Allgemeine Zeitung, Nr. 33, 15. August 1914.Allgemeine Zeitung 15. August 1914. [Spaltenumbruch]
mag auch das Herz darüber in Stücke gehen: ich muß diese Frageverneinen; ich muß mich von aller und jeder Beziehung zu englischen Freunden lossagen, wenn sie nicht Mittel und Wege finden, um sich selber loszumachen von aller Mitschuld mit dem Verbrechen ihrer Regierung. Läßt das englische Volk, lassen die englischen Christen ohne Widerspruch, ohne Widerstand geschehen, was jetzt geschieht, so treten sie vor der Welt, vor der Geschichte, vor dem gerechten Gott in die volle Verantwortung für jenes Verbrechen mit ein. Mit diesen ernsten Worten aus tief bekümmertem Herzen lassen Sie mich Abschied von Ihnen nehmen; aber nicht, ohne daß ich das eine noch ausspreche, daß ich unter allen Umständen um unserer bisherigen Freundschaft willen bereit bin, auch fernerhin alles zu tun, was ich tun kann, um Ihnen in der überaus schwierigen Lage, in welche Sie durch die Schuld Ihrer Regierung gebracht worden sind, mit Rat und Tat behilflich zu sein. Verehrungsvoll Ihr sehr ergebenerD. Wilhelm Frhr. v. Pechmann. Der Kampf um Belgien. Die Erinnerung an Namen wie Oudenaarde, Malplaquet, Nach Begründung des von Holland losgelösten Königreichs Die Gegenwart zeigt im schärfsten Licht, in welch listiger Weise Aber wenn dieser Diplomat, das Urbild des bei aller Bildung Allgemeine Zeitung 15. Auguſt 1914. [Spaltenumbruch]
mag auch das Herz darüber in Stücke gehen: ich muß dieſe Frageverneinen; ich muß mich von aller und jeder Beziehung zu engliſchen Freunden losſagen, wenn ſie nicht Mittel und Wege finden, um ſich ſelber loszumachen von aller Mitſchuld mit dem Verbrechen ihrer Regierung. Läßt das engliſche Volk, laſſen die engliſchen Chriſten ohne Widerſpruch, ohne Widerſtand geſchehen, was jetzt geſchieht, ſo treten ſie vor der Welt, vor der Geſchichte, vor dem gerechten Gott in die volle Verantwortung für jenes Verbrechen mit ein. Mit dieſen ernſten Worten aus tief bekümmertem Herzen laſſen Sie mich Abſchied von Ihnen nehmen; aber nicht, ohne daß ich das eine noch ausſpreche, daß ich unter allen Umſtänden um unſerer bisherigen Freundſchaft willen bereit bin, auch fernerhin alles zu tun, was ich tun kann, um Ihnen in der überaus ſchwierigen Lage, in welche Sie durch die Schuld Ihrer Regierung gebracht worden ſind, mit Rat und Tat behilflich zu ſein. Verehrungsvoll Ihr ſehr ergebenerD. Wilhelm Frhr. v. Pechmann. Der Kampf um Belgien. Die Erinnerung an Namen wie Oudenaarde, Malplaquet, Nach Begründung des von Holland losgelöſten Königreichs Die Gegenwart zeigt im ſchärfſten Licht, in welch liſtiger Weiſe Aber wenn dieſer Diplomat, das Urbild des bei aller Bildung <TEI> <text> <body> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div type="jArticle" n="2"> <div type="jArticle" n="3"> <floatingText> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0008" n="514"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Allgemeine Zeitung</hi> 15. Auguſt 1914.</fw><lb/><cb/> mag auch das Herz darüber in Stücke gehen: ich muß dieſe Frage<lb/> verneinen; ich muß mich von aller und jeder Beziehung zu engliſchen<lb/> Freunden losſagen, wenn ſie nicht Mittel und Wege finden, um<lb/> ſich ſelber loszumachen von aller Mitſchuld mit dem Verbrechen<lb/> ihrer Regierung. 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Was ein ſolcher<lb/> Schein wert iſt, weiß jeder halbswegs Geſchichtskundige. In der<lb/> Schweiz ließ man ſich denn auch nicht durch ſolche Zuſagen auf<lb/> leicht durch die Spitze des Degens zu durchlöcherndem Aktenpapier<lb/> täuſchen und begann, durch Organiſation einer tüchtigen Miliz<lb/> „ſich vor den Schutzmächten zu ſchützen.“ Anders in Belgien! König<lb/> Leopold, der ſonſt nicht eben ſehr hoheitsvolle Herrſcher des Landes,<lb/> hatte wohl Verſtändnis für das nationale Verteidigungsproblem<lb/> und ſuchte mit allen Mitteln auf verſtärkte militäriſche Rüſtungen<lb/> hinzuwirken, konnte aber wenig erreichen. Seine Bemühungen<lb/> ſcheiterten vor allem am Widerſtand der allmächtigen klerikalen Par-<lb/> tei, die geſtützt auf das eigenbrödleriſche, hartköpfige, politiſch kurz-<lb/> ſichtige Flämentum, um keinen Preis irgendwelche größere finan-<lb/> zielle Laſten um des „Molochs Militarismus“ willen auf ſich neh-<lb/> men wollte. Dann kam die Marokkokriſe von 1905. Damals ſtand<lb/> der Krieg zwiſchen Deutſchland und Frankreich vor der Tür, und<lb/> zwiſchen Paris und London war ausgemacht, daß General French<lb/> mit 150,000 Mann die franzöſiſche Armee unterſtützen ſollte. Wo<lb/> aber dieſes Expeditionskorps gelandet werden ſollte, darüber konnte<lb/> kein Zweifel beſtehen. In Calais oder Dünkirchen wollte man es<lb/> nicht ausbooten, weil der ſtolze Brite Wert darauf legte, allein,<lb/> nicht mit dem politiſch wohl gehätſchelten, ſonſt aber über die Achſel<lb/> angeſehenen Franzmann zuſammen zu kämpfen. Die Inſel Walche-<lb/> ren, wo früher ſo oft britiſche Eroberer an die europäiſche Küſte<lb/> geſtiegen ſind, kam als Landungsplatz ebenfalls nicht in Betracht,<lb/> da ſeitdem Vliſſingen von den Holländern ſtark befeſtigt worden iſt<lb/> und mit einem Rückenanfall durch die deutſche Flotte gerechnet<lb/> werden mußte, ſo daß die Weſter-Schelde zu einer Mauſefalle für<lb/> die Hilfslegion zuſammt der Transportflotte hätte werden können.<lb/> Es blieb alſo nur die belgiſche Küſte; tatſächlich gab auf eine Brüſ-<lb/> ſeler Anfrage in der Angelegenheit das Foreign Office eine aus-<lb/> weichende zweideutige Antwort, die deutlich genug war. Das iſt<lb/> dasfelbe England und dieſelbe britiſche Regierung, die heute in nicht<lb/> zu übertreffender diplomatiſcher Hinterhältigkeit und Doppelzün-<lb/> gigkeit ſich als treuer Eckehart Belgiens aufſpielt und um ſeines<lb/><cb/> Schutzes willen ſich „moraliſch“ verpflichtet fühlt, Deutſchland mit<lb/> der Schärfe ſeines Schwerts entgegenzutreten! Jedem halbwegs<lb/> einſichtigen Politiker fiel es ſo ſchon damals wie Schuppen von den<lb/> Augen, wie es um die Neutralität Belgiens ſtand: gerade dort aber<lb/> konnte man ſich noch immer trotz allem nicht zu tatkräftiger Ab-<lb/> wehr der drohenden Gefahren entſchließen. Was man tat, um die<lb/> vernachläſſigte Wappnung zu verbeſſern, waren auch jetzt halbe<lb/> Maßregeln. Wohl ſchob man, entſprechend den Anträgen des Mini-<lb/> ſterpräſidenten de Broqueville, das gänzlich veraltete Bürgerwehr-<lb/> und Stellvertretungsſyſtem beiſeite und beſchloß die Einführung der<lb/> allgemeinen Wehrpflicht, um aber das Prinzip durch die Klauſel<lb/> der Freiloſungen ſofort tauſendfach zu durchlöchern; der ganze Er-<lb/> folg der Reform war ſchließlich der, daß der Armeefriedensſtand ſich<lb/> von 135,000 auf 180,000 Mann von ziemlich zweifelhafter Ausbil-<lb/> dung erhöhte. Wohl wurden Lüttich, Namur, Antwerpen nach den<lb/> Plänen Brialmonts zu modernen Feſtungen ausgebaut; aber bei<lb/> den beiden erſteren ließ man den inneren Gürtel vollkommen un-<lb/> fertig, ſo daß ſie, wie es ſich jetzt tatſächlich gezeigt hat, einer Ueber-<lb/> rumpelung ausgeſetzt blieben, und das große Handelsemporium<lb/> an der Scheldemündung dürfte einer Belagerung mit modernen<lb/> Angeriffs- und Zerſtörungsmitteln ebenſo nicht gewachſen ſein. Als<lb/> Kaiſer Wilhelm den ſchweizeriſchen Manövern beiwohnte, ſoll er<lb/> zum Bundespräſidenten Forrer geſagt haben: „Ich bewundere die<lb/> Leiſtungen ihrer braven Truppen. Wenn meine rechte Flanke<lb/> gegen eine Ueberraſchung ſo vorzüglich geſchützt wäre wie die linke,<lb/> ſo könnte ich mich einem größeren Gefühl der Sicherheit hingeben.<lb/> Ihre Miliz erſpart mir drei Armeekorps.“ Das iſt gewiß zutreffend.<lb/> Angeſichts der Schwäche der belgiſchen Streitkräfte und Feſtungen<lb/> mußte Deutſchland ſich ſtändig die Gefahr vor Augen halten, daß<lb/> Frankreich im Kriegsfall Belgien als Durchzugsgebiet für ſeine<lb/> Truppen benutzen und eine gefährliche Umflügelung der deutſchen<lb/> Stellungen am unteren Rhein verſuchen werde.</p><lb/> <p>Die Gegenwart zeigt im ſchärfſten Licht, in welch liſtiger Weiſe<lb/> tatſächlich die Ueberrumpelung Deutſchlands an dieſer Stelle ge-<lb/> meinſam mit England abgekartet und eingefädelt war. Der franzö-<lb/> ſiſche Miniſter des Aeußern Viviani hat kurz vor Ausbruch des<lb/> Kriegs in der Kammer einen Notenwechſel zwiſchen Cambon und<lb/> Grey verleſen, deren Inhalt die Kölniſche Zeitung mit Recht dahin<lb/> kommentierte: „Die beiden Schreiben ſind die ſophiſtiſch verklauſu-<lb/> lierte Formulierungen einer beſtimmten Bündnishilfe, die nur des-<lb/> halb den Schein gewiſſer Vorbehalte für ihre Wirkſamkeit ſich ge-<lb/> geben hat, damit die beiden Regierungen, und namentlich die eng-<lb/> liſche, in der Lage waren, das Beſtehen beſtimmter Verpflichtungen<lb/> zu militäriſcher Hilfe vor dem eigenen Land und vor der Welt<lb/> beſtreiten zu können.“ So iſt es in der Tat. <hi rendition="#aq">There are more<lb/> ways of figuring political arrangements than of killing a cat</hi>:<lb/> ſo mag man, in Abwandlung eines bekannten Weisheitsſpruchs<lb/> kaufmänniſcher Rechenkünſtler beim Durchleſen dieſer Schriftſtücke<lb/> ſagen, und der Hauptränkeſchmied und -Gaukler, der Deutſchland<lb/> an der Naſe führen wollte und ſein eigenes Volk am meiſten be-<lb/> trogen hat, iſt der ehrenwerte Sir Edward Grey, der immer vor<lb/> dem Parlament und aller Welt betonte, daß England keinerlei<lb/> bindende Verpflichtungen zum militäriſchen Eingreifen in feſtländiſch-<lb/> großmächtliche Verwicklungen eingegangen ſei, während tatſächlich<lb/> ein gegenteiliges taktiſches Spiel längſt verbrieft und verſiegelt war.</p><lb/> <p>Aber wenn dieſer Diplomat, das Urbild des bei aller Bildung<lb/> doch in beſchränktem Horizont des Denkens gebannten Engländers,<lb/> der keine Sprache ſpricht außer der heimatlichen, der nichts kennt<lb/> als ſein und ſeines Volks nächſtliegendes, in Pfund und Penny<lb/> auszudrückendes Selfintereſt und der keine Minute zögert, ſolchem<lb/> Eigennutz auf verſchlagenen und unredlichen Wegen den Frieden<lb/> Europas zu opfern, geglaubt hat, uns durch ſolche Mittel von dem<lb/> vorgezeichneten Pfad des direkten Angriffs auf die zentrale Gefahr-<lb/> ſtelle einen Augenblick abhalten zu können, ſo hat er ſich ſchwer<lb/> getäuſcht. In glänzendem Anſturm, am ſechſten Mobilmachungs-<lb/> tag bereits, haben unſere Truppen Lüttich genommen und damit<lb/> liegt halb Belgien ſchon wehrlos zu unſeren Füßen. Daß unſer<lb/> Schwert ſcharf iſt und gut zu treffen verſteht, hat die erſte Woche<lb/> des Weltkriegs bereits bewieſen; guter Zuverſicht, vertrauend<lb/> auf unſere gerechte Sache, dürfen wir hoffen, daß der Einleitung der<lb/> Ausgang entſprechen und daß die gegen Deutſchland gerichtete ver-<lb/> giftete Spitze ſchändlichſter Pläne, wie ſie nur jemals zur Nieder-<lb/> werfung eines großen, friedliebenden Kulturvolkes geſchmiedet<lb/> worden ſind, die Urheber ſelbſt ins Herz treffen wird.</p><lb/> <byline> <hi rendition="#et">Dr. Frhr. v. <hi rendition="#g">Mackay</hi>.</hi> </byline> </div> </div> </div><lb/> </body> </text> </TEI> [514/0008]
Allgemeine Zeitung 15. Auguſt 1914.
mag auch das Herz darüber in Stücke gehen: ich muß dieſe Frage
verneinen; ich muß mich von aller und jeder Beziehung zu engliſchen
Freunden losſagen, wenn ſie nicht Mittel und Wege finden, um
ſich ſelber loszumachen von aller Mitſchuld mit dem Verbrechen
ihrer Regierung. Läßt das engliſche Volk, laſſen die engliſchen
Chriſten ohne Widerſpruch, ohne Widerſtand geſchehen, was jetzt
geſchieht, ſo treten ſie vor der Welt, vor der Geſchichte, vor dem
gerechten Gott in die volle Verantwortung für jenes Verbrechen
mit ein.
Mit dieſen ernſten Worten aus tief bekümmertem Herzen laſſen
Sie mich Abſchied von Ihnen nehmen; aber nicht, ohne daß ich das
eine noch ausſpreche, daß ich unter allen Umſtänden um unſerer
bisherigen Freundſchaft willen bereit bin, auch fernerhin alles zu
tun, was ich tun kann, um Ihnen in der überaus ſchwierigen Lage,
in welche Sie durch die Schuld Ihrer Regierung gebracht worden
ſind, mit Rat und Tat behilflich zu ſein.
Verehrungsvoll
Ihr ſehr ergebener
D. Wilhelm Frhr. v. Pechmann.
Der Kampf um Belgien.
Die Erinnerung an Namen wie Oudenaarde, Malplaquet,
Neerwinden, Quatre Bras, Ligny, Belle Alliance genügt, um ſich
gegenwärtig zu halten, wie oft ſchon belgiſcher Boden der drama-
tiſche Kriegsſchauplatz geweſen iſt, auf dem ſich in gewaltigen
Kämpfen der europäiſchen Völker Machtſtreitigkeiten entſchieden.
Wenn nicht alles täuſcht, wird ſich heute dieſes Schauſpiel nochmals
erneuern: hoffentlich — das walte Gott! — in ſolcher Weiſe, daß
England ein für allemal die Luſt und die Möglichkeit genommen
wird, das Feuer der Zwietracht unter den feſtländiſchen Mächten
anzulegen und zu unterhalten und ſich daran in einer lediglich von
der nackteſten Selbſtſucht diktierten, jeder Kulturmoral baren Poli-
tik die Hände zu wärmen.
Nach Begründung des von Holland losgelöſten Königreichs
Belgien im Jahre 1831 entſprechend den Beſtimmungen des Lon-
doner Abkommens erklärten die Vertragsmächte neun Jahre ſpä-
ter die Neutralität des neuen Staatsweſens zugleich mit derjenigen
Luxemburgs und der Schweiz, jedoch ohne irgendwelche andere
Gewähr als das allgemeine Verſprechen, wechſelſeitig für die Un-
verletzlichkeit der Schützlinge einſtehen zu wollen. Was ein ſolcher
Schein wert iſt, weiß jeder halbswegs Geſchichtskundige. In der
Schweiz ließ man ſich denn auch nicht durch ſolche Zuſagen auf
leicht durch die Spitze des Degens zu durchlöcherndem Aktenpapier
täuſchen und begann, durch Organiſation einer tüchtigen Miliz
„ſich vor den Schutzmächten zu ſchützen.“ Anders in Belgien! König
Leopold, der ſonſt nicht eben ſehr hoheitsvolle Herrſcher des Landes,
hatte wohl Verſtändnis für das nationale Verteidigungsproblem
und ſuchte mit allen Mitteln auf verſtärkte militäriſche Rüſtungen
hinzuwirken, konnte aber wenig erreichen. Seine Bemühungen
ſcheiterten vor allem am Widerſtand der allmächtigen klerikalen Par-
tei, die geſtützt auf das eigenbrödleriſche, hartköpfige, politiſch kurz-
ſichtige Flämentum, um keinen Preis irgendwelche größere finan-
zielle Laſten um des „Molochs Militarismus“ willen auf ſich neh-
men wollte. Dann kam die Marokkokriſe von 1905. Damals ſtand
der Krieg zwiſchen Deutſchland und Frankreich vor der Tür, und
zwiſchen Paris und London war ausgemacht, daß General French
mit 150,000 Mann die franzöſiſche Armee unterſtützen ſollte. Wo
aber dieſes Expeditionskorps gelandet werden ſollte, darüber konnte
kein Zweifel beſtehen. In Calais oder Dünkirchen wollte man es
nicht ausbooten, weil der ſtolze Brite Wert darauf legte, allein,
nicht mit dem politiſch wohl gehätſchelten, ſonſt aber über die Achſel
angeſehenen Franzmann zuſammen zu kämpfen. Die Inſel Walche-
ren, wo früher ſo oft britiſche Eroberer an die europäiſche Küſte
geſtiegen ſind, kam als Landungsplatz ebenfalls nicht in Betracht,
da ſeitdem Vliſſingen von den Holländern ſtark befeſtigt worden iſt
und mit einem Rückenanfall durch die deutſche Flotte gerechnet
werden mußte, ſo daß die Weſter-Schelde zu einer Mauſefalle für
die Hilfslegion zuſammt der Transportflotte hätte werden können.
Es blieb alſo nur die belgiſche Küſte; tatſächlich gab auf eine Brüſ-
ſeler Anfrage in der Angelegenheit das Foreign Office eine aus-
weichende zweideutige Antwort, die deutlich genug war. Das iſt
dasfelbe England und dieſelbe britiſche Regierung, die heute in nicht
zu übertreffender diplomatiſcher Hinterhältigkeit und Doppelzün-
gigkeit ſich als treuer Eckehart Belgiens aufſpielt und um ſeines
Schutzes willen ſich „moraliſch“ verpflichtet fühlt, Deutſchland mit
der Schärfe ſeines Schwerts entgegenzutreten! Jedem halbwegs
einſichtigen Politiker fiel es ſo ſchon damals wie Schuppen von den
Augen, wie es um die Neutralität Belgiens ſtand: gerade dort aber
konnte man ſich noch immer trotz allem nicht zu tatkräftiger Ab-
wehr der drohenden Gefahren entſchließen. Was man tat, um die
vernachläſſigte Wappnung zu verbeſſern, waren auch jetzt halbe
Maßregeln. Wohl ſchob man, entſprechend den Anträgen des Mini-
ſterpräſidenten de Broqueville, das gänzlich veraltete Bürgerwehr-
und Stellvertretungsſyſtem beiſeite und beſchloß die Einführung der
allgemeinen Wehrpflicht, um aber das Prinzip durch die Klauſel
der Freiloſungen ſofort tauſendfach zu durchlöchern; der ganze Er-
folg der Reform war ſchließlich der, daß der Armeefriedensſtand ſich
von 135,000 auf 180,000 Mann von ziemlich zweifelhafter Ausbil-
dung erhöhte. Wohl wurden Lüttich, Namur, Antwerpen nach den
Plänen Brialmonts zu modernen Feſtungen ausgebaut; aber bei
den beiden erſteren ließ man den inneren Gürtel vollkommen un-
fertig, ſo daß ſie, wie es ſich jetzt tatſächlich gezeigt hat, einer Ueber-
rumpelung ausgeſetzt blieben, und das große Handelsemporium
an der Scheldemündung dürfte einer Belagerung mit modernen
Angeriffs- und Zerſtörungsmitteln ebenſo nicht gewachſen ſein. Als
Kaiſer Wilhelm den ſchweizeriſchen Manövern beiwohnte, ſoll er
zum Bundespräſidenten Forrer geſagt haben: „Ich bewundere die
Leiſtungen ihrer braven Truppen. Wenn meine rechte Flanke
gegen eine Ueberraſchung ſo vorzüglich geſchützt wäre wie die linke,
ſo könnte ich mich einem größeren Gefühl der Sicherheit hingeben.
Ihre Miliz erſpart mir drei Armeekorps.“ Das iſt gewiß zutreffend.
Angeſichts der Schwäche der belgiſchen Streitkräfte und Feſtungen
mußte Deutſchland ſich ſtändig die Gefahr vor Augen halten, daß
Frankreich im Kriegsfall Belgien als Durchzugsgebiet für ſeine
Truppen benutzen und eine gefährliche Umflügelung der deutſchen
Stellungen am unteren Rhein verſuchen werde.
Die Gegenwart zeigt im ſchärfſten Licht, in welch liſtiger Weiſe
tatſächlich die Ueberrumpelung Deutſchlands an dieſer Stelle ge-
meinſam mit England abgekartet und eingefädelt war. Der franzö-
ſiſche Miniſter des Aeußern Viviani hat kurz vor Ausbruch des
Kriegs in der Kammer einen Notenwechſel zwiſchen Cambon und
Grey verleſen, deren Inhalt die Kölniſche Zeitung mit Recht dahin
kommentierte: „Die beiden Schreiben ſind die ſophiſtiſch verklauſu-
lierte Formulierungen einer beſtimmten Bündnishilfe, die nur des-
halb den Schein gewiſſer Vorbehalte für ihre Wirkſamkeit ſich ge-
geben hat, damit die beiden Regierungen, und namentlich die eng-
liſche, in der Lage waren, das Beſtehen beſtimmter Verpflichtungen
zu militäriſcher Hilfe vor dem eigenen Land und vor der Welt
beſtreiten zu können.“ So iſt es in der Tat. There are more
ways of figuring political arrangements than of killing a cat:
ſo mag man, in Abwandlung eines bekannten Weisheitsſpruchs
kaufmänniſcher Rechenkünſtler beim Durchleſen dieſer Schriftſtücke
ſagen, und der Hauptränkeſchmied und -Gaukler, der Deutſchland
an der Naſe führen wollte und ſein eigenes Volk am meiſten be-
trogen hat, iſt der ehrenwerte Sir Edward Grey, der immer vor
dem Parlament und aller Welt betonte, daß England keinerlei
bindende Verpflichtungen zum militäriſchen Eingreifen in feſtländiſch-
großmächtliche Verwicklungen eingegangen ſei, während tatſächlich
ein gegenteiliges taktiſches Spiel längſt verbrieft und verſiegelt war.
Aber wenn dieſer Diplomat, das Urbild des bei aller Bildung
doch in beſchränktem Horizont des Denkens gebannten Engländers,
der keine Sprache ſpricht außer der heimatlichen, der nichts kennt
als ſein und ſeines Volks nächſtliegendes, in Pfund und Penny
auszudrückendes Selfintereſt und der keine Minute zögert, ſolchem
Eigennutz auf verſchlagenen und unredlichen Wegen den Frieden
Europas zu opfern, geglaubt hat, uns durch ſolche Mittel von dem
vorgezeichneten Pfad des direkten Angriffs auf die zentrale Gefahr-
ſtelle einen Augenblick abhalten zu können, ſo hat er ſich ſchwer
getäuſcht. In glänzendem Anſturm, am ſechſten Mobilmachungs-
tag bereits, haben unſere Truppen Lüttich genommen und damit
liegt halb Belgien ſchon wehrlos zu unſeren Füßen. Daß unſer
Schwert ſcharf iſt und gut zu treffen verſteht, hat die erſte Woche
des Weltkriegs bereits bewieſen; guter Zuverſicht, vertrauend
auf unſere gerechte Sache, dürfen wir hoffen, daß der Einleitung der
Ausgang entſprechen und daß die gegen Deutſchland gerichtete ver-
giftete Spitze ſchändlichſter Pläne, wie ſie nur jemals zur Nieder-
werfung eines großen, friedliebenden Kulturvolkes geſchmiedet
worden ſind, die Urheber ſelbſt ins Herz treffen wird.
Dr. Frhr. v. Mackay.
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(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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