Allgemeine Zeitung, Nr. 39, 8. Februar 1850.Freitag. Beilage zu Nr. 39 der Allg. Zeitung. 8 Februar 1850.Uebersicht. Die materielle Noth der unteren Volksclassen und ihre Ursachen. -- Die materielle Noth der unteren Volksclassen und ihre Ursachen. "Die unteren Classen der Bevölkerung als ein eigener polizeilich Die nächste Fürsorge des Staats zur Abwehr der von dem Proleta- Daß es schwierig ist die Ursachen der Verarmung im einzelnen auf- Darum gefällt uns an dem Buche des Hrn. v. Holzschuher vor allen Hr. v. Holzschuher ist übrigens weit davon entfernt die Bedeutung Zu den Ursachen des Nothstandes der unteren Volksclassen über- Als Hauptquell des wachsenden Elends des großen Haufens aber gilt Die Staatsverfassung trägt endlich die Mitschuld für die zunehmende Bis hierher haben wir mit Hrn. v. Holzschuher in allen seinen An- Freitag. Beilage zu Nr. 39 der Allg. Zeitung. 8 Februar 1850.Ueberſicht. Die materielle Noth der unteren Volksclaſſen und ihre Urſachen. — Die materielle Noth der unteren Volksclaſſen und ihre Urſachen. ⦻ „Die unteren Claſſen der Bevölkerung als ein eigener polizeilich Die nächſte Fürſorge des Staats zur Abwehr der von dem Proleta- Daß es ſchwierig iſt die Urſachen der Verarmung im einzelnen auf- Darum gefällt uns an dem Buche des Hrn. v. Holzſchuher vor allen Hr. v. Holzſchuher iſt übrigens weit davon entfernt die Bedeutung Zu den Urſachen des Nothſtandes der unteren Volksclaſſen über- Als Hauptquell des wachſenden Elends des großen Haufens aber gilt Die Staatsverfaſſung trägt endlich die Mitſchuld für die zunehmende Bis hierher haben wir mit Hrn. v. Holzſchuher in allen ſeinen An- <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0009"/> <div n="1"> <p> <floatingText> <front> <titlePage type="heading"> <docDate>Freitag.</docDate> <docTitle> <titlePart type="main"> <hi rendition="#b">Beilage zu Nr. 39 der Allg. 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Holzſchuher den Standpunkt<lb/> von welchem aus er ſeine Unterſuchung anſtellt, „ſind erſt ein Begriff der<lb/> Neuzeit, eine Folge der unverhältnißmäßig geſtiegenen Bevölkerung und<lb/> der ungleichen Vertheilung des Vermögens, ganz beſonders aber des<lb/> Syſtems der Production im Großen.“ Die Sache ſelbſt bringt es mit ſich<lb/> daß der Rückblick auf die Zuſtände des Alterthums und des Mittelalters,<lb/> durch welchen der Verfaſſer die geſchichtliche Seite ſeiner Behauptung<lb/> nachzuweiſen ſucht, nur ein ſehr flüchtiger ſeyn kann, und wir verweilen<lb/> deßhalb nicht bei den dadurch gewonnenen Ergebniſſen, wiewohl wir von<lb/> jeher ſtarke Bedenken gehegt gegen den allen unſern volkswirthſchaftlichen<lb/> Schriftſtellern ſehr geläufigen Satz: daß die früheren Jahrhunderte über-<lb/> haupt kein Proletariat im heutigen Sinne des Worts gehabt haben.<lb/> Gewiß iſt daß der Staat ſich bis auf die jüngſten Zeiten um die Noth der<lb/> Beſitzloſen kaum anderweitig bekümmert als durch die Anſtellung von<lb/> Bettelvögten, den Bau von Zuchthäuſern und die Errichtung von Galgen.<lb/> Wenn ſich der Staat die Armuth des großen Haufens in unſern Tagen<lb/> mehr zu Herzen nimmt, ſo geſchieht es weil allerdings die Noth größer<lb/> geworden, demnächſt aber auch, und vielleicht hauptſächlich weil ſie gelernt<lb/> hat ſich furchtbar zu machen.</p><lb/> <p>Die nächſte Fürſorge des Staats zur Abwehr der von dem Proleta-<lb/> riat aus drohenden Gefahr hat darin beſtanden daß er dasſelbe, wie oben<lb/> geſagt, unter „polizeiliche Bevormundung“ geſtellt; die Mittel der Ab-<lb/> hülfe des Uebels ſelbſt werden demnächſt in zweiter Reihe zur Anwendung<lb/> kommen, vorausgeſetzt daß man, was allerdings ziemlich zweifelhaft iſt,<lb/> über die Wahl derſelben mit ſich einig werden ſollte.</p><lb/> <p>Daß es ſchwierig iſt die Urſachen der Verarmung im einzelnen auf-<lb/> zuſinden, und noch viel ſchwieriger dieſelben aufzuheben, ſind wir weit<lb/> entfernt in den mindeſten Zweifel zu ziehen. Wäre mit frommen Wün-<lb/> ſchen und löblichen Vorſätzen zu helfen, wir würden über den Pauperis-<lb/> mus und ſeine Gefahren längſt hinaus ſeyn. Aber die Löſung des Pro-<lb/> blems verlangt tiefe Einſicht in den innern Bau des geſellſchaftlichen<lb/> Mechanismus, ſie verlangt Muth, ſie verlangt Selbſtverläugnung und<lb/> Aufopferungsfähigkeit — lauter Eigenſchaften an welchen in unſern<lb/> Tagen und in unſerm Lande bei denen welche deſſen Geſchicke in Händen<lb/> haben, kein Ueberfluß zu finden iſt.</p><lb/> <p>Darum gefällt uns an dem Buche des Hrn. v. Holzſchuher vor allen<lb/> Dingen die rückſichtslos freimüthige Sprache mit welcher er die Sünden<lb/> der Vergangenheit und der Gegenwart aufdeckt — die Sünden der Geſetz-<lb/> gebung, die Sünden der Regierungen und die Sünden der durch das<lb/> Glück begünſtigten Stände. Da der Verfaſſer zunächſt immer aus ſeinen<lb/> Erfahrungen als bayeriſcher Staatsbürger und Beamter ſchöpft, ſo haben<lb/> ſeine Beiſpiele, ſeine Warnungen, ſeine Vorſchläge für Bayern einen<lb/> beſondern und unmittelbaren Werth; indeſſen verſteht es ſich ganz von<lb/> ſelbſt daß die Anwendbarkeit derſelben nach allen Seiten über den Bereich<lb/> des genannten Staates hinausreicht. Unter andern bayeriſchen Einrich-<lb/> tungen zu volkswirthſchaftlichen Zwecken, von denen Hr. v. Holzſchuher<lb/> mit Tadel, ja ſogar mit Geringſchätzung ſpricht, nennen wir die ſtatiſti-<lb/> ſchen „Rechenſchaftsberichte“ welche von dem Miniſterium Wallerſtein ein-<lb/> geführt oder doch auf die Höhe ihrer gegenwärtigen Uebertriebenheit ge-<lb/> bracht ſind. Welche unſägliche Schreiberei um von drei zu drei Jahren<lb/> den Beſtand an Pferden, Kühen, Hühnern, Enten, Gänſen ꝛc. in jedem<lb/> Dorfe, in jedem Amt und in jedem Kreiſe tabellariſch aufzunehmen, um<lb/> zu ermitteln wie viele Fuhren Dünger, wie viele Garben Stroh, wie<lb/> viele Bündel Heu das Königreich Bayern beſitzt! Natürlich ſind ſolche<lb/> Tafeln ebenſo wenig zuverläſſig als ſie irgendeinen praktiſchen Nutzen ge-<lb/> währen. Dennoch, und wiewohl man ſich ſeit Jahren allgemein von der<lb/> Zweckloſigkeit jener Arbeiten überzeugt, die wahrſcheinlich außer dem<lb/> Corrector keinen einzigen Leſer im ganzen Lande haben, fährt man fort<lb/><cb/> die Zeit und Mühe der Verwaltungsbeamten daran zu verſchwenden,<lb/> denn die Maſchine iſt einmal in Gang geſetzt, und ſie aufzuhalten würde<lb/> auch eine Neuerung ſeyn.</p><lb/> <p>Hr. v. Holzſchuher iſt übrigens weit davon entfernt die Bedeutung<lb/> der Statiſtik für jede Art der geſellſchaftlichen Speculation zu verkennen,<lb/> damit aber die Ergebniſſe derſelben brauchbar ſeyen, verlangt er vor allem<lb/> andern daß ſie den Händen der Verwaltungsbeamten entzogen werde,<lb/> welche nur zu oft ein unmittelbares Intereſſe dabei haben ihre Reſultate<lb/> zu verfälſchen, und daß man ein beſonderes Organ dafür ſchaffe — einen<lb/> Körper in deſſen Zuſammenſetzung eine hinreichende Gewähr der Aufrich-<lb/> tigkeit liege. Ortsvorſteher, Richter, Advocaten, Aerzte, Fabricanten<lb/> und gebildete Landwirthe hält der Verfaſſer für vorzugsweiſe geeignet zur<lb/> Beſetzung jener neu zu ſchaffenden ſtatiſtiſchen Stelle, welcher er überdieß<lb/> die Aufgabe zuweist vermittelnd zwiſchen Regierung und Volk aufzutreten,<lb/> Klagen, Beſchwerden und Anträge zu ſammeln die ſich auf einzelne Miß-<lb/> ſtände oder auf allgemeine Wahrnehmungen auf dem Gebiete der Volks-<lb/> wirthſchaft beziehen. Dieſer Gedanke ſcheint uns ſehr fruchtbar zu ſeyn,<lb/> und wir wünſchen lebhaft daß er nicht verloren gehen möge.</p><lb/> <p>Zu den Urſachen des Nothſtandes der unteren Volksclaſſen über-<lb/> gehend, nennt der Verfaſſer zuerſt Ungunſt des Klima’s, Unfruchtbarkeit<lb/> des Bodens, Holzmangel, kurz die in gegebenen Naturverhältniſſen lie-<lb/> genden Hinderniſſe des Wohlſtandes, welche gewöhnlich ſchwer zu über-<lb/> winden ſind, in einzelnen Fällen aber gleichwohl vollſtändig überwunden<lb/> werden, zumal durch Förderung eines geeigneten Gewerbebetriebs. In<lb/> zweiter Reihe folgen die in der Verfaſſung des Staats und der Geſellſchaft<lb/> liegenden Urſachen des Nothſtandes. Uebermäßige Anhäufung des Reich-<lb/> thums in wenigen Händen, Auflöſung oder Lockerung der religiöſen und<lb/> ſittlichen Bande welche die einzelnen Claſſen der Geſellſchaft über die Ver-<lb/> mögensunter ſchiede hinweg an einander knüpfen, überhaupt Mangel einer<lb/> natürlichen Gliederung der Geſellſchaft, werden hier von Hrn. v. Holz-<lb/> ſchuher mit beſonderm Nachdruck hervorgehoben. Gleichwohl iſt derſelbe<lb/> weit entfernt von dem Gedanken an die Wiederherſtellung von Einrich-<lb/> tungen welche ſich überlebt haben, und namentlich von dem Gedanken die<lb/> alte Stände-Eintheilung wieder einzuführen, welche aus der Wirklichkeit<lb/> verſchwunden war lange bevor das Geſetz ſie aufgab. Eine den Bedürf-<lb/> niſſen der Gegenwart entſprechende Gliederung der Geſellſchaft kann, wie<lb/> der Verfaſſer ſehr richtig bemerkt, nur aus dem Princip der freien Aſſo-<lb/> ciation hervorgehen.</p><lb/> <p>Als Hauptquell des wachſenden Elends des großen Haufens aber gilt<lb/> dem Verfaſſer der induſtrielle Geiſt des Jahrhunderts, welcher, lediglich<lb/> auf Gelderwerb gerichtet, alle Claſſen der Geſellſchaft zum Kampf um den<lb/> Beſitz auf Leben und Tod gegen einander hetzt — ein Kampf in welchem<lb/> der Schwächere, das heißt der Aermere, nothwendigerweiſe unterliegt.<lb/> Die Habſucht, der Heißhunger des Erwerbs — wer wollte ihr Daſeyn<lb/> läugnen, wer wollte ihre verderblichen Folgen bezweifeln! Aber gerade<lb/> gegen dieſes Uebel iſt die Abhülfe am ſchwerſten, und in der Geſetzgebung<lb/> würde man die Mittel derſelben ganz vergebens ſuchen. Auch die Mittel<lb/> welche unſer Verfaſſer andeutet, ſcheinen uns von ziemlich zweifelhafter<lb/> Wirkſamkeit. Vollkommen richtig iſt es daß auf dem fraglichen Gebiet<lb/> nur aus dem Innern der Geſellſchaft heraus gebeſſert und umgeſtaltet<lb/> werden kann; allein keine Erziehung, keine Bildung, keine Humanität<lb/> wird die Menſchen jemals davon abbringen den Gelderwerb als eine ihrer<lb/> wichtigſten Lebensaufgaben zu verfolgen, ſolange das Geld die Bedingung<lb/> der Erziehung, der Bildung, der perſönlichen Unabhängigkeit, der Geſund-<lb/> heit ꝛc. iſt, gar nicht zu reden von den bloßen Genüſſen und von den un-<lb/> erlaubten Zwecken der Selbſucht die ſich mit Geld erreichen laſſen. Der<lb/> Verfaſſer ſelbſt geſteht ſtillſchweigend ein daß er kein Heilmittel gegen die<lb/> Geldgier des Jahrhunderts kennt, indem er die Auffindung eines edleren<lb/> Werthmeſſers als des Metalls der Zukunft anheimſtellt.</p><lb/> <p>Die Staatsverfaſſung trägt endlich die Mitſchuld für die zunehmende<lb/> Verarmung des großen Haufens, indem ſie übermäßige Anforderungen<lb/> an die Finanzkräfte des Volkes macht. Damit in dieſem Punkte geholfen<lb/> werde, verlangt der Verfaſſer daß der Staat aufhöre den Geſchäftskreis<lb/> ſeiner Verwaltung über ſolche Gebiete auszuſtrecken welche füglich der<lb/> Gemeinde- oder der Privatthätigkeit überlaſſen werden können. Auf dieſe<lb/> Weiſe wird es möglich das von Jahr zu Jahr wachſende und dennoch für<lb/> die fortwährend ſteigende Fluth der Geſchäfte ungenügende Beamtenheer<lb/> zu verringern, beträchtliche Erſparniſſe zu erzielen und zugleich den Ge-<lb/> ſchäftsgang nicht bloß zu beſchleunigen, ſondern auch ſicherer zu machen.</p><lb/> <p>Bis hierher haben wir mit Hrn. v. Holzſchuher in allen ſeinen An-<lb/> ſichten beinahe vollſtändig einverſtanden ſeyn können. Wenn derſelbe aber<lb/> weiter Zwangs-Arbeitsanſtalten für die Leute errichtet wiſſen will „denen<lb/></p> </div> </div> </body> </floatingText> </p> </div> </body> </text> </TEI> [0009]
Freitag. Beilage zu Nr. 39 der Allg. Zeitung. 8 Februar 1850.
Ueberſicht.
Die materielle Noth der unteren Volksclaſſen und ihre Urſachen. —
München. (Das bayeriſche Medicinalweſen und die ärztliche Commiſſion.
Deutſche Muſik. Ueber die Reform der Militärjuſtiz.) — Wien. (In-
ſtruction für den öſterreichiſchen Geſandten in Athen. Die Verfaſſung
von Böhmen. Ueberſchwemmung. Leichte Erkrankung des Kaiſers.)
Die materielle Noth der unteren Volksclaſſen und ihre
Urſachen.
Gekrönte Preisſchrift von A. Frhrn. v. Holzſchuher.
⦻ „Die unteren Claſſen der Bevölkerung als ein eigener polizeilich
bevormundeter Stand“, ſo bezeichnet Hr. v. Holzſchuher den Standpunkt
von welchem aus er ſeine Unterſuchung anſtellt, „ſind erſt ein Begriff der
Neuzeit, eine Folge der unverhältnißmäßig geſtiegenen Bevölkerung und
der ungleichen Vertheilung des Vermögens, ganz beſonders aber des
Syſtems der Production im Großen.“ Die Sache ſelbſt bringt es mit ſich
daß der Rückblick auf die Zuſtände des Alterthums und des Mittelalters,
durch welchen der Verfaſſer die geſchichtliche Seite ſeiner Behauptung
nachzuweiſen ſucht, nur ein ſehr flüchtiger ſeyn kann, und wir verweilen
deßhalb nicht bei den dadurch gewonnenen Ergebniſſen, wiewohl wir von
jeher ſtarke Bedenken gehegt gegen den allen unſern volkswirthſchaftlichen
Schriftſtellern ſehr geläufigen Satz: daß die früheren Jahrhunderte über-
haupt kein Proletariat im heutigen Sinne des Worts gehabt haben.
Gewiß iſt daß der Staat ſich bis auf die jüngſten Zeiten um die Noth der
Beſitzloſen kaum anderweitig bekümmert als durch die Anſtellung von
Bettelvögten, den Bau von Zuchthäuſern und die Errichtung von Galgen.
Wenn ſich der Staat die Armuth des großen Haufens in unſern Tagen
mehr zu Herzen nimmt, ſo geſchieht es weil allerdings die Noth größer
geworden, demnächſt aber auch, und vielleicht hauptſächlich weil ſie gelernt
hat ſich furchtbar zu machen.
Die nächſte Fürſorge des Staats zur Abwehr der von dem Proleta-
riat aus drohenden Gefahr hat darin beſtanden daß er dasſelbe, wie oben
geſagt, unter „polizeiliche Bevormundung“ geſtellt; die Mittel der Ab-
hülfe des Uebels ſelbſt werden demnächſt in zweiter Reihe zur Anwendung
kommen, vorausgeſetzt daß man, was allerdings ziemlich zweifelhaft iſt,
über die Wahl derſelben mit ſich einig werden ſollte.
Daß es ſchwierig iſt die Urſachen der Verarmung im einzelnen auf-
zuſinden, und noch viel ſchwieriger dieſelben aufzuheben, ſind wir weit
entfernt in den mindeſten Zweifel zu ziehen. Wäre mit frommen Wün-
ſchen und löblichen Vorſätzen zu helfen, wir würden über den Pauperis-
mus und ſeine Gefahren längſt hinaus ſeyn. Aber die Löſung des Pro-
blems verlangt tiefe Einſicht in den innern Bau des geſellſchaftlichen
Mechanismus, ſie verlangt Muth, ſie verlangt Selbſtverläugnung und
Aufopferungsfähigkeit — lauter Eigenſchaften an welchen in unſern
Tagen und in unſerm Lande bei denen welche deſſen Geſchicke in Händen
haben, kein Ueberfluß zu finden iſt.
Darum gefällt uns an dem Buche des Hrn. v. Holzſchuher vor allen
Dingen die rückſichtslos freimüthige Sprache mit welcher er die Sünden
der Vergangenheit und der Gegenwart aufdeckt — die Sünden der Geſetz-
gebung, die Sünden der Regierungen und die Sünden der durch das
Glück begünſtigten Stände. Da der Verfaſſer zunächſt immer aus ſeinen
Erfahrungen als bayeriſcher Staatsbürger und Beamter ſchöpft, ſo haben
ſeine Beiſpiele, ſeine Warnungen, ſeine Vorſchläge für Bayern einen
beſondern und unmittelbaren Werth; indeſſen verſteht es ſich ganz von
ſelbſt daß die Anwendbarkeit derſelben nach allen Seiten über den Bereich
des genannten Staates hinausreicht. Unter andern bayeriſchen Einrich-
tungen zu volkswirthſchaftlichen Zwecken, von denen Hr. v. Holzſchuher
mit Tadel, ja ſogar mit Geringſchätzung ſpricht, nennen wir die ſtatiſti-
ſchen „Rechenſchaftsberichte“ welche von dem Miniſterium Wallerſtein ein-
geführt oder doch auf die Höhe ihrer gegenwärtigen Uebertriebenheit ge-
bracht ſind. Welche unſägliche Schreiberei um von drei zu drei Jahren
den Beſtand an Pferden, Kühen, Hühnern, Enten, Gänſen ꝛc. in jedem
Dorfe, in jedem Amt und in jedem Kreiſe tabellariſch aufzunehmen, um
zu ermitteln wie viele Fuhren Dünger, wie viele Garben Stroh, wie
viele Bündel Heu das Königreich Bayern beſitzt! Natürlich ſind ſolche
Tafeln ebenſo wenig zuverläſſig als ſie irgendeinen praktiſchen Nutzen ge-
währen. Dennoch, und wiewohl man ſich ſeit Jahren allgemein von der
Zweckloſigkeit jener Arbeiten überzeugt, die wahrſcheinlich außer dem
Corrector keinen einzigen Leſer im ganzen Lande haben, fährt man fort
die Zeit und Mühe der Verwaltungsbeamten daran zu verſchwenden,
denn die Maſchine iſt einmal in Gang geſetzt, und ſie aufzuhalten würde
auch eine Neuerung ſeyn.
Hr. v. Holzſchuher iſt übrigens weit davon entfernt die Bedeutung
der Statiſtik für jede Art der geſellſchaftlichen Speculation zu verkennen,
damit aber die Ergebniſſe derſelben brauchbar ſeyen, verlangt er vor allem
andern daß ſie den Händen der Verwaltungsbeamten entzogen werde,
welche nur zu oft ein unmittelbares Intereſſe dabei haben ihre Reſultate
zu verfälſchen, und daß man ein beſonderes Organ dafür ſchaffe — einen
Körper in deſſen Zuſammenſetzung eine hinreichende Gewähr der Aufrich-
tigkeit liege. Ortsvorſteher, Richter, Advocaten, Aerzte, Fabricanten
und gebildete Landwirthe hält der Verfaſſer für vorzugsweiſe geeignet zur
Beſetzung jener neu zu ſchaffenden ſtatiſtiſchen Stelle, welcher er überdieß
die Aufgabe zuweist vermittelnd zwiſchen Regierung und Volk aufzutreten,
Klagen, Beſchwerden und Anträge zu ſammeln die ſich auf einzelne Miß-
ſtände oder auf allgemeine Wahrnehmungen auf dem Gebiete der Volks-
wirthſchaft beziehen. Dieſer Gedanke ſcheint uns ſehr fruchtbar zu ſeyn,
und wir wünſchen lebhaft daß er nicht verloren gehen möge.
Zu den Urſachen des Nothſtandes der unteren Volksclaſſen über-
gehend, nennt der Verfaſſer zuerſt Ungunſt des Klima’s, Unfruchtbarkeit
des Bodens, Holzmangel, kurz die in gegebenen Naturverhältniſſen lie-
genden Hinderniſſe des Wohlſtandes, welche gewöhnlich ſchwer zu über-
winden ſind, in einzelnen Fällen aber gleichwohl vollſtändig überwunden
werden, zumal durch Förderung eines geeigneten Gewerbebetriebs. In
zweiter Reihe folgen die in der Verfaſſung des Staats und der Geſellſchaft
liegenden Urſachen des Nothſtandes. Uebermäßige Anhäufung des Reich-
thums in wenigen Händen, Auflöſung oder Lockerung der religiöſen und
ſittlichen Bande welche die einzelnen Claſſen der Geſellſchaft über die Ver-
mögensunter ſchiede hinweg an einander knüpfen, überhaupt Mangel einer
natürlichen Gliederung der Geſellſchaft, werden hier von Hrn. v. Holz-
ſchuher mit beſonderm Nachdruck hervorgehoben. Gleichwohl iſt derſelbe
weit entfernt von dem Gedanken an die Wiederherſtellung von Einrich-
tungen welche ſich überlebt haben, und namentlich von dem Gedanken die
alte Stände-Eintheilung wieder einzuführen, welche aus der Wirklichkeit
verſchwunden war lange bevor das Geſetz ſie aufgab. Eine den Bedürf-
niſſen der Gegenwart entſprechende Gliederung der Geſellſchaft kann, wie
der Verfaſſer ſehr richtig bemerkt, nur aus dem Princip der freien Aſſo-
ciation hervorgehen.
Als Hauptquell des wachſenden Elends des großen Haufens aber gilt
dem Verfaſſer der induſtrielle Geiſt des Jahrhunderts, welcher, lediglich
auf Gelderwerb gerichtet, alle Claſſen der Geſellſchaft zum Kampf um den
Beſitz auf Leben und Tod gegen einander hetzt — ein Kampf in welchem
der Schwächere, das heißt der Aermere, nothwendigerweiſe unterliegt.
Die Habſucht, der Heißhunger des Erwerbs — wer wollte ihr Daſeyn
läugnen, wer wollte ihre verderblichen Folgen bezweifeln! Aber gerade
gegen dieſes Uebel iſt die Abhülfe am ſchwerſten, und in der Geſetzgebung
würde man die Mittel derſelben ganz vergebens ſuchen. Auch die Mittel
welche unſer Verfaſſer andeutet, ſcheinen uns von ziemlich zweifelhafter
Wirkſamkeit. Vollkommen richtig iſt es daß auf dem fraglichen Gebiet
nur aus dem Innern der Geſellſchaft heraus gebeſſert und umgeſtaltet
werden kann; allein keine Erziehung, keine Bildung, keine Humanität
wird die Menſchen jemals davon abbringen den Gelderwerb als eine ihrer
wichtigſten Lebensaufgaben zu verfolgen, ſolange das Geld die Bedingung
der Erziehung, der Bildung, der perſönlichen Unabhängigkeit, der Geſund-
heit ꝛc. iſt, gar nicht zu reden von den bloßen Genüſſen und von den un-
erlaubten Zwecken der Selbſucht die ſich mit Geld erreichen laſſen. Der
Verfaſſer ſelbſt geſteht ſtillſchweigend ein daß er kein Heilmittel gegen die
Geldgier des Jahrhunderts kennt, indem er die Auffindung eines edleren
Werthmeſſers als des Metalls der Zukunft anheimſtellt.
Die Staatsverfaſſung trägt endlich die Mitſchuld für die zunehmende
Verarmung des großen Haufens, indem ſie übermäßige Anforderungen
an die Finanzkräfte des Volkes macht. Damit in dieſem Punkte geholfen
werde, verlangt der Verfaſſer daß der Staat aufhöre den Geſchäftskreis
ſeiner Verwaltung über ſolche Gebiete auszuſtrecken welche füglich der
Gemeinde- oder der Privatthätigkeit überlaſſen werden können. Auf dieſe
Weiſe wird es möglich das von Jahr zu Jahr wachſende und dennoch für
die fortwährend ſteigende Fluth der Geſchäfte ungenügende Beamtenheer
zu verringern, beträchtliche Erſparniſſe zu erzielen und zugleich den Ge-
ſchäftsgang nicht bloß zu beſchleunigen, ſondern auch ſicherer zu machen.
Bis hierher haben wir mit Hrn. v. Holzſchuher in allen ſeinen An-
ſichten beinahe vollſtändig einverſtanden ſeyn können. Wenn derſelbe aber
weiter Zwangs-Arbeitsanſtalten für die Leute errichtet wiſſen will „denen
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(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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