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Allgemeine Zeitung, Nr. 336, 4. Dezember 1890.

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Allgemeine Zeitung.
Nr. 336. -- 92. Jahrgang.
Morgenblatt.
München, Donnerstag, 4. December 1890.


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Dresden, Leipzig, Chemnitz etc. Außerdem in: Berlin bei B. Arndt (Mohrenstr. 26) und S. Kornik (Krausenstr. 12),
Hamburg bei W. Wilckens u. Ad. Steiner, New York bei der Intern. Publishing Agency, 710 Broadway.
Druck und Verlag der J. G. Cotta' schen Buchhandlung Rachfolger in Stuttgart und München.
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Inhalts-Uebersicht.
Die Entwicklung der deutschen Colonialpolitik.
Deutsches Reich. * Berlin: Reichstag. [] Präsident v. Heppe.
Dombauplan. Nachlaß von Stempelabgaben. * Bundesrath.
Arbeiterwohnhänser. Armeesattel. Vom Hofe. Frhr. v. Schor-
lemer-Alst.
Italien. * Rom: Thronrede. Senatorenernennung.
Serbien. ## Belgrad: Aus der Skupschtina.
Feuilleton: Der Weg zum Herzen. Von Rudolf Kleinpaul.
Bayerische Chronik. -- Weitere telegraphische Nachrichten.
Hiezu: Zweites und drittes Morgeublatt.


München, 3. December.


Die Entwicklung der deutschen Colonialpolitik.

St. Es ist vor kurzem darauf hingewiesen worden (vergl.
den Artikel "Colonialamt und Colonialrath" in Nummer
315 der Allg. Ztg. vom 13. November), daß die Schaffung
eines Colonialamtes und Colonialrathes einen Wendepunkt in
der Behandlung der deutschen Colonialangelegenheiten bedeute.
Die Periode der Erwerbung von Schutzgebieten durch Occupa-
tion und Abschluß internationaler Abmachungen ist einstweilen als
beendigt zu betrachten. Jetzt handelt es sich darum, die deutschen
Schutzgebiete zu organisiren und durch zielbewußte colonisa-
torische Thätigkeit erst in eine feste und innige politische und
wirthschaftliche Verbindung mit Deutschland zu bringen. Diese
schwierige Aufgabe zu erfüllen, ist in erster Linie Sache
des Colonialamtes in Verbindung mit dem neu geschaffenen
Colonialrath.

Daß aber auch noch nach einer anderen Richtung eine
entscheidende Wendung in der deutschen Colonialpolitik und
damit ein Aufgeben des ursprünglichen colonialen Programms
der Neichsregierung eingetreten ist, ergibt sich recht deutlich aus
dem kürzlich zwischen der Neichsregierung und der Deutsch-Ost-
afrikanischen Gesellschaft abgeschlossenen Vertrage, dessen Inhalt
vor allem darin besteht, daß die Gesellschaft auf die Aus-
übung der ihr durch den kaiserlichen Schutzbrief vom 27. Fe-
bruar 1885 verliehenen Hoheitsrechte zu Gunsten des Neiches
verzichtet hat.

Es ist bekannt, daß das coloniale Programm, das der
Reichskanzler Fürst Bismarck wiederholt sowohl im Reichstage
wie auch in verschiedenen an die Vertreter des Reiches im
Auslande gerichteten Schreiben und namentlich auch in der
im Mai 1885 dem als Reichscommissar nach Westafrika ge-
sendeten Generalconsul Dr. Nachtigal mitgegebenen Instruc-
tion entwickelte und mit Entschiedenheit betonte, ein sehr eng
begrenztes war. Wie die Erwerbung der Colonien von Anfang
an privater Initiative anheim gegeben war, so sollte auch die
Regierung und Verwaltung der Schutzgebiete Colonialgesell-
schaften überlassen bleiben, die sich aus den in den einzelnen
Colonien berheiligten Capitalisten und Handlungshäusern bil-
den und auf Grund ertheilter kaiserlicher Schutzbriese unter
der Oberhobeit und Aufsicht des Reiches in ihren Gebieten
nach dem Vorbilde der englisch - ostindischen und der hollän-
disch-ostindischen Handelscompagnien Hoheitsrechte ausüben
sollten. Nur auf den Verwaltungsgebieten, die man, wie z. B.
[Spaltenumbruch] die auswärtigen Beziehungen, Colonialgesellschaften nicht über-
lassen konnte, sollte der "Schutz des Reiches" unmittelbar ein-
treten. Bei dem Umstande, daß die colonialen Bestrebungen
nicht in allen Kreisen der Bevölkerung die gewünschte Unter-
stützung fanden und daß die Colonialpolitik der Reichsregie-
rung namentlich im Reichstage selbst bei verschiedenen Parteien
starkem Widerstand begegnete, war das vorsichtige, fast schüch-
tern zu nennende Vorgehen der Reichsregierung begreiflich.
Bald aber zeigte sich, daß eine Colonialpolitik, bei der das
Reich seine Mittel nicht einsetzen und seine Kraft nicht auf-
wenden, schließlich aber doch die Vortheile der Colonien ein-
heimsen wollte, nicht durchführbar war. Die Zeiten, in denen
Handelscompagnien große Colonialreiche erwerben und regieren
konnten, sind vorüber. Es beweist dies schon die Thatsache, daß die
beiden mächtigsten dieser Gesellschaften, die englisch-ostindische
und die holländisch-ostindische, in diesem Jahrhundert aufge-
hoben wurden, ihre Gebiete aber in unmittelbaren Besitz des
Mutterlandes übergingen. Wenn auch gegenwärtig noch in
England Colonialgesellschasten mit Schutzbriefen (charters)
ausgestattet werden, so haben doch diese Gesellschaften nur die
Bedeutung, der späteren endgültigen Besitzergreifung durch die
Regierung des Mutterlandes vorzuarbeiten. Sie sind ge-
wissermaßen Fühlhörner, die vom Mutterlande ausgestreckt
werden in Gebiete, in denen es der Regierung noch nicht
angezeigt erscheint, selbst zuzugreifen.

In Kamerun und Togo konnte denn auch das Pro-
gramm der Reichsregierung überhaupt nicht zur Durchführung
gelangen, weil die dort betheiligten Handelshäuser sich von
Anfang an weigerten, eine mit Ausübung von Hoheitsrechten
zu betrauende Colonialgesellschaft zu bilden, indem sie sich auf
den Standpunkt stellten, die Verwaltung der Schutzgebiete sei
Sache der Reichsregierung.

Nicht viel besser lag die Sache in Südwestafrika. Zwar
bildete sich die deutsche Colonialgesellschaft für Südwestafrika,
zur Uebertragung der Landeshoheit an diese Gesellschaft kam
es aber nicht und konnte es schon um deßwillen nicht kommen,
weil die Gesellschaft es zu einer günstigen wirthschaftlichen
Entwicklung nicht brachte und daher schon sinanziell gar nicht
in der Lage war, die Berwaltung der Schutzgebiete zu über-
nehmen.

In Ostafrika und Neu-Guinea schien sich die Sache
im Sinne der Negierung günstiger anzulassen, denn für beide
Schutzgebiete bildeten sich Colonialgesellschaften, denen durch
Schutzbriefe vom 27. Februar 1885 und 17. Mai 1885 die
Landeshoheit in den betreffenden Schutzgebieten zur Ausübung
übertragen wurde. Die Neu-Guinea-Compagnie ging auch
daran, die Landesverwaltung, soweit dies bei den unentwickelten
Verhältnissen ihres Gebietes möglich war, einzurichten und zu
führen. Im Mai v. J. sah sie sich jedoch veranlaßt, mit der
Reichsregierung ein Abkommen zu treffen dahin, daß vom
1. October 1889 an die Reichsregierung zunächst auf zwei
Jahre die Landesverwaltung einschließlich der Nechtspflege und
der Einziehung der auf der Landeshoheit beruhenden Steuern,
Zölle und Abgaben übernahm, während die Kosten der Ver-
waltung nach wie vor der Neu-Guinea-Compagnie zur Last
blieben. In der Vegründung des auf dieses Abkommen sich
beziehenden Nachtragetats an den Bundesrath war bemerkt, die
Regierung habe geglaubt, dem Wunsche der Neu-Guinea-
Compagnie auf Uebernahme der Verwaltung entsprechen zu
[Spaltenumbruch] sollen, "da eine lediglich durch Beamte der Gesellschaft geleitete
Verwaltung und Rechtspflege nicht dasjenige Vertrauen und
Ansehen genießen kann, wie eine Verwaltung und Rechtspflege
durch das Reich, außerdem auch die Gesellschaft durch die Aus-
übung der Landeshoheit in der Erfüllung ihrer wirthschaftlichen
Aufgaben beeinträchtigt wird". Es ist damit ofsiciell zugegeben
worden, daß der Versuch, die Schutzgebiete durch Colonial-
gesellschaften regieren zu lassen, als mißglückt betrachtet
werden muß.

Zu erwähnen ist dabei, daß der Neu-Guinea-Compagnie
das Recht eingeräumt wurde, beim Erlasse von Gesetzen und
Verordnungen für ihr Gebiet gehört zu werden, und daß
selbstverständlicherweise das im Schutzbriefe vom 17. Mai 1885
der Compagnie eingeräumte Grunderwerbsmonopol durch den
Verzicht auf die Ausübung der Landeshoheit nicht berührt
wurde.

Was die Ostafrikanische Gesellschaft anbelangt, so mußte
sich dieselbe zunächst darauf beschränken, in ihrem Gebiete eine
Anzahl von Stationen anzulegen, die sowohl als Stützpunkte
für die wirthschaftliche Entwicklung des Landes dienen, wie
auch als Grundlage für die künftige Verwaltungsorganisation
gebraucht werden konnten. Den weiteren Ausbau dieses
Systems von Stationen und die Inangriffnahme der Ein-
richtung der Landesverwaltung hat bekanntlich der im Herbste
1888 ausgebrochene Aufstand verhindert. Nachdem der Auf-
stand niedergeschlagen, trat die Frage auf, wie die
politische Verwaltung in Ostafrika eingerichtet werden und
namentlich ob der Ostafrikanischen Gesellschaft die Aus-
übung der Landeshoheit überlassen bleiben solle. Die
Antwort fiel, wie der Eingangs erwähnte Vertrag der
Neichsregierung mit der Ostafrikanischen Gesellschaft ergibt,
verneinend aus. Der wesentliche Inhalt dieses Vertrages1) ist
nämlich folgender: 1) Die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft
verpflichtet sich, bis zum 28. December 1890 die Summe von
4 Millionen Mark aufzubringen, welche bestimmt ist, den Sultan
von Sansibar gemäß dem deutsch-englischen Uebereinkommen
vom 1. Juli 1890 für die Abtretung des Küstengebietes zu
entschädigen. 2) Die Reichsregierung übernimmt die Ver-
waltung des Küstengebietes und dessen Zubehörungen, der
Insel Mafia, sowie des übrigen Schutzgebietes. Sie be-
zieht die Zolleinnahmen, sowie die etwa zur Erhebung ge-
langenden Steuern und sonstigen öffentlichen Gefälle. Dagegen
verpflichtet sich die Negierung, zum Zwecke der Verzinsung und
Amortisation der von der Gesellschaft zur Bestreitung der oben
erwähnten 4 Millionen und sonstigen Ausgaben aufzunehmen-
den Anleihe von 10,556,000 Mark die vereinnahmten Brutto-
zollerträge der Ein- und Ausfuhr in das Küstengebiet, bezw.

[Spaltenumbruch]
Feuilleton.
(Nachdruck verboten.)


Der Weg zum Herzen.
Der Weg des Ohrs ist der gangbarste und
nächste zu unserm Herzen.

Schiller (Ueber das gegenwärtige
Deutsche Theater).

* Man hat gesagt, es gebe keinen besseren Empsehlungs-
brief als eine schöne Sprache, diese Schönheit sei wichtiger als
die des Gesichts, durch ein angenehmes Organ und eine gute
Aussprache finde man am sichersten den Weg zum Herzen.
Darin liegt etwas Wahres, die Stimme ist der Mensch -- erst
wenn wir sie vernommen haben, glauben wir ihn zu kennen
und sagen wohl zu einem Fremden: Sprich, damit ich dich
sehe! -- Aber man kann noch weiter gehen und die gesprochene
Sprache überhaupt, auch die minder schöne, als das eigentliche
Mittel der Verständigung bezeichnen, mit welchem man den
Weg zum Herzen, das heißt zum Intellect des Andern findet.
Wenn wir darüber nachdenken, warum die Sprache ohne Worte,
an sich ebenso natürlich und ebenso bildungsfähig wie die
Zunge, bei normalen Individuen hinter der Lautsprache zurück-
geblieben ist und im gewöhnlichen Leben die mündliche Nede
nur begleitet und ergänzt, wie ein Mimus den Dialog: so
kommen wir zu dem Schlusse, daß die Lautsprache gewisse an-
geborene und unübertragbare Vorzüge besitzt, die den mittheil-
samen Urahn zu ihr in erster Linie greifen ließen.

Sprache ist Mittheilung von Gedanken, niemals etwas
Anderes und niemals bloßes Denken. Zum Heirathen gehören
Zwei; zum Sprechen gehören auch Zwei, mindestens Zwei,
denn Niemand spricht für sich selbst; Monologe gibt es nicht,
das klingt paradox, aber man sieht leicht, daß die Selbst-
gespräche in einem Drama, sofern dieselben überhaupt genügend
motivirt und nicht bloße Behelse des Dichters sind, auf der
Einbildungskraft des Redenden beruhen, der wie im Traume
Mittheilungen an sich selbst macht. Der Tell könnte seinen
trefflichen Monolog nicht halten, wenn er sich nicht wie einen
Doppelgänger selber sähe, wenn er sich nicht gleichsam selber
[Spaltenumbruch] zuredete wie Odysseus, der sein eigenes Herz beschwichtigt und
es zum Ausbalten ermahnt. Und noch etwas gehört zum
Sprechen -- Urtheilsfähigkeit, womit nicht gesagt sein soll, daß
alles Gesprochene gescheidt sei; aber wer spricht, thut das regel-
mäßig in Form von Urtheilen oder Sätzen, einzelne Worte
sind noch keine Sprache. Das klingt wieder paradox, aber
man wird mir abermals zugeben, daß, wo einzelne Worte hin-
geworfen werden, falls es nicht Interjectionen oder schlecht
und recht verkappte Sätze sind, eine logische Ergänzung der-
selben im Sinne dessen liegt, der sie braucht, und daß auch
die Imperative, die man am ersten anführen könnte, in kurzer
Form eine Thatsache und einen Satz, nämlich eine Willens-
äußerung enthalten. Alles Sprechen hat, wie gesagt, gar kei-
nen andern Zweck, als den, Iemand zu unterrichten, ein Unter-
richt aber, der nichts lehrte, ist ein Unding. Umgekehrt muß
sich auch Cicero's längste Periode, in die ein Dutzend Neben-
sätze kunstreich eingeschachtelt sind, dem Sinne nach auf einen
einfachen Gedanken zurückführen lassen, der nur der Umständ-
lichkeit, will sagen der Armuth des Ausdrucks wegen nicht
lürzer gegeben werden kann. Die Sprache bewegt sich also ihr
Lebtag in Sätzen, sie besteht gleichsam auf Wahrheit, sie gleicht
einem Prediger, der seiner Gemeinde das Evangelium zu Ge-
müthe führt, sie kommt überall heraus, wo zu Nutz und From-
men eines Ungelehrten ein Satz realisirt wird. Die Nealisirung
kann ohne Worte, durch Zeichen, Geberden und Schrift erfol-
gen, sie erfolgt aber gemeiniglich in Worten; das Leben der
Sprache verläuft ganz vorzugsweise in der Hervorbringung und
Ausbildung von Lauten und Lautcomplexen. Wie kommt das?
Die Frage ist nicht einsach.

Man kann durchaus nicht sagen, daß uns die Laute an-
geboren und deßhalb natürlicher seien als plastische
Geberden, denn diese sind uns gleichfalls angeboren. Die
Bahnen, die sich für die Reflexerscheinungen herausgebildet
haben und auf denen die Gemüthsbewegung sich zu entladen
strebt, gehen über alle Muskeln, nicht bloß über die, welche
die Athmung und damit die Stimme reguliren. Wir ballen
die Faust, stampfen mit dem Fuße, runzeln die Stirne, fletschen
die Zähne, schütteln den Kopf genau so leicht und so freiwillig,
wie wir schreien oder brüllen, seufzen oder stöhnen, lachen und
weinen; meist verbinden wir sogar das Eine mit dem Andern,
[Spaltenumbruch] und es ist gar nicht auszumachen, was etwa ursprünglicher
sei, das Schreien oder das Händeballen. Es dürfte sich viel-
leicht herausstellen, daß die Muskelanstrengung beim Stimm-
organ geringer, daß der Kehlkopf dem Affecte näher und be-
quemer gelegen sei, daß er, sozusagen, leichter losgehe, als der
Rest des Organismus und wie die Saiten einer Aeolsharse
beim leifesten Luftzug in Schwingungen gerathe. Das festzu-
stellen, muß der Physiologie überlassen bleiben, wir können nur
constatiren, daß der Ausdruck der Gemüthsbewegungen, den
Darwin bei Menschen und Thieren so genau studirt hat, weder
einseitig in Lauten, noch einseitig in sichtbaren Muskelzusam-
menziehungen erfolgt.

Dagegen scheinen allerdings die Laute etwas vor den Ge-
berden vorauszuhaben: sie werden leichter als diese aufgefaßt
und verstanden, indem, wie aus Experimenten hervorgeht, unsre
Seele schneller hört als sieht. Wie einzelne Augen nicht
schlechter, aber langsamer als andere sehen, daher alle Beobachter
die sogenannte persönliche Gleichung nöthig haben: so sehen alle
Menschen etwas langsamer, als sie hören, davon hat man sich
durch sinnreiche Versuche überzeugt, wo man beide Sinne in
Concurrenz mit einander brachte. Man nennt den Zeitraum
zwischen dem Augenblick, in welchem ein Reiz auf einen Empfin-
dungsnerv ausgeübt wird, und demjenigen, in welchem die da-
durch verursachte Reactionsbewegung eintritt, die physiologische
Zeit; sie beträgt für optische Reize 1/5 Secunde, für Gehör- und
Tastreize nur Secunde. In einem finsteren Zimmer hängt
an der Wand eine Tafel, worin feine Drahtstistchen mit ihren
Spitzen die Buchstaben A und U darstellen; vermittelst einer
besonderen Vorrichtung kann man durch die Spitzen der Draht-
stiste einen elektrischen Funken laufen und so beliebig A oder U
aufleuchten lassen. Daneben gibt es noch einen Registrirapparat,
an dem ein Papierstreifen durch ein Uhrwerk mit gleichförmiger
Geschwindigkeit fortbewegt wird; gegen diesen sich abrollenden
Papierstreifen drückt ein Stift, sobald man durch Berührung
einer Taste einen zum zweiten Apparat gehörigen galvanischen
Strom schließt. Der Beobachter legt nun den Finger an die
Taste und soll dieselbe niederdrücken, sobald er den Buchstaben
A oder den Buchstaben U aufleuchten sieht, dann macht der
Stift auf dem Papierstreifen einen Punkt; dasselbe soll er
thun, wenn er A oder U im Zimmer sagen hört. Auf diese

1) §. 1 des Vertrages lautet:

"Die kaiserliche Regierung
beabsichtigt den Abschluß eines Staatsvertrages,
durch
welchen die Hoheitsrechte über das der deutschen Interessensphäre in
Ostafrika vorgelagerte Küstengebiet sammt dessen Zubehörungen und der
Insel Mafia gegen Entschädigung Sr. Hoheit des Sultans von Sansibar
an Se. Majestät den Deutschen Kaiser abgeireten werden sollen.
Das gegenwärtige Uebereinkommen tritt nur unter der Voraussetzung
in Rechtswirkung, daß der vorgedachte Vertrag spätestens am
1. December 1890 zum Abschluß gelangt ist und daß in diesem Ber-
trage der Uebergang der Hoheitsrechte von Seiten des Sultans von
Sansibar auf keinen späteren Zeitpunkt, als den 1. Januar
1891, festgesetzt wird."

-- Der Abschluß dieses Reichsvertrages mit dem
Sultan von Sansibar ist bis jetzt noch nicht gemeldet. D. R.

Allgemeine Zeitung.
Nr. 336. — 92. Jahrgang.
Morgenblatt.
München, Donnerſtag, 4. December 1890.


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d. Poſt bejogen: vier-
teljährlich f. Dentſchl.
u. Oeſterreich M. 9.—,
für d. Ausl. mit ent-
ſprechendem Zuſchlag.
Direkter Bezug
unter Streifband für
Deutſchland
à. Oeſterreich monatl.
M. 4. —, Ausland
M. 5. 60.
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Inſertionspreis
v. Colonelzeile 25 Pf.;
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3 Pf., in fetter Schrift
5 Pf. für das Wort.


Redaktion u. Expedi-
tion befinden ſich
Schwanthalerſtr. 73
in München.


Berichte find an die
Redaktion, Inſerat-
aufträge an die Ex-
pedktion franko einzu-
ſenden.
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Abonnements für das Ausland nehmen an: für England A. Siegle. 30 Lime Str. London: für Frankreich,
Portugal und Spanien A. Ammel und C. Klinckſieck in Paris; für Italien H. Loeſcher und Frat.
Bocca
in Turin, Florenz und Rom, U. Hoepli in Mailand; für den Orient das kaiſerlich königliche Poſt-
amt in Wien oder Trieſt: für Nordamerika F. W. Chriſtern. E Steiger u. Co., Guſt. E. Stechert,
Weſtermann u. Co., International Publiſhing Agency,
710 Broadway, in New York.
Verantwortlicher Redakteur: Hugo Jacobi in München.
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Inſeratenannahme in München b. d. Expedition, Schwanthalerſtraße 73, ſerner in Berlin, Hamburg, Breslan, Köln,
Leipzig, Frankfurt a. M., Stuttgart, Nürnberg, Wien, Paris, London, Zürich, Baſel ꝛc. b. d Annoncenbureaux G. L. Daube
u. Co., Haaſenſtein u. Vogler u. R. Moſſe
. In den Filialen der Zeitungsbureaur Invalidendank zu Berlin,
Dresden, Leipzig, Chemnitz ꝛc. Außerdem in: Berlin bei B. Arndt (Mohrenſtr. 26) und S. Kornik (Krauſenſtr. 12),
Hamburg bei W. Wilckens u. Ad. Steiner, New York bei der Intern. Publiſhing Agency, 710 Broadway.
Druck und Verlag der J. G. Cotta’ ſchen Buchhandlung Rachfolger in Stuttgart und München.
[Spaltenumbruch]


Inhalts-Ueberſicht.
Die Entwicklung der deutſchen Colonialpolitik.
Deutſches Reich. * Berlin: Reichstag. [] Präſident v. Heppe.
Dombauplan. Nachlaß von Stempelabgaben. * Bundesrath.
Arbeiterwohnhänſer. Armeeſattel. Vom Hofe. Frhr. v. Schor-
lemer-Alſt.
Italien. * Rom: Thronrede. Senatorenernennung.
Serbien. ## Belgrad: Aus der Skupſchtina.
Feuilleton: Der Weg zum Herzen. Von Rudolf Kleinpaul.
Bayeriſche Chronik. — Weitere telegraphiſche Nachrichten.
Hiezu: Zweites und drittes Morgeublatt.


München, 3. December.


Die Entwicklung der deutſchen Colonialpolitik.

St. Es iſt vor kurzem darauf hingewieſen worden (vergl.
den Artikel „Colonialamt und Colonialrath“ in Nummer
315 der Allg. Ztg. vom 13. November), daß die Schaffung
eines Colonialamtes und Colonialrathes einen Wendepunkt in
der Behandlung der deutſchen Colonialangelegenheiten bedeute.
Die Periode der Erwerbung von Schutzgebieten durch Occupa-
tion und Abſchluß internationaler Abmachungen iſt einſtweilen als
beendigt zu betrachten. Jetzt handelt es ſich darum, die deutſchen
Schutzgebiete zu organiſiren und durch zielbewußte coloniſa-
toriſche Thätigkeit erſt in eine feſte und innige politiſche und
wirthſchaftliche Verbindung mit Deutſchland zu bringen. Dieſe
ſchwierige Aufgabe zu erfüllen, iſt in erſter Linie Sache
des Colonialamtes in Verbindung mit dem neu geſchaffenen
Colonialrath.

Daß aber auch noch nach einer anderen Richtung eine
entſcheidende Wendung in der deutſchen Colonialpolitik und
damit ein Aufgeben des urſprünglichen colonialen Programms
der Neichsregierung eingetreten iſt, ergibt ſich recht deutlich aus
dem kürzlich zwiſchen der Neichsregierung und der Deutſch-Oſt-
afrikaniſchen Geſellſchaft abgeſchloſſenen Vertrage, deſſen Inhalt
vor allem darin beſteht, daß die Geſellſchaft auf die Aus-
übung der ihr durch den kaiſerlichen Schutzbrief vom 27. Fe-
bruar 1885 verliehenen Hoheitsrechte zu Gunſten des Neiches
verzichtet hat.

Es iſt bekannt, daß das coloniale Programm, das der
Reichskanzler Fürſt Bismarck wiederholt ſowohl im Reichstage
wie auch in verſchiedenen an die Vertreter des Reiches im
Auslande gerichteten Schreiben und namentlich auch in der
im Mai 1885 dem als Reichscommiſſar nach Weſtafrika ge-
ſendeten Generalconſul Dr. Nachtigal mitgegebenen Inſtruc-
tion entwickelte und mit Entſchiedenheit betonte, ein ſehr eng
begrenztes war. Wie die Erwerbung der Colonien von Anfang
an privater Initiative anheim gegeben war, ſo ſollte auch die
Regierung und Verwaltung der Schutzgebiete Colonialgeſell-
ſchaften überlaſſen bleiben, die ſich aus den in den einzelnen
Colonien berheiligten Capitaliſten und Handlungshäuſern bil-
den und auf Grund ertheilter kaiſerlicher Schutzbrieſe unter
der Oberhobeit und Aufſicht des Reiches in ihren Gebieten
nach dem Vorbilde der engliſch – oſtindiſchen und der hollän-
diſch-oſtindiſchen Handelscompagnien Hoheitsrechte ausüben
ſollten. Nur auf den Verwaltungsgebieten, die man, wie z. B.
[Spaltenumbruch] die auswärtigen Beziehungen, Colonialgeſellſchaften nicht über-
laſſen konnte, ſollte der „Schutz des Reiches“ unmittelbar ein-
treten. Bei dem Umſtande, daß die colonialen Beſtrebungen
nicht in allen Kreiſen der Bevölkerung die gewünſchte Unter-
ſtützung fanden und daß die Colonialpolitik der Reichsregie-
rung namentlich im Reichstage ſelbſt bei verſchiedenen Parteien
ſtarkem Widerſtand begegnete, war das vorſichtige, faſt ſchüch-
tern zu nennende Vorgehen der Reichsregierung begreiflich.
Bald aber zeigte ſich, daß eine Colonialpolitik, bei der das
Reich ſeine Mittel nicht einſetzen und ſeine Kraft nicht auf-
wenden, ſchließlich aber doch die Vortheile der Colonien ein-
heimſen wollte, nicht durchführbar war. Die Zeiten, in denen
Handelscompagnien große Colonialreiche erwerben und regieren
konnten, ſind vorüber. Es beweist dies ſchon die Thatſache, daß die
beiden mächtigſten dieſer Geſellſchaften, die engliſch-oſtindiſche
und die holländiſch-oſtindiſche, in dieſem Jahrhundert aufge-
hoben wurden, ihre Gebiete aber in unmittelbaren Beſitz des
Mutterlandes übergingen. Wenn auch gegenwärtig noch in
England Colonialgeſellſchaſten mit Schutzbriefen (charters)
ausgeſtattet werden, ſo haben doch dieſe Geſellſchaften nur die
Bedeutung, der ſpäteren endgültigen Beſitzergreifung durch die
Regierung des Mutterlandes vorzuarbeiten. Sie ſind ge-
wiſſermaßen Fühlhörner, die vom Mutterlande ausgeſtreckt
werden in Gebiete, in denen es der Regierung noch nicht
angezeigt erſcheint, ſelbſt zuzugreifen.

In Kamerun und Togo konnte denn auch das Pro-
gramm der Reichsregierung überhaupt nicht zur Durchführung
gelangen, weil die dort betheiligten Handelshäuſer ſich von
Anfang an weigerten, eine mit Ausübung von Hoheitsrechten
zu betrauende Colonialgeſellſchaft zu bilden, indem ſie ſich auf
den Standpunkt ſtellten, die Verwaltung der Schutzgebiete ſei
Sache der Reichsregierung.

Nicht viel beſſer lag die Sache in Südweſtafrika. Zwar
bildete ſich die deutſche Colonialgeſellſchaft für Südweſtafrika,
zur Uebertragung der Landeshoheit an dieſe Geſellſchaft kam
es aber nicht und konnte es ſchon um deßwillen nicht kommen,
weil die Geſellſchaft es zu einer günſtigen wirthſchaftlichen
Entwicklung nicht brachte und daher ſchon ſinanziell gar nicht
in der Lage war, die Berwaltung der Schutzgebiete zu über-
nehmen.

In Oſtafrika und Neu-Guinea ſchien ſich die Sache
im Sinne der Negierung günſtiger anzulaſſen, denn für beide
Schutzgebiete bildeten ſich Colonialgeſellſchaften, denen durch
Schutzbriefe vom 27. Februar 1885 und 17. Mai 1885 die
Landeshoheit in den betreffenden Schutzgebieten zur Ausübung
übertragen wurde. Die Neu-Guinea-Compagnie ging auch
daran, die Landesverwaltung, ſoweit dies bei den unentwickelten
Verhältniſſen ihres Gebietes möglich war, einzurichten und zu
führen. Im Mai v. J. ſah ſie ſich jedoch veranlaßt, mit der
Reichsregierung ein Abkommen zu treffen dahin, daß vom
1. October 1889 an die Reichsregierung zunächſt auf zwei
Jahre die Landesverwaltung einſchließlich der Nechtspflege und
der Einziehung der auf der Landeshoheit beruhenden Steuern,
Zölle und Abgaben übernahm, während die Koſten der Ver-
waltung nach wie vor der Neu-Guinea-Compagnie zur Laſt
blieben. In der Vegründung des auf dieſes Abkommen ſich
beziehenden Nachtragetats an den Bundesrath war bemerkt, die
Regierung habe geglaubt, dem Wunſche der Neu-Guinea-
Compagnie auf Uebernahme der Verwaltung entſprechen zu
[Spaltenumbruch] ſollen, „da eine lediglich durch Beamte der Geſellſchaft geleitete
Verwaltung und Rechtspflege nicht dasjenige Vertrauen und
Anſehen genießen kann, wie eine Verwaltung und Rechtspflege
durch das Reich, außerdem auch die Geſellſchaft durch die Aus-
übung der Landeshoheit in der Erfüllung ihrer wirthſchaftlichen
Aufgaben beeinträchtigt wird“. Es iſt damit ofſiciell zugegeben
worden, daß der Verſuch, die Schutzgebiete durch Colonial-
geſellſchaften regieren zu laſſen, als mißglückt betrachtet
werden muß.

Zu erwähnen iſt dabei, daß der Neu-Guinea-Compagnie
das Recht eingeräumt wurde, beim Erlaſſe von Geſetzen und
Verordnungen für ihr Gebiet gehört zu werden, und daß
ſelbſtverſtändlicherweiſe das im Schutzbriefe vom 17. Mai 1885
der Compagnie eingeräumte Grunderwerbsmonopol durch den
Verzicht auf die Ausübung der Landeshoheit nicht berührt
wurde.

Was die Oſtafrikaniſche Geſellſchaft anbelangt, ſo mußte
ſich dieſelbe zunächſt darauf beſchränken, in ihrem Gebiete eine
Anzahl von Stationen anzulegen, die ſowohl als Stützpunkte
für die wirthſchaftliche Entwicklung des Landes dienen, wie
auch als Grundlage für die künftige Verwaltungsorganiſation
gebraucht werden konnten. Den weiteren Ausbau dieſes
Syſtems von Stationen und die Inangriffnahme der Ein-
richtung der Landesverwaltung hat bekanntlich der im Herbſte
1888 ausgebrochene Aufſtand verhindert. Nachdem der Auf-
ſtand niedergeſchlagen, trat die Frage auf, wie die
politiſche Verwaltung in Oſtafrika eingerichtet werden und
namentlich ob der Oſtafrikaniſchen Geſellſchaft die Aus-
übung der Landeshoheit überlaſſen bleiben ſolle. Die
Antwort fiel, wie der Eingangs erwähnte Vertrag der
Neichsregierung mit der Oſtafrikaniſchen Geſellſchaft ergibt,
verneinend aus. Der weſentliche Inhalt dieſes Vertrages1) iſt
nämlich folgender: 1) Die Deutſch-Oſtafrikaniſche Geſellſchaft
verpflichtet ſich, bis zum 28. December 1890 die Summe von
4 Millionen Mark aufzubringen, welche beſtimmt iſt, den Sultan
von Sanſibar gemäß dem deutſch-engliſchen Uebereinkommen
vom 1. Juli 1890 für die Abtretung des Küſtengebietes zu
entſchädigen. 2) Die Reichsregierung übernimmt die Ver-
waltung des Küſtengebietes und deſſen Zubehörungen, der
Inſel Mafia, ſowie des übrigen Schutzgebietes. Sie be-
zieht die Zolleinnahmen, ſowie die etwa zur Erhebung ge-
langenden Steuern und ſonſtigen öffentlichen Gefälle. Dagegen
verpflichtet ſich die Negierung, zum Zwecke der Verzinſung und
Amortiſation der von der Geſellſchaft zur Beſtreitung der oben
erwähnten 4 Millionen und ſonſtigen Ausgaben aufzunehmen-
den Anleihe von 10,556,000 Mark die vereinnahmten Brutto-
zollerträge der Ein- und Ausfuhr in das Küſtengebiet, bezw.

[Spaltenumbruch]
Feuilleton.
(Nachdruck verboten.)


Der Weg zum Herzen.
Der Weg des Ohrs iſt der gangbarſte und
nächſte zu unſerm Herzen.

Schiller (Ueber das gegenwärtige
Deutſche Theater).

* Man hat geſagt, es gebe keinen beſſeren Empſehlungs-
brief als eine ſchöne Sprache, dieſe Schönheit ſei wichtiger als
die des Geſichts, durch ein angenehmes Organ und eine gute
Ausſprache finde man am ſicherſten den Weg zum Herzen.
Darin liegt etwas Wahres, die Stimme iſt der Menſch — erſt
wenn wir ſie vernommen haben, glauben wir ihn zu kennen
und ſagen wohl zu einem Fremden: Sprich, damit ich dich
ſehe! — Aber man kann noch weiter gehen und die geſprochene
Sprache überhaupt, auch die minder ſchöne, als das eigentliche
Mittel der Verſtändigung bezeichnen, mit welchem man den
Weg zum Herzen, das heißt zum Intellect des Andern findet.
Wenn wir darüber nachdenken, warum die Sprache ohne Worte,
an ſich ebenſo natürlich und ebenſo bildungsfähig wie die
Zunge, bei normalen Individuen hinter der Lautſprache zurück-
geblieben iſt und im gewöhnlichen Leben die mündliche Nede
nur begleitet und ergänzt, wie ein Mimus den Dialog: ſo
kommen wir zu dem Schluſſe, daß die Lautſprache gewiſſe an-
geborene und unübertragbare Vorzüge beſitzt, die den mittheil-
ſamen Urahn zu ihr in erſter Linie greifen ließen.

Sprache iſt Mittheilung von Gedanken, niemals etwas
Anderes und niemals bloßes Denken. Zum Heirathen gehören
Zwei; zum Sprechen gehören auch Zwei, mindeſtens Zwei,
denn Niemand ſpricht für ſich ſelbſt; Monologe gibt es nicht,
das klingt paradox, aber man ſieht leicht, daß die Selbſt-
geſpräche in einem Drama, ſofern dieſelben überhaupt genügend
motivirt und nicht bloße Behelſe des Dichters ſind, auf der
Einbildungskraft des Redenden beruhen, der wie im Traume
Mittheilungen an ſich ſelbſt macht. Der Tell könnte ſeinen
trefflichen Monolog nicht halten, wenn er ſich nicht wie einen
Doppelgänger ſelber ſähe, wenn er ſich nicht gleichſam ſelber
[Spaltenumbruch] zuredete wie Odyſſeus, der ſein eigenes Herz beſchwichtigt und
es zum Ausbalten ermahnt. Und noch etwas gehört zum
Sprechen — Urtheilsfähigkeit, womit nicht geſagt ſein ſoll, daß
alles Geſprochene geſcheidt ſei; aber wer ſpricht, thut das regel-
mäßig in Form von Urtheilen oder Sätzen, einzelne Worte
ſind noch keine Sprache. Das klingt wieder paradox, aber
man wird mir abermals zugeben, daß, wo einzelne Worte hin-
geworfen werden, falls es nicht Interjectionen oder ſchlecht
und recht verkappte Sätze ſind, eine logiſche Ergänzung der-
ſelben im Sinne deſſen liegt, der ſie braucht, und daß auch
die Imperative, die man am erſten anführen könnte, in kurzer
Form eine Thatſache und einen Satz, nämlich eine Willens-
äußerung enthalten. Alles Sprechen hat, wie geſagt, gar kei-
nen andern Zweck, als den, Iemand zu unterrichten, ein Unter-
richt aber, der nichts lehrte, iſt ein Unding. Umgekehrt muß
ſich auch Cicero’s längſte Periode, in die ein Dutzend Neben-
ſätze kunſtreich eingeſchachtelt ſind, dem Sinne nach auf einen
einfachen Gedanken zurückführen laſſen, der nur der Umſtänd-
lichkeit, will ſagen der Armuth des Ausdrucks wegen nicht
lürzer gegeben werden kann. Die Sprache bewegt ſich alſo ihr
Lebtag in Sätzen, ſie beſteht gleichſam auf Wahrheit, ſie gleicht
einem Prediger, der ſeiner Gemeinde das Evangelium zu Ge-
müthe führt, ſie kommt überall heraus, wo zu Nutz und From-
men eines Ungelehrten ein Satz realiſirt wird. Die Nealiſirung
kann ohne Worte, durch Zeichen, Geberden und Schrift erfol-
gen, ſie erfolgt aber gemeiniglich in Worten; das Leben der
Sprache verläuft ganz vorzugsweiſe in der Hervorbringung und
Ausbildung von Lauten und Lautcomplexen. Wie kommt das?
Die Frage iſt nicht einſach.

Man kann durchaus nicht ſagen, daß uns die Laute an-
geboren und deßhalb natürlicher ſeien als plaſtiſche
Geberden, denn dieſe ſind uns gleichfalls angeboren. Die
Bahnen, die ſich für die Reflexerſcheinungen herausgebildet
haben und auf denen die Gemüthsbewegung ſich zu entladen
ſtrebt, gehen über alle Muskeln, nicht bloß über die, welche
die Athmung und damit die Stimme reguliren. Wir ballen
die Fauſt, ſtampfen mit dem Fuße, runzeln die Stirne, fletſchen
die Zähne, ſchütteln den Kopf genau ſo leicht und ſo freiwillig,
wie wir ſchreien oder brüllen, ſeufzen oder ſtöhnen, lachen und
weinen; meiſt verbinden wir ſogar das Eine mit dem Andern,
[Spaltenumbruch] und es iſt gar nicht auszumachen, was etwa urſprünglicher
ſei, das Schreien oder das Händeballen. Es dürfte ſich viel-
leicht herausſtellen, daß die Muskelanſtrengung beim Stimm-
organ geringer, daß der Kehlkopf dem Affecte näher und be-
quemer gelegen ſei, daß er, ſozuſagen, leichter losgehe, als der
Reſt des Organismus und wie die Saiten einer Aeolsharſe
beim leifeſten Luftzug in Schwingungen gerathe. Das feſtzu-
ſtellen, muß der Phyſiologie überlaſſen bleiben, wir können nur
conſtatiren, daß der Ausdruck der Gemüthsbewegungen, den
Darwin bei Menſchen und Thieren ſo genau ſtudirt hat, weder
einſeitig in Lauten, noch einſeitig in ſichtbaren Muskelzuſam-
menziehungen erfolgt.

Dagegen ſcheinen allerdings die Laute etwas vor den Ge-
berden vorauszuhaben: ſie werden leichter als dieſe aufgefaßt
und verſtanden, indem, wie aus Experimenten hervorgeht, unſre
Seele ſchneller hört als ſieht. Wie einzelne Augen nicht
ſchlechter, aber langſamer als andere ſehen, daher alle Beobachter
die ſogenannte perſönliche Gleichung nöthig haben: ſo ſehen alle
Menſchen etwas langſamer, als ſie hören, davon hat man ſich
durch ſinnreiche Verſuche überzeugt, wo man beide Sinne in
Concurrenz mit einander brachte. Man nennt den Zeitraum
zwiſchen dem Augenblick, in welchem ein Reiz auf einen Empfin-
dungsnerv ausgeübt wird, und demjenigen, in welchem die da-
durch verurſachte Reactionsbewegung eintritt, die phyſiologiſche
Zeit; ſie beträgt für optiſche Reize ⅕ Secunde, für Gehör- und
Taſtreize nur Secunde. In einem finſteren Zimmer hängt
an der Wand eine Tafel, worin feine Drahtſtiſtchen mit ihren
Spitzen die Buchſtaben A und U darſtellen; vermittelſt einer
beſonderen Vorrichtung kann man durch die Spitzen der Draht-
ſtiſte einen elektriſchen Funken laufen und ſo beliebig A oder U
aufleuchten laſſen. Daneben gibt es noch einen Regiſtrirapparat,
an dem ein Papierſtreifen durch ein Uhrwerk mit gleichförmiger
Geſchwindigkeit fortbewegt wird; gegen dieſen ſich abrollenden
Papierſtreifen drückt ein Stift, ſobald man durch Berührung
einer Taſte einen zum zweiten Apparat gehörigen galvaniſchen
Strom ſchließt. Der Beobachter legt nun den Finger an die
Taſte und ſoll dieſelbe niederdrücken, ſobald er den Buchſtaben
A oder den Buchſtaben U aufleuchten ſieht, dann macht der
Stift auf dem Papierſtreifen einen Punkt; dasſelbe ſoll er
thun, wenn er A oder U im Zimmer ſagen hört. Auf dieſe

1) §. 1 des Vertrages lautet:

Die kaiſerliche Regierung
beabſichtigt den Abſchluß eines Staatsvertrages,
durch
welchen die Hoheitsrechte über das der deutſchen Intereſſenſphäre in
Oſtafrika vorgelagerte Küſtengebiet ſammt deſſen Zubehörungen und der
Inſel Mafia gegen Entſchädigung Sr. Hoheit des Sultans von Sanſibar
an Se. Majeſtät den Deutſchen Kaiſer abgeireten werden ſollen.
Das gegenwärtige Uebereinkommen tritt nur unter der Vorausſetzung
in Rechtswirkung, daß der vorgedachte Vertrag ſpäteſtens am
1. December 1890 zum Abſchluß gelangt iſt und daß in dieſem Ber-
trage der Uebergang der Hoheitsrechte von Seiten des Sultans von
Sanſibar auf keinen ſpäteren Zeitpunkt, als den 1. Januar
1891, feſtgeſetzt wird.“

— Der Abſchluß dieſes Reichsvertrages mit dem
Sultan von Sanſibar iſt bis jetzt noch nicht gemeldet. D. R.
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1. October 1889 an die Reichsregierung zunäch&#x017F;t auf zwei<lb/>
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O&#x017F;tafrika vorgelagerte Kü&#x017F;tengebiet &#x017F;ammt de&#x017F;&#x017F;en Zubehörungen und der<lb/>
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&#x017F;ehe! &#x2014; Aber man kann noch weiter gehen und die ge&#x017F;prochene<lb/>
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[0001] Allgemeine Zeitung.Nr. 336. — 92. Jahrgang. Morgenblatt. München, Donnerſtag, 4. December 1890. Abonnementspreis in München b. d. Ex- pedition oder den im Stadtbezirk errichte- ten Depots abgeholt monatl. M. 2. —, bei 2malig. Zuſtellung ins Haus M. 2.50; durch d. Poſt bejogen: vier- teljährlich f. Dentſchl. u. Oeſterreich M. 9.—, für d. Ausl. mit ent- ſprechendem Zuſchlag. Direkter Bezug unter Streifband für Deutſchland à. Oeſterreich monatl. M. 4. —, Ausland M. 5. 60. Inſertionspreis v. Colonelzeile 25 Pf.; finanzielle Anzeigen 35 Pf.; Lokalanzeigen 20 Pf.; kleine Anzei- gen i. gewöhnl. Schrift 3 Pf., in fetter Schrift 5 Pf. für das Wort. Redaktion u. Expedi- tion befinden ſich Schwanthalerſtr. 73 in München. Berichte find an die Redaktion, Inſerat- aufträge an die Ex- pedktion franko einzu- ſenden. Abonnements für das Ausland nehmen an: für England A. Siegle. 30 Lime Str. London: für Frankreich, Portugal und Spanien A. Ammel und C. Klinckſieck in Paris; für Italien H. Loeſcher und Frat. Bocca in Turin, Florenz und Rom, U. Hoepli in Mailand; für den Orient das kaiſerlich königliche Poſt- amt in Wien oder Trieſt: für Nordamerika F. W. Chriſtern. E Steiger u. Co., Guſt. E. Stechert, Weſtermann u. Co., International Publiſhing Agency, 710 Broadway, in New York. Verantwortlicher Redakteur: Hugo Jacobi in München. [Abbildung] Inſeratenannahme in München b. d. Expedition, Schwanthalerſtraße 73, ſerner in Berlin, Hamburg, Breslan, Köln, Leipzig, Frankfurt a. M., Stuttgart, Nürnberg, Wien, Paris, London, Zürich, Baſel ꝛc. b. d Annoncenbureaux G. L. Daube u. Co., Haaſenſtein u. Vogler u. R. Moſſe. In den Filialen der Zeitungsbureaur Invalidendank zu Berlin, Dresden, Leipzig, Chemnitz ꝛc. Außerdem in: Berlin bei B. Arndt (Mohrenſtr. 26) und S. Kornik (Krauſenſtr. 12), Hamburg bei W. Wilckens u. Ad. Steiner, New York bei der Intern. Publiſhing Agency, 710 Broadway. Druck und Verlag der J. G. Cotta’ ſchen Buchhandlung Rachfolger in Stuttgart und München. Inhalts-Ueberſicht. Die Entwicklung der deutſchen Colonialpolitik. Deutſches Reich. * Berlin: Reichstag. &#xfffc; Präſident v. Heppe. Dombauplan. Nachlaß von Stempelabgaben. * Bundesrath. Arbeiterwohnhänſer. Armeeſattel. Vom Hofe. Frhr. v. Schor- lemer-Alſt. Italien. * Rom: Thronrede. Senatorenernennung. Serbien. ## Belgrad: Aus der Skupſchtina. Feuilleton: Der Weg zum Herzen. Von Rudolf Kleinpaul. Bayeriſche Chronik. — Weitere telegraphiſche Nachrichten. Hiezu: Zweites und drittes Morgeublatt. München, 3. December. Die Entwicklung der deutſchen Colonialpolitik. St. Es iſt vor kurzem darauf hingewieſen worden (vergl. den Artikel „Colonialamt und Colonialrath“ in Nummer 315 der Allg. Ztg. vom 13. November), daß die Schaffung eines Colonialamtes und Colonialrathes einen Wendepunkt in der Behandlung der deutſchen Colonialangelegenheiten bedeute. Die Periode der Erwerbung von Schutzgebieten durch Occupa- tion und Abſchluß internationaler Abmachungen iſt einſtweilen als beendigt zu betrachten. Jetzt handelt es ſich darum, die deutſchen Schutzgebiete zu organiſiren und durch zielbewußte coloniſa- toriſche Thätigkeit erſt in eine feſte und innige politiſche und wirthſchaftliche Verbindung mit Deutſchland zu bringen. Dieſe ſchwierige Aufgabe zu erfüllen, iſt in erſter Linie Sache des Colonialamtes in Verbindung mit dem neu geſchaffenen Colonialrath. Daß aber auch noch nach einer anderen Richtung eine entſcheidende Wendung in der deutſchen Colonialpolitik und damit ein Aufgeben des urſprünglichen colonialen Programms der Neichsregierung eingetreten iſt, ergibt ſich recht deutlich aus dem kürzlich zwiſchen der Neichsregierung und der Deutſch-Oſt- afrikaniſchen Geſellſchaft abgeſchloſſenen Vertrage, deſſen Inhalt vor allem darin beſteht, daß die Geſellſchaft auf die Aus- übung der ihr durch den kaiſerlichen Schutzbrief vom 27. Fe- bruar 1885 verliehenen Hoheitsrechte zu Gunſten des Neiches verzichtet hat. Es iſt bekannt, daß das coloniale Programm, das der Reichskanzler Fürſt Bismarck wiederholt ſowohl im Reichstage wie auch in verſchiedenen an die Vertreter des Reiches im Auslande gerichteten Schreiben und namentlich auch in der im Mai 1885 dem als Reichscommiſſar nach Weſtafrika ge- ſendeten Generalconſul Dr. Nachtigal mitgegebenen Inſtruc- tion entwickelte und mit Entſchiedenheit betonte, ein ſehr eng begrenztes war. Wie die Erwerbung der Colonien von Anfang an privater Initiative anheim gegeben war, ſo ſollte auch die Regierung und Verwaltung der Schutzgebiete Colonialgeſell- ſchaften überlaſſen bleiben, die ſich aus den in den einzelnen Colonien berheiligten Capitaliſten und Handlungshäuſern bil- den und auf Grund ertheilter kaiſerlicher Schutzbrieſe unter der Oberhobeit und Aufſicht des Reiches in ihren Gebieten nach dem Vorbilde der engliſch – oſtindiſchen und der hollän- diſch-oſtindiſchen Handelscompagnien Hoheitsrechte ausüben ſollten. Nur auf den Verwaltungsgebieten, die man, wie z. B. die auswärtigen Beziehungen, Colonialgeſellſchaften nicht über- laſſen konnte, ſollte der „Schutz des Reiches“ unmittelbar ein- treten. Bei dem Umſtande, daß die colonialen Beſtrebungen nicht in allen Kreiſen der Bevölkerung die gewünſchte Unter- ſtützung fanden und daß die Colonialpolitik der Reichsregie- rung namentlich im Reichstage ſelbſt bei verſchiedenen Parteien ſtarkem Widerſtand begegnete, war das vorſichtige, faſt ſchüch- tern zu nennende Vorgehen der Reichsregierung begreiflich. Bald aber zeigte ſich, daß eine Colonialpolitik, bei der das Reich ſeine Mittel nicht einſetzen und ſeine Kraft nicht auf- wenden, ſchließlich aber doch die Vortheile der Colonien ein- heimſen wollte, nicht durchführbar war. Die Zeiten, in denen Handelscompagnien große Colonialreiche erwerben und regieren konnten, ſind vorüber. Es beweist dies ſchon die Thatſache, daß die beiden mächtigſten dieſer Geſellſchaften, die engliſch-oſtindiſche und die holländiſch-oſtindiſche, in dieſem Jahrhundert aufge- hoben wurden, ihre Gebiete aber in unmittelbaren Beſitz des Mutterlandes übergingen. Wenn auch gegenwärtig noch in England Colonialgeſellſchaſten mit Schutzbriefen (charters) ausgeſtattet werden, ſo haben doch dieſe Geſellſchaften nur die Bedeutung, der ſpäteren endgültigen Beſitzergreifung durch die Regierung des Mutterlandes vorzuarbeiten. Sie ſind ge- wiſſermaßen Fühlhörner, die vom Mutterlande ausgeſtreckt werden in Gebiete, in denen es der Regierung noch nicht angezeigt erſcheint, ſelbſt zuzugreifen. In Kamerun und Togo konnte denn auch das Pro- gramm der Reichsregierung überhaupt nicht zur Durchführung gelangen, weil die dort betheiligten Handelshäuſer ſich von Anfang an weigerten, eine mit Ausübung von Hoheitsrechten zu betrauende Colonialgeſellſchaft zu bilden, indem ſie ſich auf den Standpunkt ſtellten, die Verwaltung der Schutzgebiete ſei Sache der Reichsregierung. Nicht viel beſſer lag die Sache in Südweſtafrika. Zwar bildete ſich die deutſche Colonialgeſellſchaft für Südweſtafrika, zur Uebertragung der Landeshoheit an dieſe Geſellſchaft kam es aber nicht und konnte es ſchon um deßwillen nicht kommen, weil die Geſellſchaft es zu einer günſtigen wirthſchaftlichen Entwicklung nicht brachte und daher ſchon ſinanziell gar nicht in der Lage war, die Berwaltung der Schutzgebiete zu über- nehmen. In Oſtafrika und Neu-Guinea ſchien ſich die Sache im Sinne der Negierung günſtiger anzulaſſen, denn für beide Schutzgebiete bildeten ſich Colonialgeſellſchaften, denen durch Schutzbriefe vom 27. Februar 1885 und 17. Mai 1885 die Landeshoheit in den betreffenden Schutzgebieten zur Ausübung übertragen wurde. Die Neu-Guinea-Compagnie ging auch daran, die Landesverwaltung, ſoweit dies bei den unentwickelten Verhältniſſen ihres Gebietes möglich war, einzurichten und zu führen. Im Mai v. J. ſah ſie ſich jedoch veranlaßt, mit der Reichsregierung ein Abkommen zu treffen dahin, daß vom 1. October 1889 an die Reichsregierung zunächſt auf zwei Jahre die Landesverwaltung einſchließlich der Nechtspflege und der Einziehung der auf der Landeshoheit beruhenden Steuern, Zölle und Abgaben übernahm, während die Koſten der Ver- waltung nach wie vor der Neu-Guinea-Compagnie zur Laſt blieben. In der Vegründung des auf dieſes Abkommen ſich beziehenden Nachtragetats an den Bundesrath war bemerkt, die Regierung habe geglaubt, dem Wunſche der Neu-Guinea- Compagnie auf Uebernahme der Verwaltung entſprechen zu ſollen, „da eine lediglich durch Beamte der Geſellſchaft geleitete Verwaltung und Rechtspflege nicht dasjenige Vertrauen und Anſehen genießen kann, wie eine Verwaltung und Rechtspflege durch das Reich, außerdem auch die Geſellſchaft durch die Aus- übung der Landeshoheit in der Erfüllung ihrer wirthſchaftlichen Aufgaben beeinträchtigt wird“. Es iſt damit ofſiciell zugegeben worden, daß der Verſuch, die Schutzgebiete durch Colonial- geſellſchaften regieren zu laſſen, als mißglückt betrachtet werden muß. Zu erwähnen iſt dabei, daß der Neu-Guinea-Compagnie das Recht eingeräumt wurde, beim Erlaſſe von Geſetzen und Verordnungen für ihr Gebiet gehört zu werden, und daß ſelbſtverſtändlicherweiſe das im Schutzbriefe vom 17. Mai 1885 der Compagnie eingeräumte Grunderwerbsmonopol durch den Verzicht auf die Ausübung der Landeshoheit nicht berührt wurde. Was die Oſtafrikaniſche Geſellſchaft anbelangt, ſo mußte ſich dieſelbe zunächſt darauf beſchränken, in ihrem Gebiete eine Anzahl von Stationen anzulegen, die ſowohl als Stützpunkte für die wirthſchaftliche Entwicklung des Landes dienen, wie auch als Grundlage für die künftige Verwaltungsorganiſation gebraucht werden konnten. Den weiteren Ausbau dieſes Syſtems von Stationen und die Inangriffnahme der Ein- richtung der Landesverwaltung hat bekanntlich der im Herbſte 1888 ausgebrochene Aufſtand verhindert. Nachdem der Auf- ſtand niedergeſchlagen, trat die Frage auf, wie die politiſche Verwaltung in Oſtafrika eingerichtet werden und namentlich ob der Oſtafrikaniſchen Geſellſchaft die Aus- übung der Landeshoheit überlaſſen bleiben ſolle. Die Antwort fiel, wie der Eingangs erwähnte Vertrag der Neichsregierung mit der Oſtafrikaniſchen Geſellſchaft ergibt, verneinend aus. Der weſentliche Inhalt dieſes Vertrages 1) iſt nämlich folgender: 1) Die Deutſch-Oſtafrikaniſche Geſellſchaft verpflichtet ſich, bis zum 28. December 1890 die Summe von 4 Millionen Mark aufzubringen, welche beſtimmt iſt, den Sultan von Sanſibar gemäß dem deutſch-engliſchen Uebereinkommen vom 1. Juli 1890 für die Abtretung des Küſtengebietes zu entſchädigen. 2) Die Reichsregierung übernimmt die Ver- waltung des Küſtengebietes und deſſen Zubehörungen, der Inſel Mafia, ſowie des übrigen Schutzgebietes. Sie be- zieht die Zolleinnahmen, ſowie die etwa zur Erhebung ge- langenden Steuern und ſonſtigen öffentlichen Gefälle. Dagegen verpflichtet ſich die Negierung, zum Zwecke der Verzinſung und Amortiſation der von der Geſellſchaft zur Beſtreitung der oben erwähnten 4 Millionen und ſonſtigen Ausgaben aufzunehmen- den Anleihe von 10,556,000 Mark die vereinnahmten Brutto- zollerträge der Ein- und Ausfuhr in das Küſtengebiet, bezw. Feuilleton. (Nachdruck verboten.) Der Weg zum Herzen. Von Rudolf Kleinpaul. Der Weg des Ohrs iſt der gangbarſte und nächſte zu unſerm Herzen. Schiller (Ueber das gegenwärtige Deutſche Theater). * Man hat geſagt, es gebe keinen beſſeren Empſehlungs- brief als eine ſchöne Sprache, dieſe Schönheit ſei wichtiger als die des Geſichts, durch ein angenehmes Organ und eine gute Ausſprache finde man am ſicherſten den Weg zum Herzen. Darin liegt etwas Wahres, die Stimme iſt der Menſch — erſt wenn wir ſie vernommen haben, glauben wir ihn zu kennen und ſagen wohl zu einem Fremden: Sprich, damit ich dich ſehe! — Aber man kann noch weiter gehen und die geſprochene Sprache überhaupt, auch die minder ſchöne, als das eigentliche Mittel der Verſtändigung bezeichnen, mit welchem man den Weg zum Herzen, das heißt zum Intellect des Andern findet. Wenn wir darüber nachdenken, warum die Sprache ohne Worte, an ſich ebenſo natürlich und ebenſo bildungsfähig wie die Zunge, bei normalen Individuen hinter der Lautſprache zurück- geblieben iſt und im gewöhnlichen Leben die mündliche Nede nur begleitet und ergänzt, wie ein Mimus den Dialog: ſo kommen wir zu dem Schluſſe, daß die Lautſprache gewiſſe an- geborene und unübertragbare Vorzüge beſitzt, die den mittheil- ſamen Urahn zu ihr in erſter Linie greifen ließen. Sprache iſt Mittheilung von Gedanken, niemals etwas Anderes und niemals bloßes Denken. Zum Heirathen gehören Zwei; zum Sprechen gehören auch Zwei, mindeſtens Zwei, denn Niemand ſpricht für ſich ſelbſt; Monologe gibt es nicht, das klingt paradox, aber man ſieht leicht, daß die Selbſt- geſpräche in einem Drama, ſofern dieſelben überhaupt genügend motivirt und nicht bloße Behelſe des Dichters ſind, auf der Einbildungskraft des Redenden beruhen, der wie im Traume Mittheilungen an ſich ſelbſt macht. Der Tell könnte ſeinen trefflichen Monolog nicht halten, wenn er ſich nicht wie einen Doppelgänger ſelber ſähe, wenn er ſich nicht gleichſam ſelber zuredete wie Odyſſeus, der ſein eigenes Herz beſchwichtigt und es zum Ausbalten ermahnt. Und noch etwas gehört zum Sprechen — Urtheilsfähigkeit, womit nicht geſagt ſein ſoll, daß alles Geſprochene geſcheidt ſei; aber wer ſpricht, thut das regel- mäßig in Form von Urtheilen oder Sätzen, einzelne Worte ſind noch keine Sprache. Das klingt wieder paradox, aber man wird mir abermals zugeben, daß, wo einzelne Worte hin- geworfen werden, falls es nicht Interjectionen oder ſchlecht und recht verkappte Sätze ſind, eine logiſche Ergänzung der- ſelben im Sinne deſſen liegt, der ſie braucht, und daß auch die Imperative, die man am erſten anführen könnte, in kurzer Form eine Thatſache und einen Satz, nämlich eine Willens- äußerung enthalten. Alles Sprechen hat, wie geſagt, gar kei- nen andern Zweck, als den, Iemand zu unterrichten, ein Unter- richt aber, der nichts lehrte, iſt ein Unding. Umgekehrt muß ſich auch Cicero’s längſte Periode, in die ein Dutzend Neben- ſätze kunſtreich eingeſchachtelt ſind, dem Sinne nach auf einen einfachen Gedanken zurückführen laſſen, der nur der Umſtänd- lichkeit, will ſagen der Armuth des Ausdrucks wegen nicht lürzer gegeben werden kann. Die Sprache bewegt ſich alſo ihr Lebtag in Sätzen, ſie beſteht gleichſam auf Wahrheit, ſie gleicht einem Prediger, der ſeiner Gemeinde das Evangelium zu Ge- müthe führt, ſie kommt überall heraus, wo zu Nutz und From- men eines Ungelehrten ein Satz realiſirt wird. Die Nealiſirung kann ohne Worte, durch Zeichen, Geberden und Schrift erfol- gen, ſie erfolgt aber gemeiniglich in Worten; das Leben der Sprache verläuft ganz vorzugsweiſe in der Hervorbringung und Ausbildung von Lauten und Lautcomplexen. Wie kommt das? Die Frage iſt nicht einſach. Man kann durchaus nicht ſagen, daß uns die Laute an- geboren und deßhalb natürlicher ſeien als plaſtiſche Geberden, denn dieſe ſind uns gleichfalls angeboren. Die Bahnen, die ſich für die Reflexerſcheinungen herausgebildet haben und auf denen die Gemüthsbewegung ſich zu entladen ſtrebt, gehen über alle Muskeln, nicht bloß über die, welche die Athmung und damit die Stimme reguliren. Wir ballen die Fauſt, ſtampfen mit dem Fuße, runzeln die Stirne, fletſchen die Zähne, ſchütteln den Kopf genau ſo leicht und ſo freiwillig, wie wir ſchreien oder brüllen, ſeufzen oder ſtöhnen, lachen und weinen; meiſt verbinden wir ſogar das Eine mit dem Andern, und es iſt gar nicht auszumachen, was etwa urſprünglicher ſei, das Schreien oder das Händeballen. Es dürfte ſich viel- leicht herausſtellen, daß die Muskelanſtrengung beim Stimm- organ geringer, daß der Kehlkopf dem Affecte näher und be- quemer gelegen ſei, daß er, ſozuſagen, leichter losgehe, als der Reſt des Organismus und wie die Saiten einer Aeolsharſe beim leifeſten Luftzug in Schwingungen gerathe. Das feſtzu- ſtellen, muß der Phyſiologie überlaſſen bleiben, wir können nur conſtatiren, daß der Ausdruck der Gemüthsbewegungen, den Darwin bei Menſchen und Thieren ſo genau ſtudirt hat, weder einſeitig in Lauten, noch einſeitig in ſichtbaren Muskelzuſam- menziehungen erfolgt. Dagegen ſcheinen allerdings die Laute etwas vor den Ge- berden vorauszuhaben: ſie werden leichter als dieſe aufgefaßt und verſtanden, indem, wie aus Experimenten hervorgeht, unſre Seele ſchneller hört als ſieht. Wie einzelne Augen nicht ſchlechter, aber langſamer als andere ſehen, daher alle Beobachter die ſogenannte perſönliche Gleichung nöthig haben: ſo ſehen alle Menſchen etwas langſamer, als ſie hören, davon hat man ſich durch ſinnreiche Verſuche überzeugt, wo man beide Sinne in Concurrenz mit einander brachte. Man nennt den Zeitraum zwiſchen dem Augenblick, in welchem ein Reiz auf einen Empfin- dungsnerv ausgeübt wird, und demjenigen, in welchem die da- durch verurſachte Reactionsbewegung eintritt, die phyſiologiſche Zeit; ſie beträgt für optiſche Reize ⅕ Secunde, für Gehör- und Taſtreize nur [FORMEL] Secunde. In einem finſteren Zimmer hängt an der Wand eine Tafel, worin feine Drahtſtiſtchen mit ihren Spitzen die Buchſtaben A und U darſtellen; vermittelſt einer beſonderen Vorrichtung kann man durch die Spitzen der Draht- ſtiſte einen elektriſchen Funken laufen und ſo beliebig A oder U aufleuchten laſſen. Daneben gibt es noch einen Regiſtrirapparat, an dem ein Papierſtreifen durch ein Uhrwerk mit gleichförmiger Geſchwindigkeit fortbewegt wird; gegen dieſen ſich abrollenden Papierſtreifen drückt ein Stift, ſobald man durch Berührung einer Taſte einen zum zweiten Apparat gehörigen galvaniſchen Strom ſchließt. Der Beobachter legt nun den Finger an die Taſte und ſoll dieſelbe niederdrücken, ſobald er den Buchſtaben A oder den Buchſtaben U aufleuchten ſieht, dann macht der Stift auf dem Papierſtreifen einen Punkt; dasſelbe ſoll er thun, wenn er A oder U im Zimmer ſagen hört. Auf dieſe 1) §. 1 des Vertrages lautet: „Die kaiſerliche Regierung beabſichtigt den Abſchluß eines Staatsvertrages, durch welchen die Hoheitsrechte über das der deutſchen Intereſſenſphäre in Oſtafrika vorgelagerte Küſtengebiet ſammt deſſen Zubehörungen und der Inſel Mafia gegen Entſchädigung Sr. Hoheit des Sultans von Sanſibar an Se. Majeſtät den Deutſchen Kaiſer abgeireten werden ſollen. Das gegenwärtige Uebereinkommen tritt nur unter der Vorausſetzung in Rechtswirkung, daß der vorgedachte Vertrag ſpäteſtens am 1. December 1890 zum Abſchluß gelangt iſt und daß in dieſem Ber- trage der Uebergang der Hoheitsrechte von Seiten des Sultans von Sanſibar auf keinen ſpäteren Zeitpunkt, als den 1. Januar 1891, feſtgeſetzt wird.“ — Der Abſchluß dieſes Reichsvertrages mit dem Sultan von Sanſibar iſt bis jetzt noch nicht gemeldet. D. R.

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-03-29T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 336, 4. Dezember 1890, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine336_1890/1>, abgerufen am 15.05.2024.