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Allgemeine Zeitung, Nr. 345, 13. Dezember 1890.

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erste Seite
Nr. 345. -- 92. Jahrgang.
Morgenblatt.
München, Samstag, 13. December 1890.


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Verantwortlicher Redakteur: Hugo Jacobi in München.

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u. Co., Haasenstein u. Vogler u. R. Mosse.
In den Filialen der Zeitungsbureaur Invalidendank zu Berlin,
Dresden, Leipzig, Chemnitz etc. Außerdem in: Berlin bei B. Arndt (Mohrenstr. 26) und S. Kornik (Krausenstr. 12),
Hamburg bei W. Wilckens u. Ad. Steiner. New York bei der Intern. Publishing Agency, 710 Broadway.
Druck und Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung Nachfolger in Stuttgart und München.



[Spaltenumbruch]
Inhalts-Uebersicht.
Contractbruch und Buße.
Deutsches Reich. * Berlin: Vom Reichstag. Invaliditäts-
und Altersversicherung. Resolution, betreffend die Zuckersteuer.
Die Kronprinzessin von Griechenland. l. Meiningen: Neu-
wahlvorbereitung. Zählungsergebnisse.
Luxemburg. Vom neuen Hofe.
Belgien. # Brüssel: Zum Regierungsjubiläum König Leopolds II.
Asien. Deutschland und Siam.
Afrika. Afrika-Reifender Ferrandi.
Feuilleton: Alcibiades. Von Heinrich Noe.
Bayerische Chronik. -- Weitere telegraphische Nach-
richten.

Hiezu: Zweites und drittes Morgenblatt.






Contractbruch und Buße.

P. In Nr. 302 dieses Blattes tritt ein Aufsatz: "Buße
und Schadensersatz" gegen die socialdemokratischen Angriffe für
die Bestimmungen des Entwurfs der Gewerbenovelle über die
Buße beim Contractbruch ein. Mit dem Ergebniß, zu dem der
Aufsatz gelangt, einverstanden, vermögen wir der Begründung
nicht durchaus beizupflichten, und zwar darum nicht, weil sie
-- wie wir glauben: ohne Noth -- der Socialdemokratie die
Replik offen läßt: es handle sich doch auch hier wieder um
ein Ausnahmegesetz gegen die Arbeiter.

Die Begründung gipfelt in dem Satz: die heutige deutsche
Gesetzgebung über den Schadenersatz sei unzulänglich, sofern
nach ihr wohlbegründete Schadenersatzansprüche häufig schwer
oder gar nicht durchzusetzen seien; es sei deßhalb als eine er-
freuliche Reform zu begrüßen, daß die Novelle an die Stelle
des durch den Vertragsbruch begründeten Entschädigungsanspruchs
einen der Conventionalstrafe ähnlichen Anspruch auf Buße
setzen wolle.

An dieser Begründung haben wir zweierlei auszusetzen:
einmal die Gleichstellung der Buße mit der Conventionalstrafe
im Gegensatz zur Entschädigung, sodann die Behauptung über
die Unzulänglichkeit der heutigen Gesetzgebung.

Buße (zusammenhängend mit "baß") bedeutet sprachlich
Besserung; auf das Rechtsleben angewandt, kann sie ebenso-
wohl Besserung eines dem "gemeinen Wesen", der res publica,
dem Staat zugefügten, d. i. eines criminellen -- wie Besserung
des einem Einzelnen (Privaten) zugefügten, d. i. eines bürger-
lichen Unrechts, sein; eine und dieselbe That kann Buße nach
beiden Richtungen heischen, weil sie zugleich ein criminelles und
ein bürgerliches Unrecht darstellt. Die Buße des criminellen
Unrechts nennen wir Strafe, die Buße des bürgerlichen Un-
rechts Schadenersatz. Nach unsrer heutigen Rechtsanschauung
(die Anschauung des römischen wie des altdeutschen Rechts war
eine andere) kann Strafe nur der Staat verhängen, die ange-
setzte Geldstrafe fließt in die Staatscasse. Dem durch crimi-
nelles oder bürgerliches Unrecht verletzten Einzelnen steht nur
ein Anspruch auf Ersatz seines Schadens zu, der Schaden um-
faßt auch den entgangenen Gewinn, darüber hinaus aber soll
der Verletzte nichts erhalten, einen Vortheil soll er aus der
That nicht ziehen. Der über den Betrag des Schadens hinaus-
gehende Ersatz hätte den Charakter einer an den Verletzten zu
zahlenden Strafe. Eine solche Strafe stellt dem Erfolg nach
häufig -- wie schon das Wort sagt -- die Conventionalstrafe
[Spaltenumbruch] vor; und weil unserm Rechtsbewußtsein das Strafrecht des
Privatmanns widerstreitet, ist neuerdings (so auch auf dem
letzten Juristentag) die schrankenlose Befugniß zur Festsetzung
von Conventionalstrafen lebhaft angegriffen worden. -- Sollte
die von der Gewerbenovelle vorgeschlagene Buße als Con-
ventionalstrafe in diesem Sinne gemeint sein, so würden sich
die Arbeiter mit Recht dagegen auflehnen, denn dann würde die
Buße neben dem Schadenersatz eine Strafe des Contract-
bruchs darstellen, die wir, da der einfache Vertragsbruch immer
nur ein bürgerliches Unrecht ist, in jeder Form, auch in der
einer sophistischen Auslegung des §. 111 des Strafgesetzbuches,
zurückweisen.

Wir sagten: dem Erfolg nach stellt die Conventionalstrafe
hänfig eine wirkliche Strafe dar, nämlich da, wo der Starke
seine Uebermacht dem Schwachen gegenüber dazu mißbraucht,
für dessen Vertragsbruch (im formell frei geschlossenen Ver-
trag) eine Schadenersatzsumme sich auszubedingen, die den Be-
trag seines wirklichen Schadens weit übersteigt. Der Zweck
des Instituts ist keineswegs Strafe; der nächste, auch heute
noch berechtigte Zweck der Conventionalstrafe ist der, dem einen
Contrahenten eines Vertrags Ersatz seines Interesses im Fall
des Vertragsbruchs des anderen Theils zu sichern. Dieser Zweck
ist um so berechtigter, je schwieriger die Ermittelung der Größe
jenes Interesses ist; die Schwierigkeit kann aber doppelter Art
sein, sie liegt einmal vielfach in der Sache selbst, sie liegt, oder
vielmehr: sie lag lange Zeit daneben auch in der Gestaltung
des Civilprocesses. Wir kommen damit zu unserm Haupt-
einwand gegen die Begründung der Buße in dem erwähnten
Aufsatz.

Es ist nicht richtig, daß der Stand der heutigen Ge-
setzgebung über Schadenersatz
die Durchführung eines
Entschädigungsanspruchs erschwere oder unmöglich mache. Mit
aller wünschenswerthen Klarheit verfügt der §. 260 der deutschen
Civilproceßordnung:

"Ist unter den Parteien streitig, ob ein Schaden entstanden
sei und wie hoch sich der Schaden oder ein zu ersetzendes Inter-
esse belaufe, so entscheidet hierüber das Gericht unter Würdi-
gung aller Umstände nach freier Ueberzeugung."

Von einem schwierigen oder unmöglichen Beweis des
Schadens ist also überall keine Rede mehr, und sofern die im
Fall des Vertragsbruchs zu zahlende Buße nichts Anderes
darstellen soll als den Ersatz des dem andern Theil aus dem
Bruch erwachsenen Schadens, wird durch den Entwurf der
Gewerbenovelle für die Arbeiter ganz und gar kein neues oder
Ausnahme-Recht geschaffen. Denn darüber, daß Ansprüche aus
Contractbruch, die in der Regel ziffermäßig sehr schwer fest-
zustellen sind, unter den angeführten §. 260 fallen, kann kein
vernünftiger Zweifel bestehen; der Contractbruch macht schaden-
ersatzpflichtig, nicht weil er ein Delict, sondern weil er ein
bürgerliches Unrecht, eine Verletzung der den andern Con-
trahenten gegenüber bestehenden Verpflichtung ist. Die Ein-
wendungen der Socialdemokraten gegen die Berechtigung der
Buße (in dem hier vertretenen Sinn) beruhen auf einem hand-
greiflichen Sophisma; sie sagen: "Was nicht verboten ist, ist
erlaubt; der Contractbruch ist durch kein Strafgesetz verboten,
also ist er erlaubt, kann daher auch keine Buße zur Folge
haben." Der erste Satz ist ganz wahr, aber nur ist zu be-
achten, daß er lautet: "was nicht verboten ist etc.", und daß er
nicht lautet: "was nicht strafbar ist etc.". Nicht Alles, was
nicht strafbar ist, ist erlaubt, der Vertragsbruch als bloß
bürgerliches Unrecht ist nicht strafbar und hat darum keine
öffentliche Buße, keine Strafe zur Folge, aber er ist unerlaubt
[Spaltenumbruch] und zieht darum die privatrechtliche Buße, die Pflicht zum
Schadenersatz nach sich.

Nach dem bestehenden Gesetz kann also der durch den Bruch
des Arbeitsvertrags geschädigte Theil jetzt schon Feststellung
seines Schadens oder seines zu ersetzenden Interesses nach freier
Ueberzeugung des Gerichts verlangen, und wenn der Entwurf
der Gewerbenovelle Vorschriften über die Höhe der "Buße"
gibt, so ist das nicht eine Verschärfung des seitherigen Rechts,
sondern -- wenigstens theoretisch -- eine Milderung: es wird
von vornherein ein Maximum festgesetzt, das der Richter bei
Bemessung des Schadenersatzes nicht überschreiten darf, und
damit ist, da das Gesetz ein zwingendes ist, die mißbräuchliche
"Vereinbarung" einer übermäßig hohen Conventionalstrafe aus-
geschlossen.

Nun ist aber freilich zuzugeben, daß zur Zeit die Ver-
wirklichung des Anspruchs auf Buße (im Sinn von Schaden-
ersatz) großen Schwierigkeiten begegnet; nur liegen diese nicht
auf dem Gebiet unsrer Gesetzgebung über Schadenersatz, sondern
einerseits in §. 115 der Gewerbe-Ordnung, der die Gewerbe-
treibenden verpflichtet, "die Löhne ihrer Arbeiter baar in Reichs-
währung auszuzahlen", andrerseits im Zustand unsrer Recht-
sprechung. -- Für eine große Zahl unfrer rechtsgelehrten Richter
existirt der oben angeführte §. 260 der Civilproceßordnung
nicht, sondern sie sprechen heute noch Recht, als ob die alte
gemeinrechtliche formelle Beweistheorie noch in gesetzlicher Gel-
tung stände. Wenn ein Kläger, dem der Beklagte ein Auge
aus- oder einen Arm abgeschlagen hat, den Antrag auf Zuer-
kennung eines Schadenersatzes (einer Buße) von 1000 Mark
stellt (und nach unserm Gesetz muß er den Antrag auf eine
bestimmte Summe stellen, er darf nicht sagen: "ich beantrage,
den Beklagten zum Ersatz meines nach §. 260 festzustellenden
Schadens zu verurtheilen"), so verlangen jene Richter, daß er
bis auf den Pfennig die Uebereinstimmung zwischen seinem An-
spruch und seinem Schaden beweise; vermag er diesen (unmög-
lichen) Beweis nicht zu führen, so wird er "wegen ungenügen-
der Substanziirung seines Anspruchs" abgewiesen oder wird ihm
der Anspruch nur in dem ganz ungenügenden Betrag, den er
zu "stubstanziiren" vermochte, zuerkannt. (Das Reichsgericht,
das auf einem andern Standpunkt steht, ist gegen eine solche
Praxis ziemlich machtlos, weil die wenigsten derartigen Processe
-- dank den Bestimmungen über die "Revisionssumme" -- an
dasselbe gelangen.) Unter dieser Praxis leiden natürlich auch die
Schadenersatzansprüche wegen Vertragsbruchs, und so wird
man kaum etwas dagegen einwenden können, wenn der Gesetz-
geber diese Ansprüche den Gewerbegerichten überweist, denen
zudem in solchen Fragen mehr Sachkenntniß zukommt, als den
rechtsgelehrten Richtern, und die darum ohne die (den ordent-
lichen Gerichten allerdings freistehende) Zuziehung von Sachver-
ständigen urtheilen können. -- So viel ist ja klar: der
Schaden, der einem Fabricanten durch eine plötzliche Arbeits-
einstellung erwächst, läßt sich ebenso schwer ziffernmäßig be-
rechnen,
wie der Schaden, der dem Arbeiter durch Verlust
eines Auges oder Armes erwächst, der Richter muß ihn
schätzen, und er soll ihn hier und dort nicht übertrieben,
aber auch nicht engherzig schätzen: es ist immer noch besser,
wenn der unschuldige Verletzte ein wenig zu viel bekommt, als
wenn der schuldige Verletzer zu geringe Buße zahlt.

Mit der sachgemäßen Festsetzung des Betrages der wegen
Vertragsbruchs zu leistenden Buße ist aber für den Geschädigten
nichts gewonnen, wenn seinem Anspruch nicht auch die Voll-
streckung gesichert ist. Mit der Uebertragung der Entscheidung
der Streitfälle an die Gewerbegerichte ist in dieser Beziehung

[Spaltenumbruch]
Feuilleton.


(Nachdruck verboten.)
Alcibiades.

* Wer gedenkt noch der Tage, als Garibaldi mit seinen
"Tausend" nach Sicilien segelte? Es war, als ob ganz Europa
sich still verhielte, um zu erlauschen, welch seltsame Dinge sich
dort an den Gestaden der Lästrygonen zutragen müßten. Der
Name des "Helden der beiden Welten" war auf allen Lippen.
Wußte man doch, daß es sich hier um eine Unternehmung han-
delte, bei welcher Kräfte mitspielten, die weit über den Schau-
platz der Dinge, ja weit über das Mittelmeer-Becken hinaus-
ragten.

Nach und nach erschienen die Nachrichten von der Landung
bei Marsala und den Kämpfen bei Calatafimi, Palermo, Milazzo
und vom Uebergang über die Meerenge. Das war es, was
auf der Bühne vorging. Vom Knarren der Maschinen, mit
welchen die Helden auf den Zuschauerraum herabgelassen wur-
den, vernahm man damals noch nichts. Es dauerte Jahre, bis
man wußte, was sich gleichzeitig im Schutze der Hinter- und
Seitenwände zugetragen hatte. Man erfuhr, daß die Flotte
des Bourbon sich langsam von der Nordwestspitze der Infel
entfernte, als die längst erwarteten verdächtigen Schiffe auf-
tauchten. Man erfuhr, daß auf einem amerikanischen Krieg-s
schiffe, welches vor Palermo lag, zwischen den Befehlshabern
des Königs und den aus Amerika, England und Piemont ge-
kommenen Sendlingen um die Summen gefeilscht wurde, welche
als Lohn des Verraths angeboten wurden. Man erfuhr, daß
die Schiffe der Freischaaren, ohne der Flotte des Bourbons zu
begegnen, auf das Festland hinüberfuhren. Man erfuhr noch
vieles Andere, was beiden Theilen nicht als Ehre angerechnet
werden kann.

Dann kam die Schlacht am Volturno, welche von den Vor-
kämpfern der neuen Ordnung gern als Sieg gefeiert wird, in
Wirklichkeit aber ein Erfolg der bourbonischen Heerschaaren war.
[Spaltenumbruch] Würde der jugendliche König alsbald nach der Schlacht dem
Rathe seiner Generale gefolgt haben und nach der Hauptstadt
zurückgekehrt sein, so hätte er dort kaum mehr einen ernsthaften
Widerstand gefunden -- wenn man nicht etwa Nationalgarden,
Bürgerwehr und rasch zusammengelesene Freicorps für eine
Streitkraft halten will. Der König versagte seine Zustimmung
aus Menschenfreundlichkeit. Er wollte keinen Straßenkampf,
kein Blutvergießen in seiner Hauptstadt. So zog er sich in das
feste Gaeta zurück, um dasselbe später ohne Krone und Heer
zu verlassen.

Es ist selbstverständlich, daß sich bei diesem Heere Alles
befand, was in jenen Tagen eine königliche Uniform trug. So
fochten darin auch Zöglinge der Militärschule dell' Annunzia-
tella, welche ohne die vorhandenen Umstände noch das eine oder
andere Jahr auf der Schulbank hinter ihren Büchern und
Karten zugebracht hätten.

Unter diesen letzteren fiel durch seine Jugend und hübsche
Erscheinung ein funkelnagelneuer Lieutenant auf, der unmittel-
bar aus dem Hörsaal zu dieser Würde emporgestiegen und als-
bald auf das Schlachtfeld des Volturno befördert worden war.
Niemand, welcher die herkömmlichen Vorstellungen vom Aus-
sehen eines Süditalieners festhielt, wäre auf die Vermuthung
gekommen, in diesem goldblonden, blauäugigen, zartwangigen
Jungen einen Calabresen vor sich zu haben. War der junge
Marchese v. C. aus dem Geschlechte geschlagen, der Vertreter
einer Spielart, oder deutete sein Aeußeres auf jene Tage zurück,
in welchen Gothen und Langobarden, Sachsen und Normannen
an jenen Küsten weilten -- er war das Bild einer deutschen
Jünglingsgestalt.

Nachdem die Veste Gaeta gefallen war, zerstreute sich das
bourbonische Heer nach allen Nichtungen. Viele Officiere wur-
den in das Heer des neuen Italien aufgenommen, andere traten
beim Papst in Dienste, die einen suchten sich in ihrer Heimath
irgendeinen Lebensunterhalt, die anderen in weiter Ferne.

Dem Vater des jungen Marchese, einem der eifrigsten
Anhänger der Bourbonen, konnte es nicht in den Sinn kommen,
den jungen Menschen den Nock des Usurpators tragen zu lassen.
[Spaltenumbruch] Ebensowenig jedoch wollte er ihn zu Hause haben, und zwar
aus einem Grunde, der die Lästerzungen der Terra di Otranto
schon oft beschäftigt hatte.

Die Ehe sollte eine unglückliche sein. Man sagte, die
Dame hätte niemals eingewilligt, diesem Manne die Hand zu
reichen, wenn sie nicht, wie der neapolitanische Ausdruck lautet,
ein Hufeisen verloren gehabt hätte. Während des Ehestandes
hätten sich, wie es hieß, Zerwürfnisse eigenthümlicher Art er-
geben, und die Dame, eine geborene Marchesa, wurde behan-
delt, als ob sie nicht die Frau des Hauses und Pierino nicht
der Sohn wären, was möglicherweise sich so verhielt. Genug
der Vater trachtete, ihn so weit als möglich aus dem Gesichte
zu bekommen.

Bei seinen Verbindungen konnte Hoffnung vorhanden sein,
Pierino irgendwo unter des Kaisers Fahnen seine Laufbahn
fortsetzen lassen zu können.

Was nun diesen Pierino anbelangt, so hatte er außerdem
noch manche treffliche Empfehlung für sich. Abgesehen von
seinem einschmeichelnden Aeußeren und den gut angelernten
Sitten eines vornehmen Hauses, wodurch er sich den Frauen
und auch den Männern angenehm machte, konnte er auf die
Spuren einer in der Schlacht erhaltenen Gesichtswunde, als
auf ein Ehrenzeichen, hinweisen. Seine Vorgesetzten in der
Annunziatella hatten ihm das Zeugniß eines trefflichen Mathe-
matikers mitgegeben.

Er war ein Fechtkünstler und sehr gewandt in körperlichen
Uebungen. Sein Trachten, sich eine Stellung oder ein Ver-
mögen zu erringen, war mächtiger, als das irgendeines jungen
Menschen. Einer seiner Lehrer pflegte von ihm zu sagen:
"Nicht nur, daß Pierino mancherlei gelernt hal und mit einem
scharfen Verstand ausgestattet ist, er hat auch kein Herz. Er
kann es weit bringen."

Indessen schienen die ersten selbständigen Schritte, welche
er auf der Stufenleiter seines zukünftigen Glückes unternahm,
nicht sofort verheißungsvoll. Der Hof hatte sich von Gaeta
nach Rom gewendet und war dort heimgesucht von einer Menge
von Bittstellern, welche sich gebärdeten, als sei derselbe für

Nr. 345. — 92. Jahrgang.
Morgenblatt.
München, Samſtag, 13. December 1890.


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Verantwortlicher Redakteur: Hugo Jacobi in München.

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Leipzig, Frankfurt a. M., Stuttgart, Nürnberg, Wien, Paris, London, Zürich. Baſel ꝛc. b. d. Annoncenbureaux G. L. Daube
u. Co., Haaſenſtein u. Vogler u. R. Moſſe.
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Dresden, Leipzig, Chemnitz ꝛc. Außerdem in: Berlin bei B. Arndt (Mohrenſtr. 26) und S. Kornik (Krauſenſtr. 12),
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[Spaltenumbruch]
Inhalts-Ueberſicht.
Contractbruch und Buße.
Deutſches Reich. * Berlin: Vom Reichstag. Invaliditäts-
und Altersverſicherung. Reſolution, betreffend die Zuckerſteuer.
Die Kronprinzeſſin von Griechenland. λ. Meiningen: Neu-
wahlvorbereitung. Zählungsergebniſſe.
Luxemburg. Vom neuen Hofe.
Belgien.Brüſſel: Zum Regierungsjubiläum König Leopolds II.
Aſien. Deutſchland und Siam.
Afrika. Afrika-Reifender Ferrandi.
Feuilleton: Alcibiades. Von Heinrich Noé.
Bayeriſche Chronik. — Weitere telegraphiſche Nach-
richten.

Hiezu: Zweites und drittes Morgenblatt.






Contractbruch und Buße.

P. In Nr. 302 dieſes Blattes tritt ein Aufſatz: „Buße
und Schadenserſatz“ gegen die ſocialdemokratiſchen Angriffe für
die Beſtimmungen des Entwurfs der Gewerbenovelle über die
Buße beim Contractbruch ein. Mit dem Ergebniß, zu dem der
Aufſatz gelangt, einverſtanden, vermögen wir der Begründung
nicht durchaus beizupflichten, und zwar darum nicht, weil ſie
— wie wir glauben: ohne Noth — der Socialdemokratie die
Replik offen läßt: es handle ſich doch auch hier wieder um
ein Ausnahmegeſetz gegen die Arbeiter.

Die Begründung gipfelt in dem Satz: die heutige deutſche
Geſetzgebung über den Schadenerſatz ſei unzulänglich, ſofern
nach ihr wohlbegründete Schadenerſatzanſprüche häufig ſchwer
oder gar nicht durchzuſetzen ſeien; es ſei deßhalb als eine er-
freuliche Reform zu begrüßen, daß die Novelle an die Stelle
des durch den Vertragsbruch begründeten Entſchädigungsanſpruchs
einen der Conventionalſtrafe ähnlichen Anſpruch auf Buße
ſetzen wolle.

An dieſer Begründung haben wir zweierlei auszuſetzen:
einmal die Gleichſtellung der Buße mit der Conventionalſtrafe
im Gegenſatz zur Entſchädigung, ſodann die Behauptung über
die Unzulänglichkeit der heutigen Geſetzgebung.

Buße (zuſammenhängend mit „baß“) bedeutet ſprachlich
Beſſerung; auf das Rechtsleben angewandt, kann ſie ebenſo-
wohl Beſſerung eines dem „gemeinen Weſen“, der res publica,
dem Staat zugefügten, d. i. eines criminellen — wie Beſſerung
des einem Einzelnen (Privaten) zugefügten, d. i. eines bürger-
lichen Unrechts, ſein; eine und dieſelbe That kann Buße nach
beiden Richtungen heiſchen, weil ſie zugleich ein criminelles und
ein bürgerliches Unrecht darſtellt. Die Buße des criminellen
Unrechts nennen wir Strafe, die Buße des bürgerlichen Un-
rechts Schadenerſatz. Nach unſrer heutigen Rechtsanſchauung
(die Anſchauung des römiſchen wie des altdeutſchen Rechts war
eine andere) kann Strafe nur der Staat verhängen, die ange-
ſetzte Geldſtrafe fließt in die Staatscaſſe. Dem durch crimi-
nelles oder bürgerliches Unrecht verletzten Einzelnen ſteht nur
ein Anſpruch auf Erſatz ſeines Schadens zu, der Schaden um-
faßt auch den entgangenen Gewinn, darüber hinaus aber ſoll
der Verletzte nichts erhalten, einen Vortheil ſoll er aus der
That nicht ziehen. Der über den Betrag des Schadens hinaus-
gehende Erſatz hätte den Charakter einer an den Verletzten zu
zahlenden Strafe. Eine ſolche Strafe ſtellt dem Erfolg nach
häufig — wie ſchon das Wort ſagt — die Conventionalſtrafe
[Spaltenumbruch] vor; und weil unſerm Rechtsbewußtſein das Strafrecht des
Privatmanns widerſtreitet, iſt neuerdings (ſo auch auf dem
letzten Juriſtentag) die ſchrankenloſe Befugniß zur Feſtſetzung
von Conventionalſtrafen lebhaft angegriffen worden. — Sollte
die von der Gewerbenovelle vorgeſchlagene Buße als Con-
ventionalſtrafe in dieſem Sinne gemeint ſein, ſo würden ſich
die Arbeiter mit Recht dagegen auflehnen, denn dann würde die
Buße neben dem Schadenerſatz eine Strafe des Contract-
bruchs darſtellen, die wir, da der einfache Vertragsbruch immer
nur ein bürgerliches Unrecht iſt, in jeder Form, auch in der
einer ſophiſtiſchen Auslegung des §. 111 des Strafgeſetzbuches,
zurückweiſen.

Wir ſagten: dem Erfolg nach ſtellt die Conventionalſtrafe
hänfig eine wirkliche Strafe dar, nämlich da, wo der Starke
ſeine Uebermacht dem Schwachen gegenüber dazu mißbraucht,
für deſſen Vertragsbruch (im formell frei geſchloſſenen Ver-
trag) eine Schadenerſatzſumme ſich auszubedingen, die den Be-
trag ſeines wirklichen Schadens weit überſteigt. Der Zweck
des Inſtituts iſt keineswegs Strafe; der nächſte, auch heute
noch berechtigte Zweck der Conventionalſtrafe iſt der, dem einen
Contrahenten eines Vertrags Erſatz ſeines Intereſſes im Fall
des Vertragsbruchs des anderen Theils zu ſichern. Dieſer Zweck
iſt um ſo berechtigter, je ſchwieriger die Ermittelung der Größe
jenes Intereſſes iſt; die Schwierigkeit kann aber doppelter Art
ſein, ſie liegt einmal vielfach in der Sache ſelbſt, ſie liegt, oder
vielmehr: ſie lag lange Zeit daneben auch in der Geſtaltung
des Civilproceſſes. Wir kommen damit zu unſerm Haupt-
einwand gegen die Begründung der Buße in dem erwähnten
Aufſatz.

Es iſt nicht richtig, daß der Stand der heutigen Ge-
ſetzgebung über Schadenerſatz
die Durchführung eines
Entſchädigungsanſpruchs erſchwere oder unmöglich mache. Mit
aller wünſchenswerthen Klarheit verfügt der §. 260 der deutſchen
Civilproceßordnung:

„Iſt unter den Parteien ſtreitig, ob ein Schaden entſtanden
ſei und wie hoch ſich der Schaden oder ein zu erſetzendes Inter-
eſſe belaufe, ſo entſcheidet hierüber das Gericht unter Würdi-
gung aller Umſtände nach freier Ueberzeugung.“

Von einem ſchwierigen oder unmöglichen Beweis des
Schadens iſt alſo überall keine Rede mehr, und ſofern die im
Fall des Vertragsbruchs zu zahlende Buße nichts Anderes
darſtellen ſoll als den Erſatz des dem andern Theil aus dem
Bruch erwachſenen Schadens, wird durch den Entwurf der
Gewerbenovelle für die Arbeiter ganz und gar kein neues oder
Ausnahme-Recht geſchaffen. Denn darüber, daß Anſprüche aus
Contractbruch, die in der Regel ziffermäßig ſehr ſchwer feſt-
zuſtellen ſind, unter den angeführten §. 260 fallen, kann kein
vernünftiger Zweifel beſtehen; der Contractbruch macht ſchaden-
erſatzpflichtig, nicht weil er ein Delict, ſondern weil er ein
bürgerliches Unrecht, eine Verletzung der den andern Con-
trahenten gegenüber beſtehenden Verpflichtung iſt. Die Ein-
wendungen der Socialdemokraten gegen die Berechtigung der
Buße (in dem hier vertretenen Sinn) beruhen auf einem hand-
greiflichen Sophisma; ſie ſagen: „Was nicht verboten iſt, iſt
erlaubt; der Contractbruch iſt durch kein Strafgeſetz verboten,
alſo iſt er erlaubt, kann daher auch keine Buße zur Folge
haben.“ Der erſte Satz iſt ganz wahr, aber nur iſt zu be-
achten, daß er lautet: „was nicht verboten iſt ꝛc.“, und daß er
nicht lautet: „was nicht ſtrafbar iſt ꝛc.“. Nicht Alles, was
nicht ſtrafbar iſt, iſt erlaubt, der Vertragsbruch als bloß
bürgerliches Unrecht iſt nicht ſtrafbar und hat darum keine
öffentliche Buße, keine Strafe zur Folge, aber er iſt unerlaubt
[Spaltenumbruch] und zieht darum die privatrechtliche Buße, die Pflicht zum
Schadenerſatz nach ſich.

Nach dem beſtehenden Geſetz kann alſo der durch den Bruch
des Arbeitsvertrags geſchädigte Theil jetzt ſchon Feſtſtellung
ſeines Schadens oder ſeines zu erſetzenden Intereſſes nach freier
Ueberzeugung des Gerichts verlangen, und wenn der Entwurf
der Gewerbenovelle Vorſchriften über die Höhe der „Buße“
gibt, ſo iſt das nicht eine Verſchärfung des ſeitherigen Rechts,
ſondern — wenigſtens theoretiſch — eine Milderung: es wird
von vornherein ein Maximum feſtgeſetzt, das der Richter bei
Bemeſſung des Schadenerſatzes nicht überſchreiten darf, und
damit iſt, da das Geſetz ein zwingendes iſt, die mißbräuchliche
„Vereinbarung“ einer übermäßig hohen Conventionalſtrafe aus-
geſchloſſen.

Nun iſt aber freilich zuzugeben, daß zur Zeit die Ver-
wirklichung des Anſpruchs auf Buße (im Sinn von Schaden-
erſatz) großen Schwierigkeiten begegnet; nur liegen dieſe nicht
auf dem Gebiet unſrer Geſetzgebung über Schadenerſatz, ſondern
einerſeits in §. 115 der Gewerbe-Ordnung, der die Gewerbe-
treibenden verpflichtet, „die Löhne ihrer Arbeiter baar in Reichs-
währung auszuzahlen“, andrerſeits im Zuſtand unſrer Recht-
ſprechung. — Für eine große Zahl unfrer rechtsgelehrten Richter
exiſtirt der oben angeführte §. 260 der Civilproceßordnung
nicht, ſondern ſie ſprechen heute noch Recht, als ob die alte
gemeinrechtliche formelle Beweistheorie noch in geſetzlicher Gel-
tung ſtände. Wenn ein Kläger, dem der Beklagte ein Auge
aus- oder einen Arm abgeſchlagen hat, den Antrag auf Zuer-
kennung eines Schadenerſatzes (einer Buße) von 1000 Mark
ſtellt (und nach unſerm Geſetz muß er den Antrag auf eine
beſtimmte Summe ſtellen, er darf nicht ſagen: „ich beantrage,
den Beklagten zum Erſatz meines nach §. 260 feſtzuſtellenden
Schadens zu verurtheilen“), ſo verlangen jene Richter, daß er
bis auf den Pfennig die Uebereinſtimmung zwiſchen ſeinem An-
ſpruch und ſeinem Schaden beweiſe; vermag er dieſen (unmög-
lichen) Beweis nicht zu führen, ſo wird er „wegen ungenügen-
der Subſtanziirung ſeines Anſpruchs“ abgewieſen oder wird ihm
der Anſpruch nur in dem ganz ungenügenden Betrag, den er
zu „ſtubſtanziiren“ vermochte, zuerkannt. (Das Reichsgericht,
das auf einem andern Standpunkt ſteht, iſt gegen eine ſolche
Praxis ziemlich machtlos, weil die wenigſten derartigen Proceſſe
— dank den Beſtimmungen über die „Reviſionsſumme“ — an
dasſelbe gelangen.) Unter dieſer Praxis leiden natürlich auch die
Schadenerſatzanſprüche wegen Vertragsbruchs, und ſo wird
man kaum etwas dagegen einwenden können, wenn der Geſetz-
geber dieſe Anſprüche den Gewerbegerichten überweist, denen
zudem in ſolchen Fragen mehr Sachkenntniß zukommt, als den
rechtsgelehrten Richtern, und die darum ohne die (den ordent-
lichen Gerichten allerdings freiſtehende) Zuziehung von Sachver-
ſtändigen urtheilen können. — So viel iſt ja klar: der
Schaden, der einem Fabricanten durch eine plötzliche Arbeits-
einſtellung erwächst, läßt ſich ebenſo ſchwer ziffernmäßig be-
rechnen,
wie der Schaden, der dem Arbeiter durch Verluſt
eines Auges oder Armes erwächst, der Richter muß ihn
ſchätzen, und er ſoll ihn hier und dort nicht übertrieben,
aber auch nicht engherzig ſchätzen: es iſt immer noch beſſer,
wenn der unſchuldige Verletzte ein wenig zu viel bekommt, als
wenn der ſchuldige Verletzer zu geringe Buße zahlt.

Mit der ſachgemäßen Feſtſetzung des Betrages der wegen
Vertragsbruchs zu leiſtenden Buße iſt aber für den Geſchädigten
nichts gewonnen, wenn ſeinem Anſpruch nicht auch die Voll-
ſtreckung geſichert iſt. Mit der Uebertragung der Entſcheidung
der Streitfälle an die Gewerbegerichte iſt in dieſer Beziehung

[Spaltenumbruch]
Feuilleton.


(Nachdruck verboten.)
Alcibiades.

* Wer gedenkt noch der Tage, als Garibaldi mit ſeinen
„Tauſend“ nach Sicilien ſegelte? Es war, als ob ganz Europa
ſich ſtill verhielte, um zu erlauſchen, welch ſeltſame Dinge ſich
dort an den Geſtaden der Läſtrygonen zutragen müßten. Der
Name des „Helden der beiden Welten“ war auf allen Lippen.
Wußte man doch, daß es ſich hier um eine Unternehmung han-
delte, bei welcher Kräfte mitſpielten, die weit über den Schau-
platz der Dinge, ja weit über das Mittelmeer-Becken hinaus-
ragten.

Nach und nach erſchienen die Nachrichten von der Landung
bei Marſala und den Kämpfen bei Calatafimi, Palermo, Milazzo
und vom Uebergang über die Meerenge. Das war es, was
auf der Bühne vorging. Vom Knarren der Maſchinen, mit
welchen die Helden auf den Zuſchauerraum herabgelaſſen wur-
den, vernahm man damals noch nichts. Es dauerte Jahre, bis
man wußte, was ſich gleichzeitig im Schutze der Hinter- und
Seitenwände zugetragen hatte. Man erfuhr, daß die Flotte
des Bourbon ſich langſam von der Nordweſtſpitze der Infel
entfernte, als die längſt erwarteten verdächtigen Schiffe auf-
tauchten. Man erfuhr, daß auf einem amerikaniſchen Krieg-s
ſchiffe, welches vor Palermo lag, zwiſchen den Befehlshabern
des Königs und den aus Amerika, England und Piemont ge-
kommenen Sendlingen um die Summen gefeilſcht wurde, welche
als Lohn des Verraths angeboten wurden. Man erfuhr, daß
die Schiffe der Freiſchaaren, ohne der Flotte des Bourbons zu
begegnen, auf das Feſtland hinüberfuhren. Man erfuhr noch
vieles Andere, was beiden Theilen nicht als Ehre angerechnet
werden kann.

Dann kam die Schlacht am Volturno, welche von den Vor-
kämpfern der neuen Ordnung gern als Sieg gefeiert wird, in
Wirklichkeit aber ein Erfolg der bourboniſchen Heerſchaaren war.
[Spaltenumbruch] Würde der jugendliche König alsbald nach der Schlacht dem
Rathe ſeiner Generale gefolgt haben und nach der Hauptſtadt
zurückgekehrt ſein, ſo hätte er dort kaum mehr einen ernſthaften
Widerſtand gefunden — wenn man nicht etwa Nationalgarden,
Bürgerwehr und raſch zuſammengeleſene Freicorps für eine
Streitkraft halten will. Der König verſagte ſeine Zuſtimmung
aus Menſchenfreundlichkeit. Er wollte keinen Straßenkampf,
kein Blutvergießen in ſeiner Hauptſtadt. So zog er ſich in das
feſte Gaëta zurück, um dasſelbe ſpäter ohne Krone und Heer
zu verlaſſen.

Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß ſich bei dieſem Heere Alles
befand, was in jenen Tagen eine königliche Uniform trug. So
fochten darin auch Zöglinge der Militärſchule dell’ Annunzia-
tella, welche ohne die vorhandenen Umſtände noch das eine oder
andere Jahr auf der Schulbank hinter ihren Büchern und
Karten zugebracht hätten.

Unter dieſen letzteren fiel durch ſeine Jugend und hübſche
Erſcheinung ein funkelnagelneuer Lieutenant auf, der unmittel-
bar aus dem Hörſaal zu dieſer Würde emporgeſtiegen und als-
bald auf das Schlachtfeld des Volturno befördert worden war.
Niemand, welcher die herkömmlichen Vorſtellungen vom Aus-
ſehen eines Süditalieners feſthielt, wäre auf die Vermuthung
gekommen, in dieſem goldblonden, blauäugigen, zartwangigen
Jungen einen Calabreſen vor ſich zu haben. War der junge
Marcheſe v. C. aus dem Geſchlechte geſchlagen, der Vertreter
einer Spielart, oder deutete ſein Aeußeres auf jene Tage zurück,
in welchen Gothen und Langobarden, Sachſen und Normannen
an jenen Küſten weilten — er war das Bild einer deutſchen
Jünglingsgeſtalt.

Nachdem die Veſte Gaëta gefallen war, zerſtreute ſich das
bourboniſche Heer nach allen Nichtungen. Viele Officiere wur-
den in das Heer des neuen Italien aufgenommen, andere traten
beim Papſt in Dienſte, die einen ſuchten ſich in ihrer Heimath
irgendeinen Lebensunterhalt, die anderen in weiter Ferne.

Dem Vater des jungen Marcheſe, einem der eifrigſten
Anhänger der Bourbonen, konnte es nicht in den Sinn kommen,
den jungen Menſchen den Nock des Uſurpators tragen zu laſſen.
[Spaltenumbruch] Ebenſowenig jedoch wollte er ihn zu Hauſe haben, und zwar
aus einem Grunde, der die Läſterzungen der Terra di Otranto
ſchon oft beſchäftigt hatte.

Die Ehe ſollte eine unglückliche ſein. Man ſagte, die
Dame hätte niemals eingewilligt, dieſem Manne die Hand zu
reichen, wenn ſie nicht, wie der neapolitaniſche Ausdruck lautet,
ein Hufeiſen verloren gehabt hätte. Während des Eheſtandes
hätten ſich, wie es hieß, Zerwürfniſſe eigenthümlicher Art er-
geben, und die Dame, eine geborene Marcheſa, wurde behan-
delt, als ob ſie nicht die Frau des Hauſes und Pierino nicht
der Sohn wären, was möglicherweiſe ſich ſo verhielt. Genug
der Vater trachtete, ihn ſo weit als möglich aus dem Geſichte
zu bekommen.

Bei ſeinen Verbindungen konnte Hoffnung vorhanden ſein,
Pierino irgendwo unter des Kaiſers Fahnen ſeine Laufbahn
fortſetzen laſſen zu können.

Was nun dieſen Pierino anbelangt, ſo hatte er außerdem
noch manche treffliche Empfehlung für ſich. Abgeſehen von
ſeinem einſchmeichelnden Aeußeren und den gut angelernten
Sitten eines vornehmen Hauſes, wodurch er ſich den Frauen
und auch den Männern angenehm machte, konnte er auf die
Spuren einer in der Schlacht erhaltenen Geſichtswunde, als
auf ein Ehrenzeichen, hinweiſen. Seine Vorgeſetzten in der
Annunziatella hatten ihm das Zeugniß eines trefflichen Mathe-
matikers mitgegeben.

Er war ein Fechtkünſtler und ſehr gewandt in körperlichen
Uebungen. Sein Trachten, ſich eine Stellung oder ein Ver-
mögen zu erringen, war mächtiger, als das irgendeines jungen
Menſchen. Einer ſeiner Lehrer pflegte von ihm zu ſagen:
„Nicht nur, daß Pierino mancherlei gelernt hal und mit einem
ſcharfen Verſtand ausgeſtattet iſt, er hat auch kein Herz. Er
kann es weit bringen.“

Indeſſen ſchienen die erſten ſelbſtändigen Schritte, welche
er auf der Stufenleiter ſeines zukünftigen Glückes unternahm,
nicht ſofort verheißungsvoll. Der Hof hatte ſich von Gaëta
nach Rom gewendet und war dort heimgeſucht von einer Menge
von Bittſtellern, welche ſich gebärdeten, als ſei derſelbe für

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[0001] Nr. 345. — 92. Jahrgang. Morgenblatt. München, Samſtag, 13. December 1890. Abonnementspreis in München d. d. Er- pedition oder den im Stadtbezirk errichte- ten Depots abgeholt monatl. M. 2.—, bei 2malig. Zuſtellung ins Haus M. 2.50; durch d. Poſt bezogen: vier- teljährlich f. Deutſchl. u. Oeſterreich M. 9.—, für d. Ausl. mit ent- ſprechendem Zuſchlag. Direkter Bezug unter Streifband für Deutſchland a. Oeſterreich monatl. M. 4. —, Ausland M. 5.60. Allgemeine Zeitung. Inſertionspreis p. Colonelzeite 25 Pf.; finanzielle Anzeigen 35 Pf.; Lokalanzeigen 20 Pf.; kleine Anzei- gen i. gewöhnl. Schrift 3 Pf., in fetter Schrift 5 Pf. für das Wort. Redaktion u. Expedi- tion befinden ſich Schwanthalerſtr. 73 in München. Berichte ſind an die Redaktion, Inſerat- aufträge an die Ex- pedition franko einzu- ſenden. Abonnements für das Ausland nehmen an: für England A. Siegle. 30 Lime Str. London: für Frankreich, Portugal und Spanien A. Ammel und C. Klinckſieck in Paris; für Italien H. Loeſcher und Frat. Bocca in Turin, Florenz und Rom. U. Hoepli in Mailand; für den Orient das kaiſerlich königliche Poſt- amt in Wien oder Trieſt; für Rordamerika F. W. Chriſtern, E. Steiger u. Co., Guſt. E. Stechert, Weſtermann u. Co., International Publiſhing Ageney, 710 Broadway, in New York. Verantwortlicher Redakteur: Hugo Jacobi in München. [Abbildung] Inſeratenannahme in München b. d. Erpedition, Schwanthalerſtraſte 73. ferner in Berlin, Hamburg, Breslan, Köln, Leipzig, Frankfurt a. M., Stuttgart, Nürnberg, Wien, Paris, London, Zürich. Baſel ꝛc. b. d. Annoncenbureaux G. L. Daube u. Co., Haaſenſtein u. Vogler u. R. Moſſe. In den Filialen der Zeitungsbureaur Invalidendank zu Berlin, Dresden, Leipzig, Chemnitz ꝛc. Außerdem in: Berlin bei B. Arndt (Mohrenſtr. 26) und S. Kornik (Krauſenſtr. 12), Hamburg bei W. Wilckens u. Ad. Steiner. New York bei der Intern. Publiſhing Agency, 710 Broadway. Druck und Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung Nachfolger in Stuttgart und München. Inhalts-Ueberſicht. Contractbruch und Buße. Deutſches Reich. * Berlin: Vom Reichstag. Invaliditäts- und Altersverſicherung. Reſolution, betreffend die Zuckerſteuer. Die Kronprinzeſſin von Griechenland. λ. Meiningen: Neu- wahlvorbereitung. Zählungsergebniſſe. Luxemburg. Vom neuen Hofe. Belgien. □ Brüſſel: Zum Regierungsjubiläum König Leopolds II. Aſien. Deutſchland und Siam. Afrika. Afrika-Reifender Ferrandi. Feuilleton: Alcibiades. Von Heinrich Noé. Bayeriſche Chronik. — Weitere telegraphiſche Nach- richten. ☛ Hiezu: Zweites und drittes Morgenblatt. München, 12. December. Contractbruch und Buße. P. In Nr. 302 dieſes Blattes tritt ein Aufſatz: „Buße und Schadenserſatz“ gegen die ſocialdemokratiſchen Angriffe für die Beſtimmungen des Entwurfs der Gewerbenovelle über die Buße beim Contractbruch ein. Mit dem Ergebniß, zu dem der Aufſatz gelangt, einverſtanden, vermögen wir der Begründung nicht durchaus beizupflichten, und zwar darum nicht, weil ſie — wie wir glauben: ohne Noth — der Socialdemokratie die Replik offen läßt: es handle ſich doch auch hier wieder um ein Ausnahmegeſetz gegen die Arbeiter. Die Begründung gipfelt in dem Satz: die heutige deutſche Geſetzgebung über den Schadenerſatz ſei unzulänglich, ſofern nach ihr wohlbegründete Schadenerſatzanſprüche häufig ſchwer oder gar nicht durchzuſetzen ſeien; es ſei deßhalb als eine er- freuliche Reform zu begrüßen, daß die Novelle an die Stelle des durch den Vertragsbruch begründeten Entſchädigungsanſpruchs einen der Conventionalſtrafe ähnlichen Anſpruch auf Buße ſetzen wolle. An dieſer Begründung haben wir zweierlei auszuſetzen: einmal die Gleichſtellung der Buße mit der Conventionalſtrafe im Gegenſatz zur Entſchädigung, ſodann die Behauptung über die Unzulänglichkeit der heutigen Geſetzgebung. Buße (zuſammenhängend mit „baß“) bedeutet ſprachlich Beſſerung; auf das Rechtsleben angewandt, kann ſie ebenſo- wohl Beſſerung eines dem „gemeinen Weſen“, der res publica, dem Staat zugefügten, d. i. eines criminellen — wie Beſſerung des einem Einzelnen (Privaten) zugefügten, d. i. eines bürger- lichen Unrechts, ſein; eine und dieſelbe That kann Buße nach beiden Richtungen heiſchen, weil ſie zugleich ein criminelles und ein bürgerliches Unrecht darſtellt. Die Buße des criminellen Unrechts nennen wir Strafe, die Buße des bürgerlichen Un- rechts Schadenerſatz. Nach unſrer heutigen Rechtsanſchauung (die Anſchauung des römiſchen wie des altdeutſchen Rechts war eine andere) kann Strafe nur der Staat verhängen, die ange- ſetzte Geldſtrafe fließt in die Staatscaſſe. Dem durch crimi- nelles oder bürgerliches Unrecht verletzten Einzelnen ſteht nur ein Anſpruch auf Erſatz ſeines Schadens zu, der Schaden um- faßt auch den entgangenen Gewinn, darüber hinaus aber ſoll der Verletzte nichts erhalten, einen Vortheil ſoll er aus der That nicht ziehen. Der über den Betrag des Schadens hinaus- gehende Erſatz hätte den Charakter einer an den Verletzten zu zahlenden Strafe. Eine ſolche Strafe ſtellt dem Erfolg nach häufig — wie ſchon das Wort ſagt — die Conventionalſtrafe vor; und weil unſerm Rechtsbewußtſein das Strafrecht des Privatmanns widerſtreitet, iſt neuerdings (ſo auch auf dem letzten Juriſtentag) die ſchrankenloſe Befugniß zur Feſtſetzung von Conventionalſtrafen lebhaft angegriffen worden. — Sollte die von der Gewerbenovelle vorgeſchlagene Buße als Con- ventionalſtrafe in dieſem Sinne gemeint ſein, ſo würden ſich die Arbeiter mit Recht dagegen auflehnen, denn dann würde die Buße neben dem Schadenerſatz eine Strafe des Contract- bruchs darſtellen, die wir, da der einfache Vertragsbruch immer nur ein bürgerliches Unrecht iſt, in jeder Form, auch in der einer ſophiſtiſchen Auslegung des §. 111 des Strafgeſetzbuches, zurückweiſen. Wir ſagten: dem Erfolg nach ſtellt die Conventionalſtrafe hänfig eine wirkliche Strafe dar, nämlich da, wo der Starke ſeine Uebermacht dem Schwachen gegenüber dazu mißbraucht, für deſſen Vertragsbruch (im formell frei geſchloſſenen Ver- trag) eine Schadenerſatzſumme ſich auszubedingen, die den Be- trag ſeines wirklichen Schadens weit überſteigt. Der Zweck des Inſtituts iſt keineswegs Strafe; der nächſte, auch heute noch berechtigte Zweck der Conventionalſtrafe iſt der, dem einen Contrahenten eines Vertrags Erſatz ſeines Intereſſes im Fall des Vertragsbruchs des anderen Theils zu ſichern. Dieſer Zweck iſt um ſo berechtigter, je ſchwieriger die Ermittelung der Größe jenes Intereſſes iſt; die Schwierigkeit kann aber doppelter Art ſein, ſie liegt einmal vielfach in der Sache ſelbſt, ſie liegt, oder vielmehr: ſie lag lange Zeit daneben auch in der Geſtaltung des Civilproceſſes. Wir kommen damit zu unſerm Haupt- einwand gegen die Begründung der Buße in dem erwähnten Aufſatz. Es iſt nicht richtig, daß der Stand der heutigen Ge- ſetzgebung über Schadenerſatz die Durchführung eines Entſchädigungsanſpruchs erſchwere oder unmöglich mache. Mit aller wünſchenswerthen Klarheit verfügt der §. 260 der deutſchen Civilproceßordnung: „Iſt unter den Parteien ſtreitig, ob ein Schaden entſtanden ſei und wie hoch ſich der Schaden oder ein zu erſetzendes Inter- eſſe belaufe, ſo entſcheidet hierüber das Gericht unter Würdi- gung aller Umſtände nach freier Ueberzeugung.“ Von einem ſchwierigen oder unmöglichen Beweis des Schadens iſt alſo überall keine Rede mehr, und ſofern die im Fall des Vertragsbruchs zu zahlende Buße nichts Anderes darſtellen ſoll als den Erſatz des dem andern Theil aus dem Bruch erwachſenen Schadens, wird durch den Entwurf der Gewerbenovelle für die Arbeiter ganz und gar kein neues oder Ausnahme-Recht geſchaffen. Denn darüber, daß Anſprüche aus Contractbruch, die in der Regel ziffermäßig ſehr ſchwer feſt- zuſtellen ſind, unter den angeführten §. 260 fallen, kann kein vernünftiger Zweifel beſtehen; der Contractbruch macht ſchaden- erſatzpflichtig, nicht weil er ein Delict, ſondern weil er ein bürgerliches Unrecht, eine Verletzung der den andern Con- trahenten gegenüber beſtehenden Verpflichtung iſt. Die Ein- wendungen der Socialdemokraten gegen die Berechtigung der Buße (in dem hier vertretenen Sinn) beruhen auf einem hand- greiflichen Sophisma; ſie ſagen: „Was nicht verboten iſt, iſt erlaubt; der Contractbruch iſt durch kein Strafgeſetz verboten, alſo iſt er erlaubt, kann daher auch keine Buße zur Folge haben.“ Der erſte Satz iſt ganz wahr, aber nur iſt zu be- achten, daß er lautet: „was nicht verboten iſt ꝛc.“, und daß er nicht lautet: „was nicht ſtrafbar iſt ꝛc.“. Nicht Alles, was nicht ſtrafbar iſt, iſt erlaubt, der Vertragsbruch als bloß bürgerliches Unrecht iſt nicht ſtrafbar und hat darum keine öffentliche Buße, keine Strafe zur Folge, aber er iſt unerlaubt und zieht darum die privatrechtliche Buße, die Pflicht zum Schadenerſatz nach ſich. Nach dem beſtehenden Geſetz kann alſo der durch den Bruch des Arbeitsvertrags geſchädigte Theil jetzt ſchon Feſtſtellung ſeines Schadens oder ſeines zu erſetzenden Intereſſes nach freier Ueberzeugung des Gerichts verlangen, und wenn der Entwurf der Gewerbenovelle Vorſchriften über die Höhe der „Buße“ gibt, ſo iſt das nicht eine Verſchärfung des ſeitherigen Rechts, ſondern — wenigſtens theoretiſch — eine Milderung: es wird von vornherein ein Maximum feſtgeſetzt, das der Richter bei Bemeſſung des Schadenerſatzes nicht überſchreiten darf, und damit iſt, da das Geſetz ein zwingendes iſt, die mißbräuchliche „Vereinbarung“ einer übermäßig hohen Conventionalſtrafe aus- geſchloſſen. Nun iſt aber freilich zuzugeben, daß zur Zeit die Ver- wirklichung des Anſpruchs auf Buße (im Sinn von Schaden- erſatz) großen Schwierigkeiten begegnet; nur liegen dieſe nicht auf dem Gebiet unſrer Geſetzgebung über Schadenerſatz, ſondern einerſeits in §. 115 der Gewerbe-Ordnung, der die Gewerbe- treibenden verpflichtet, „die Löhne ihrer Arbeiter baar in Reichs- währung auszuzahlen“, andrerſeits im Zuſtand unſrer Recht- ſprechung. — Für eine große Zahl unfrer rechtsgelehrten Richter exiſtirt der oben angeführte §. 260 der Civilproceßordnung nicht, ſondern ſie ſprechen heute noch Recht, als ob die alte gemeinrechtliche formelle Beweistheorie noch in geſetzlicher Gel- tung ſtände. Wenn ein Kläger, dem der Beklagte ein Auge aus- oder einen Arm abgeſchlagen hat, den Antrag auf Zuer- kennung eines Schadenerſatzes (einer Buße) von 1000 Mark ſtellt (und nach unſerm Geſetz muß er den Antrag auf eine beſtimmte Summe ſtellen, er darf nicht ſagen: „ich beantrage, den Beklagten zum Erſatz meines nach §. 260 feſtzuſtellenden Schadens zu verurtheilen“), ſo verlangen jene Richter, daß er bis auf den Pfennig die Uebereinſtimmung zwiſchen ſeinem An- ſpruch und ſeinem Schaden beweiſe; vermag er dieſen (unmög- lichen) Beweis nicht zu führen, ſo wird er „wegen ungenügen- der Subſtanziirung ſeines Anſpruchs“ abgewieſen oder wird ihm der Anſpruch nur in dem ganz ungenügenden Betrag, den er zu „ſtubſtanziiren“ vermochte, zuerkannt. (Das Reichsgericht, das auf einem andern Standpunkt ſteht, iſt gegen eine ſolche Praxis ziemlich machtlos, weil die wenigſten derartigen Proceſſe — dank den Beſtimmungen über die „Reviſionsſumme“ — an dasſelbe gelangen.) Unter dieſer Praxis leiden natürlich auch die Schadenerſatzanſprüche wegen Vertragsbruchs, und ſo wird man kaum etwas dagegen einwenden können, wenn der Geſetz- geber dieſe Anſprüche den Gewerbegerichten überweist, denen zudem in ſolchen Fragen mehr Sachkenntniß zukommt, als den rechtsgelehrten Richtern, und die darum ohne die (den ordent- lichen Gerichten allerdings freiſtehende) Zuziehung von Sachver- ſtändigen urtheilen können. — So viel iſt ja klar: der Schaden, der einem Fabricanten durch eine plötzliche Arbeits- einſtellung erwächst, läßt ſich ebenſo ſchwer ziffernmäßig be- rechnen, wie der Schaden, der dem Arbeiter durch Verluſt eines Auges oder Armes erwächst, der Richter muß ihn ſchätzen, und er ſoll ihn hier und dort nicht übertrieben, aber auch nicht engherzig ſchätzen: es iſt immer noch beſſer, wenn der unſchuldige Verletzte ein wenig zu viel bekommt, als wenn der ſchuldige Verletzer zu geringe Buße zahlt. Mit der ſachgemäßen Feſtſetzung des Betrages der wegen Vertragsbruchs zu leiſtenden Buße iſt aber für den Geſchädigten nichts gewonnen, wenn ſeinem Anſpruch nicht auch die Voll- ſtreckung geſichert iſt. Mit der Uebertragung der Entſcheidung der Streitfälle an die Gewerbegerichte iſt in dieſer Beziehung Feuilleton. (Nachdruck verboten.) Alcibiades. Von Heinrich Noé. * Wer gedenkt noch der Tage, als Garibaldi mit ſeinen „Tauſend“ nach Sicilien ſegelte? Es war, als ob ganz Europa ſich ſtill verhielte, um zu erlauſchen, welch ſeltſame Dinge ſich dort an den Geſtaden der Läſtrygonen zutragen müßten. Der Name des „Helden der beiden Welten“ war auf allen Lippen. Wußte man doch, daß es ſich hier um eine Unternehmung han- delte, bei welcher Kräfte mitſpielten, die weit über den Schau- platz der Dinge, ja weit über das Mittelmeer-Becken hinaus- ragten. Nach und nach erſchienen die Nachrichten von der Landung bei Marſala und den Kämpfen bei Calatafimi, Palermo, Milazzo und vom Uebergang über die Meerenge. Das war es, was auf der Bühne vorging. Vom Knarren der Maſchinen, mit welchen die Helden auf den Zuſchauerraum herabgelaſſen wur- den, vernahm man damals noch nichts. Es dauerte Jahre, bis man wußte, was ſich gleichzeitig im Schutze der Hinter- und Seitenwände zugetragen hatte. Man erfuhr, daß die Flotte des Bourbon ſich langſam von der Nordweſtſpitze der Infel entfernte, als die längſt erwarteten verdächtigen Schiffe auf- tauchten. Man erfuhr, daß auf einem amerikaniſchen Krieg-s ſchiffe, welches vor Palermo lag, zwiſchen den Befehlshabern des Königs und den aus Amerika, England und Piemont ge- kommenen Sendlingen um die Summen gefeilſcht wurde, welche als Lohn des Verraths angeboten wurden. Man erfuhr, daß die Schiffe der Freiſchaaren, ohne der Flotte des Bourbons zu begegnen, auf das Feſtland hinüberfuhren. Man erfuhr noch vieles Andere, was beiden Theilen nicht als Ehre angerechnet werden kann. Dann kam die Schlacht am Volturno, welche von den Vor- kämpfern der neuen Ordnung gern als Sieg gefeiert wird, in Wirklichkeit aber ein Erfolg der bourboniſchen Heerſchaaren war. Würde der jugendliche König alsbald nach der Schlacht dem Rathe ſeiner Generale gefolgt haben und nach der Hauptſtadt zurückgekehrt ſein, ſo hätte er dort kaum mehr einen ernſthaften Widerſtand gefunden — wenn man nicht etwa Nationalgarden, Bürgerwehr und raſch zuſammengeleſene Freicorps für eine Streitkraft halten will. Der König verſagte ſeine Zuſtimmung aus Menſchenfreundlichkeit. Er wollte keinen Straßenkampf, kein Blutvergießen in ſeiner Hauptſtadt. So zog er ſich in das feſte Gaëta zurück, um dasſelbe ſpäter ohne Krone und Heer zu verlaſſen. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß ſich bei dieſem Heere Alles befand, was in jenen Tagen eine königliche Uniform trug. So fochten darin auch Zöglinge der Militärſchule dell’ Annunzia- tella, welche ohne die vorhandenen Umſtände noch das eine oder andere Jahr auf der Schulbank hinter ihren Büchern und Karten zugebracht hätten. Unter dieſen letzteren fiel durch ſeine Jugend und hübſche Erſcheinung ein funkelnagelneuer Lieutenant auf, der unmittel- bar aus dem Hörſaal zu dieſer Würde emporgeſtiegen und als- bald auf das Schlachtfeld des Volturno befördert worden war. Niemand, welcher die herkömmlichen Vorſtellungen vom Aus- ſehen eines Süditalieners feſthielt, wäre auf die Vermuthung gekommen, in dieſem goldblonden, blauäugigen, zartwangigen Jungen einen Calabreſen vor ſich zu haben. War der junge Marcheſe v. C. aus dem Geſchlechte geſchlagen, der Vertreter einer Spielart, oder deutete ſein Aeußeres auf jene Tage zurück, in welchen Gothen und Langobarden, Sachſen und Normannen an jenen Küſten weilten — er war das Bild einer deutſchen Jünglingsgeſtalt. Nachdem die Veſte Gaëta gefallen war, zerſtreute ſich das bourboniſche Heer nach allen Nichtungen. Viele Officiere wur- den in das Heer des neuen Italien aufgenommen, andere traten beim Papſt in Dienſte, die einen ſuchten ſich in ihrer Heimath irgendeinen Lebensunterhalt, die anderen in weiter Ferne. Dem Vater des jungen Marcheſe, einem der eifrigſten Anhänger der Bourbonen, konnte es nicht in den Sinn kommen, den jungen Menſchen den Nock des Uſurpators tragen zu laſſen. Ebenſowenig jedoch wollte er ihn zu Hauſe haben, und zwar aus einem Grunde, der die Läſterzungen der Terra di Otranto ſchon oft beſchäftigt hatte. Die Ehe ſollte eine unglückliche ſein. Man ſagte, die Dame hätte niemals eingewilligt, dieſem Manne die Hand zu reichen, wenn ſie nicht, wie der neapolitaniſche Ausdruck lautet, ein Hufeiſen verloren gehabt hätte. Während des Eheſtandes hätten ſich, wie es hieß, Zerwürfniſſe eigenthümlicher Art er- geben, und die Dame, eine geborene Marcheſa, wurde behan- delt, als ob ſie nicht die Frau des Hauſes und Pierino nicht der Sohn wären, was möglicherweiſe ſich ſo verhielt. Genug der Vater trachtete, ihn ſo weit als möglich aus dem Geſichte zu bekommen. Bei ſeinen Verbindungen konnte Hoffnung vorhanden ſein, Pierino irgendwo unter des Kaiſers Fahnen ſeine Laufbahn fortſetzen laſſen zu können. Was nun dieſen Pierino anbelangt, ſo hatte er außerdem noch manche treffliche Empfehlung für ſich. Abgeſehen von ſeinem einſchmeichelnden Aeußeren und den gut angelernten Sitten eines vornehmen Hauſes, wodurch er ſich den Frauen und auch den Männern angenehm machte, konnte er auf die Spuren einer in der Schlacht erhaltenen Geſichtswunde, als auf ein Ehrenzeichen, hinweiſen. Seine Vorgeſetzten in der Annunziatella hatten ihm das Zeugniß eines trefflichen Mathe- matikers mitgegeben. Er war ein Fechtkünſtler und ſehr gewandt in körperlichen Uebungen. Sein Trachten, ſich eine Stellung oder ein Ver- mögen zu erringen, war mächtiger, als das irgendeines jungen Menſchen. Einer ſeiner Lehrer pflegte von ihm zu ſagen: „Nicht nur, daß Pierino mancherlei gelernt hal und mit einem ſcharfen Verſtand ausgeſtattet iſt, er hat auch kein Herz. Er kann es weit bringen.“ Indeſſen ſchienen die erſten ſelbſtändigen Schritte, welche er auf der Stufenleiter ſeines zukünftigen Glückes unternahm, nicht ſofort verheißungsvoll. Der Hof hatte ſich von Gaëta nach Rom gewendet und war dort heimgeſucht von einer Menge von Bittſtellern, welche ſich gebärdeten, als ſei derſelbe für

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen, Susanne Haaf: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-04-08T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 345, 13. Dezember 1890, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine345_1890/1>, abgerufen am 21.11.2024.