Allgemeine Zeitung, Nr. 344, 12. Dezember 1890.Freitag, Zweites Morgenblatt, Nr. 344 der Allgemeinen Zeitung. 12. December 1890.Inhalts-Uebersicht. Deutscher Reichstag. -- Die Schulreform-Confrerenz in Berlin. Handel und Volkswirthschaft. Deutscher Reichstag. Berlin, 11. Dec. Telegraphischer Privatbericht der Allg. Ztg. 39. Sitzung. Die Sitzung wird um 1 Uhr Abg. Bebel: Die erregte Art und Weise, in der die Abgg. Abg. Windthorst: Was wir für die Colonialpolitik bewil- Abg. Dr. Bamberger: Als captatio benevolentiae Freitag, Zweites Morgenblatt, Nr. 344 der Allgemeinen Zeitung. 12. December 1890.Inhalts-Ueberſicht. Deutſcher Reichstag. — Die Schulreform-Confrerenz in Berlin. Handel und Volkswirthſchaft. Deutſcher Reichstag. ⎈ Berlin, 11. Dec. Telegraphiſcher Privatbericht der Allg. Ztg. 39. Sitzung. Die Sitzung wird um 1 Uhr Abg. Bebel: Die erregte Art und Weiſe, in der die Abgg. Abg. Windthorſt: Was wir für die Colonialpolitik bewil- Abg. Dr. Bamberger: Als captatio benevolentiae <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0005"/> <div n="1"> <p> <floatingText> <front> <titlePage type="heading"> <docDate>Freitag,</docDate> <docTitle> <titlePart type="main"> <hi rendition="#b">Zweites Morgenblatt, Nr. 344 der Allgemeinen Zeitung.</hi> </titlePart> </docTitle> <docDate>12. December 1890.</docDate> </titlePage> </front><lb/> <cb/> <body> <div type="contents" n="1"> <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#b">Inhalts-Ueberſicht.</hi> </hi> </head><lb/> <list> <item> <hi rendition="#b">Deutſcher Reichstag. — Die Schulreform-Confrerenz in<lb/> Berlin.</hi> </item><lb/> <item> <hi rendition="#b">Handel und Volkswirthſchaft.</hi> </item> </list> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div type="jArticle" n="2"> <head> <hi rendition="#b">Deutſcher Reichstag.</hi><lb/> <hi rendition="#c"><hi rendition="#g">Telegraphiſcher Privatbericht der Allg. Ztg.</hi><lb/> 39. <hi rendition="#g">Sitzung.</hi></hi> </head><lb/> <dateline>⎈ <hi rendition="#b">Berlin,</hi> 11. Dec.</dateline> <p>Die Sitzung wird um 1 Uhr<lb/> eröffnet. Am Tiſche des Bundesraths: v. <hi rendition="#g">Caprivi, v. Boetticher,<lb/> v. Maltzahn, Hollmann</hi> u. A. Die erſte <hi rendition="#g">Etatsberathung</hi><lb/> wird fortgeſetzt.</p><lb/> <p>Abg. <hi rendition="#b">Bebel:</hi></p> <cit> <quote>Die erregte Art und Weiſe, in der die Abgg.<lb/> Windthorſt und v. Frege geſtern meine Angriffe auf das beſtebende<lb/> Steuer- und Zollſyſtem beantworteten, hat den Eindruck gemacht,<lb/> als wenn die Herren felbſt fühlten, daß ſie ihrer Sache nicht mehr<lb/> ganz ſicher ſind, und ſie für gefährdet hielten. An die Annahme<lb/> des von unſrer und deutſchfreiſinniger Seite geſtellten Antrags auf<lb/> Beſeitigung, bezw. Ermäßigung der Zölle iſt danach nicht mehr zu<lb/> denken. Ich bin aber überzeugt, daß, wenn dieſe Frage heute wie<lb/> vor dreiviertel Jahren der Wählerſchaft vorgelegt würde, das Re-<lb/> ſultat der Wahl noch ein ganz anderes ſein würde, als am<lb/> 20. Februar d. J. Die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung will<lb/> von der bisherigen Steuer- und Zollpolitik nichts wiſſen. Man<lb/> hat behauptet, daß die Agrarzölle nothwendig ſeien, weil ſie dem<lb/> kleinen Bauer und dem ländlichen Arbeiter von Vortheil ſeien. Dem<lb/> widerſpricht die Thatſache, daß die ländlichen Arbeiter in großen<lb/> Schaaren nach den Städten hin drängen und daß die Agrarier<lb/> ſelbſt in ihren Verſammlungen und Congreſſen fortgeſetzt die<lb/> Mittel und Wege beſprechen, dieſem Drängen Einhalt zu thun.<lb/> Die ſogenannte Sachfengängerei iſt ein Beweis, daß die ländlichen<lb/> Arbeiter ſich zu Hauſe nicht wohl fühlen. Dieſer Zug iſt ſo charak-<lb/> teriſtiſch, daß er in der Volkszählung zum klarſten Ausdruck ge-<lb/> kommen iſt. Von 1875 bis 1885 hat die ſtädtiſche Bevöllerung<lb/> in Preußen 20 Procent, die ländliche nur 4,8 Procent zugenommen.<lb/> In Pommern, alſo einer agrariſchen Provinz, hat die Bevölkerung<lb/> 0,7 Procent abgenommen. Aber ſelbſt in denjenigen deutſchen<lb/> Landestheilen, in denen der kleine Grundbeſitz beinahe ausſchließ-<lb/> lich dominirt, z. B. in Heſſen-Raſſau, hat die Bevölterungszunahme<lb/> nur 2,9 Procent betragen. Die letzte Vollszählung wird wahr-<lb/> ſcheinlich noch ungünſtigere Reſultate aufweiſen. In der frucht-<lb/> baren Oſt- und Weſtpriegnitz betrug die ländliche Bevölkerung 1865<lb/> 100,000 Seelen, 1885 nur noch 85,000 Seelen. Geſtern erhielt<lb/> ich aus dem Leobſchützer Kreiſe einen Brief, worin ich gebeten<lb/> wurde, hier mitzutheilen, in welcher geradezu unglaublichen Lage<lb/> ſich die dortige Arbeiterhevölkerung in dieſem meiſt dem Groß-<lb/> grundbeſitz verfallenen Kreiſe befindet. Seit dem 1. October<lb/> erhielten die Arbeiter täglich, ausſchließlich der Koſt, 40 Pf.,<lb/> im Sommer 60 Pf. Allerdings ſind einige Fetzen Land da-<lb/> bei und Wohnungen, aber welche Wohnungen! 1872 auf der Con-<lb/> ferenz der ländlichen Arbeitgeber in Berlin erklärte Hr. v. Goeben,<lb/> zahlreiche Großgrundbeſitzer machten für ihre Schweineſtälle größere Auf-<lb/> wendungen, als für die Arbeiter. Im Wahlkreiſe des Hrn. v. Kardorff<lb/> erhielten die Arbeiter täglich 50 Pf. im Winter, 75 Pf. im Sommer.<lb/> Die Wohnungen im Leobſchützer Kreiſe ſind ſo niedrig, daß es ein<lb/> Wunder iſt, daß Amtsvorſteher und Polizei derartige Wohnungen<lb/> überhaupt zuließen. Im Oſten iſt es nicht anders. Nach dem<lb/> Bericht eines Medicinalbeamten in Gumbinnen iſt die Entſtehung<lb/> von Infectionskrankheiten auf den deſolaten Zuſtand der länd-<lb/> lichen Wohnungen zurückzuführen. Dieſe Zuſtände erwecken die<lb/> Unzufriedenheit der Arbeiter und erzeugen eine förmliche Völker-<lb/> wanderung. Der Oſten zieht nach dem Weſten und nach den<lb/> Induſtriebezirken. Hr. v. Frege hat mit einer Art von Hohn ge-<lb/> ſagt, wir hätten zwar die Agitation unter den ländlichen Arbeitern<lb/> angelündigt, aber wir ſchienen doch dabei einen Stein des An-<lb/> ſtoßes zu finden, wie gewiſſe Aeußerungen des „Berliner Volks-<lb/> blattes“ darthäten. Ständen ſolche Aeußerungen wirklich in<lb/> jenem Blatte, ſo würde das nur beweiſen, daß wir uns allerdings<lb/> der Schwierigkeiten, welche die ländliche Agitation für die Social-<lb/> demokratie bietet, voll bewußt ſind. Aber zu glauben, daß wir<lb/> deßwegen von dieſer ländlichen Agitation abſtehen würden, wäre<lb/> ſehr verfehlt, und ich kann Ihnen im Vertrauen ſagen, daß, wenn<lb/> wir erſt das nöthige Material aus allen Ecken und Enden Deutſch-<lb/> lands für dieſe Agitation zuſammengetragen haben werden, wir<lb/> eine kräſtige Agitation auf dem Lande in Scene ſetzen<lb/> werden, die, nach meiner Ueberzeugung, Thatſachen ans<lb/> Tageslicht bringen wird, wie man ſie am Ende des<lb/> 19. Jahrhunderts in Deutſchland nicht für möglich halten ſollte.<lb/> Für die ländliche Agitation tragen wir jetzt alles Material zu-<lb/> ſammen und es wird ſich zeigen, was dabei herauskommt. Die<lb/> Zunahme der ſocialdemolratiſchen Stimmen auf dem Lande,<lb/> z. B. in Sachſen, in Mecklenburg, wo 4 ſocialdemokratiſche<lb/> Candidaten in die Stichwahl gekommen ſind, beweist, daß die<lb/> Socialdemolratie nicht mehr auf die Städte beſchränkt iſt.<lb/> Hr. v. Frege behauptet, wir zerſtörten Religion und Sittlichkeit;<lb/> für die Herren iſt Religien und Sittlichkeit dasſelbe, man kann<lb/> aber ohne Religion ſehr ſittlich ſein. Ich würde es mit der<lb/> Sittlichkeit nicht vereinbarlich finden, für Agrarzölle, Brenner- und<lb/> Zuckerprämien einzutreten. (Sehr richtig! links.) Auf einer<lb/> Synedalverſammlung in Grimma ſprach ein conſervativer Herr<lb/> v. Wächter über die Arbeiterverhältniſſe auf dem Lande und<lb/> bezeichnete für den weiblichen Theil der ländlichen Bevölkerung die<lb/> Herren Gutsbeſitzer, ihre Beamten und die Officiere als<lb/> ſehr gefährlich. (Widerſpruch rechts.) Atheismus iſt keine<lb/> ſocialdemokratiſche Erfindung; ihm huldigten namentlich die<lb/> franzöſiſche Ariſtokratie im vorigen Jahrhundert und die Republicaner<lb/> begründeten die Einſetzung des höchſten Weſens damit,<lb/> daß der Atheismus eine ariſtokratiſche Erfindung ſei, während der<lb/> Glaube an das höchſte Weſen der menſchlichen Ratur entſpreche.<lb/> Die Vergantungsſtatiſtik von Bayern zeigt, daß gerade der kleine<lb/> Landwirth belaſtet iſt, daß ihm die ganze Agrarpolitik gar nichts<lb/> geholfen hat. Daß die Gelreidezölle mehr dem kleinen als dem<lb/> großen Landwirth zugute kommen, iſt unwahr. Die Anbaufläche<lb/> für Getreide beträgt für die 2 Proc. Beſitzer, welche mehr als<lb/> 50 Hektar haben, das 2½fache deſſen, was die übrigen 98 Proc.<lb/> mit Getreide bebauen. Die Bauern werden nach und nach aus-<lb/> gekauft, um den Großgrundbeſitz zu arrondiren. Ich erinnere an<lb/> den Fürſten Bismarck, an den Grafen Schönburg, welche hohe<lb/> Preiſe für Grund und Boden zahlen und denſelben nachher nicht<lb/> als Acker behalten, ſondern in Wald verwandeln. Grund und<lb/> Boden iſt eben die ſicherſte Capitalanlage. Die geſammte übrige<lb/> Bevölkerung leidet unter den Getreidezöllen, denn gerade die<lb/> ärmeren Claſſen tragen hauptſächlich dieſe indirecten Steuern. Wir<lb/> haben nur 6 Proc. der Bevölkerung mit einem Einkommen über 1500 M.<lb/> Es iſt doch natürlich, daß die übrigen 94 Procent die Hauptlaſt<lb/> tragen. Zu welchen Praktiken verſührt nicht das Zollſyſtem die<lb/> Grenzbevölkerung, um billiges Mehl und Brod von jenſeits der<lb/> Grenze zu holen! Es kommen auf aus den Getreidezöllen 100,<lb/> aus dem Kaffeezoll 45¼, der Salzſteuer 21, der Branntweinſteuer<lb/> 129, der Bierſteuer 23, den Viehzöllen 5½, den Reiszöllen 3¼,<lb/><cb/> dem Häringszoll 3½ und aus der Zuckerſteuer 61 Mill. M. vor-<lb/> nehmlich von den ärmeren Claſſen der Bevölkerung. Die Steuern<lb/> können nicht entbehrt werden, aber es ſollen diejenigen am meiſten<lb/> ſteuern, welche Beſitzende ſind, welche von dem Schutze des Staates<lb/> in erſter Linie Vortheil haben. Dieſe ganze Politik der indirecten<lb/> Steuern iſt eine Politik der Reichen gegen die Armen. Es ſollen<lb/> nur recht viel Ueberſchüſſe an die Einzelſtaaten abgeführt werden<lb/> und die Einkommenſteuer ſoll nur dazu dienen, dieſe Ueberſchüſſe<lb/> noch zu ergänzen, denn die weniger Steuerkräftigen werden durch-<lb/> aus nicht entlaſtet. Hrn. Windthorſt kann ich ſagen, daß uns die<lb/> „Jungen“ in unſrer Partei fehr wenig Kopfſchmerzen machen;<lb/> die Mehrzahl ſteht auf unſrer Seite; täuſchen Sie ſich doch nicht<lb/> ſelbſt durch die Nachrichten von angeblichen Spaltungen<lb/> in der Partei! (Zuſtimmung bei den Socialdemokraten.)<lb/> Ich habe durchaus nicht, wie Hr. Windthorſt meinte, erklärt, daß<lb/> wir aus Furcht vor dem ſtehenden Heere die Gewalt vermeiden.<lb/> Ich bin der Meinung, daß jetzt andere Factoren für die Entwick-<lb/> lung maßgebend ſind. Die immer ſchneller folgenden Kriſen werden<lb/> den Mittelſtand zu Grunde richten und das Capital immer mehr<lb/> in einzelne Hände concentriren und dadurch wird die große Mehr-<lb/> heit endlich einmal gezwungen ſein, ohne Gewalt die Geſellſchafts-<lb/> ordnung umzuſtürzen. Hr. Windthorſt hat vor dem Weiterſchreiten<lb/> auf dem Wege gewarnt, der mit der Invalidenverſicherung betreten<lb/> worden iſt. Wenn Sie auf dieſem Wege nicht weiter gehen, dann<lb/> werden Sie überhaupt nicht mit uns fertig werden. (Sehr richtig!<lb/> links.) Hr. Windthorſt hat früher nur ſchweren Herzens für die<lb/> Ausgaben für Oſtafrika geſtimmt, nur wegen der dort zu voll-<lb/> endenden Culturaufgabe. Jetzt hoſſe er ſchon auf die Zukunft<lb/> Oſtafrika’s und ſpricht vom Eiſenbahnbau, ohne an die Koſten zu<lb/> denken. Er wird doch wohl ſelbſt nicht hoſſen, daß eine große<lb/> Anzahl von Europamüden dort hingehen wird. (Während der<lb/> folgenden Rede erſcheint der <hi rendition="#g">Reichskanzler</hi> am Bundesrathstiſche.)</quote> </cit><lb/> <p>Abg. <hi rendition="#b">Windthorſt:</hi></p> <cit> <quote>Was wir für die Colonialpolitik bewil-<lb/> ligt haben, diente hauptſächlich der Bekämpfung der Sklavenjagden<lb/> und des Sklavenhandels. Wenn wir aber eine Verbindung mit<lb/> den afrikaniſchen Seen herſtellen können, werden wir ein Land er-<lb/> öffnen, in dem ſegensreiche Anſiedelungen möglich ſind. Erſt geſtern<lb/> ſagte mir ein aus Afrika gekommener Reiſender: Sobald nur erſt<lb/> die nothwendige Sicherheit und Ruhe vorhanden iſt, würden die<lb/> Anſiedler ſchon in Maſſen kommen. Ich hoffe, daß nach den Er-<lb/> klärungen von Wiſſmann wir auf dem betretenen Wege fortſchreiten<lb/> und auch erhebliche Handelsbeziehungen erreichen können, die uns<lb/> nützlich ſein werden. Geſtern habe ich übrigens keine Bewilligung<lb/> ausgeſprochen, ſondern ſogar empfohlen, die Colonialfrage in einer<lb/> beſonderen Commiſſion zu berathen. Wenn der Abg. Bebel mir darin<lb/> folgen will, den Miſſionen freie Bahn zu ſchaffen, ſo werden wir<lb/> humane Zwecke fördern können. Wenn ich das Alters- und<lb/> Invaliditätsgeſetz geſtern als nützlich für die Arbeiter hingeſtellt<lb/> haben ſoll, ſo war mein Gedankengang einfach der, daß es aller-<lb/> dings für die Arbeiter nützlich ſein müſſe, wenn ſie für den Fall<lb/> der Invalidität oder des Alters eine Verſorgung bekämen. Davon<lb/> verſchieden iſt aber der Standpunkt, den ich bei der Berathung des<lb/> Geſetzes eingenommen habe und noch einnehme: daß Alles, was<lb/> den Staatszuſchuß betrifft, die Ausführung eines ſocialdemokrati-<lb/> ſchen Gedankens ſei. Dieſe Bahn hätten wir nicht betreten ſollen.<lb/> Ich begreife, daß der ſcharf denkende College Bebel an dem Punkt<lb/> einſetzt und ſagt: „Der Weg geht nach unſrer Richtung und<lb/> inſofern begrüßen wir das Geſetz, wenn es uns ſonſt auch nicht<lb/> Genügendes leiſtet.“ Weil er uns dies mit ſolcher Klarheit ſagt<lb/> und wir den Fehler einſehen, wollen wir ihn nicht weiter machen,<lb/> ſondern uns mit dem Geſetz, wie es iſt, begnügen. Heben wir<lb/> das Geſetz nicht auf, ſo müſſen wir Alle dahin wirken, daß es in<lb/> möglichſt guter Weiſe eingeführt wird. Der Abg. Bebel erklärt<lb/> die heutige Geſellſchaftsordnung für unhaltbar und hat auch mit<lb/> großem Geſchick manche ernſte Mängel nachgewieſen, aber dieſe<lb/> Mängel liegen nicht in der Geſellſchaftsordnung ſelbſt, ſondern<lb/> nur darin, daß die an ſich richtige Geſellſchaftsordnung von Vielen<lb/> nicht richtig erkannt und gebraucht wird, ſo daß Alle Urſache<lb/> haben, ſich an die Bruſt zu ſchlagen und zu ſagen: <hi rendition="#aq">Mea culpa!</hi><lb/> Hoch und Niedrig hat aufzupaſſen, ob man nicht durch die Art<lb/> und Weiſe, wie man die Güter, die man bekommen hat, gebraucht,<lb/> Aergerniß erregt und dazu beiträgt, daß die weniger gut Ge-<lb/> ſtellten finden, es wäre Wandel zu ſchaffen. Hr. Bebel hat das<lb/> beſtehende Zoll- und Steuerſyſtem als fehlekhaft bezeichnet, ohne<lb/> uns ſeinerſeits Neues vorzuſchlagen. Was ſoll denn geſchehen?<lb/> (Zuruf: Abſchaffen!) Hr. Bebel hat doch ſelbſt anerkannt, daß der<lb/> Staat Geld gebraucht, da kann man doch die Steuern nicht<lb/> einfach abſchaffen! Wenn die Socialdemokraten auf das Land gehen,<lb/> werden ſie ſchlechte Geſchäfte machen, wenn Sie ſagen, daß alle<lb/> Seligkeit auf Erden zu finden iſt, daß es kein Jenſeits gibt. Wenn<lb/> die Herren das nicht ſagen, dann werden wir den Bauern<lb/> ſagen, was die eigentliche Meinung der Socialdemokraten iſt.<lb/> Deßhalb hätten die Regierungen alle Urſache, für die Aufrecht-<lb/> haltung der Religion zu ſorgen und nicht ſolche Schulgeſetze zu<lb/> machen, durch welche die Religion aus der Schule getrieben wird.<lb/> (Heiterkeit links.) Daß die Socialdemokraten keine Gewalt an-<lb/> wenden wollen, freut mich; denn gegen Gewalt würde Gewalt<lb/> geſetzt werden; ſo lange ſie überhaupt den Gedanken nähren, daß<lb/> ſie Gewalt gebrauchen könnten, ſo lange wird ihnen in ähnlicher<lb/> Weiſe begegnet werden. So lange Hr. Bebel nicht ſeine neue<lb/> Staats- und Geſellſchaftsordnung und ſein Steuerbudget uns vor-<lb/> legt, ſo lange müſſen wir ihm ſagen, daß alle ſeine Reden nichts<lb/> als die reine Agitation enthalten. Ich bin kein Lobredner der<lb/> Lebensmittelzölle, aber wir können ſie nicht entbehren, ſo lange<lb/> wir kein anderes Schutzmittel für die Landwirthſchaft haben.<lb/> Kommt denn der Schutz der nationalen Arbeit nicht auch den Ar-<lb/> beitern auf dem Lande und in den Städten zu ſtatten? Durch<lb/> das Schutzzollſyſtem hat ſich unſer ganzes wirthſchaftliches Leben<lb/> neu geſtaltet, und wenn man jetzt da hinein greiſt, ſo zerſtört man,<lb/> was ſich jetzt gebeſſert hat. Es wird ſich ja vielleicht nothwendig<lb/> machen, einzelne Zölle, auch die Getreidezölle herabzuſetzen, zu er-<lb/> mäßigen in Folge von Handelsverträgen, die wir abſchließen. Aber<lb/> wir haben keinen Anlaß, ohne weiteres unſre Zölle zu ermäßigen<lb/> und dadurch unſre heimiſche Induſtrie und Landwirthſchaft zu<lb/> ſchädigen. (Beifall.)</quote> </cit><lb/> <p>Abg. <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">Dr.</hi> Bamberger:</hi></p> <cit> <quote>Als <hi rendition="#aq">captatio benevolentiae</hi><lb/> ſchicke ich voraus, daß ich den beiden Vorrednern nicht in alle die<lb/> Fragen des Himmels und der Erde zu folgen gedenke, mit denen<lb/> ſie den Etat beleuchten zu müſſen glaubten. Ich würde überhaupt<lb/> nicht ſprechen, wenn mir nicht eine Aeußerung vom Regierungs-<lb/> tiſch die Pflicht auferlegte, Klarheit über den Gegenſtand dieſer<lb/> Aeußerung zu ſchaffen. Der Herr Reichskanzler hat geſtern eine<lb/> Rede des öſterreichiſchen Abg. v. Plener citirt, und zwar mit der<lb/> ausdrücklichen Bemerkung, daß er nur aus dem Gedächtniß citire,<lb/> alſo für die Genauigkeit des Textes nicht einſtehn könne, um<lb/> damit die Abgg. Rickert und Richter wegen ihrer Aeußerungen über<lb/> dieſe Frage einigermaßen zurechtzuweiſen. Wenn der Herr Reichskanzler<lb/> inzwiſchen Muße gefunden hat, die Reden der Abg. Richter und<lb/> v. Plener näher einzuſehen, ſo wird er gewiß zugeben, daß er ſich<lb/> in Bezug auf beide vollſtändig geirrt hat. Denn auf wen beruſt<lb/> ſich der Abg. v. Plener in ſeinem Appell an Oeſterreich, daß es<lb/><cb/> durchaus nicht nöthig habe, Deutſchland Conceſſionen zu machen?<lb/> Etwa auf die Freihandelspartei, auf die Freiſinnigen, auf die<lb/> Socialdemokraten? Nach dem Bericht der Münchener Allgemeinen<lb/> Zeitung, dem ausführlichſten, den ich gefunden, ſagt Hr.<lb/> v. Plener, Oeſterreich ſei hierbei in einer günſtigen Lage.<lb/> In Deutſchland ſei die frühere Coalition der Großgrundbeſitzer<lb/> und der Großinduſtriellen, die als Cartellparteien die Reichstags-<lb/> mehrheit bildeten, gelöst. Richt auf <hi rendition="#g">unſre</hi> Seite, auf <hi rendition="#g">jene</hi><lb/> Seite des Hauſes beruſt er ſich. (Sehr richtig! Links.) Er mag<lb/> ja falſch berichtet ſein. Leider hat er ja nicht recht. Die Herren<lb/> ſind dem Pact, den ſie 1878 geſchloſſen haben, der Nation ge-<lb/> meinſam das Fell über die Ohren zu ziehen (große Unruhe rechts),<lb/> treuer geblieben, als wir wünſchen können. Richt auf die frei-<lb/> ſinnige Bewegung gegen dieſes Zollſyſtem ſtützte ſich Hr. v. Plener,<lb/> ſondern er berief ſich darauf, daß er glaubt, es rege ſich bei den<lb/> Induſtriellen in dem Sinne, daß in Zukunft die Induſtrie nicht<lb/> mehr die ſchwere agrariſche Belaſtung tragen könne. Noch mehr<lb/> hat ſich der Hr. Reichskanzler geirrt in der Annahme, der Abg.<lb/> Richter wolle dem Hrn. v. Plener in Oeſterreich Vorſchub leiſten<lb/> in ſeiner Anſicht, daß ein ſolcher Vertrag auf alle Fälle von<lb/> Deutſchland angenommen werden müſſe. Plener verlangt gar<lb/> nicht, daß Oeſterreich alle möglichen Conceſſionen ohne Gegen-<lb/> ſeitigkeit von uns beanſprucht; er legt den Nachdruck auf etwas<lb/> ganz Befonderes, indem er ſagt, die öſterreichiſchen Unter-<lb/> händler müßten beſtrebt ſein, öſterreichiſcherſeits Conceſſionen<lb/> erſt für differentielle Begünſtigung der öſterreichiſchen land-<lb/> wirthſchaftlichen Ausfuhr zu gewähren. (Hört! Hört! Links.)<lb/> Wie das etwas ſchutzzöllneriſche Art iſt, hat er überhaupt den Mund in<lb/> dieſer Sache furchtbar voll genommen, ſich als Herrſcher der Situation<lb/> aufgeſpielt, dem Niemand widerſprechen kann, und die Monſtroſität<lb/> ausgeſprochen, deren ich, ehrlich geſprochen, eine deutſche Regierung<lb/> nicht für fähig halte: Deutſchland müſſe ſolche caudiniſche Be-<lb/> dingungen annehmen, daß es ſich Oeſterreich gegenüber in einem<lb/> Handelsvertrag verpflichte, Differentialzölle zu ſeinen Gunſten zu<lb/> ſtipuliren, das heißt mit anderen Worten: ſich die Hände zu<lb/> binden, daß diejenigen Vergünſtigungen im Zoll, die Oeſterreich<lb/> zugebilligt würden, anderen Nationen <hi rendition="#aq">pro futuro</hi> verweigert<lb/> werden müßten. Gegen dieſes monſtröſe Anſinnen iſt Hr. Richter<lb/> der deutſchen Regierung, wenn das noch nöthig wäre, zu Hülfe<lb/> gekommen, indem er ausführte, ſolche Differentialtarife würden ge-<lb/> eignet ſein, Repreſſalien herbeizuführen. Der Hr. Reichskanzler<lb/> wird mir alſo zugeben, daß er, weit entfernt, durch die Richter-<lb/> ſchen Ausführungen in ſeiner Poſition geſchwächt zu werden, ganz<lb/> einfach in den Verhandlungen mit Oeſterreich, wenn man wirklich<lb/> die Keckheit ſo weit treiben ſollte, uns zuzumuthen, ſolche Differen-<lb/> tialvergünſtigungen zu gewähren, ſagen könnte: Hier iſt aus der<lb/> Oppoſition des Reichstags heraus ein ſehr entſchiedener Ausſpruch<lb/> gefallen, und ich glaube, wie die Dinge im Reichstage liegen, daß<lb/> wir damit im Reichstage abgeſehen davon, daß wir ſelbſt nicht geneigt<lb/> ſind, dies zu gewähren, keine Ausſicht haben durchzudringen.<lb/> Im übrigen iſt es ja auch für die Reichsregierung wichtig, zu<lb/> wiſſen, mit welcher Mehrheit ſie in der Zukunft in dieſen Dingen<lb/> wird zu rechnen haben. (Sehr richtig! links.) Handelsverträge<lb/> können hier ja, wie alle internationalen Verträge, nicht discutirt<lb/> und amendirt werden; ſie ſind anzunehmen oder abzulehnen. Eine<lb/> Regierung muß alſo, wenn ſie einen ſolchen Vertrag ſchließt, ſich<lb/> ungefähre Rechenſchaft davon geben können, was ſie zu erwarten<lb/> hat, wenn ſie an ihre geſetzgebende Volksvertretung herantritt.<lb/> Wir würden deßhalb unſre Pflicht entſchieden verſäumen, wenn<lb/> wir mit unſern Anſichten in dieſer Beziehung zurückhalten wollten.<lb/> Ich glaube es im Namen meiner Freunde ausſprechen zu dürfen,<lb/> und ich vertraue, dieſe Anſchauung herrſcht ſogar im Schoße der<lb/> verbündeten Regierungen: wenn uns ein Handelsvertrag mit<lb/> Oeſterreich vorgelegt wird, der uns zu Differentialzöllen verpflichtet,<lb/> er mag ſonſt Vortheile bringen, welche er wolle, ſo werden wir<lb/> einen ſolchen Vertrag nicht annehmen. (Sehr richtig! links.) Ich<lb/> will mit dem Hrn. Reichskanzler nicht rechten, daß er den Ab-<lb/> geordneten Richter und Rickert in ihren beinahe ſchüchternen Be-<lb/> merkungen etwas ſcharf auf den Leib gegangen iſt. Ich begreife<lb/> es, daß er gerade bei dieſen Verhandlungen ein bißchen nervös<lb/> iſt. Das Gebiet iſt ihm neu; er hat uns ſelbſt früher einmal er-<lb/> zählt, daß er bei Gelegenheit der colonialen Aufgaben ſich durch<lb/> den Wuſt von Colonialbüchern hätte durcharbeiten müſſen.<lb/> Zu meinem Bedauern fürchte ich, er muß ſich auch mit dieſen un-<lb/> zähligen handelspolitiſchen Arbeiten quälen und ſich darüber eine<lb/> nähere Einſicht verſchaffen. Wir wiſſen ja, daß er nicht aus<lb/> perſönlichem Intereſſe, ich glaube das ohne Schmeichelei ſagen<lb/> zu können, ſondern aus Pflichtgefühl dem Rufe ſeines Monarchen<lb/> gefolgt iſt und die ſchwere Laſt des Amtes auf ſich genommen hat,<lb/> das er hier auch uns gegenüber auszuüben hat. Ich verlange<lb/> alſo auch nicht von ihm, daß er ſo eingeweiht in dieſe Dinge ſei,<lb/> wie wir, die wir theilweiſe ſeit 30, 40 Jahren uns mit allen dieſen<lb/> Dingen abgeben. Ich verlange nur ein bischen Billigkeit, wogegen ich<lb/> gerne zugeben will, daß die Schwierigkeit der Lage auch eine gewiſſe<lb/> Empfindlichkeit rechtfertigen mag. Es iſt überhaupt ſehr ſchwer, daß zwei<lb/> ſchutzzöllneriſche Regierungen ſich über einen Handelsvertrag mit einander<lb/> verſtändigen (Heiterkeit links), und heute doppelt ſchwer, nachdem unter<lb/> der früheren Regierung dieſe Dinge ſchon ſo lange Zeit in eine ſo be-<lb/> klagenswerthe Stagnation gerathen ſind. Wir haben uns beinahe im-<lb/> mer negativ verhalten in der ganzen Handelspolitik ſeit der Aenderung<lb/> des Tariffyſtems; der Anſtoß iſt immer von der andern Seite gekommen.<lb/> Wir haben uns immer darauf beſchränkt, immer mehr Tarif-<lb/> beſtimmungen aus den Handelsverträgen herausfallen zu laſſen, ſo<lb/> daß in Oeſterreich, das uns ja ſo nahe ſteht, ſchließlich das ganze<lb/> Handelsverhältniß auf die Nichtigkeit und Hohlheit eines bloßen<lb/> Meiſtbegünſtigungsvertrages herabgeſunken iſt. Nachdem die Dinge<lb/> ſeit Jahren ſo in Verſumpfung gerathen ſind, iſt es natürlich doppelt<lb/> ſchwer, jetzt Verhandlungen zu führen. Ich begreife, daß die Re-<lb/> gierung fürchtet, es könne ihr ſchaden, wenn wir ihr etwas leicht-<lb/> ſinnig in die Parade fahren würden, was aber unſerſeits durchaus<lb/> nicht geſchieht. Wir wünſchen ja vielleicht mehr, als alle anderen<lb/> Fractionen, daß ein Handelsvertrag zu Stande kommt. Wenn<lb/> wir das ſagen, würden wir uns eigentlich verſündigen gegen die<lb/> Regierung, welche glaubt, man dürfe nicht laut werden laſſen,<lb/> daß man die Sache wünſcht, um die Verhandlungen nicht zu er-<lb/> ſchweren. Bekanntlich ſchließt Niemand beſſer ein Geſchäft ab, als<lb/> wenn er ſagt: Es liegt mir nichts daran; wenn Du es mir nicht<lb/> geben willſt, ſo gehe Deiner Wege. Ein correctes Still-<lb/> ſchweigen würde alſo die beſten Dienſte leiſten nach der Auf-<lb/> faſſung, daß man die Regierung allein gehen laſſen müſſe.<lb/> Das geſchieht aber nicht. Auch Hr. Windthorſt erklärt, er wünſche<lb/> den Handelsvertrag ſehr, und ſelbſt der Abg. v. Frege, obwohl er<lb/> ein hartgefrorener Schutzzöllner iſt, kann nicht umhin, einige tief-<lb/> gefühlte Worte zu ſagen, wie ſehr er wünſche, daß ein Handels-<lb/> vertrag zu Stande komme, und alle deutſchen Handelskammern<lb/> ſind ſeit Jahren voll von Manifeſtationen in demſelben Sinne.<lb/> Gerade darin, wenn ſich ſo eine <hi rendition="#aq">communis opinio</hi> bildet: um<lb/> Gotteswillen nur keinen Handelsvertrag! ſo ſehe ich für einen Handels-<lb/> vertrag, der mehr ſein ſoll als bloßer Schall und Rauch, eine Ge-<lb/> fahr, daß man zuletzt auf etwas eingeht, was wirklich nur inhalt-<lb/> loſes, ſchattenhaſtes Weſen iſt. Ein Handelsvertrag ſoll für<lb/></quote> </cit> </div> </div> </body> </floatingText> </p> </div> </body> </text> </TEI> [0005]
Freitag, Zweites Morgenblatt, Nr. 344 der Allgemeinen Zeitung. 12. December 1890.
Inhalts-Ueberſicht.
Deutſcher Reichstag. — Die Schulreform-Confrerenz in
Berlin.
Handel und Volkswirthſchaft.
Deutſcher Reichstag.
Telegraphiſcher Privatbericht der Allg. Ztg.
39. Sitzung.
⎈ Berlin, 11. Dec. Die Sitzung wird um 1 Uhr
eröffnet. Am Tiſche des Bundesraths: v. Caprivi, v. Boetticher,
v. Maltzahn, Hollmann u. A. Die erſte Etatsberathung
wird fortgeſetzt.
Abg. Bebel:
Die erregte Art und Weiſe, in der die Abgg.
Windthorſt und v. Frege geſtern meine Angriffe auf das beſtebende
Steuer- und Zollſyſtem beantworteten, hat den Eindruck gemacht,
als wenn die Herren felbſt fühlten, daß ſie ihrer Sache nicht mehr
ganz ſicher ſind, und ſie für gefährdet hielten. An die Annahme
des von unſrer und deutſchfreiſinniger Seite geſtellten Antrags auf
Beſeitigung, bezw. Ermäßigung der Zölle iſt danach nicht mehr zu
denken. Ich bin aber überzeugt, daß, wenn dieſe Frage heute wie
vor dreiviertel Jahren der Wählerſchaft vorgelegt würde, das Re-
ſultat der Wahl noch ein ganz anderes ſein würde, als am
20. Februar d. J. Die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung will
von der bisherigen Steuer- und Zollpolitik nichts wiſſen. Man
hat behauptet, daß die Agrarzölle nothwendig ſeien, weil ſie dem
kleinen Bauer und dem ländlichen Arbeiter von Vortheil ſeien. Dem
widerſpricht die Thatſache, daß die ländlichen Arbeiter in großen
Schaaren nach den Städten hin drängen und daß die Agrarier
ſelbſt in ihren Verſammlungen und Congreſſen fortgeſetzt die
Mittel und Wege beſprechen, dieſem Drängen Einhalt zu thun.
Die ſogenannte Sachfengängerei iſt ein Beweis, daß die ländlichen
Arbeiter ſich zu Hauſe nicht wohl fühlen. Dieſer Zug iſt ſo charak-
teriſtiſch, daß er in der Volkszählung zum klarſten Ausdruck ge-
kommen iſt. Von 1875 bis 1885 hat die ſtädtiſche Bevöllerung
in Preußen 20 Procent, die ländliche nur 4,8 Procent zugenommen.
In Pommern, alſo einer agrariſchen Provinz, hat die Bevölkerung
0,7 Procent abgenommen. Aber ſelbſt in denjenigen deutſchen
Landestheilen, in denen der kleine Grundbeſitz beinahe ausſchließ-
lich dominirt, z. B. in Heſſen-Raſſau, hat die Bevölterungszunahme
nur 2,9 Procent betragen. Die letzte Vollszählung wird wahr-
ſcheinlich noch ungünſtigere Reſultate aufweiſen. In der frucht-
baren Oſt- und Weſtpriegnitz betrug die ländliche Bevölkerung 1865
100,000 Seelen, 1885 nur noch 85,000 Seelen. Geſtern erhielt
ich aus dem Leobſchützer Kreiſe einen Brief, worin ich gebeten
wurde, hier mitzutheilen, in welcher geradezu unglaublichen Lage
ſich die dortige Arbeiterhevölkerung in dieſem meiſt dem Groß-
grundbeſitz verfallenen Kreiſe befindet. Seit dem 1. October
erhielten die Arbeiter täglich, ausſchließlich der Koſt, 40 Pf.,
im Sommer 60 Pf. Allerdings ſind einige Fetzen Land da-
bei und Wohnungen, aber welche Wohnungen! 1872 auf der Con-
ferenz der ländlichen Arbeitgeber in Berlin erklärte Hr. v. Goeben,
zahlreiche Großgrundbeſitzer machten für ihre Schweineſtälle größere Auf-
wendungen, als für die Arbeiter. Im Wahlkreiſe des Hrn. v. Kardorff
erhielten die Arbeiter täglich 50 Pf. im Winter, 75 Pf. im Sommer.
Die Wohnungen im Leobſchützer Kreiſe ſind ſo niedrig, daß es ein
Wunder iſt, daß Amtsvorſteher und Polizei derartige Wohnungen
überhaupt zuließen. Im Oſten iſt es nicht anders. Nach dem
Bericht eines Medicinalbeamten in Gumbinnen iſt die Entſtehung
von Infectionskrankheiten auf den deſolaten Zuſtand der länd-
lichen Wohnungen zurückzuführen. Dieſe Zuſtände erwecken die
Unzufriedenheit der Arbeiter und erzeugen eine förmliche Völker-
wanderung. Der Oſten zieht nach dem Weſten und nach den
Induſtriebezirken. Hr. v. Frege hat mit einer Art von Hohn ge-
ſagt, wir hätten zwar die Agitation unter den ländlichen Arbeitern
angelündigt, aber wir ſchienen doch dabei einen Stein des An-
ſtoßes zu finden, wie gewiſſe Aeußerungen des „Berliner Volks-
blattes“ darthäten. Ständen ſolche Aeußerungen wirklich in
jenem Blatte, ſo würde das nur beweiſen, daß wir uns allerdings
der Schwierigkeiten, welche die ländliche Agitation für die Social-
demokratie bietet, voll bewußt ſind. Aber zu glauben, daß wir
deßwegen von dieſer ländlichen Agitation abſtehen würden, wäre
ſehr verfehlt, und ich kann Ihnen im Vertrauen ſagen, daß, wenn
wir erſt das nöthige Material aus allen Ecken und Enden Deutſch-
lands für dieſe Agitation zuſammengetragen haben werden, wir
eine kräſtige Agitation auf dem Lande in Scene ſetzen
werden, die, nach meiner Ueberzeugung, Thatſachen ans
Tageslicht bringen wird, wie man ſie am Ende des
19. Jahrhunderts in Deutſchland nicht für möglich halten ſollte.
Für die ländliche Agitation tragen wir jetzt alles Material zu-
ſammen und es wird ſich zeigen, was dabei herauskommt. Die
Zunahme der ſocialdemolratiſchen Stimmen auf dem Lande,
z. B. in Sachſen, in Mecklenburg, wo 4 ſocialdemokratiſche
Candidaten in die Stichwahl gekommen ſind, beweist, daß die
Socialdemolratie nicht mehr auf die Städte beſchränkt iſt.
Hr. v. Frege behauptet, wir zerſtörten Religion und Sittlichkeit;
für die Herren iſt Religien und Sittlichkeit dasſelbe, man kann
aber ohne Religion ſehr ſittlich ſein. Ich würde es mit der
Sittlichkeit nicht vereinbarlich finden, für Agrarzölle, Brenner- und
Zuckerprämien einzutreten. (Sehr richtig! links.) Auf einer
Synedalverſammlung in Grimma ſprach ein conſervativer Herr
v. Wächter über die Arbeiterverhältniſſe auf dem Lande und
bezeichnete für den weiblichen Theil der ländlichen Bevölkerung die
Herren Gutsbeſitzer, ihre Beamten und die Officiere als
ſehr gefährlich. (Widerſpruch rechts.) Atheismus iſt keine
ſocialdemokratiſche Erfindung; ihm huldigten namentlich die
franzöſiſche Ariſtokratie im vorigen Jahrhundert und die Republicaner
begründeten die Einſetzung des höchſten Weſens damit,
daß der Atheismus eine ariſtokratiſche Erfindung ſei, während der
Glaube an das höchſte Weſen der menſchlichen Ratur entſpreche.
Die Vergantungsſtatiſtik von Bayern zeigt, daß gerade der kleine
Landwirth belaſtet iſt, daß ihm die ganze Agrarpolitik gar nichts
geholfen hat. Daß die Gelreidezölle mehr dem kleinen als dem
großen Landwirth zugute kommen, iſt unwahr. Die Anbaufläche
für Getreide beträgt für die 2 Proc. Beſitzer, welche mehr als
50 Hektar haben, das 2½fache deſſen, was die übrigen 98 Proc.
mit Getreide bebauen. Die Bauern werden nach und nach aus-
gekauft, um den Großgrundbeſitz zu arrondiren. Ich erinnere an
den Fürſten Bismarck, an den Grafen Schönburg, welche hohe
Preiſe für Grund und Boden zahlen und denſelben nachher nicht
als Acker behalten, ſondern in Wald verwandeln. Grund und
Boden iſt eben die ſicherſte Capitalanlage. Die geſammte übrige
Bevölkerung leidet unter den Getreidezöllen, denn gerade die
ärmeren Claſſen tragen hauptſächlich dieſe indirecten Steuern. Wir
haben nur 6 Proc. der Bevölkerung mit einem Einkommen über 1500 M.
Es iſt doch natürlich, daß die übrigen 94 Procent die Hauptlaſt
tragen. Zu welchen Praktiken verſührt nicht das Zollſyſtem die
Grenzbevölkerung, um billiges Mehl und Brod von jenſeits der
Grenze zu holen! Es kommen auf aus den Getreidezöllen 100,
aus dem Kaffeezoll 45¼, der Salzſteuer 21, der Branntweinſteuer
129, der Bierſteuer 23, den Viehzöllen 5½, den Reiszöllen 3¼,
dem Häringszoll 3½ und aus der Zuckerſteuer 61 Mill. M. vor-
nehmlich von den ärmeren Claſſen der Bevölkerung. Die Steuern
können nicht entbehrt werden, aber es ſollen diejenigen am meiſten
ſteuern, welche Beſitzende ſind, welche von dem Schutze des Staates
in erſter Linie Vortheil haben. Dieſe ganze Politik der indirecten
Steuern iſt eine Politik der Reichen gegen die Armen. Es ſollen
nur recht viel Ueberſchüſſe an die Einzelſtaaten abgeführt werden
und die Einkommenſteuer ſoll nur dazu dienen, dieſe Ueberſchüſſe
noch zu ergänzen, denn die weniger Steuerkräftigen werden durch-
aus nicht entlaſtet. Hrn. Windthorſt kann ich ſagen, daß uns die
„Jungen“ in unſrer Partei fehr wenig Kopfſchmerzen machen;
die Mehrzahl ſteht auf unſrer Seite; täuſchen Sie ſich doch nicht
ſelbſt durch die Nachrichten von angeblichen Spaltungen
in der Partei! (Zuſtimmung bei den Socialdemokraten.)
Ich habe durchaus nicht, wie Hr. Windthorſt meinte, erklärt, daß
wir aus Furcht vor dem ſtehenden Heere die Gewalt vermeiden.
Ich bin der Meinung, daß jetzt andere Factoren für die Entwick-
lung maßgebend ſind. Die immer ſchneller folgenden Kriſen werden
den Mittelſtand zu Grunde richten und das Capital immer mehr
in einzelne Hände concentriren und dadurch wird die große Mehr-
heit endlich einmal gezwungen ſein, ohne Gewalt die Geſellſchafts-
ordnung umzuſtürzen. Hr. Windthorſt hat vor dem Weiterſchreiten
auf dem Wege gewarnt, der mit der Invalidenverſicherung betreten
worden iſt. Wenn Sie auf dieſem Wege nicht weiter gehen, dann
werden Sie überhaupt nicht mit uns fertig werden. (Sehr richtig!
links.) Hr. Windthorſt hat früher nur ſchweren Herzens für die
Ausgaben für Oſtafrika geſtimmt, nur wegen der dort zu voll-
endenden Culturaufgabe. Jetzt hoſſe er ſchon auf die Zukunft
Oſtafrika’s und ſpricht vom Eiſenbahnbau, ohne an die Koſten zu
denken. Er wird doch wohl ſelbſt nicht hoſſen, daß eine große
Anzahl von Europamüden dort hingehen wird. (Während der
folgenden Rede erſcheint der Reichskanzler am Bundesrathstiſche.)
Abg. Windthorſt:
Was wir für die Colonialpolitik bewil-
ligt haben, diente hauptſächlich der Bekämpfung der Sklavenjagden
und des Sklavenhandels. Wenn wir aber eine Verbindung mit
den afrikaniſchen Seen herſtellen können, werden wir ein Land er-
öffnen, in dem ſegensreiche Anſiedelungen möglich ſind. Erſt geſtern
ſagte mir ein aus Afrika gekommener Reiſender: Sobald nur erſt
die nothwendige Sicherheit und Ruhe vorhanden iſt, würden die
Anſiedler ſchon in Maſſen kommen. Ich hoffe, daß nach den Er-
klärungen von Wiſſmann wir auf dem betretenen Wege fortſchreiten
und auch erhebliche Handelsbeziehungen erreichen können, die uns
nützlich ſein werden. Geſtern habe ich übrigens keine Bewilligung
ausgeſprochen, ſondern ſogar empfohlen, die Colonialfrage in einer
beſonderen Commiſſion zu berathen. Wenn der Abg. Bebel mir darin
folgen will, den Miſſionen freie Bahn zu ſchaffen, ſo werden wir
humane Zwecke fördern können. Wenn ich das Alters- und
Invaliditätsgeſetz geſtern als nützlich für die Arbeiter hingeſtellt
haben ſoll, ſo war mein Gedankengang einfach der, daß es aller-
dings für die Arbeiter nützlich ſein müſſe, wenn ſie für den Fall
der Invalidität oder des Alters eine Verſorgung bekämen. Davon
verſchieden iſt aber der Standpunkt, den ich bei der Berathung des
Geſetzes eingenommen habe und noch einnehme: daß Alles, was
den Staatszuſchuß betrifft, die Ausführung eines ſocialdemokrati-
ſchen Gedankens ſei. Dieſe Bahn hätten wir nicht betreten ſollen.
Ich begreife, daß der ſcharf denkende College Bebel an dem Punkt
einſetzt und ſagt: „Der Weg geht nach unſrer Richtung und
inſofern begrüßen wir das Geſetz, wenn es uns ſonſt auch nicht
Genügendes leiſtet.“ Weil er uns dies mit ſolcher Klarheit ſagt
und wir den Fehler einſehen, wollen wir ihn nicht weiter machen,
ſondern uns mit dem Geſetz, wie es iſt, begnügen. Heben wir
das Geſetz nicht auf, ſo müſſen wir Alle dahin wirken, daß es in
möglichſt guter Weiſe eingeführt wird. Der Abg. Bebel erklärt
die heutige Geſellſchaftsordnung für unhaltbar und hat auch mit
großem Geſchick manche ernſte Mängel nachgewieſen, aber dieſe
Mängel liegen nicht in der Geſellſchaftsordnung ſelbſt, ſondern
nur darin, daß die an ſich richtige Geſellſchaftsordnung von Vielen
nicht richtig erkannt und gebraucht wird, ſo daß Alle Urſache
haben, ſich an die Bruſt zu ſchlagen und zu ſagen: Mea culpa!
Hoch und Niedrig hat aufzupaſſen, ob man nicht durch die Art
und Weiſe, wie man die Güter, die man bekommen hat, gebraucht,
Aergerniß erregt und dazu beiträgt, daß die weniger gut Ge-
ſtellten finden, es wäre Wandel zu ſchaffen. Hr. Bebel hat das
beſtehende Zoll- und Steuerſyſtem als fehlekhaft bezeichnet, ohne
uns ſeinerſeits Neues vorzuſchlagen. Was ſoll denn geſchehen?
(Zuruf: Abſchaffen!) Hr. Bebel hat doch ſelbſt anerkannt, daß der
Staat Geld gebraucht, da kann man doch die Steuern nicht
einfach abſchaffen! Wenn die Socialdemokraten auf das Land gehen,
werden ſie ſchlechte Geſchäfte machen, wenn Sie ſagen, daß alle
Seligkeit auf Erden zu finden iſt, daß es kein Jenſeits gibt. Wenn
die Herren das nicht ſagen, dann werden wir den Bauern
ſagen, was die eigentliche Meinung der Socialdemokraten iſt.
Deßhalb hätten die Regierungen alle Urſache, für die Aufrecht-
haltung der Religion zu ſorgen und nicht ſolche Schulgeſetze zu
machen, durch welche die Religion aus der Schule getrieben wird.
(Heiterkeit links.) Daß die Socialdemokraten keine Gewalt an-
wenden wollen, freut mich; denn gegen Gewalt würde Gewalt
geſetzt werden; ſo lange ſie überhaupt den Gedanken nähren, daß
ſie Gewalt gebrauchen könnten, ſo lange wird ihnen in ähnlicher
Weiſe begegnet werden. So lange Hr. Bebel nicht ſeine neue
Staats- und Geſellſchaftsordnung und ſein Steuerbudget uns vor-
legt, ſo lange müſſen wir ihm ſagen, daß alle ſeine Reden nichts
als die reine Agitation enthalten. Ich bin kein Lobredner der
Lebensmittelzölle, aber wir können ſie nicht entbehren, ſo lange
wir kein anderes Schutzmittel für die Landwirthſchaft haben.
Kommt denn der Schutz der nationalen Arbeit nicht auch den Ar-
beitern auf dem Lande und in den Städten zu ſtatten? Durch
das Schutzzollſyſtem hat ſich unſer ganzes wirthſchaftliches Leben
neu geſtaltet, und wenn man jetzt da hinein greiſt, ſo zerſtört man,
was ſich jetzt gebeſſert hat. Es wird ſich ja vielleicht nothwendig
machen, einzelne Zölle, auch die Getreidezölle herabzuſetzen, zu er-
mäßigen in Folge von Handelsverträgen, die wir abſchließen. Aber
wir haben keinen Anlaß, ohne weiteres unſre Zölle zu ermäßigen
und dadurch unſre heimiſche Induſtrie und Landwirthſchaft zu
ſchädigen. (Beifall.)
Abg. Dr. Bamberger:
Als captatio benevolentiae
ſchicke ich voraus, daß ich den beiden Vorrednern nicht in alle die
Fragen des Himmels und der Erde zu folgen gedenke, mit denen
ſie den Etat beleuchten zu müſſen glaubten. Ich würde überhaupt
nicht ſprechen, wenn mir nicht eine Aeußerung vom Regierungs-
tiſch die Pflicht auferlegte, Klarheit über den Gegenſtand dieſer
Aeußerung zu ſchaffen. Der Herr Reichskanzler hat geſtern eine
Rede des öſterreichiſchen Abg. v. Plener citirt, und zwar mit der
ausdrücklichen Bemerkung, daß er nur aus dem Gedächtniß citire,
alſo für die Genauigkeit des Textes nicht einſtehn könne, um
damit die Abgg. Rickert und Richter wegen ihrer Aeußerungen über
dieſe Frage einigermaßen zurechtzuweiſen. Wenn der Herr Reichskanzler
inzwiſchen Muße gefunden hat, die Reden der Abg. Richter und
v. Plener näher einzuſehen, ſo wird er gewiß zugeben, daß er ſich
in Bezug auf beide vollſtändig geirrt hat. Denn auf wen beruſt
ſich der Abg. v. Plener in ſeinem Appell an Oeſterreich, daß es
durchaus nicht nöthig habe, Deutſchland Conceſſionen zu machen?
Etwa auf die Freihandelspartei, auf die Freiſinnigen, auf die
Socialdemokraten? Nach dem Bericht der Münchener Allgemeinen
Zeitung, dem ausführlichſten, den ich gefunden, ſagt Hr.
v. Plener, Oeſterreich ſei hierbei in einer günſtigen Lage.
In Deutſchland ſei die frühere Coalition der Großgrundbeſitzer
und der Großinduſtriellen, die als Cartellparteien die Reichstags-
mehrheit bildeten, gelöst. Richt auf unſre Seite, auf jene
Seite des Hauſes beruſt er ſich. (Sehr richtig! Links.) Er mag
ja falſch berichtet ſein. Leider hat er ja nicht recht. Die Herren
ſind dem Pact, den ſie 1878 geſchloſſen haben, der Nation ge-
meinſam das Fell über die Ohren zu ziehen (große Unruhe rechts),
treuer geblieben, als wir wünſchen können. Richt auf die frei-
ſinnige Bewegung gegen dieſes Zollſyſtem ſtützte ſich Hr. v. Plener,
ſondern er berief ſich darauf, daß er glaubt, es rege ſich bei den
Induſtriellen in dem Sinne, daß in Zukunft die Induſtrie nicht
mehr die ſchwere agrariſche Belaſtung tragen könne. Noch mehr
hat ſich der Hr. Reichskanzler geirrt in der Annahme, der Abg.
Richter wolle dem Hrn. v. Plener in Oeſterreich Vorſchub leiſten
in ſeiner Anſicht, daß ein ſolcher Vertrag auf alle Fälle von
Deutſchland angenommen werden müſſe. Plener verlangt gar
nicht, daß Oeſterreich alle möglichen Conceſſionen ohne Gegen-
ſeitigkeit von uns beanſprucht; er legt den Nachdruck auf etwas
ganz Befonderes, indem er ſagt, die öſterreichiſchen Unter-
händler müßten beſtrebt ſein, öſterreichiſcherſeits Conceſſionen
erſt für differentielle Begünſtigung der öſterreichiſchen land-
wirthſchaftlichen Ausfuhr zu gewähren. (Hört! Hört! Links.)
Wie das etwas ſchutzzöllneriſche Art iſt, hat er überhaupt den Mund in
dieſer Sache furchtbar voll genommen, ſich als Herrſcher der Situation
aufgeſpielt, dem Niemand widerſprechen kann, und die Monſtroſität
ausgeſprochen, deren ich, ehrlich geſprochen, eine deutſche Regierung
nicht für fähig halte: Deutſchland müſſe ſolche caudiniſche Be-
dingungen annehmen, daß es ſich Oeſterreich gegenüber in einem
Handelsvertrag verpflichte, Differentialzölle zu ſeinen Gunſten zu
ſtipuliren, das heißt mit anderen Worten: ſich die Hände zu
binden, daß diejenigen Vergünſtigungen im Zoll, die Oeſterreich
zugebilligt würden, anderen Nationen pro futuro verweigert
werden müßten. Gegen dieſes monſtröſe Anſinnen iſt Hr. Richter
der deutſchen Regierung, wenn das noch nöthig wäre, zu Hülfe
gekommen, indem er ausführte, ſolche Differentialtarife würden ge-
eignet ſein, Repreſſalien herbeizuführen. Der Hr. Reichskanzler
wird mir alſo zugeben, daß er, weit entfernt, durch die Richter-
ſchen Ausführungen in ſeiner Poſition geſchwächt zu werden, ganz
einfach in den Verhandlungen mit Oeſterreich, wenn man wirklich
die Keckheit ſo weit treiben ſollte, uns zuzumuthen, ſolche Differen-
tialvergünſtigungen zu gewähren, ſagen könnte: Hier iſt aus der
Oppoſition des Reichstags heraus ein ſehr entſchiedener Ausſpruch
gefallen, und ich glaube, wie die Dinge im Reichstage liegen, daß
wir damit im Reichstage abgeſehen davon, daß wir ſelbſt nicht geneigt
ſind, dies zu gewähren, keine Ausſicht haben durchzudringen.
Im übrigen iſt es ja auch für die Reichsregierung wichtig, zu
wiſſen, mit welcher Mehrheit ſie in der Zukunft in dieſen Dingen
wird zu rechnen haben. (Sehr richtig! links.) Handelsverträge
können hier ja, wie alle internationalen Verträge, nicht discutirt
und amendirt werden; ſie ſind anzunehmen oder abzulehnen. Eine
Regierung muß alſo, wenn ſie einen ſolchen Vertrag ſchließt, ſich
ungefähre Rechenſchaft davon geben können, was ſie zu erwarten
hat, wenn ſie an ihre geſetzgebende Volksvertretung herantritt.
Wir würden deßhalb unſre Pflicht entſchieden verſäumen, wenn
wir mit unſern Anſichten in dieſer Beziehung zurückhalten wollten.
Ich glaube es im Namen meiner Freunde ausſprechen zu dürfen,
und ich vertraue, dieſe Anſchauung herrſcht ſogar im Schoße der
verbündeten Regierungen: wenn uns ein Handelsvertrag mit
Oeſterreich vorgelegt wird, der uns zu Differentialzöllen verpflichtet,
er mag ſonſt Vortheile bringen, welche er wolle, ſo werden wir
einen ſolchen Vertrag nicht annehmen. (Sehr richtig! links.) Ich
will mit dem Hrn. Reichskanzler nicht rechten, daß er den Ab-
geordneten Richter und Rickert in ihren beinahe ſchüchternen Be-
merkungen etwas ſcharf auf den Leib gegangen iſt. Ich begreife
es, daß er gerade bei dieſen Verhandlungen ein bißchen nervös
iſt. Das Gebiet iſt ihm neu; er hat uns ſelbſt früher einmal er-
zählt, daß er bei Gelegenheit der colonialen Aufgaben ſich durch
den Wuſt von Colonialbüchern hätte durcharbeiten müſſen.
Zu meinem Bedauern fürchte ich, er muß ſich auch mit dieſen un-
zähligen handelspolitiſchen Arbeiten quälen und ſich darüber eine
nähere Einſicht verſchaffen. Wir wiſſen ja, daß er nicht aus
perſönlichem Intereſſe, ich glaube das ohne Schmeichelei ſagen
zu können, ſondern aus Pflichtgefühl dem Rufe ſeines Monarchen
gefolgt iſt und die ſchwere Laſt des Amtes auf ſich genommen hat,
das er hier auch uns gegenüber auszuüben hat. Ich verlange
alſo auch nicht von ihm, daß er ſo eingeweiht in dieſe Dinge ſei,
wie wir, die wir theilweiſe ſeit 30, 40 Jahren uns mit allen dieſen
Dingen abgeben. Ich verlange nur ein bischen Billigkeit, wogegen ich
gerne zugeben will, daß die Schwierigkeit der Lage auch eine gewiſſe
Empfindlichkeit rechtfertigen mag. Es iſt überhaupt ſehr ſchwer, daß zwei
ſchutzzöllneriſche Regierungen ſich über einen Handelsvertrag mit einander
verſtändigen (Heiterkeit links), und heute doppelt ſchwer, nachdem unter
der früheren Regierung dieſe Dinge ſchon ſo lange Zeit in eine ſo be-
klagenswerthe Stagnation gerathen ſind. Wir haben uns beinahe im-
mer negativ verhalten in der ganzen Handelspolitik ſeit der Aenderung
des Tariffyſtems; der Anſtoß iſt immer von der andern Seite gekommen.
Wir haben uns immer darauf beſchränkt, immer mehr Tarif-
beſtimmungen aus den Handelsverträgen herausfallen zu laſſen, ſo
daß in Oeſterreich, das uns ja ſo nahe ſteht, ſchließlich das ganze
Handelsverhältniß auf die Nichtigkeit und Hohlheit eines bloßen
Meiſtbegünſtigungsvertrages herabgeſunken iſt. Nachdem die Dinge
ſeit Jahren ſo in Verſumpfung gerathen ſind, iſt es natürlich doppelt
ſchwer, jetzt Verhandlungen zu führen. Ich begreife, daß die Re-
gierung fürchtet, es könne ihr ſchaden, wenn wir ihr etwas leicht-
ſinnig in die Parade fahren würden, was aber unſerſeits durchaus
nicht geſchieht. Wir wünſchen ja vielleicht mehr, als alle anderen
Fractionen, daß ein Handelsvertrag zu Stande kommt. Wenn
wir das ſagen, würden wir uns eigentlich verſündigen gegen die
Regierung, welche glaubt, man dürfe nicht laut werden laſſen,
daß man die Sache wünſcht, um die Verhandlungen nicht zu er-
ſchweren. Bekanntlich ſchließt Niemand beſſer ein Geſchäft ab, als
wenn er ſagt: Es liegt mir nichts daran; wenn Du es mir nicht
geben willſt, ſo gehe Deiner Wege. Ein correctes Still-
ſchweigen würde alſo die beſten Dienſte leiſten nach der Auf-
faſſung, daß man die Regierung allein gehen laſſen müſſe.
Das geſchieht aber nicht. Auch Hr. Windthorſt erklärt, er wünſche
den Handelsvertrag ſehr, und ſelbſt der Abg. v. Frege, obwohl er
ein hartgefrorener Schutzzöllner iſt, kann nicht umhin, einige tief-
gefühlte Worte zu ſagen, wie ſehr er wünſche, daß ein Handels-
vertrag zu Stande komme, und alle deutſchen Handelskammern
ſind ſeit Jahren voll von Manifeſtationen in demſelben Sinne.
Gerade darin, wenn ſich ſo eine communis opinio bildet: um
Gotteswillen nur keinen Handelsvertrag! ſo ſehe ich für einen Handels-
vertrag, der mehr ſein ſoll als bloßer Schall und Rauch, eine Ge-
fahr, daß man zuletzt auf etwas eingeht, was wirklich nur inhalt-
loſes, ſchattenhaſtes Weſen iſt. Ein Handelsvertrag ſoll für
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(2022-04-08T12:00:00Z)
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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
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