ein ſtiller Wunſch nach Vervollkommnung. Eins aber tritt immer deutlicher hervor, eine gewiſſe Unterſcheidung zwiſchen Concerten für Reiche und ſolchen für — Arme kann man nicht ſchlankweg ſagen, ſondern für — Unbemitteltere, und gerade in den letzteren trifft man immer mehr das gebildetſte und andächtigſte Publicum. Namentlich bewährt, was für den guten muſikaliſchen Geſchmack ſpricht, die Kammermuſik eine große Anziehungskraft. So begannen die Profeſſoren Barth, de Ahna und Hausmann ihre im vorigen Jahre mit ſo großem Beifall aufgenommenen volksthümlichen Kammermuſik-Concerte mit einem Beethoven-Abend und ſahen die großen Räume der Philharmonie wiederum bis auf den letzten Platz gefüllt. Die vornehmſten künſtleriſchen Offenbarungen Berlins ſind und bleiben aber die Joachim’ſchen Quartett-Concerte, zu denen de Ahna und Hausmann ihre werthvolle Beihülfe geben. Das ſind Muſikabende, die ſich aus dem Strom des Concert- lebens hervorheben, wie die Gefilde der Seligen, und wohin man ſehnſuchtsvoll wie zu einem weihevollen Feſte hinpilgert. Joachim hat ſich längſt die Palme geſichert, als unerreichter Vertreter der claſſiſchen Kunſt, als edelſter Verkündiger reiner, unvergänglicher Schönheit, dem man am liebſten mit gefalteten Händen zuhört. Darüber redet man nicht viel, da geht man hin und genießt in ſchweigender, dankbarer Bewunderung. Meiſterwerke und Meiſterleiſtungen ohne gleichen ſprechen hier ihre überzeugende Sprache. Als Soliſt ſtellt Joachim in Berlin vor allem ſeine Kunſt in den Dienſt der Wohl- thätigkeit. Allezeit bereit, zu helfen und zu fördern, ſpielte er neuerdings in einem Concert zum Beſten der Unter- ſtützungscaſſen des Vereins der Berliner Muſiklehrer und -Lehrerinnen in der neuen Kirche Bachs Ciacona, ſowie Adagio und Allegro von Tartini, während Robert Radecke an der Orgel ſaß und unter anderem eine Orgelphantaſie von H. v. Herzogenberg vortrug, und Hausmann verſchiedene Cello- ſoli von Corelli und Bargiel zu Gehör brachte. Ein anderes Mal entzückte er zu Gunſten einer Kinderheilanſtalt einen ex- cluſiv vornehmen Cirkel in der Kriegsakademie durch Brahms’ ungariſche Tänze. Eines guten Zuſpruchs erfreuen ſich die neu begründeten Kammermuſik-Abende von Concertmeiſter Kruſe, Markers, Müller, Dechert, die auch die Pflege der neueren Muſik ins Auge faſſen und Geſangsvorträge einlegen. Ein Kammer- muſik-Abend der Herren Papendick und Genoſſen brachte eines der ungedruckten Streichquartette des Grafen Hochberg zur Aufführung, welches großen Beifall gewann. Auch von den großen Orcheſter- und Choraufführungen iſt mancherlei Gutes zu berichten. Ueber alle Erwartung günſtig geſtalten ſich die Erfolge der Bülow-Concerte, die allemal nicht allein am Abend der Vorführung ſelbſt — ſie finden Montags ſtatt —, ſondern auch in den Generalproben des voraufgehenden Sonntagvormittags vollſtändig ausverkauft ſind. In der That ſcheint Bülow wie kein zweiter dem Ge- ſchmack des Verliner Publicums zuzuſagen. Die unvergleich- liche Exactheit, die eiſerne Fuchtel dieſes Dirigenten, ſein fabel- haftes Wiſſen und Können, das ſich freilich mehr zu einer Art von Kunſtwiſſenſchaft wie zu einer Kunſtweihe verbindet, ſein verſtandesmäßiges, vorwiegend kühles Zerlegen und Zergliedern des Kunſtwerks, ſein mehr lehrhafter als begeiſterter Vor- trag, — alle dieſe Eigenſchaften paſſen ganz beſonders gut zu der ſachlichen, klarheitliebenden und kritiſchen Natur des norddeutſchen Volkscharakters in den breiteren Geſell- ſchaftsſchichten. Das Programm des erſten Bülow-Concerts enthielt als Orcheſterſtücke Bachs D-dur-Orcheſterſuite, von Mendelsſohn und David „eingerichtet“, ſodann Brahms’ Variationen über ein Thema von Haydn (op. 56a) und Beethovens vierte B-dur-Symphonie. Als Soliſtin trat Fr. Tereſa Carreno auf mit einem ziemlich effectvollen, aber auch ziemlich rohen Concerte von Saint-Saëns, eine merk- würdige Clavierſpielerin, die auch recht in die etwas rauhe nordiſche Luft paßt, trotz ihrer ſüdlichen Herkunſt. Das Männ- liche, Kraftvolle, Harte ihres Spiels, das abſichtlich jede feinere Empfindung, jede Schwärmerei und Poeſie zu unterdrücken ſcheint, erregt mehr Erſtaunen als Bewunderung. Die Hervor- kehrung des Techniſchen und Mechaniſchen, des Sicheren und Unfehlbaren beweist viel mehr moderne Vernunft und trotzigen Kampf als liebevolles Verſenken in die Kunſt. Das zweite philharmoniſche Concert brachte neben anderen die leider viel zu ſelten aufgeführte dreiſätzige D-dur-Symphonie (Nr. 38) von Mozart aus dem Jahre 1786, die ſich, was Wohllaut und Urſprünglichkeit der Erfindung und Empfindung angeht, kühn- lich an die Seite der zwei Jahre ſpäter entſtandenen drei großen Symphonien ſtellen kann. Sodann erfreute nach langer Abweſenheit Fr. Lilli Lehmann wieder einmal das Berliner Publicum durch die Größe ihrer Stimmittel und Auffaſſung im Vortrag der beiden großen dramatiſchen Arien der Donna

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 335, 3. Dezember 1890, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine335_1890/1>, abgerufen am 21.11.2024.