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Allgemeine Zeitung, Nr. 344, 12. Dezember 1890.

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Freitag,
Zweites Morgenblatt, Nr. 344 der Allgemeinen Zeitung.
12. December 1890.
[Spaltenumbruch]
Inhalts-Uebersicht.
Deutscher Reichstag. -- Die Schulreform-Confrerenz in
Berlin.

Handel und Volkswirthschaft.


Deutscher Reichstag.
Telegraphischer Privatbericht der Allg. Ztg.
39. Sitzung.

Die Sitzung wird um 1 Uhr
eröffnet. Am Tische des Bundesraths: v. Caprivi, v. Boetticher,
v. Maltzahn, Hollmann
u. A. Die erste Etatsberathung
wird fortgesetzt.

Abg. Bebel:

Die erregte Art und Weise, in der die Abgg.
Windthorst und v. Frege gestern meine Angriffe auf das bestebende
Steuer- und Zollsystem beantworteten, hat den Eindruck gemacht,
als wenn die Herren felbst fühlten, daß sie ihrer Sache nicht mehr
ganz sicher sind, und sie für gefährdet hielten. An die Annahme
des von unsrer und deutschfreisinniger Seite gestellten Antrags auf
Beseitigung, bezw. Ermäßigung der Zölle ist danach nicht mehr zu
denken. Ich bin aber überzeugt, daß, wenn diese Frage heute wie
vor dreiviertel Jahren der Wählerschaft vorgelegt würde, das Re-
sultat der Wahl noch ein ganz anderes sein würde, als am
20. Februar d. J. Die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung will
von der bisherigen Steuer- und Zollpolitik nichts wissen. Man
hat behauptet, daß die Agrarzölle nothwendig seien, weil sie dem
kleinen Bauer und dem ländlichen Arbeiter von Vortheil seien. Dem
widerspricht die Thatsache, daß die ländlichen Arbeiter in großen
Schaaren nach den Städten hin drängen und daß die Agrarier
selbst in ihren Versammlungen und Congressen fortgesetzt die
Mittel und Wege besprechen, diesem Drängen Einhalt zu thun.
Die sogenannte Sachfengängerei ist ein Beweis, daß die ländlichen
Arbeiter sich zu Hause nicht wohl fühlen. Dieser Zug ist so charak-
teristisch, daß er in der Volkszählung zum klarsten Ausdruck ge-
kommen ist. Von 1875 bis 1885 hat die städtische Bevöllerung
in Preußen 20 Procent, die ländliche nur 4,8 Procent zugenommen.
In Pommern, also einer agrarischen Provinz, hat die Bevölkerung
0,7 Procent abgenommen. Aber selbst in denjenigen deutschen
Landestheilen, in denen der kleine Grundbesitz beinahe ausschließ-
lich dominirt, z. B. in Hessen-Rassau, hat die Bevölterungszunahme
nur 2,9 Procent betragen. Die letzte Vollszählung wird wahr-
scheinlich noch ungünstigere Resultate aufweisen. In der frucht-
baren Ost- und Westpriegnitz betrug die ländliche Bevölkerung 1865
100,000 Seelen, 1885 nur noch 85,000 Seelen. Gestern erhielt
ich aus dem Leobschützer Kreise einen Brief, worin ich gebeten
wurde, hier mitzutheilen, in welcher geradezu unglaublichen Lage
sich die dortige Arbeiterhevölkerung in diesem meist dem Groß-
grundbesitz verfallenen Kreise befindet. Seit dem 1. October
erhielten die Arbeiter täglich, ausschließlich der Kost, 40 Pf.,
im Sommer 60 Pf. Allerdings sind einige Fetzen Land da-
bei und Wohnungen, aber welche Wohnungen! 1872 auf der Con-
ferenz der ländlichen Arbeitgeber in Berlin erklärte Hr. v. Goeben,
zahlreiche Großgrundbesitzer machten für ihre Schweineställe größere Auf-
wendungen, als für die Arbeiter. Im Wahlkreise des Hrn. v. Kardorff
erhielten die Arbeiter täglich 50 Pf. im Winter, 75 Pf. im Sommer.
Die Wohnungen im Leobschützer Kreise sind so niedrig, daß es ein
Wunder ist, daß Amtsvorsteher und Polizei derartige Wohnungen
überhaupt zuließen. Im Osten ist es nicht anders. Nach dem
Bericht eines Medicinalbeamten in Gumbinnen ist die Entstehung
von Infectionskrankheiten auf den desolaten Zustand der länd-
lichen Wohnungen zurückzuführen. Diese Zustände erwecken die
Unzufriedenheit der Arbeiter und erzeugen eine förmliche Völker-
wanderung. Der Osten zieht nach dem Westen und nach den
Industriebezirken. Hr. v. Frege hat mit einer Art von Hohn ge-
sagt, wir hätten zwar die Agitation unter den ländlichen Arbeitern
angelündigt, aber wir schienen doch dabei einen Stein des An-
stoßes zu finden, wie gewisse Aeußerungen des "Berliner Volks-
blattes" darthäten. Ständen solche Aeußerungen wirklich in
jenem Blatte, so würde das nur beweisen, daß wir uns allerdings
der Schwierigkeiten, welche die ländliche Agitation für die Social-
demokratie bietet, voll bewußt sind. Aber zu glauben, daß wir
deßwegen von dieser ländlichen Agitation abstehen würden, wäre
sehr verfehlt, und ich kann Ihnen im Vertrauen sagen, daß, wenn
wir erst das nöthige Material aus allen Ecken und Enden Deutsch-
lands für diese Agitation zusammengetragen haben werden, wir
eine krästige Agitation auf dem Lande in Scene setzen
werden, die, nach meiner Ueberzeugung, Thatsachen ans
Tageslicht bringen wird, wie man sie am Ende des
19. Jahrhunderts in Deutschland nicht für möglich halten sollte.
Für die ländliche Agitation tragen wir jetzt alles Material zu-
sammen und es wird sich zeigen, was dabei herauskommt. Die
Zunahme der socialdemolratischen Stimmen auf dem Lande,
z. B. in Sachsen, in Mecklenburg, wo 4 socialdemokratische
Candidaten in die Stichwahl gekommen sind, beweist, daß die
Socialdemolratie nicht mehr auf die Städte beschränkt ist.
Hr. v. Frege behauptet, wir zerstörten Religion und Sittlichkeit;
für die Herren ist Religien und Sittlichkeit dasselbe, man kann
aber ohne Religion sehr sittlich sein. Ich würde es mit der
Sittlichkeit nicht vereinbarlich finden, für Agrarzölle, Brenner- und
Zuckerprämien einzutreten. (Sehr richtig! links.) Auf einer
Synedalversammlung in Grimma sprach ein conservativer Herr
v. Wächter über die Arbeiterverhältnisse auf dem Lande und
bezeichnete für den weiblichen Theil der ländlichen Bevölkerung die
Herren Gutsbesitzer, ihre Beamten und die Officiere als
sehr gefährlich. (Widerspruch rechts.) Atheismus ist keine
socialdemokratische Erfindung; ihm huldigten namentlich die
französische Aristokratie im vorigen Jahrhundert und die Republicaner
begründeten die Einsetzung des höchsten Wesens damit,
daß der Atheismus eine aristokratische Erfindung sei, während der
Glaube an das höchste Wesen der menschlichen Ratur entspreche.
Die Vergantungsstatistik von Bayern zeigt, daß gerade der kleine
Landwirth belastet ist, daß ihm die ganze Agrarpolitik gar nichts
geholfen hat. Daß die Gelreidezölle mehr dem kleinen als dem
großen Landwirth zugute kommen, ist unwahr. Die Anbaufläche
für Getreide beträgt für die 2 Proc. Besitzer, welche mehr als
50 Hektar haben, das 21/2fache dessen, was die übrigen 98 Proc.
mit Getreide bebauen. Die Bauern werden nach und nach aus-
gekauft, um den Großgrundbesitz zu arrondiren. Ich erinnere an
den Fürsten Bismarck, an den Grafen Schönburg, welche hohe
Preise für Grund und Boden zahlen und denselben nachher nicht
als Acker behalten, sondern in Wald verwandeln. Grund und
Boden ist eben die sicherste Capitalanlage. Die gesammte übrige
Bevölkerung leidet unter den Getreidezöllen, denn gerade die
ärmeren Classen tragen hauptsächlich diese indirecten Steuern. Wir
haben nur 6 Proc. der Bevölkerung mit einem Einkommen über 1500 M.
Es ist doch natürlich, daß die übrigen 94 Procent die Hauptlast
tragen. Zu welchen Praktiken versührt nicht das Zollsystem die
Grenzbevölkerung, um billiges Mehl und Brod von jenseits der
Grenze zu holen! Es kommen auf aus den Getreidezöllen 100,
aus dem Kaffeezoll 451/4, der Salzsteuer 21, der Branntweinsteuer
129, der Biersteuer 23, den Viehzöllen 51/2, den Reiszöllen 31/4,
[Spaltenumbruch] dem Häringszoll 31/2 und aus der Zuckersteuer 61 Mill. M. vor-
nehmlich von den ärmeren Classen der Bevölkerung. Die Steuern
können nicht entbehrt werden, aber es sollen diejenigen am meisten
steuern, welche Besitzende sind, welche von dem Schutze des Staates
in erster Linie Vortheil haben. Diese ganze Politik der indirecten
Steuern ist eine Politik der Reichen gegen die Armen. Es sollen
nur recht viel Ueberschüsse an die Einzelstaaten abgeführt werden
und die Einkommensteuer soll nur dazu dienen, diese Ueberschüsse
noch zu ergänzen, denn die weniger Steuerkräftigen werden durch-
aus nicht entlastet. Hrn. Windthorst kann ich sagen, daß uns die
"Jungen" in unsrer Partei fehr wenig Kopfschmerzen machen;
die Mehrzahl steht auf unsrer Seite; täuschen Sie sich doch nicht
selbst durch die Nachrichten von angeblichen Spaltungen
in der Partei! (Zustimmung bei den Socialdemokraten.)
Ich habe durchaus nicht, wie Hr. Windthorst meinte, erklärt, daß
wir aus Furcht vor dem stehenden Heere die Gewalt vermeiden.
Ich bin der Meinung, daß jetzt andere Factoren für die Entwick-
lung maßgebend sind. Die immer schneller folgenden Krisen werden
den Mittelstand zu Grunde richten und das Capital immer mehr
in einzelne Hände concentriren und dadurch wird die große Mehr-
heit endlich einmal gezwungen sein, ohne Gewalt die Gesellschafts-
ordnung umzustürzen. Hr. Windthorst hat vor dem Weiterschreiten
auf dem Wege gewarnt, der mit der Invalidenversicherung betreten
worden ist. Wenn Sie auf diesem Wege nicht weiter gehen, dann
werden Sie überhaupt nicht mit uns fertig werden. (Sehr richtig!
links.) Hr. Windthorst hat früher nur schweren Herzens für die
Ausgaben für Ostafrika gestimmt, nur wegen der dort zu voll-
endenden Culturaufgabe. Jetzt hosse er schon auf die Zukunft
Ostafrika's und spricht vom Eisenbahnbau, ohne an die Kosten zu
denken. Er wird doch wohl selbst nicht hossen, daß eine große
Anzahl von Europamüden dort hingehen wird. (Während der
folgenden Rede erscheint der Reichskanzler am Bundesrathstische.)

Abg. Windthorst:

Was wir für die Colonialpolitik bewil-
ligt haben, diente hauptsächlich der Bekämpfung der Sklavenjagden
und des Sklavenhandels. Wenn wir aber eine Verbindung mit
den afrikanischen Seen herstellen können, werden wir ein Land er-
öffnen, in dem segensreiche Ansiedelungen möglich sind. Erst gestern
sagte mir ein aus Afrika gekommener Reisender: Sobald nur erst
die nothwendige Sicherheit und Ruhe vorhanden ist, würden die
Ansiedler schon in Massen kommen. Ich hoffe, daß nach den Er-
klärungen von Wissmann wir auf dem betretenen Wege fortschreiten
und auch erhebliche Handelsbeziehungen erreichen können, die uns
nützlich sein werden. Gestern habe ich übrigens keine Bewilligung
ausgesprochen, sondern sogar empfohlen, die Colonialfrage in einer
besonderen Commission zu berathen. Wenn der Abg. Bebel mir darin
folgen will, den Missionen freie Bahn zu schaffen, so werden wir
humane Zwecke fördern können. Wenn ich das Alters- und
Invaliditätsgesetz gestern als nützlich für die Arbeiter hingestellt
haben soll, so war mein Gedankengang einfach der, daß es aller-
dings für die Arbeiter nützlich sein müsse, wenn sie für den Fall
der Invalidität oder des Alters eine Versorgung bekämen. Davon
verschieden ist aber der Standpunkt, den ich bei der Berathung des
Gesetzes eingenommen habe und noch einnehme: daß Alles, was
den Staatszuschuß betrifft, die Ausführung eines socialdemokrati-
schen Gedankens sei. Diese Bahn hätten wir nicht betreten sollen.
Ich begreife, daß der scharf denkende College Bebel an dem Punkt
einsetzt und sagt: "Der Weg geht nach unsrer Richtung und
insofern begrüßen wir das Gesetz, wenn es uns sonst auch nicht
Genügendes leistet." Weil er uns dies mit solcher Klarheit sagt
und wir den Fehler einsehen, wollen wir ihn nicht weiter machen,
sondern uns mit dem Gesetz, wie es ist, begnügen. Heben wir
das Gesetz nicht auf, so müssen wir Alle dahin wirken, daß es in
möglichst guter Weise eingeführt wird. Der Abg. Bebel erklärt
die heutige Gesellschaftsordnung für unhaltbar und hat auch mit
großem Geschick manche ernste Mängel nachgewiesen, aber diese
Mängel liegen nicht in der Gesellschaftsordnung selbst, sondern
nur darin, daß die an sich richtige Gesellschaftsordnung von Vielen
nicht richtig erkannt und gebraucht wird, so daß Alle Ursache
haben, sich an die Brust zu schlagen und zu sagen: Mea culpa!
Hoch und Niedrig hat aufzupassen, ob man nicht durch die Art
und Weise, wie man die Güter, die man bekommen hat, gebraucht,
Aergerniß erregt und dazu beiträgt, daß die weniger gut Ge-
stellten finden, es wäre Wandel zu schaffen. Hr. Bebel hat das
bestehende Zoll- und Steuersystem als fehlekhaft bezeichnet, ohne
uns seinerseits Neues vorzuschlagen. Was soll denn geschehen?
(Zuruf: Abschaffen!) Hr. Bebel hat doch selbst anerkannt, daß der
Staat Geld gebraucht, da kann man doch die Steuern nicht
einfach abschaffen! Wenn die Socialdemokraten auf das Land gehen,
werden sie schlechte Geschäfte machen, wenn Sie sagen, daß alle
Seligkeit auf Erden zu finden ist, daß es kein Jenseits gibt. Wenn
die Herren das nicht sagen, dann werden wir den Bauern
sagen, was die eigentliche Meinung der Socialdemokraten ist.
Deßhalb hätten die Regierungen alle Ursache, für die Aufrecht-
haltung der Religion zu sorgen und nicht solche Schulgesetze zu
machen, durch welche die Religion aus der Schule getrieben wird.
(Heiterkeit links.) Daß die Socialdemokraten keine Gewalt an-
wenden wollen, freut mich; denn gegen Gewalt würde Gewalt
gesetzt werden; so lange sie überhaupt den Gedanken nähren, daß
sie Gewalt gebrauchen könnten, so lange wird ihnen in ähnlicher
Weise begegnet werden. So lange Hr. Bebel nicht seine neue
Staats- und Gesellschaftsordnung und sein Steuerbudget uns vor-
legt, so lange müssen wir ihm sagen, daß alle seine Reden nichts
als die reine Agitation enthalten. Ich bin kein Lobredner der
Lebensmittelzölle, aber wir können sie nicht entbehren, so lange
wir kein anderes Schutzmittel für die Landwirthschaft haben.
Kommt denn der Schutz der nationalen Arbeit nicht auch den Ar-
beitern auf dem Lande und in den Städten zu statten? Durch
das Schutzzollsystem hat sich unser ganzes wirthschaftliches Leben
neu gestaltet, und wenn man jetzt da hinein greist, so zerstört man,
was sich jetzt gebessert hat. Es wird sich ja vielleicht nothwendig
machen, einzelne Zölle, auch die Getreidezölle herabzusetzen, zu er-
mäßigen in Folge von Handelsverträgen, die wir abschließen. Aber
wir haben keinen Anlaß, ohne weiteres unsre Zölle zu ermäßigen
und dadurch unsre heimische Industrie und Landwirthschaft zu
schädigen. (Beifall.)

Abg. Dr. Bamberger:

Als captatio benevolentiae
schicke ich voraus, daß ich den beiden Vorrednern nicht in alle die
Fragen des Himmels und der Erde zu folgen gedenke, mit denen
sie den Etat beleuchten zu müssen glaubten. Ich würde überhaupt
nicht sprechen, wenn mir nicht eine Aeußerung vom Regierungs-
tisch die Pflicht auferlegte, Klarheit über den Gegenstand dieser
Aeußerung zu schaffen. Der Herr Reichskanzler hat gestern eine
Rede des österreichischen Abg. v. Plener citirt, und zwar mit der
ausdrücklichen Bemerkung, daß er nur aus dem Gedächtniß citire,
also für die Genauigkeit des Textes nicht einstehn könne, um
damit die Abgg. Rickert und Richter wegen ihrer Aeußerungen über
diese Frage einigermaßen zurechtzuweisen. Wenn der Herr Reichskanzler
inzwischen Muße gefunden hat, die Reden der Abg. Richter und
v. Plener näher einzusehen, so wird er gewiß zugeben, daß er sich
in Bezug auf beide vollständig geirrt hat. Denn auf wen berust
sich der Abg. v. Plener in seinem Appell an Oesterreich, daß es
[Spaltenumbruch] durchaus nicht nöthig habe, Deutschland Concessionen zu machen?
Etwa auf die Freihandelspartei, auf die Freisinnigen, auf die
Socialdemokraten? Nach dem Bericht der Münchener Allgemeinen
Zeitung, dem ausführlichsten, den ich gefunden, sagt Hr.
v. Plener, Oesterreich sei hierbei in einer günstigen Lage.
In Deutschland sei die frühere Coalition der Großgrundbesitzer
und der Großindustriellen, die als Cartellparteien die Reichstags-
mehrheit bildeten, gelöst. Richt auf unsre Seite, auf jene
Seite des Hauses berust er sich. (Sehr richtig! Links.) Er mag
ja falsch berichtet sein. Leider hat er ja nicht recht. Die Herren
sind dem Pact, den sie 1878 geschlossen haben, der Nation ge-
meinsam das Fell über die Ohren zu ziehen (große Unruhe rechts),
treuer geblieben, als wir wünschen können. Richt auf die frei-
sinnige Bewegung gegen dieses Zollsystem stützte sich Hr. v. Plener,
sondern er berief sich darauf, daß er glaubt, es rege sich bei den
Industriellen in dem Sinne, daß in Zukunft die Industrie nicht
mehr die schwere agrarische Belastung tragen könne. Noch mehr
hat sich der Hr. Reichskanzler geirrt in der Annahme, der Abg.
Richter wolle dem Hrn. v. Plener in Oesterreich Vorschub leisten
in seiner Ansicht, daß ein solcher Vertrag auf alle Fälle von
Deutschland angenommen werden müsse. Plener verlangt gar
nicht, daß Oesterreich alle möglichen Concessionen ohne Gegen-
seitigkeit von uns beansprucht; er legt den Nachdruck auf etwas
ganz Befonderes, indem er sagt, die österreichischen Unter-
händler müßten bestrebt sein, österreichischerseits Concessionen
erst für differentielle Begünstigung der österreichischen land-
wirthschaftlichen Ausfuhr zu gewähren. (Hört! Hört! Links.)
Wie das etwas schutzzöllnerische Art ist, hat er überhaupt den Mund in
dieser Sache furchtbar voll genommen, sich als Herrscher der Situation
aufgespielt, dem Niemand widersprechen kann, und die Monstrosität
ausgesprochen, deren ich, ehrlich gesprochen, eine deutsche Regierung
nicht für fähig halte: Deutschland müsse solche caudinische Be-
dingungen annehmen, daß es sich Oesterreich gegenüber in einem
Handelsvertrag verpflichte, Differentialzölle zu seinen Gunsten zu
stipuliren, das heißt mit anderen Worten: sich die Hände zu
binden, daß diejenigen Vergünstigungen im Zoll, die Oesterreich
zugebilligt würden, anderen Nationen pro futuro verweigert
werden müßten. Gegen dieses monströse Ansinnen ist Hr. Richter
der deutschen Regierung, wenn das noch nöthig wäre, zu Hülfe
gekommen, indem er ausführte, solche Differentialtarife würden ge-
eignet sein, Repressalien herbeizuführen. Der Hr. Reichskanzler
wird mir also zugeben, daß er, weit entfernt, durch die Richter-
schen Ausführungen in seiner Position geschwächt zu werden, ganz
einfach in den Verhandlungen mit Oesterreich, wenn man wirklich
die Keckheit so weit treiben sollte, uns zuzumuthen, solche Differen-
tialvergünstigungen zu gewähren, sagen könnte: Hier ist aus der
Opposition des Reichstags heraus ein sehr entschiedener Ausspruch
gefallen, und ich glaube, wie die Dinge im Reichstage liegen, daß
wir damit im Reichstage abgesehen davon, daß wir selbst nicht geneigt
sind, dies zu gewähren, keine Aussicht haben durchzudringen.
Im übrigen ist es ja auch für die Reichsregierung wichtig, zu
wissen, mit welcher Mehrheit sie in der Zukunft in diesen Dingen
wird zu rechnen haben. (Sehr richtig! links.) Handelsverträge
können hier ja, wie alle internationalen Verträge, nicht discutirt
und amendirt werden; sie sind anzunehmen oder abzulehnen. Eine
Regierung muß also, wenn sie einen solchen Vertrag schließt, sich
ungefähre Rechenschaft davon geben können, was sie zu erwarten
hat, wenn sie an ihre gesetzgebende Volksvertretung herantritt.
Wir würden deßhalb unsre Pflicht entschieden versäumen, wenn
wir mit unsern Ansichten in dieser Beziehung zurückhalten wollten.
Ich glaube es im Namen meiner Freunde aussprechen zu dürfen,
und ich vertraue, diese Anschauung herrscht sogar im Schoße der
verbündeten Regierungen: wenn uns ein Handelsvertrag mit
Oesterreich vorgelegt wird, der uns zu Differentialzöllen verpflichtet,
er mag sonst Vortheile bringen, welche er wolle, so werden wir
einen solchen Vertrag nicht annehmen. (Sehr richtig! links.) Ich
will mit dem Hrn. Reichskanzler nicht rechten, daß er den Ab-
geordneten Richter und Rickert in ihren beinahe schüchternen Be-
merkungen etwas scharf auf den Leib gegangen ist. Ich begreife
es, daß er gerade bei diesen Verhandlungen ein bißchen nervös
ist. Das Gebiet ist ihm neu; er hat uns selbst früher einmal er-
zählt, daß er bei Gelegenheit der colonialen Aufgaben sich durch
den Wust von Colonialbüchern hätte durcharbeiten müssen.
Zu meinem Bedauern fürchte ich, er muß sich auch mit diesen un-
zähligen handelspolitischen Arbeiten quälen und sich darüber eine
nähere Einsicht verschaffen. Wir wissen ja, daß er nicht aus
persönlichem Interesse, ich glaube das ohne Schmeichelei sagen
zu können, sondern aus Pflichtgefühl dem Rufe seines Monarchen
gefolgt ist und die schwere Last des Amtes auf sich genommen hat,
das er hier auch uns gegenüber auszuüben hat. Ich verlange
also auch nicht von ihm, daß er so eingeweiht in diese Dinge sei,
wie wir, die wir theilweise seit 30, 40 Jahren uns mit allen diesen
Dingen abgeben. Ich verlange nur ein bischen Billigkeit, wogegen ich
gerne zugeben will, daß die Schwierigkeit der Lage auch eine gewisse
Empfindlichkeit rechtfertigen mag. Es ist überhaupt sehr schwer, daß zwei
schutzzöllnerische Regierungen sich über einen Handelsvertrag mit einander
verständigen (Heiterkeit links), und heute doppelt schwer, nachdem unter
der früheren Regierung diese Dinge schon so lange Zeit in eine so be-
klagenswerthe Stagnation gerathen sind. Wir haben uns beinahe im-
mer negativ verhalten in der ganzen Handelspolitik seit der Aenderung
des Tariffystems; der Anstoß ist immer von der andern Seite gekommen.
Wir haben uns immer darauf beschränkt, immer mehr Tarif-
bestimmungen aus den Handelsverträgen herausfallen zu lassen, so
daß in Oesterreich, das uns ja so nahe steht, schließlich das ganze
Handelsverhältniß auf die Nichtigkeit und Hohlheit eines bloßen
Meistbegünstigungsvertrages herabgesunken ist. Nachdem die Dinge
seit Jahren so in Versumpfung gerathen sind, ist es natürlich doppelt
schwer, jetzt Verhandlungen zu führen. Ich begreife, daß die Re-
gierung fürchtet, es könne ihr schaden, wenn wir ihr etwas leicht-
sinnig in die Parade fahren würden, was aber unserseits durchaus
nicht geschieht. Wir wünschen ja vielleicht mehr, als alle anderen
Fractionen, daß ein Handelsvertrag zu Stande kommt. Wenn
wir das sagen, würden wir uns eigentlich versündigen gegen die
Regierung, welche glaubt, man dürfe nicht laut werden lassen,
daß man die Sache wünscht, um die Verhandlungen nicht zu er-
schweren. Bekanntlich schließt Niemand besser ein Geschäft ab, als
wenn er sagt: Es liegt mir nichts daran; wenn Du es mir nicht
geben willst, so gehe Deiner Wege. Ein correctes Still-
schweigen würde also die besten Dienste leisten nach der Auf-
fassung, daß man die Regierung allein gehen lassen müsse.
Das geschieht aber nicht. Auch Hr. Windthorst erklärt, er wünsche
den Handelsvertrag sehr, und selbst der Abg. v. Frege, obwohl er
ein hartgefrorener Schutzzöllner ist, kann nicht umhin, einige tief-
gefühlte Worte zu sagen, wie sehr er wünsche, daß ein Handels-
vertrag zu Stande komme, und alle deutschen Handelskammern
sind seit Jahren voll von Manifestationen in demselben Sinne.
Gerade darin, wenn sich so eine communis opinio bildet: um
Gotteswillen nur keinen Handelsvertrag! so sehe ich für einen Handels-
vertrag, der mehr sein soll als bloßer Schall und Rauch, eine Ge-
fahr, daß man zuletzt auf etwas eingeht, was wirklich nur inhalt-
loses, schattenhastes Wesen ist. Ein Handelsvertrag soll für

Freitag,
Zweites Morgenblatt, Nr. 344 der Allgemeinen Zeitung.
12. December 1890.
[Spaltenumbruch]
Inhalts-Ueberſicht.
Deutſcher Reichstag. — Die Schulreform-Confrerenz in
Berlin.

Handel und Volkswirthſchaft.


Deutſcher Reichstag.
Telegraphiſcher Privatbericht der Allg. Ztg.
39. Sitzung.

Die Sitzung wird um 1 Uhr
eröffnet. Am Tiſche des Bundesraths: v. Caprivi, v. Boetticher,
v. Maltzahn, Hollmann
u. A. Die erſte Etatsberathung
wird fortgeſetzt.

Abg. Bebel:

Die erregte Art und Weiſe, in der die Abgg.
Windthorſt und v. Frege geſtern meine Angriffe auf das beſtebende
Steuer- und Zollſyſtem beantworteten, hat den Eindruck gemacht,
als wenn die Herren felbſt fühlten, daß ſie ihrer Sache nicht mehr
ganz ſicher ſind, und ſie für gefährdet hielten. An die Annahme
des von unſrer und deutſchfreiſinniger Seite geſtellten Antrags auf
Beſeitigung, bezw. Ermäßigung der Zölle iſt danach nicht mehr zu
denken. Ich bin aber überzeugt, daß, wenn dieſe Frage heute wie
vor dreiviertel Jahren der Wählerſchaft vorgelegt würde, das Re-
ſultat der Wahl noch ein ganz anderes ſein würde, als am
20. Februar d. J. Die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung will
von der bisherigen Steuer- und Zollpolitik nichts wiſſen. Man
hat behauptet, daß die Agrarzölle nothwendig ſeien, weil ſie dem
kleinen Bauer und dem ländlichen Arbeiter von Vortheil ſeien. Dem
widerſpricht die Thatſache, daß die ländlichen Arbeiter in großen
Schaaren nach den Städten hin drängen und daß die Agrarier
ſelbſt in ihren Verſammlungen und Congreſſen fortgeſetzt die
Mittel und Wege beſprechen, dieſem Drängen Einhalt zu thun.
Die ſogenannte Sachfengängerei iſt ein Beweis, daß die ländlichen
Arbeiter ſich zu Hauſe nicht wohl fühlen. Dieſer Zug iſt ſo charak-
teriſtiſch, daß er in der Volkszählung zum klarſten Ausdruck ge-
kommen iſt. Von 1875 bis 1885 hat die ſtädtiſche Bevöllerung
in Preußen 20 Procent, die ländliche nur 4,8 Procent zugenommen.
In Pommern, alſo einer agrariſchen Provinz, hat die Bevölkerung
0,7 Procent abgenommen. Aber ſelbſt in denjenigen deutſchen
Landestheilen, in denen der kleine Grundbeſitz beinahe ausſchließ-
lich dominirt, z. B. in Heſſen-Raſſau, hat die Bevölterungszunahme
nur 2,9 Procent betragen. Die letzte Vollszählung wird wahr-
ſcheinlich noch ungünſtigere Reſultate aufweiſen. In der frucht-
baren Oſt- und Weſtpriegnitz betrug die ländliche Bevölkerung 1865
100,000 Seelen, 1885 nur noch 85,000 Seelen. Geſtern erhielt
ich aus dem Leobſchützer Kreiſe einen Brief, worin ich gebeten
wurde, hier mitzutheilen, in welcher geradezu unglaublichen Lage
ſich die dortige Arbeiterhevölkerung in dieſem meiſt dem Groß-
grundbeſitz verfallenen Kreiſe befindet. Seit dem 1. October
erhielten die Arbeiter täglich, ausſchließlich der Koſt, 40 Pf.,
im Sommer 60 Pf. Allerdings ſind einige Fetzen Land da-
bei und Wohnungen, aber welche Wohnungen! 1872 auf der Con-
ferenz der ländlichen Arbeitgeber in Berlin erklärte Hr. v. Goeben,
zahlreiche Großgrundbeſitzer machten für ihre Schweineſtälle größere Auf-
wendungen, als für die Arbeiter. Im Wahlkreiſe des Hrn. v. Kardorff
erhielten die Arbeiter täglich 50 Pf. im Winter, 75 Pf. im Sommer.
Die Wohnungen im Leobſchützer Kreiſe ſind ſo niedrig, daß es ein
Wunder iſt, daß Amtsvorſteher und Polizei derartige Wohnungen
überhaupt zuließen. Im Oſten iſt es nicht anders. Nach dem
Bericht eines Medicinalbeamten in Gumbinnen iſt die Entſtehung
von Infectionskrankheiten auf den deſolaten Zuſtand der länd-
lichen Wohnungen zurückzuführen. Dieſe Zuſtände erwecken die
Unzufriedenheit der Arbeiter und erzeugen eine förmliche Völker-
wanderung. Der Oſten zieht nach dem Weſten und nach den
Induſtriebezirken. Hr. v. Frege hat mit einer Art von Hohn ge-
ſagt, wir hätten zwar die Agitation unter den ländlichen Arbeitern
angelündigt, aber wir ſchienen doch dabei einen Stein des An-
ſtoßes zu finden, wie gewiſſe Aeußerungen des „Berliner Volks-
blattes“ darthäten. Ständen ſolche Aeußerungen wirklich in
jenem Blatte, ſo würde das nur beweiſen, daß wir uns allerdings
der Schwierigkeiten, welche die ländliche Agitation für die Social-
demokratie bietet, voll bewußt ſind. Aber zu glauben, daß wir
deßwegen von dieſer ländlichen Agitation abſtehen würden, wäre
ſehr verfehlt, und ich kann Ihnen im Vertrauen ſagen, daß, wenn
wir erſt das nöthige Material aus allen Ecken und Enden Deutſch-
lands für dieſe Agitation zuſammengetragen haben werden, wir
eine kräſtige Agitation auf dem Lande in Scene ſetzen
werden, die, nach meiner Ueberzeugung, Thatſachen ans
Tageslicht bringen wird, wie man ſie am Ende des
19. Jahrhunderts in Deutſchland nicht für möglich halten ſollte.
Für die ländliche Agitation tragen wir jetzt alles Material zu-
ſammen und es wird ſich zeigen, was dabei herauskommt. Die
Zunahme der ſocialdemolratiſchen Stimmen auf dem Lande,
z. B. in Sachſen, in Mecklenburg, wo 4 ſocialdemokratiſche
Candidaten in die Stichwahl gekommen ſind, beweist, daß die
Socialdemolratie nicht mehr auf die Städte beſchränkt iſt.
Hr. v. Frege behauptet, wir zerſtörten Religion und Sittlichkeit;
für die Herren iſt Religien und Sittlichkeit dasſelbe, man kann
aber ohne Religion ſehr ſittlich ſein. Ich würde es mit der
Sittlichkeit nicht vereinbarlich finden, für Agrarzölle, Brenner- und
Zuckerprämien einzutreten. (Sehr richtig! links.) Auf einer
Synedalverſammlung in Grimma ſprach ein conſervativer Herr
v. Wächter über die Arbeiterverhältniſſe auf dem Lande und
bezeichnete für den weiblichen Theil der ländlichen Bevölkerung die
Herren Gutsbeſitzer, ihre Beamten und die Officiere als
ſehr gefährlich. (Widerſpruch rechts.) Atheismus iſt keine
ſocialdemokratiſche Erfindung; ihm huldigten namentlich die
franzöſiſche Ariſtokratie im vorigen Jahrhundert und die Republicaner
begründeten die Einſetzung des höchſten Weſens damit,
daß der Atheismus eine ariſtokratiſche Erfindung ſei, während der
Glaube an das höchſte Weſen der menſchlichen Ratur entſpreche.
Die Vergantungsſtatiſtik von Bayern zeigt, daß gerade der kleine
Landwirth belaſtet iſt, daß ihm die ganze Agrarpolitik gar nichts
geholfen hat. Daß die Gelreidezölle mehr dem kleinen als dem
großen Landwirth zugute kommen, iſt unwahr. Die Anbaufläche
für Getreide beträgt für die 2 Proc. Beſitzer, welche mehr als
50 Hektar haben, das 2½fache deſſen, was die übrigen 98 Proc.
mit Getreide bebauen. Die Bauern werden nach und nach aus-
gekauft, um den Großgrundbeſitz zu arrondiren. Ich erinnere an
den Fürſten Bismarck, an den Grafen Schönburg, welche hohe
Preiſe für Grund und Boden zahlen und denſelben nachher nicht
als Acker behalten, ſondern in Wald verwandeln. Grund und
Boden iſt eben die ſicherſte Capitalanlage. Die geſammte übrige
Bevölkerung leidet unter den Getreidezöllen, denn gerade die
ärmeren Claſſen tragen hauptſächlich dieſe indirecten Steuern. Wir
haben nur 6 Proc. der Bevölkerung mit einem Einkommen über 1500 M.
Es iſt doch natürlich, daß die übrigen 94 Procent die Hauptlaſt
tragen. Zu welchen Praktiken verſührt nicht das Zollſyſtem die
Grenzbevölkerung, um billiges Mehl und Brod von jenſeits der
Grenze zu holen! Es kommen auf aus den Getreidezöllen 100,
aus dem Kaffeezoll 45¼, der Salzſteuer 21, der Branntweinſteuer
129, der Bierſteuer 23, den Viehzöllen 5½, den Reiszöllen 3¼,
[Spaltenumbruch] dem Häringszoll 3½ und aus der Zuckerſteuer 61 Mill. M. vor-
nehmlich von den ärmeren Claſſen der Bevölkerung. Die Steuern
können nicht entbehrt werden, aber es ſollen diejenigen am meiſten
ſteuern, welche Beſitzende ſind, welche von dem Schutze des Staates
in erſter Linie Vortheil haben. Dieſe ganze Politik der indirecten
Steuern iſt eine Politik der Reichen gegen die Armen. Es ſollen
nur recht viel Ueberſchüſſe an die Einzelſtaaten abgeführt werden
und die Einkommenſteuer ſoll nur dazu dienen, dieſe Ueberſchüſſe
noch zu ergänzen, denn die weniger Steuerkräftigen werden durch-
aus nicht entlaſtet. Hrn. Windthorſt kann ich ſagen, daß uns die
„Jungen“ in unſrer Partei fehr wenig Kopfſchmerzen machen;
die Mehrzahl ſteht auf unſrer Seite; täuſchen Sie ſich doch nicht
ſelbſt durch die Nachrichten von angeblichen Spaltungen
in der Partei! (Zuſtimmung bei den Socialdemokraten.)
Ich habe durchaus nicht, wie Hr. Windthorſt meinte, erklärt, daß
wir aus Furcht vor dem ſtehenden Heere die Gewalt vermeiden.
Ich bin der Meinung, daß jetzt andere Factoren für die Entwick-
lung maßgebend ſind. Die immer ſchneller folgenden Kriſen werden
den Mittelſtand zu Grunde richten und das Capital immer mehr
in einzelne Hände concentriren und dadurch wird die große Mehr-
heit endlich einmal gezwungen ſein, ohne Gewalt die Geſellſchafts-
ordnung umzuſtürzen. Hr. Windthorſt hat vor dem Weiterſchreiten
auf dem Wege gewarnt, der mit der Invalidenverſicherung betreten
worden iſt. Wenn Sie auf dieſem Wege nicht weiter gehen, dann
werden Sie überhaupt nicht mit uns fertig werden. (Sehr richtig!
links.) Hr. Windthorſt hat früher nur ſchweren Herzens für die
Ausgaben für Oſtafrika geſtimmt, nur wegen der dort zu voll-
endenden Culturaufgabe. Jetzt hoſſe er ſchon auf die Zukunft
Oſtafrika’s und ſpricht vom Eiſenbahnbau, ohne an die Koſten zu
denken. Er wird doch wohl ſelbſt nicht hoſſen, daß eine große
Anzahl von Europamüden dort hingehen wird. (Während der
folgenden Rede erſcheint der Reichskanzler am Bundesrathstiſche.)

Abg. Windthorſt:

Was wir für die Colonialpolitik bewil-
ligt haben, diente hauptſächlich der Bekämpfung der Sklavenjagden
und des Sklavenhandels. Wenn wir aber eine Verbindung mit
den afrikaniſchen Seen herſtellen können, werden wir ein Land er-
öffnen, in dem ſegensreiche Anſiedelungen möglich ſind. Erſt geſtern
ſagte mir ein aus Afrika gekommener Reiſender: Sobald nur erſt
die nothwendige Sicherheit und Ruhe vorhanden iſt, würden die
Anſiedler ſchon in Maſſen kommen. Ich hoffe, daß nach den Er-
klärungen von Wiſſmann wir auf dem betretenen Wege fortſchreiten
und auch erhebliche Handelsbeziehungen erreichen können, die uns
nützlich ſein werden. Geſtern habe ich übrigens keine Bewilligung
ausgeſprochen, ſondern ſogar empfohlen, die Colonialfrage in einer
beſonderen Commiſſion zu berathen. Wenn der Abg. Bebel mir darin
folgen will, den Miſſionen freie Bahn zu ſchaffen, ſo werden wir
humane Zwecke fördern können. Wenn ich das Alters- und
Invaliditätsgeſetz geſtern als nützlich für die Arbeiter hingeſtellt
haben ſoll, ſo war mein Gedankengang einfach der, daß es aller-
dings für die Arbeiter nützlich ſein müſſe, wenn ſie für den Fall
der Invalidität oder des Alters eine Verſorgung bekämen. Davon
verſchieden iſt aber der Standpunkt, den ich bei der Berathung des
Geſetzes eingenommen habe und noch einnehme: daß Alles, was
den Staatszuſchuß betrifft, die Ausführung eines ſocialdemokrati-
ſchen Gedankens ſei. Dieſe Bahn hätten wir nicht betreten ſollen.
Ich begreife, daß der ſcharf denkende College Bebel an dem Punkt
einſetzt und ſagt: „Der Weg geht nach unſrer Richtung und
inſofern begrüßen wir das Geſetz, wenn es uns ſonſt auch nicht
Genügendes leiſtet.“ Weil er uns dies mit ſolcher Klarheit ſagt
und wir den Fehler einſehen, wollen wir ihn nicht weiter machen,
ſondern uns mit dem Geſetz, wie es iſt, begnügen. Heben wir
das Geſetz nicht auf, ſo müſſen wir Alle dahin wirken, daß es in
möglichſt guter Weiſe eingeführt wird. Der Abg. Bebel erklärt
die heutige Geſellſchaftsordnung für unhaltbar und hat auch mit
großem Geſchick manche ernſte Mängel nachgewieſen, aber dieſe
Mängel liegen nicht in der Geſellſchaftsordnung ſelbſt, ſondern
nur darin, daß die an ſich richtige Geſellſchaftsordnung von Vielen
nicht richtig erkannt und gebraucht wird, ſo daß Alle Urſache
haben, ſich an die Bruſt zu ſchlagen und zu ſagen: Mea culpa!
Hoch und Niedrig hat aufzupaſſen, ob man nicht durch die Art
und Weiſe, wie man die Güter, die man bekommen hat, gebraucht,
Aergerniß erregt und dazu beiträgt, daß die weniger gut Ge-
ſtellten finden, es wäre Wandel zu ſchaffen. Hr. Bebel hat das
beſtehende Zoll- und Steuerſyſtem als fehlekhaft bezeichnet, ohne
uns ſeinerſeits Neues vorzuſchlagen. Was ſoll denn geſchehen?
(Zuruf: Abſchaffen!) Hr. Bebel hat doch ſelbſt anerkannt, daß der
Staat Geld gebraucht, da kann man doch die Steuern nicht
einfach abſchaffen! Wenn die Socialdemokraten auf das Land gehen,
werden ſie ſchlechte Geſchäfte machen, wenn Sie ſagen, daß alle
Seligkeit auf Erden zu finden iſt, daß es kein Jenſeits gibt. Wenn
die Herren das nicht ſagen, dann werden wir den Bauern
ſagen, was die eigentliche Meinung der Socialdemokraten iſt.
Deßhalb hätten die Regierungen alle Urſache, für die Aufrecht-
haltung der Religion zu ſorgen und nicht ſolche Schulgeſetze zu
machen, durch welche die Religion aus der Schule getrieben wird.
(Heiterkeit links.) Daß die Socialdemokraten keine Gewalt an-
wenden wollen, freut mich; denn gegen Gewalt würde Gewalt
geſetzt werden; ſo lange ſie überhaupt den Gedanken nähren, daß
ſie Gewalt gebrauchen könnten, ſo lange wird ihnen in ähnlicher
Weiſe begegnet werden. So lange Hr. Bebel nicht ſeine neue
Staats- und Geſellſchaftsordnung und ſein Steuerbudget uns vor-
legt, ſo lange müſſen wir ihm ſagen, daß alle ſeine Reden nichts
als die reine Agitation enthalten. Ich bin kein Lobredner der
Lebensmittelzölle, aber wir können ſie nicht entbehren, ſo lange
wir kein anderes Schutzmittel für die Landwirthſchaft haben.
Kommt denn der Schutz der nationalen Arbeit nicht auch den Ar-
beitern auf dem Lande und in den Städten zu ſtatten? Durch
das Schutzzollſyſtem hat ſich unſer ganzes wirthſchaftliches Leben
neu geſtaltet, und wenn man jetzt da hinein greiſt, ſo zerſtört man,
was ſich jetzt gebeſſert hat. Es wird ſich ja vielleicht nothwendig
machen, einzelne Zölle, auch die Getreidezölle herabzuſetzen, zu er-
mäßigen in Folge von Handelsverträgen, die wir abſchließen. Aber
wir haben keinen Anlaß, ohne weiteres unſre Zölle zu ermäßigen
und dadurch unſre heimiſche Induſtrie und Landwirthſchaft zu
ſchädigen. (Beifall.)

Abg. Dr. Bamberger:

Als captatio benevolentiae
ſchicke ich voraus, daß ich den beiden Vorrednern nicht in alle die
Fragen des Himmels und der Erde zu folgen gedenke, mit denen
ſie den Etat beleuchten zu müſſen glaubten. Ich würde überhaupt
nicht ſprechen, wenn mir nicht eine Aeußerung vom Regierungs-
tiſch die Pflicht auferlegte, Klarheit über den Gegenſtand dieſer
Aeußerung zu ſchaffen. Der Herr Reichskanzler hat geſtern eine
Rede des öſterreichiſchen Abg. v. Plener citirt, und zwar mit der
ausdrücklichen Bemerkung, daß er nur aus dem Gedächtniß citire,
alſo für die Genauigkeit des Textes nicht einſtehn könne, um
damit die Abgg. Rickert und Richter wegen ihrer Aeußerungen über
dieſe Frage einigermaßen zurechtzuweiſen. Wenn der Herr Reichskanzler
inzwiſchen Muße gefunden hat, die Reden der Abg. Richter und
v. Plener näher einzuſehen, ſo wird er gewiß zugeben, daß er ſich
in Bezug auf beide vollſtändig geirrt hat. Denn auf wen beruſt
ſich der Abg. v. Plener in ſeinem Appell an Oeſterreich, daß es
[Spaltenumbruch] durchaus nicht nöthig habe, Deutſchland Conceſſionen zu machen?
Etwa auf die Freihandelspartei, auf die Freiſinnigen, auf die
Socialdemokraten? Nach dem Bericht der Münchener Allgemeinen
Zeitung, dem ausführlichſten, den ich gefunden, ſagt Hr.
v. Plener, Oeſterreich ſei hierbei in einer günſtigen Lage.
In Deutſchland ſei die frühere Coalition der Großgrundbeſitzer
und der Großinduſtriellen, die als Cartellparteien die Reichstags-
mehrheit bildeten, gelöst. Richt auf unſre Seite, auf jene
Seite des Hauſes beruſt er ſich. (Sehr richtig! Links.) Er mag
ja falſch berichtet ſein. Leider hat er ja nicht recht. Die Herren
ſind dem Pact, den ſie 1878 geſchloſſen haben, der Nation ge-
meinſam das Fell über die Ohren zu ziehen (große Unruhe rechts),
treuer geblieben, als wir wünſchen können. Richt auf die frei-
ſinnige Bewegung gegen dieſes Zollſyſtem ſtützte ſich Hr. v. Plener,
ſondern er berief ſich darauf, daß er glaubt, es rege ſich bei den
Induſtriellen in dem Sinne, daß in Zukunft die Induſtrie nicht
mehr die ſchwere agrariſche Belaſtung tragen könne. Noch mehr
hat ſich der Hr. Reichskanzler geirrt in der Annahme, der Abg.
Richter wolle dem Hrn. v. Plener in Oeſterreich Vorſchub leiſten
in ſeiner Anſicht, daß ein ſolcher Vertrag auf alle Fälle von
Deutſchland angenommen werden müſſe. Plener verlangt gar
nicht, daß Oeſterreich alle möglichen Conceſſionen ohne Gegen-
ſeitigkeit von uns beanſprucht; er legt den Nachdruck auf etwas
ganz Befonderes, indem er ſagt, die öſterreichiſchen Unter-
händler müßten beſtrebt ſein, öſterreichiſcherſeits Conceſſionen
erſt für differentielle Begünſtigung der öſterreichiſchen land-
wirthſchaftlichen Ausfuhr zu gewähren. (Hört! Hört! Links.)
Wie das etwas ſchutzzöllneriſche Art iſt, hat er überhaupt den Mund in
dieſer Sache furchtbar voll genommen, ſich als Herrſcher der Situation
aufgeſpielt, dem Niemand widerſprechen kann, und die Monſtroſität
ausgeſprochen, deren ich, ehrlich geſprochen, eine deutſche Regierung
nicht für fähig halte: Deutſchland müſſe ſolche caudiniſche Be-
dingungen annehmen, daß es ſich Oeſterreich gegenüber in einem
Handelsvertrag verpflichte, Differentialzölle zu ſeinen Gunſten zu
ſtipuliren, das heißt mit anderen Worten: ſich die Hände zu
binden, daß diejenigen Vergünſtigungen im Zoll, die Oeſterreich
zugebilligt würden, anderen Nationen pro futuro verweigert
werden müßten. Gegen dieſes monſtröſe Anſinnen iſt Hr. Richter
der deutſchen Regierung, wenn das noch nöthig wäre, zu Hülfe
gekommen, indem er ausführte, ſolche Differentialtarife würden ge-
eignet ſein, Repreſſalien herbeizuführen. Der Hr. Reichskanzler
wird mir alſo zugeben, daß er, weit entfernt, durch die Richter-
ſchen Ausführungen in ſeiner Poſition geſchwächt zu werden, ganz
einfach in den Verhandlungen mit Oeſterreich, wenn man wirklich
die Keckheit ſo weit treiben ſollte, uns zuzumuthen, ſolche Differen-
tialvergünſtigungen zu gewähren, ſagen könnte: Hier iſt aus der
Oppoſition des Reichstags heraus ein ſehr entſchiedener Ausſpruch
gefallen, und ich glaube, wie die Dinge im Reichstage liegen, daß
wir damit im Reichstage abgeſehen davon, daß wir ſelbſt nicht geneigt
ſind, dies zu gewähren, keine Ausſicht haben durchzudringen.
Im übrigen iſt es ja auch für die Reichsregierung wichtig, zu
wiſſen, mit welcher Mehrheit ſie in der Zukunft in dieſen Dingen
wird zu rechnen haben. (Sehr richtig! links.) Handelsverträge
können hier ja, wie alle internationalen Verträge, nicht discutirt
und amendirt werden; ſie ſind anzunehmen oder abzulehnen. Eine
Regierung muß alſo, wenn ſie einen ſolchen Vertrag ſchließt, ſich
ungefähre Rechenſchaft davon geben können, was ſie zu erwarten
hat, wenn ſie an ihre geſetzgebende Volksvertretung herantritt.
Wir würden deßhalb unſre Pflicht entſchieden verſäumen, wenn
wir mit unſern Anſichten in dieſer Beziehung zurückhalten wollten.
Ich glaube es im Namen meiner Freunde ausſprechen zu dürfen,
und ich vertraue, dieſe Anſchauung herrſcht ſogar im Schoße der
verbündeten Regierungen: wenn uns ein Handelsvertrag mit
Oeſterreich vorgelegt wird, der uns zu Differentialzöllen verpflichtet,
er mag ſonſt Vortheile bringen, welche er wolle, ſo werden wir
einen ſolchen Vertrag nicht annehmen. (Sehr richtig! links.) Ich
will mit dem Hrn. Reichskanzler nicht rechten, daß er den Ab-
geordneten Richter und Rickert in ihren beinahe ſchüchternen Be-
merkungen etwas ſcharf auf den Leib gegangen iſt. Ich begreife
es, daß er gerade bei dieſen Verhandlungen ein bißchen nervös
iſt. Das Gebiet iſt ihm neu; er hat uns ſelbſt früher einmal er-
zählt, daß er bei Gelegenheit der colonialen Aufgaben ſich durch
den Wuſt von Colonialbüchern hätte durcharbeiten müſſen.
Zu meinem Bedauern fürchte ich, er muß ſich auch mit dieſen un-
zähligen handelspolitiſchen Arbeiten quälen und ſich darüber eine
nähere Einſicht verſchaffen. Wir wiſſen ja, daß er nicht aus
perſönlichem Intereſſe, ich glaube das ohne Schmeichelei ſagen
zu können, ſondern aus Pflichtgefühl dem Rufe ſeines Monarchen
gefolgt iſt und die ſchwere Laſt des Amtes auf ſich genommen hat,
das er hier auch uns gegenüber auszuüben hat. Ich verlange
alſo auch nicht von ihm, daß er ſo eingeweiht in dieſe Dinge ſei,
wie wir, die wir theilweiſe ſeit 30, 40 Jahren uns mit allen dieſen
Dingen abgeben. Ich verlange nur ein bischen Billigkeit, wogegen ich
gerne zugeben will, daß die Schwierigkeit der Lage auch eine gewiſſe
Empfindlichkeit rechtfertigen mag. Es iſt überhaupt ſehr ſchwer, daß zwei
ſchutzzöllneriſche Regierungen ſich über einen Handelsvertrag mit einander
verſtändigen (Heiterkeit links), und heute doppelt ſchwer, nachdem unter
der früheren Regierung dieſe Dinge ſchon ſo lange Zeit in eine ſo be-
klagenswerthe Stagnation gerathen ſind. Wir haben uns beinahe im-
mer negativ verhalten in der ganzen Handelspolitik ſeit der Aenderung
des Tariffyſtems; der Anſtoß iſt immer von der andern Seite gekommen.
Wir haben uns immer darauf beſchränkt, immer mehr Tarif-
beſtimmungen aus den Handelsverträgen herausfallen zu laſſen, ſo
daß in Oeſterreich, das uns ja ſo nahe ſteht, ſchließlich das ganze
Handelsverhältniß auf die Nichtigkeit und Hohlheit eines bloßen
Meiſtbegünſtigungsvertrages herabgeſunken iſt. Nachdem die Dinge
ſeit Jahren ſo in Verſumpfung gerathen ſind, iſt es natürlich doppelt
ſchwer, jetzt Verhandlungen zu führen. Ich begreife, daß die Re-
gierung fürchtet, es könne ihr ſchaden, wenn wir ihr etwas leicht-
ſinnig in die Parade fahren würden, was aber unſerſeits durchaus
nicht geſchieht. Wir wünſchen ja vielleicht mehr, als alle anderen
Fractionen, daß ein Handelsvertrag zu Stande kommt. Wenn
wir das ſagen, würden wir uns eigentlich verſündigen gegen die
Regierung, welche glaubt, man dürfe nicht laut werden laſſen,
daß man die Sache wünſcht, um die Verhandlungen nicht zu er-
ſchweren. Bekanntlich ſchließt Niemand beſſer ein Geſchäft ab, als
wenn er ſagt: Es liegt mir nichts daran; wenn Du es mir nicht
geben willſt, ſo gehe Deiner Wege. Ein correctes Still-
ſchweigen würde alſo die beſten Dienſte leiſten nach der Auf-
faſſung, daß man die Regierung allein gehen laſſen müſſe.
Das geſchieht aber nicht. Auch Hr. Windthorſt erklärt, er wünſche
den Handelsvertrag ſehr, und ſelbſt der Abg. v. Frege, obwohl er
ein hartgefrorener Schutzzöllner iſt, kann nicht umhin, einige tief-
gefühlte Worte zu ſagen, wie ſehr er wünſche, daß ein Handels-
vertrag zu Stande komme, und alle deutſchen Handelskammern
ſind ſeit Jahren voll von Manifeſtationen in demſelben Sinne.
Gerade darin, wenn ſich ſo eine communis opinio bildet: um
Gotteswillen nur keinen Handelsvertrag! ſo ſehe ich für einen Handels-
vertrag, der mehr ſein ſoll als bloßer Schall und Rauch, eine Ge-
fahr, daß man zuletzt auf etwas eingeht, was wirklich nur inhalt-
loſes, ſchattenhaſtes Weſen iſt. Ein Handelsvertrag ſoll für

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Glaube an das höch&#x017F;te We&#x017F;en der men&#x017F;chlichen Ratur ent&#x017F;preche.<lb/>
Die Vergantungs&#x017F;tati&#x017F;tik von Bayern zeigt, daß gerade der kleine<lb/>
Landwirth bela&#x017F;tet i&#x017F;t, daß ihm die ganze Agrarpolitik gar nichts<lb/>
geholfen hat. Daß die Gelreidezölle mehr dem kleinen als dem<lb/>
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50 Hektar haben, das 2½fache de&#x017F;&#x017F;en, was die übrigen 98 Proc.<lb/>
mit Getreide bebauen. Die Bauern werden nach und nach aus-<lb/>
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Prei&#x017F;e für Grund und Boden zahlen und den&#x017F;elben nachher nicht<lb/>
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Boden i&#x017F;t eben die &#x017F;icher&#x017F;te Capitalanlage. Die ge&#x017F;ammte übrige<lb/>
Bevölkerung leidet unter den Getreidezöllen, denn gerade die<lb/>
ärmeren Cla&#x017F;&#x017F;en tragen haupt&#x017F;ächlich die&#x017F;e indirecten Steuern. Wir<lb/>
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Grenzbevölkerung, um billiges Mehl und Brod von jen&#x017F;eits der<lb/>
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&#x017F;teuern, welche Be&#x017F;itzende &#x017F;ind, welche von dem Schutze des Staates<lb/>
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Steuern i&#x017F;t eine Politik der Reichen gegen die Armen. Es &#x017F;ollen<lb/>
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&#x201E;Jungen&#x201C; in un&#x017F;rer Partei fehr wenig Kopf&#x017F;chmerzen machen;<lb/>
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&#x017F;elb&#x017F;t durch die Nachrichten von angeblichen Spaltungen<lb/>
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Ich habe durchaus nicht, wie Hr. Windthor&#x017F;t meinte, erklärt, daß<lb/>
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O&#x017F;tafrika&#x2019;s und &#x017F;pricht vom Ei&#x017F;enbahnbau, ohne an die Ko&#x017F;ten zu<lb/>
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&#x017F;chen Gedankens &#x017F;ei. Die&#x017F;e Bahn hätten wir nicht betreten &#x017F;ollen.<lb/>
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Mängel liegen nicht in der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaftsordnung &#x017F;elb&#x017F;t, &#x017F;ondern<lb/>
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Hoch und Niedrig hat aufzupa&#x017F;&#x017F;en, ob man nicht durch die Art<lb/>
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Aergerniß erregt und dazu beiträgt, daß die weniger gut Ge-<lb/>
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(Zuruf: Ab&#x017F;chaffen!) Hr. Bebel hat doch &#x017F;elb&#x017F;t anerkannt, daß der<lb/>
Staat Geld gebraucht, da kann man doch die Steuern nicht<lb/>
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(Heiterkeit links.) Daß die Socialdemokraten keine Gewalt an-<lb/>
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&#x017F;ie Gewalt gebrauchen könnten, &#x017F;o lange wird ihnen in ähnlicher<lb/>
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Lebensmittelzölle, aber wir können &#x017F;ie nicht entbehren, &#x017F;o lange<lb/>
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Aeußerung zu &#x017F;chaffen. Der Herr Reichskanzler hat ge&#x017F;tern eine<lb/>
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[0005] Freitag, Zweites Morgenblatt, Nr. 344 der Allgemeinen Zeitung. 12. December 1890. Inhalts-Ueberſicht. Deutſcher Reichstag. — Die Schulreform-Confrerenz in Berlin. Handel und Volkswirthſchaft. Deutſcher Reichstag. Telegraphiſcher Privatbericht der Allg. Ztg. 39. Sitzung. ⎈ Berlin, 11. Dec. Die Sitzung wird um 1 Uhr eröffnet. Am Tiſche des Bundesraths: v. Caprivi, v. Boetticher, v. Maltzahn, Hollmann u. A. Die erſte Etatsberathung wird fortgeſetzt. Abg. Bebel: Die erregte Art und Weiſe, in der die Abgg. Windthorſt und v. Frege geſtern meine Angriffe auf das beſtebende Steuer- und Zollſyſtem beantworteten, hat den Eindruck gemacht, als wenn die Herren felbſt fühlten, daß ſie ihrer Sache nicht mehr ganz ſicher ſind, und ſie für gefährdet hielten. An die Annahme des von unſrer und deutſchfreiſinniger Seite geſtellten Antrags auf Beſeitigung, bezw. Ermäßigung der Zölle iſt danach nicht mehr zu denken. Ich bin aber überzeugt, daß, wenn dieſe Frage heute wie vor dreiviertel Jahren der Wählerſchaft vorgelegt würde, das Re- ſultat der Wahl noch ein ganz anderes ſein würde, als am 20. Februar d. J. Die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung will von der bisherigen Steuer- und Zollpolitik nichts wiſſen. Man hat behauptet, daß die Agrarzölle nothwendig ſeien, weil ſie dem kleinen Bauer und dem ländlichen Arbeiter von Vortheil ſeien. Dem widerſpricht die Thatſache, daß die ländlichen Arbeiter in großen Schaaren nach den Städten hin drängen und daß die Agrarier ſelbſt in ihren Verſammlungen und Congreſſen fortgeſetzt die Mittel und Wege beſprechen, dieſem Drängen Einhalt zu thun. Die ſogenannte Sachfengängerei iſt ein Beweis, daß die ländlichen Arbeiter ſich zu Hauſe nicht wohl fühlen. Dieſer Zug iſt ſo charak- teriſtiſch, daß er in der Volkszählung zum klarſten Ausdruck ge- kommen iſt. Von 1875 bis 1885 hat die ſtädtiſche Bevöllerung in Preußen 20 Procent, die ländliche nur 4,8 Procent zugenommen. In Pommern, alſo einer agrariſchen Provinz, hat die Bevölkerung 0,7 Procent abgenommen. Aber ſelbſt in denjenigen deutſchen Landestheilen, in denen der kleine Grundbeſitz beinahe ausſchließ- lich dominirt, z. B. in Heſſen-Raſſau, hat die Bevölterungszunahme nur 2,9 Procent betragen. Die letzte Vollszählung wird wahr- ſcheinlich noch ungünſtigere Reſultate aufweiſen. In der frucht- baren Oſt- und Weſtpriegnitz betrug die ländliche Bevölkerung 1865 100,000 Seelen, 1885 nur noch 85,000 Seelen. Geſtern erhielt ich aus dem Leobſchützer Kreiſe einen Brief, worin ich gebeten wurde, hier mitzutheilen, in welcher geradezu unglaublichen Lage ſich die dortige Arbeiterhevölkerung in dieſem meiſt dem Groß- grundbeſitz verfallenen Kreiſe befindet. Seit dem 1. October erhielten die Arbeiter täglich, ausſchließlich der Koſt, 40 Pf., im Sommer 60 Pf. Allerdings ſind einige Fetzen Land da- bei und Wohnungen, aber welche Wohnungen! 1872 auf der Con- ferenz der ländlichen Arbeitgeber in Berlin erklärte Hr. v. Goeben, zahlreiche Großgrundbeſitzer machten für ihre Schweineſtälle größere Auf- wendungen, als für die Arbeiter. Im Wahlkreiſe des Hrn. v. Kardorff erhielten die Arbeiter täglich 50 Pf. im Winter, 75 Pf. im Sommer. Die Wohnungen im Leobſchützer Kreiſe ſind ſo niedrig, daß es ein Wunder iſt, daß Amtsvorſteher und Polizei derartige Wohnungen überhaupt zuließen. Im Oſten iſt es nicht anders. Nach dem Bericht eines Medicinalbeamten in Gumbinnen iſt die Entſtehung von Infectionskrankheiten auf den deſolaten Zuſtand der länd- lichen Wohnungen zurückzuführen. Dieſe Zuſtände erwecken die Unzufriedenheit der Arbeiter und erzeugen eine förmliche Völker- wanderung. Der Oſten zieht nach dem Weſten und nach den Induſtriebezirken. Hr. v. Frege hat mit einer Art von Hohn ge- ſagt, wir hätten zwar die Agitation unter den ländlichen Arbeitern angelündigt, aber wir ſchienen doch dabei einen Stein des An- ſtoßes zu finden, wie gewiſſe Aeußerungen des „Berliner Volks- blattes“ darthäten. Ständen ſolche Aeußerungen wirklich in jenem Blatte, ſo würde das nur beweiſen, daß wir uns allerdings der Schwierigkeiten, welche die ländliche Agitation für die Social- demokratie bietet, voll bewußt ſind. Aber zu glauben, daß wir deßwegen von dieſer ländlichen Agitation abſtehen würden, wäre ſehr verfehlt, und ich kann Ihnen im Vertrauen ſagen, daß, wenn wir erſt das nöthige Material aus allen Ecken und Enden Deutſch- lands für dieſe Agitation zuſammengetragen haben werden, wir eine kräſtige Agitation auf dem Lande in Scene ſetzen werden, die, nach meiner Ueberzeugung, Thatſachen ans Tageslicht bringen wird, wie man ſie am Ende des 19. Jahrhunderts in Deutſchland nicht für möglich halten ſollte. Für die ländliche Agitation tragen wir jetzt alles Material zu- ſammen und es wird ſich zeigen, was dabei herauskommt. Die Zunahme der ſocialdemolratiſchen Stimmen auf dem Lande, z. B. in Sachſen, in Mecklenburg, wo 4 ſocialdemokratiſche Candidaten in die Stichwahl gekommen ſind, beweist, daß die Socialdemolratie nicht mehr auf die Städte beſchränkt iſt. Hr. v. Frege behauptet, wir zerſtörten Religion und Sittlichkeit; für die Herren iſt Religien und Sittlichkeit dasſelbe, man kann aber ohne Religion ſehr ſittlich ſein. Ich würde es mit der Sittlichkeit nicht vereinbarlich finden, für Agrarzölle, Brenner- und Zuckerprämien einzutreten. (Sehr richtig! links.) Auf einer Synedalverſammlung in Grimma ſprach ein conſervativer Herr v. Wächter über die Arbeiterverhältniſſe auf dem Lande und bezeichnete für den weiblichen Theil der ländlichen Bevölkerung die Herren Gutsbeſitzer, ihre Beamten und die Officiere als ſehr gefährlich. (Widerſpruch rechts.) Atheismus iſt keine ſocialdemokratiſche Erfindung; ihm huldigten namentlich die franzöſiſche Ariſtokratie im vorigen Jahrhundert und die Republicaner begründeten die Einſetzung des höchſten Weſens damit, daß der Atheismus eine ariſtokratiſche Erfindung ſei, während der Glaube an das höchſte Weſen der menſchlichen Ratur entſpreche. Die Vergantungsſtatiſtik von Bayern zeigt, daß gerade der kleine Landwirth belaſtet iſt, daß ihm die ganze Agrarpolitik gar nichts geholfen hat. Daß die Gelreidezölle mehr dem kleinen als dem großen Landwirth zugute kommen, iſt unwahr. Die Anbaufläche für Getreide beträgt für die 2 Proc. Beſitzer, welche mehr als 50 Hektar haben, das 2½fache deſſen, was die übrigen 98 Proc. mit Getreide bebauen. Die Bauern werden nach und nach aus- gekauft, um den Großgrundbeſitz zu arrondiren. Ich erinnere an den Fürſten Bismarck, an den Grafen Schönburg, welche hohe Preiſe für Grund und Boden zahlen und denſelben nachher nicht als Acker behalten, ſondern in Wald verwandeln. Grund und Boden iſt eben die ſicherſte Capitalanlage. Die geſammte übrige Bevölkerung leidet unter den Getreidezöllen, denn gerade die ärmeren Claſſen tragen hauptſächlich dieſe indirecten Steuern. Wir haben nur 6 Proc. der Bevölkerung mit einem Einkommen über 1500 M. Es iſt doch natürlich, daß die übrigen 94 Procent die Hauptlaſt tragen. Zu welchen Praktiken verſührt nicht das Zollſyſtem die Grenzbevölkerung, um billiges Mehl und Brod von jenſeits der Grenze zu holen! Es kommen auf aus den Getreidezöllen 100, aus dem Kaffeezoll 45¼, der Salzſteuer 21, der Branntweinſteuer 129, der Bierſteuer 23, den Viehzöllen 5½, den Reiszöllen 3¼, dem Häringszoll 3½ und aus der Zuckerſteuer 61 Mill. M. vor- nehmlich von den ärmeren Claſſen der Bevölkerung. Die Steuern können nicht entbehrt werden, aber es ſollen diejenigen am meiſten ſteuern, welche Beſitzende ſind, welche von dem Schutze des Staates in erſter Linie Vortheil haben. Dieſe ganze Politik der indirecten Steuern iſt eine Politik der Reichen gegen die Armen. Es ſollen nur recht viel Ueberſchüſſe an die Einzelſtaaten abgeführt werden und die Einkommenſteuer ſoll nur dazu dienen, dieſe Ueberſchüſſe noch zu ergänzen, denn die weniger Steuerkräftigen werden durch- aus nicht entlaſtet. Hrn. Windthorſt kann ich ſagen, daß uns die „Jungen“ in unſrer Partei fehr wenig Kopfſchmerzen machen; die Mehrzahl ſteht auf unſrer Seite; täuſchen Sie ſich doch nicht ſelbſt durch die Nachrichten von angeblichen Spaltungen in der Partei! (Zuſtimmung bei den Socialdemokraten.) Ich habe durchaus nicht, wie Hr. Windthorſt meinte, erklärt, daß wir aus Furcht vor dem ſtehenden Heere die Gewalt vermeiden. Ich bin der Meinung, daß jetzt andere Factoren für die Entwick- lung maßgebend ſind. Die immer ſchneller folgenden Kriſen werden den Mittelſtand zu Grunde richten und das Capital immer mehr in einzelne Hände concentriren und dadurch wird die große Mehr- heit endlich einmal gezwungen ſein, ohne Gewalt die Geſellſchafts- ordnung umzuſtürzen. Hr. Windthorſt hat vor dem Weiterſchreiten auf dem Wege gewarnt, der mit der Invalidenverſicherung betreten worden iſt. Wenn Sie auf dieſem Wege nicht weiter gehen, dann werden Sie überhaupt nicht mit uns fertig werden. (Sehr richtig! links.) Hr. Windthorſt hat früher nur ſchweren Herzens für die Ausgaben für Oſtafrika geſtimmt, nur wegen der dort zu voll- endenden Culturaufgabe. Jetzt hoſſe er ſchon auf die Zukunft Oſtafrika’s und ſpricht vom Eiſenbahnbau, ohne an die Koſten zu denken. Er wird doch wohl ſelbſt nicht hoſſen, daß eine große Anzahl von Europamüden dort hingehen wird. (Während der folgenden Rede erſcheint der Reichskanzler am Bundesrathstiſche.) Abg. Windthorſt: Was wir für die Colonialpolitik bewil- ligt haben, diente hauptſächlich der Bekämpfung der Sklavenjagden und des Sklavenhandels. Wenn wir aber eine Verbindung mit den afrikaniſchen Seen herſtellen können, werden wir ein Land er- öffnen, in dem ſegensreiche Anſiedelungen möglich ſind. Erſt geſtern ſagte mir ein aus Afrika gekommener Reiſender: Sobald nur erſt die nothwendige Sicherheit und Ruhe vorhanden iſt, würden die Anſiedler ſchon in Maſſen kommen. Ich hoffe, daß nach den Er- klärungen von Wiſſmann wir auf dem betretenen Wege fortſchreiten und auch erhebliche Handelsbeziehungen erreichen können, die uns nützlich ſein werden. Geſtern habe ich übrigens keine Bewilligung ausgeſprochen, ſondern ſogar empfohlen, die Colonialfrage in einer beſonderen Commiſſion zu berathen. Wenn der Abg. Bebel mir darin folgen will, den Miſſionen freie Bahn zu ſchaffen, ſo werden wir humane Zwecke fördern können. Wenn ich das Alters- und Invaliditätsgeſetz geſtern als nützlich für die Arbeiter hingeſtellt haben ſoll, ſo war mein Gedankengang einfach der, daß es aller- dings für die Arbeiter nützlich ſein müſſe, wenn ſie für den Fall der Invalidität oder des Alters eine Verſorgung bekämen. Davon verſchieden iſt aber der Standpunkt, den ich bei der Berathung des Geſetzes eingenommen habe und noch einnehme: daß Alles, was den Staatszuſchuß betrifft, die Ausführung eines ſocialdemokrati- ſchen Gedankens ſei. Dieſe Bahn hätten wir nicht betreten ſollen. Ich begreife, daß der ſcharf denkende College Bebel an dem Punkt einſetzt und ſagt: „Der Weg geht nach unſrer Richtung und inſofern begrüßen wir das Geſetz, wenn es uns ſonſt auch nicht Genügendes leiſtet.“ Weil er uns dies mit ſolcher Klarheit ſagt und wir den Fehler einſehen, wollen wir ihn nicht weiter machen, ſondern uns mit dem Geſetz, wie es iſt, begnügen. Heben wir das Geſetz nicht auf, ſo müſſen wir Alle dahin wirken, daß es in möglichſt guter Weiſe eingeführt wird. Der Abg. Bebel erklärt die heutige Geſellſchaftsordnung für unhaltbar und hat auch mit großem Geſchick manche ernſte Mängel nachgewieſen, aber dieſe Mängel liegen nicht in der Geſellſchaftsordnung ſelbſt, ſondern nur darin, daß die an ſich richtige Geſellſchaftsordnung von Vielen nicht richtig erkannt und gebraucht wird, ſo daß Alle Urſache haben, ſich an die Bruſt zu ſchlagen und zu ſagen: Mea culpa! Hoch und Niedrig hat aufzupaſſen, ob man nicht durch die Art und Weiſe, wie man die Güter, die man bekommen hat, gebraucht, Aergerniß erregt und dazu beiträgt, daß die weniger gut Ge- ſtellten finden, es wäre Wandel zu ſchaffen. Hr. Bebel hat das beſtehende Zoll- und Steuerſyſtem als fehlekhaft bezeichnet, ohne uns ſeinerſeits Neues vorzuſchlagen. Was ſoll denn geſchehen? (Zuruf: Abſchaffen!) Hr. Bebel hat doch ſelbſt anerkannt, daß der Staat Geld gebraucht, da kann man doch die Steuern nicht einfach abſchaffen! Wenn die Socialdemokraten auf das Land gehen, werden ſie ſchlechte Geſchäfte machen, wenn Sie ſagen, daß alle Seligkeit auf Erden zu finden iſt, daß es kein Jenſeits gibt. Wenn die Herren das nicht ſagen, dann werden wir den Bauern ſagen, was die eigentliche Meinung der Socialdemokraten iſt. Deßhalb hätten die Regierungen alle Urſache, für die Aufrecht- haltung der Religion zu ſorgen und nicht ſolche Schulgeſetze zu machen, durch welche die Religion aus der Schule getrieben wird. (Heiterkeit links.) Daß die Socialdemokraten keine Gewalt an- wenden wollen, freut mich; denn gegen Gewalt würde Gewalt geſetzt werden; ſo lange ſie überhaupt den Gedanken nähren, daß ſie Gewalt gebrauchen könnten, ſo lange wird ihnen in ähnlicher Weiſe begegnet werden. So lange Hr. Bebel nicht ſeine neue Staats- und Geſellſchaftsordnung und ſein Steuerbudget uns vor- legt, ſo lange müſſen wir ihm ſagen, daß alle ſeine Reden nichts als die reine Agitation enthalten. Ich bin kein Lobredner der Lebensmittelzölle, aber wir können ſie nicht entbehren, ſo lange wir kein anderes Schutzmittel für die Landwirthſchaft haben. Kommt denn der Schutz der nationalen Arbeit nicht auch den Ar- beitern auf dem Lande und in den Städten zu ſtatten? Durch das Schutzzollſyſtem hat ſich unſer ganzes wirthſchaftliches Leben neu geſtaltet, und wenn man jetzt da hinein greiſt, ſo zerſtört man, was ſich jetzt gebeſſert hat. Es wird ſich ja vielleicht nothwendig machen, einzelne Zölle, auch die Getreidezölle herabzuſetzen, zu er- mäßigen in Folge von Handelsverträgen, die wir abſchließen. Aber wir haben keinen Anlaß, ohne weiteres unſre Zölle zu ermäßigen und dadurch unſre heimiſche Induſtrie und Landwirthſchaft zu ſchädigen. (Beifall.) Abg. Dr. Bamberger: Als captatio benevolentiae ſchicke ich voraus, daß ich den beiden Vorrednern nicht in alle die Fragen des Himmels und der Erde zu folgen gedenke, mit denen ſie den Etat beleuchten zu müſſen glaubten. Ich würde überhaupt nicht ſprechen, wenn mir nicht eine Aeußerung vom Regierungs- tiſch die Pflicht auferlegte, Klarheit über den Gegenſtand dieſer Aeußerung zu ſchaffen. Der Herr Reichskanzler hat geſtern eine Rede des öſterreichiſchen Abg. v. Plener citirt, und zwar mit der ausdrücklichen Bemerkung, daß er nur aus dem Gedächtniß citire, alſo für die Genauigkeit des Textes nicht einſtehn könne, um damit die Abgg. Rickert und Richter wegen ihrer Aeußerungen über dieſe Frage einigermaßen zurechtzuweiſen. Wenn der Herr Reichskanzler inzwiſchen Muße gefunden hat, die Reden der Abg. Richter und v. Plener näher einzuſehen, ſo wird er gewiß zugeben, daß er ſich in Bezug auf beide vollſtändig geirrt hat. Denn auf wen beruſt ſich der Abg. v. Plener in ſeinem Appell an Oeſterreich, daß es durchaus nicht nöthig habe, Deutſchland Conceſſionen zu machen? Etwa auf die Freihandelspartei, auf die Freiſinnigen, auf die Socialdemokraten? Nach dem Bericht der Münchener Allgemeinen Zeitung, dem ausführlichſten, den ich gefunden, ſagt Hr. v. Plener, Oeſterreich ſei hierbei in einer günſtigen Lage. In Deutſchland ſei die frühere Coalition der Großgrundbeſitzer und der Großinduſtriellen, die als Cartellparteien die Reichstags- mehrheit bildeten, gelöst. Richt auf unſre Seite, auf jene Seite des Hauſes beruſt er ſich. (Sehr richtig! Links.) Er mag ja falſch berichtet ſein. Leider hat er ja nicht recht. Die Herren ſind dem Pact, den ſie 1878 geſchloſſen haben, der Nation ge- meinſam das Fell über die Ohren zu ziehen (große Unruhe rechts), treuer geblieben, als wir wünſchen können. Richt auf die frei- ſinnige Bewegung gegen dieſes Zollſyſtem ſtützte ſich Hr. v. Plener, ſondern er berief ſich darauf, daß er glaubt, es rege ſich bei den Induſtriellen in dem Sinne, daß in Zukunft die Induſtrie nicht mehr die ſchwere agrariſche Belaſtung tragen könne. Noch mehr hat ſich der Hr. Reichskanzler geirrt in der Annahme, der Abg. Richter wolle dem Hrn. v. Plener in Oeſterreich Vorſchub leiſten in ſeiner Anſicht, daß ein ſolcher Vertrag auf alle Fälle von Deutſchland angenommen werden müſſe. Plener verlangt gar nicht, daß Oeſterreich alle möglichen Conceſſionen ohne Gegen- ſeitigkeit von uns beanſprucht; er legt den Nachdruck auf etwas ganz Befonderes, indem er ſagt, die öſterreichiſchen Unter- händler müßten beſtrebt ſein, öſterreichiſcherſeits Conceſſionen erſt für differentielle Begünſtigung der öſterreichiſchen land- wirthſchaftlichen Ausfuhr zu gewähren. (Hört! Hört! Links.) Wie das etwas ſchutzzöllneriſche Art iſt, hat er überhaupt den Mund in dieſer Sache furchtbar voll genommen, ſich als Herrſcher der Situation aufgeſpielt, dem Niemand widerſprechen kann, und die Monſtroſität ausgeſprochen, deren ich, ehrlich geſprochen, eine deutſche Regierung nicht für fähig halte: Deutſchland müſſe ſolche caudiniſche Be- dingungen annehmen, daß es ſich Oeſterreich gegenüber in einem Handelsvertrag verpflichte, Differentialzölle zu ſeinen Gunſten zu ſtipuliren, das heißt mit anderen Worten: ſich die Hände zu binden, daß diejenigen Vergünſtigungen im Zoll, die Oeſterreich zugebilligt würden, anderen Nationen pro futuro verweigert werden müßten. Gegen dieſes monſtröſe Anſinnen iſt Hr. Richter der deutſchen Regierung, wenn das noch nöthig wäre, zu Hülfe gekommen, indem er ausführte, ſolche Differentialtarife würden ge- eignet ſein, Repreſſalien herbeizuführen. Der Hr. Reichskanzler wird mir alſo zugeben, daß er, weit entfernt, durch die Richter- ſchen Ausführungen in ſeiner Poſition geſchwächt zu werden, ganz einfach in den Verhandlungen mit Oeſterreich, wenn man wirklich die Keckheit ſo weit treiben ſollte, uns zuzumuthen, ſolche Differen- tialvergünſtigungen zu gewähren, ſagen könnte: Hier iſt aus der Oppoſition des Reichstags heraus ein ſehr entſchiedener Ausſpruch gefallen, und ich glaube, wie die Dinge im Reichstage liegen, daß wir damit im Reichstage abgeſehen davon, daß wir ſelbſt nicht geneigt ſind, dies zu gewähren, keine Ausſicht haben durchzudringen. Im übrigen iſt es ja auch für die Reichsregierung wichtig, zu wiſſen, mit welcher Mehrheit ſie in der Zukunft in dieſen Dingen wird zu rechnen haben. (Sehr richtig! links.) Handelsverträge können hier ja, wie alle internationalen Verträge, nicht discutirt und amendirt werden; ſie ſind anzunehmen oder abzulehnen. Eine Regierung muß alſo, wenn ſie einen ſolchen Vertrag ſchließt, ſich ungefähre Rechenſchaft davon geben können, was ſie zu erwarten hat, wenn ſie an ihre geſetzgebende Volksvertretung herantritt. Wir würden deßhalb unſre Pflicht entſchieden verſäumen, wenn wir mit unſern Anſichten in dieſer Beziehung zurückhalten wollten. Ich glaube es im Namen meiner Freunde ausſprechen zu dürfen, und ich vertraue, dieſe Anſchauung herrſcht ſogar im Schoße der verbündeten Regierungen: wenn uns ein Handelsvertrag mit Oeſterreich vorgelegt wird, der uns zu Differentialzöllen verpflichtet, er mag ſonſt Vortheile bringen, welche er wolle, ſo werden wir einen ſolchen Vertrag nicht annehmen. (Sehr richtig! links.) Ich will mit dem Hrn. Reichskanzler nicht rechten, daß er den Ab- geordneten Richter und Rickert in ihren beinahe ſchüchternen Be- merkungen etwas ſcharf auf den Leib gegangen iſt. Ich begreife es, daß er gerade bei dieſen Verhandlungen ein bißchen nervös iſt. Das Gebiet iſt ihm neu; er hat uns ſelbſt früher einmal er- zählt, daß er bei Gelegenheit der colonialen Aufgaben ſich durch den Wuſt von Colonialbüchern hätte durcharbeiten müſſen. Zu meinem Bedauern fürchte ich, er muß ſich auch mit dieſen un- zähligen handelspolitiſchen Arbeiten quälen und ſich darüber eine nähere Einſicht verſchaffen. Wir wiſſen ja, daß er nicht aus perſönlichem Intereſſe, ich glaube das ohne Schmeichelei ſagen zu können, ſondern aus Pflichtgefühl dem Rufe ſeines Monarchen gefolgt iſt und die ſchwere Laſt des Amtes auf ſich genommen hat, das er hier auch uns gegenüber auszuüben hat. Ich verlange alſo auch nicht von ihm, daß er ſo eingeweiht in dieſe Dinge ſei, wie wir, die wir theilweiſe ſeit 30, 40 Jahren uns mit allen dieſen Dingen abgeben. Ich verlange nur ein bischen Billigkeit, wogegen ich gerne zugeben will, daß die Schwierigkeit der Lage auch eine gewiſſe Empfindlichkeit rechtfertigen mag. Es iſt überhaupt ſehr ſchwer, daß zwei ſchutzzöllneriſche Regierungen ſich über einen Handelsvertrag mit einander verſtändigen (Heiterkeit links), und heute doppelt ſchwer, nachdem unter der früheren Regierung dieſe Dinge ſchon ſo lange Zeit in eine ſo be- klagenswerthe Stagnation gerathen ſind. Wir haben uns beinahe im- mer negativ verhalten in der ganzen Handelspolitik ſeit der Aenderung des Tariffyſtems; der Anſtoß iſt immer von der andern Seite gekommen. Wir haben uns immer darauf beſchränkt, immer mehr Tarif- beſtimmungen aus den Handelsverträgen herausfallen zu laſſen, ſo daß in Oeſterreich, das uns ja ſo nahe ſteht, ſchließlich das ganze Handelsverhältniß auf die Nichtigkeit und Hohlheit eines bloßen Meiſtbegünſtigungsvertrages herabgeſunken iſt. Nachdem die Dinge ſeit Jahren ſo in Verſumpfung gerathen ſind, iſt es natürlich doppelt ſchwer, jetzt Verhandlungen zu führen. Ich begreife, daß die Re- gierung fürchtet, es könne ihr ſchaden, wenn wir ihr etwas leicht- ſinnig in die Parade fahren würden, was aber unſerſeits durchaus nicht geſchieht. Wir wünſchen ja vielleicht mehr, als alle anderen Fractionen, daß ein Handelsvertrag zu Stande kommt. Wenn wir das ſagen, würden wir uns eigentlich verſündigen gegen die Regierung, welche glaubt, man dürfe nicht laut werden laſſen, daß man die Sache wünſcht, um die Verhandlungen nicht zu er- ſchweren. Bekanntlich ſchließt Niemand beſſer ein Geſchäft ab, als wenn er ſagt: Es liegt mir nichts daran; wenn Du es mir nicht geben willſt, ſo gehe Deiner Wege. Ein correctes Still- ſchweigen würde alſo die beſten Dienſte leiſten nach der Auf- faſſung, daß man die Regierung allein gehen laſſen müſſe. Das geſchieht aber nicht. Auch Hr. Windthorſt erklärt, er wünſche den Handelsvertrag ſehr, und ſelbſt der Abg. v. Frege, obwohl er ein hartgefrorener Schutzzöllner iſt, kann nicht umhin, einige tief- gefühlte Worte zu ſagen, wie ſehr er wünſche, daß ein Handels- vertrag zu Stande komme, und alle deutſchen Handelskammern ſind ſeit Jahren voll von Manifeſtationen in demſelben Sinne. Gerade darin, wenn ſich ſo eine communis opinio bildet: um Gotteswillen nur keinen Handelsvertrag! ſo ſehe ich für einen Handels- vertrag, der mehr ſein ſoll als bloßer Schall und Rauch, eine Ge- fahr, daß man zuletzt auf etwas eingeht, was wirklich nur inhalt- loſes, ſchattenhaſtes Weſen iſt. Ein Handelsvertrag ſoll für

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen, Susanne Haaf: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-04-08T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 344, 12. Dezember 1890, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine344_1890/5>, abgerufen am 21.11.2024.