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Allgemeine Zeitung, Nr. 45, 14. Februar 1871.

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Beilage zur Allgemeinen Zeitung.
Nr. 45. Dienstag, 14 Februar 1871.


Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung. Für die Redaction verantwortlich: Dr. J. v. Gosen.



Correspondenzen sind an die Redaction, Jnserate dagegen an die Expedition der Allgemeinen Zeitung zu adressiren.
ANZEIGEN werden von der Expedition aufgenommen und der Raum einer dreigespaltenen Colonelzeile berechnet:
im Hauptblatt mit 12 kr., in der Beilage, welcher das Montagsblatt gleich geachtet wird, mit 9 kr.;
ausserdem ist zu Ermöglichung der Selbstausrechnung des Insertionspreises durch den Tit Auftraggeber und der Anhersendung des Betrags in Papiergeld und Briefmarken eine
wort weise Berechnung eingeführt, bei welcher eine Anzeige (Aufschrift, Firma etc. durch fette Lettern ausgezeichnet) um "baar und franco 4 kr. südd. (auch 7 Ngr. ö. W.,
11/4 Ngr., 15 Cent) für jedes Wort oder Zahl" in der Beilage Aufnahme findet: bezüglich der Collectivanzeige vid. am Schluss der Beilage.



Uebersicht.

Geschichte des Elsaßes von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. --
Der Fürst-Bischof von Breslau und der Jesuitismus. (III.)

Neueste Posten. München: Audienzen. Benennung neuer Ge-
schütze. Französische Kriegsgefangene. Militärrechnungen. Zurück-
gekehrte deutsche Kriegsgefangene. Schwerin: Fackelzug zu Ehren des
Großherzogs. Wien: Preußen an England. Bukarest: Der Brief
des Fürsten Karl in der "Allg. Ztg." Die rumänische Frage auf der
Londoner Conferenz. Ernennung eines neuen Commissärs in Berlin.
Aus der Kammer. Die Türkei und Rumänien.



Telegraphische Berichte.

Abgeordnetenhaus. Nach Erledigung des Ge-
setzentwurfes über den Unterstützungswohnsitz wird die Vorlage betreffend
die Gewährung eines Vorschusses von 50 Millionen an den Bundeskanzler
zum Zweck der Kriegführung unverändert angenommen.


Garibaldi ist hier angekommen. Ge-
wählt wurden: Pelletan, Gambetta, Thiers, Trochu, Perier, Grevy,
Lanfrey. Charette, Tardieu, Amat und Delpech. Jm Departement de la
Manche wurden die Candidaten der Conservativen, darunter Daru und
St. Pierre, mit großer Mehrheit gewählt. Jn Paris hat am 9 Febr. die
Rationirung der Lebensmittel aufgehört. Correspondenzen aus Versailles
melden: Der Kaiser werde Anfangs März nach Berlin zurückkehren um
den Reichstag persönlich zu eröffnen. Die Armee-Commandos werden
auch in diesem Fall bis zur Beendigung des Krieges in Frankreich
bleiben.


Heute um 3 Uhr wurde die vorbereitende
Sitzung der Nationalversammlung eröffnet. Anwesend waren 250 bis
300 Abgeordnete. Benoit d'Azy, Alterspräsident, betonte daß die gegen-
wärtigen Umstände die sofortige Constituirung der Versammlung erheischten,
wenn auch dieselbe noch nicht vollzählig sei. Seine Worte wurden allseitig
beifällig aufgenommen. Emanuel Arago bemerkte: die endgültige Consti-
tuirung könne nicht vor einigen Tagen erfolgen, da die Protokolle der Ueber-
wahlen erst einzulaufen beginnen. Die Wahlergebnisse von 28 bis 30
Departements, insbesondere diejenigen von Paris und den vom Feinde
besetzten Departements, sind noch nicht bekannt. Der Präsident brachte
einen Antrag auf sofortige Constituirung der Versammlung zur Abstim-
mung. Derselbe wurde ohne Widerspruch angenommen. Sarcey schlug
vor, die definitive Wahl der Bureaux solle erfolgen sobald mehr als die
Hälfte der Mitglieder anwesend sei. Der Ernst der gegenwärtigen Lage
gestatte nicht die gewöhnlichen Regeln zu befolgen. Der Alterspräsident
beantragte die vier jüngsten Mitglieder zu Secretären zu ernennen. An der
sich hieran knüpfenden kurzen Debatte waren Garnier-Pages und Dupont
betheiligt. Dalot betonte: das Land wisse daß eine gesetzmäßige Gewalt
an seiner Spitze stehe. Girard vertheidigte ebenfalls die sofortige Ernen-
nung der Secretäre. Der Antrag des Präsidenten gelangte zur Annahme.
Castellone, Tannegny, Duchatel und Willon de Remusat wurden in das
Bureau berufen. Die Versammlung vertagte sich hierauf auf morgen
1 Uhr Nachmittags. Die Sitzung wird im gewöhnlichen Sitzungssaal
stattfinden, welcher bis dahin vollständig in Stand gesetzt sein wird.

Weitere Telegramme siehe fünfte Seite.


Geschichte des Elsaßes von den ältesten Zeiten bis auf
die Gegenwart.
*)

A. O. Es erwahrt sich immer neu das alte biblische Gleichniß
vom verlornen Schaf, über dessen Wiederfinden größere Freude sei als über
den Besitz der ganzen Heerde; wohl kaum aber hat es jemals seine Anwen-
dung so augenscheinlich herausgefordert als in den großen Tagen der
Gegenwart, wo ein jahrhundertelang entfremdeter edler Volksstamm dem
deutschen Vaterland wieder zugeführt werden soll. Die plötzlich aufge-
schossene gewaltige Elsaß-Literatur gibt ein anschauliches Zeugniß ab von
dem freudigen Antheil welchen das deutsche Volk -- und nicht minder die
Buchhändlerspeculation -- an dem Ereigniß nimmt. Eine Unzahl Schriften
[Spaltenumbruch] belletristischer, historischer und statistisch-geographischer Art hat den deutschen
Büchermarkt überschwemmt, und sich die Aufgabe gestellt die Bekanntschaft
mit der alten Westmark wieder zu vermitteln. Wer nur einen Theil davon
sich durch die Hände gehen läßt, kann in kurzem über die Verhältnisse der
neuen Provinz besser unterrichtet sein als über die Zustände seiner eigenen
Heimath. Und gewiß ist das Jnteresse des Publicums ein wohlberechtigtes.
Handelt es sich doch um einen Volksstamm der, solange er mit der Fa-
milie verbunden war, mit Stolz der ihrige genannt wurde; rühmen und
erfreuen wir uns doch wesentlich durch seine schöpferische Mitwirkung jener
ersten großen Kunst- und Literaturepoche welche, dem Culturleben selbst-
kräftig reichsstädtischen Bürgerthums entsprossend, noch jetzt uns in vielfach
unerreichter Weise als Vorbild voraufsteht. Ehe ein neidisches Geschick
das theure Glied vom Hause abriß, legte das Elsaß seinen ehrbewußten
Beruf darein als Hort deutschen Volkthums der wälschen Nachbar-
schaft gegenüber zu gelten, und hauptsächlich diesem Hochgefühl ver-
danken wir jene geistigen Großthaten welche als reinste Ausdrucks-
formen unserer nationalen Cultur von uns Nachgebornen werthgeschätzt
und als theure Erbstücke mitfortgeführt werden. Nur durch schnöde Ver-
gewaltigung konnte der deutscheste der deutschen Volksstämme dem Vater-
land entrissen werden, aber durch blutige Gewalt wird er heutigen Tags
auch zurückgeholt -- eine mahnende Warnung an alle diejenigen
welche ihr räuberisches Gelüste nicht zähmen mögen nach den Gütern un-
serer geduldigen, aber keinen Schimpf vergessenden Nation. Eine mahnende
Warnung nicht minder für uns selbst. Das Elsaß muß uns in doppeltem
Sinne mit Gewalt wieder erworben werden. Die Fremdherrschaft, welche
unsern Vätern identisch war mit Sklaverei, hat es dahin bringen können
daß ein edler Stamm sich auch innerlich der Mutter entfremdete, daß er die
Fessel liebgewann welche ihm um den Preis seiner idealen Existenz den
Mammon irdischer Genußgüter und zeitlichen Wohllebens verschacherte.
Es konnte dahin kommen daß die auf ihre Selbständigkeit eifersüchtige ger-
manische Natur sich in ihr Gegentheil verkehrte, und die goldene Abhängig-
keit vorzog dem freien Hochgefühl des Mannes, Herr zu sein im eigenen,
sei es auch im kleinsten Hause. Seit seiner. Vereinigung mit Frankreich
hat daß Elsaß nichts bleibendes mehr hervorgebracht. Das Vermögen
eigenartiger Entwicklung war ihm abhanden gekommen. Freilich ist es
dadurch von vielen schweren Wirren und trüben Schicksalen, welche unser
Vaterland in der Folgezeit aus einer Prüfung in die andere warfen, ver-
schont geblieben, und hat sich einen ökonomischen Wohlstand bewahrt der
ihm den Namen eines der gesegnetsten Landstriche aller Länder eingebracht
und seiner Jndustrie die tonangebende Stelle in Frankreich erworben hat.
Kaum eine deutsche Provinz kann sich in dieser Beziehung mit dem Elsaß
vergleichen. Dafür darf aber unsere Nation mit Stolz für sich in Anspruch
nehmen daß sie, wo es immer galt, die materiellen Güter für den Gewinn
des idealen geistigen Gehaltes gern in die Schanze schlug und, indem sie
darnach trachtete was vor allem noththut, von selbst sich nun die Früchte in
den Schooß fallen sieht, welche der stete Gewinn aufopfernden Strebens
sind und sein müssen. Jst es doch der Mangel dieses Verständnisses welcher
bei der in wirthschaftlichen Jnteressen gänzlich aufgegangenen Elsäßer Bevöl-
kerung die erbitterte Stimmung gegen die Wiedervereinigung mit Deutsch-
land hervorgerufen hat. Die Angst um den materiellen Verlust, der aus
der Abtrennung vom französischen Markte für das Land möglicherweise ent-
stehen kann, und gewiß bedeutend überschätzt wird, ist es allein welche die
abspänstige Gesinnung erzeugt. Sprechen wir darum keinen Tadel aus.
Wir selber tragen eine Hauptschuld daran mit. Es kann sich niemand auf
die Dauer schlechten äußeren Einflüssen entziehen, und wir haben das Kind
viel zu lange ungeschützt in der Fremde sich bewegen lassen, um uns darüber
wundern zu dürfen daß es schließlich verlernt hat den Vater zu kennen.
Wir dürfen aber auch zur Echtheit der germanischen Natur das Vertrauen
haben daß die Zeit nicht zu lange auf sich warten lassen werde wo, auf
Grundlage regen Verkehrs mit dem Heimathland und geistiger Einkehr in
sich selbst, dem aus der Jrre Zurückgekehrten das Bekenntniß des verlornen
Sohnes seinerseits nicht schwer werde: Vater, ich habe gesündiget.

Das obengenannte vortreffliche Werk, von welchem der erste bis zur Zeit
des Augsburger Religionsfriedens reichende Halbband vorliegt, hat zwei
Verfasser. Der historische Theil ist von Dr. Ottokar Lorenz, der cultur-

*) Bilder aus dem politischen Leben der deutschen Westmark. Ja zusammen-
hängender Erzählung von Dr. Ottokar Lorenz und Dr. Wilhelm
Schexer.
Erster Halbband. Berlin, Franz Duncker, 1871.

Beilage zur Allgemeinen Zeitung.
Nr. 45. Dienſtag, 14 Februar 1871.


Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung. Für die Redaction verantwortlich: Dr. J. v. Goſen.



Correſpondenzen ſind an die Redaction, Jnſerate dagegen an die Expedition der Allgemeinen Zeitung zu adreſſiren.
ANZEIGEN werden von der Expedition aufgenommen und der Raum einer dreigespaltenen Colonelzeile berechnet:
im Hauptblatt mit 12 kr., in der Beilage, welcher das Montagsblatt gleich geachtet wird, mit 9 kr.;
ausserdem ist zu Ermöglichung der Selbstausrechnung des Insertionspreises durch den Tit Auftraggeber und der Anhersendung des Betrags in Papiergeld und Briefmarken eine
wort weiſe Berechnung eingeführt, bei welcher eine Anzeige (Aufschrift, Firma etc. durch fette Lettern ausgezeichnet) um „baar und franco 4 kr. südd. (auch 7 Ngr. ö. W.,
1¼ Ngr., 15 Cent) für jedes Wort oder Zahl“ in der Beilage Aufnahme findet: bezüglich der Collectivanzeige vid. am Schluss der Beilage.



Ueberſicht.

Geſchichte des Elſaßes von den älteſten Zeiten bis auf die Gegenwart. —
Der Fürſt-Biſchof von Breslau und der Jeſuitismus. (III.)

Neueſte Poſten. München: Audienzen. Benennung neuer Ge-
ſchütze. Franzöſiſche Kriegsgefangene. Militärrechnungen. Zurück-
gekehrte deutſche Kriegsgefangene. Schwerin: Fackelzug zu Ehren des
Großherzogs. Wien: Preußen an England. Bukareſt: Der Brief
des Fürſten Karl in der „Allg. Ztg.“ Die rumäniſche Frage auf der
Londoner Conferenz. Ernennung eines neuen Commiſſärs in Berlin.
Aus der Kammer. Die Türkei und Rumänien.



Telegraphiſche Berichte.

Abgeordnetenhaus. Nach Erledigung des Ge-
ſetzentwurfes über den Unterſtützungswohnſitz wird die Vorlage betreffend
die Gewährung eines Vorſchuſſes von 50 Millionen an den Bundeskanzler
zum Zweck der Kriegführung unverändert angenommen.


Garibaldi iſt hier angekommen. Ge-
wählt wurden: Pelletan, Gambetta, Thiers, Trochu, Périer, Grévy,
Lanfrey. Charette, Tardieu, Amat und Delpech. Jm Departement de la
Manche wurden die Candidaten der Conſervativen, darunter Daru und
St. Pierre, mit großer Mehrheit gewählt. Jn Paris hat am 9 Febr. die
Rationirung der Lebensmittel aufgehört. Correſpondenzen aus Verſailles
melden: Der Kaiſer werde Anfangs März nach Berlin zurückkehren um
den Reichstag perſönlich zu eröffnen. Die Armee-Commandos werden
auch in dieſem Fall bis zur Beendigung des Krieges in Frankreich
bleiben.


Heute um 3 Uhr wurde die vorbereitende
Sitzung der Nationalverſammlung eröffnet. Anweſend waren 250 bis
300 Abgeordnete. Benoit d’Azy, Alterspräſident, betonte daß die gegen-
wärtigen Umſtände die ſofortige Conſtituirung der Verſammlung erheiſchten,
wenn auch dieſelbe noch nicht vollzählig ſei. Seine Worte wurden allſeitig
beifällig aufgenommen. Emanuel Arago bemerkte: die endgültige Conſti-
tuirung könne nicht vor einigen Tagen erfolgen, da die Protokolle der Ueber-
wahlen erſt einzulaufen beginnen. Die Wahlergebniſſe von 28 bis 30
Departements, insbeſondere diejenigen von Paris und den vom Feinde
beſetzten Departements, ſind noch nicht bekannt. Der Präſident brachte
einen Antrag auf ſofortige Conſtituirung der Verſammlung zur Abſtim-
mung. Derſelbe wurde ohne Widerſpruch angenommen. Sarcey ſchlug
vor, die definitive Wahl der Bureaux ſolle erfolgen ſobald mehr als die
Hälfte der Mitglieder anweſend ſei. Der Ernſt der gegenwärtigen Lage
geſtatte nicht die gewöhnlichen Regeln zu befolgen. Der Alterspräſident
beantragte die vier jüngſten Mitglieder zu Secretären zu ernennen. An der
ſich hieran knüpfenden kurzen Debatte waren Garnier-Pagès und Dupont
betheiligt. Dalot betonte: das Land wiſſe daß eine geſetzmäßige Gewalt
an ſeiner Spitze ſtehe. Girard vertheidigte ebenfalls die ſofortige Ernen-
nung der Secretäre. Der Antrag des Präſidenten gelangte zur Annahme.
Caſtellone, Tannegny, Duchâtel und Willon de Rémuſat wurden in das
Bureau berufen. Die Verſammlung vertagte ſich hierauf auf morgen
1 Uhr Nachmittags. Die Sitzung wird im gewöhnlichen Sitzungsſaal
ſtattfinden, welcher bis dahin vollſtändig in Stand geſetzt ſein wird.

Weitere Telegramme ſiehe fünfte Seite.


Geſchichte des Elſaßes von den älteſten Zeiten bis auf
die Gegenwart.
*)

A. O. Es erwahrt ſich immer neu das alte bibliſche Gleichniß
vom verlornen Schaf, über deſſen Wiederfinden größere Freude ſei als über
den Beſitz der ganzen Heerde; wohl kaum aber hat es jemals ſeine Anwen-
dung ſo augenſcheinlich herausgefordert als in den großen Tagen der
Gegenwart, wo ein jahrhundertelang entfremdeter edler Volksſtamm dem
deutſchen Vaterland wieder zugeführt werden ſoll. Die plötzlich aufge-
ſchoſſene gewaltige Elſaß-Literatur gibt ein anſchauliches Zeugniß ab von
dem freudigen Antheil welchen das deutſche Volk — und nicht minder die
Buchhändlerſpeculation — an dem Ereigniß nimmt. Eine Unzahl Schriften
[Spaltenumbruch] belletriſtiſcher, hiſtoriſcher und ſtatiſtiſch-geographiſcher Art hat den deutſchen
Büchermarkt überſchwemmt, und ſich die Aufgabe geſtellt die Bekanntſchaft
mit der alten Weſtmark wieder zu vermitteln. Wer nur einen Theil davon
ſich durch die Hände gehen läßt, kann in kurzem über die Verhältniſſe der
neuen Provinz beſſer unterrichtet ſein als über die Zuſtände ſeiner eigenen
Heimath. Und gewiß iſt das Jntereſſe des Publicums ein wohlberechtigtes.
Handelt es ſich doch um einen Volksſtamm der, ſolange er mit der Fa-
milie verbunden war, mit Stolz der ihrige genannt wurde; rühmen und
erfreuen wir uns doch weſentlich durch ſeine ſchöpferiſche Mitwirkung jener
erſten großen Kunſt- und Literaturepoche welche, dem Culturleben ſelbſt-
kräftig reichsſtädtiſchen Bürgerthums entſproſſend, noch jetzt uns in vielfach
unerreichter Weiſe als Vorbild voraufſteht. Ehe ein neidiſches Geſchick
das theure Glied vom Hauſe abriß, legte das Elſaß ſeinen ehrbewußten
Beruf darein als Hort deutſchen Volkthums der wälſchen Nachbar-
ſchaft gegenüber zu gelten, und hauptſächlich dieſem Hochgefühl ver-
danken wir jene geiſtigen Großthaten welche als reinſte Ausdrucks-
formen unſerer nationalen Cultur von uns Nachgebornen werthgeſchätzt
und als theure Erbſtücke mitfortgeführt werden. Nur durch ſchnöde Ver-
gewaltigung konnte der deutſcheſte der deutſchen Volksſtämme dem Vater-
land entriſſen werden, aber durch blutige Gewalt wird er heutigen Tags
auch zurückgeholt — eine mahnende Warnung an alle diejenigen
welche ihr räuberiſches Gelüſte nicht zähmen mögen nach den Gütern un-
ſerer geduldigen, aber keinen Schimpf vergeſſenden Nation. Eine mahnende
Warnung nicht minder für uns ſelbſt. Das Elſaß muß uns in doppeltem
Sinne mit Gewalt wieder erworben werden. Die Fremdherrſchaft, welche
unſern Vätern identiſch war mit Sklaverei, hat es dahin bringen können
daß ein edler Stamm ſich auch innerlich der Mutter entfremdete, daß er die
Feſſel liebgewann welche ihm um den Preis ſeiner idealen Exiſtenz den
Mammon irdiſcher Genußgüter und zeitlichen Wohllebens verſchacherte.
Es konnte dahin kommen daß die auf ihre Selbſtändigkeit eiferſüchtige ger-
maniſche Natur ſich in ihr Gegentheil verkehrte, und die goldene Abhängig-
keit vorzog dem freien Hochgefühl des Mannes, Herr zu ſein im eigenen,
ſei es auch im kleinſten Hauſe. Seit ſeiner. Vereinigung mit Frankreich
hat daß Elſaß nichts bleibendes mehr hervorgebracht. Das Vermögen
eigenartiger Entwicklung war ihm abhanden gekommen. Freilich iſt es
dadurch von vielen ſchweren Wirren und trüben Schickſalen, welche unſer
Vaterland in der Folgezeit aus einer Prüfung in die andere warfen, ver-
ſchont geblieben, und hat ſich einen ökonomiſchen Wohlſtand bewahrt der
ihm den Namen eines der geſegnetſten Landſtriche aller Länder eingebracht
und ſeiner Jnduſtrie die tonangebende Stelle in Frankreich erworben hat.
Kaum eine deutſche Provinz kann ſich in dieſer Beziehung mit dem Elſaß
vergleichen. Dafür darf aber unſere Nation mit Stolz für ſich in Anſpruch
nehmen daß ſie, wo es immer galt, die materiellen Güter für den Gewinn
des idealen geiſtigen Gehaltes gern in die Schanze ſchlug und, indem ſie
darnach trachtete was vor allem noththut, von ſelbſt ſich nun die Früchte in
den Schooß fallen ſieht, welche der ſtete Gewinn aufopfernden Strebens
ſind und ſein müſſen. Jſt es doch der Mangel dieſes Verſtändniſſes welcher
bei der in wirthſchaftlichen Jntereſſen gänzlich aufgegangenen Elſäßer Bevöl-
kerung die erbitterte Stimmung gegen die Wiedervereinigung mit Deutſch-
land hervorgerufen hat. Die Angſt um den materiellen Verluſt, der aus
der Abtrennung vom franzöſiſchen Markte für das Land möglicherweiſe ent-
ſtehen kann, und gewiß bedeutend überſchätzt wird, iſt es allein welche die
abſpänſtige Geſinnung erzeugt. Sprechen wir darum keinen Tadel aus.
Wir ſelber tragen eine Hauptſchuld daran mit. Es kann ſich niemand auf
die Dauer ſchlechten äußeren Einflüſſen entziehen, und wir haben das Kind
viel zu lange ungeſchützt in der Fremde ſich bewegen laſſen, um uns darüber
wundern zu dürfen daß es ſchließlich verlernt hat den Vater zu kennen.
Wir dürfen aber auch zur Echtheit der germaniſchen Natur das Vertrauen
haben daß die Zeit nicht zu lange auf ſich warten laſſen werde wo, auf
Grundlage regen Verkehrs mit dem Heimathland und geiſtiger Einkehr in
ſich ſelbſt, dem aus der Jrre Zurückgekehrten das Bekenntniß des verlornen
Sohnes ſeinerſeits nicht ſchwer werde: Vater, ich habe geſündiget.

Das obengenannte vortreffliche Werk, von welchem der erſte bis zur Zeit
des Augsburger Religionsfriedens reichende Halbband vorliegt, hat zwei
Verfaſſer. Der hiſtoriſche Theil iſt von Dr. Ottokar Lorenz, der cultur-

*) Bilder aus dem politiſchen Leben der deutſchen Weſtmark. Ja zuſammen-
hängender Erzählung von Dr. Ottokar Lorenz und Dr. Wilhelm
Schexer.
Erſter Halbband. Berlin, Franz Duncker, 1871.
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[0009] Beilage zur Allgemeinen Zeitung. Nr. 45. Dienſtag, 14 Februar 1871. Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung. Für die Redaction verantwortlich: Dr. J. v. Goſen. Correſpondenzen ſind an die Redaction, Jnſerate dagegen an die Expedition der Allgemeinen Zeitung zu adreſſiren. ANZEIGEN werden von der Expedition aufgenommen und der Raum einer dreigespaltenen Colonelzeile berechnet: im Hauptblatt mit 12 kr., in der Beilage, welcher das Montagsblatt gleich geachtet wird, mit 9 kr.; ausserdem ist zu Ermöglichung der Selbstausrechnung des Insertionspreises durch den Tit Auftraggeber und der Anhersendung des Betrags in Papiergeld und Briefmarken eine wort weiſe Berechnung eingeführt, bei welcher eine Anzeige (Aufschrift, Firma etc. durch fette Lettern ausgezeichnet) um „baar und franco 4 kr. südd. (auch 7 Ngr. ö. W., 1¼ Ngr., 15 Cent) für jedes Wort oder Zahl“ in der Beilage Aufnahme findet: bezüglich der Collectivanzeige vid. am Schluss der Beilage. Ueberſicht. Geſchichte des Elſaßes von den älteſten Zeiten bis auf die Gegenwart. — Der Fürſt-Biſchof von Breslau und der Jeſuitismus. (III.) Neueſte Poſten. München: Audienzen. Benennung neuer Ge- ſchütze. Franzöſiſche Kriegsgefangene. Militärrechnungen. Zurück- gekehrte deutſche Kriegsgefangene. Schwerin: Fackelzug zu Ehren des Großherzogs. Wien: Preußen an England. Bukareſt: Der Brief des Fürſten Karl in der „Allg. Ztg.“ Die rumäniſche Frage auf der Londoner Conferenz. Ernennung eines neuen Commiſſärs in Berlin. Aus der Kammer. Die Türkei und Rumänien. Telegraphiſche Berichte. * Berlin, 13 Febr. Abgeordnetenhaus. Nach Erledigung des Ge- ſetzentwurfes über den Unterſtützungswohnſitz wird die Vorlage betreffend die Gewährung eines Vorſchuſſes von 50 Millionen an den Bundeskanzler zum Zweck der Kriegführung unverändert angenommen. * Bordeaux, 12 Febr. Garibaldi iſt hier angekommen. Ge- wählt wurden: Pelletan, Gambetta, Thiers, Trochu, Périer, Grévy, Lanfrey. Charette, Tardieu, Amat und Delpech. Jm Departement de la Manche wurden die Candidaten der Conſervativen, darunter Daru und St. Pierre, mit großer Mehrheit gewählt. Jn Paris hat am 9 Febr. die Rationirung der Lebensmittel aufgehört. Correſpondenzen aus Verſailles melden: Der Kaiſer werde Anfangs März nach Berlin zurückkehren um den Reichstag perſönlich zu eröffnen. Die Armee-Commandos werden auch in dieſem Fall bis zur Beendigung des Krieges in Frankreich bleiben. * Bordeaux, 12 Febr. Heute um 3 Uhr wurde die vorbereitende Sitzung der Nationalverſammlung eröffnet. Anweſend waren 250 bis 300 Abgeordnete. Benoit d’Azy, Alterspräſident, betonte daß die gegen- wärtigen Umſtände die ſofortige Conſtituirung der Verſammlung erheiſchten, wenn auch dieſelbe noch nicht vollzählig ſei. Seine Worte wurden allſeitig beifällig aufgenommen. Emanuel Arago bemerkte: die endgültige Conſti- tuirung könne nicht vor einigen Tagen erfolgen, da die Protokolle der Ueber- wahlen erſt einzulaufen beginnen. Die Wahlergebniſſe von 28 bis 30 Departements, insbeſondere diejenigen von Paris und den vom Feinde beſetzten Departements, ſind noch nicht bekannt. Der Präſident brachte einen Antrag auf ſofortige Conſtituirung der Verſammlung zur Abſtim- mung. Derſelbe wurde ohne Widerſpruch angenommen. Sarcey ſchlug vor, die definitive Wahl der Bureaux ſolle erfolgen ſobald mehr als die Hälfte der Mitglieder anweſend ſei. Der Ernſt der gegenwärtigen Lage geſtatte nicht die gewöhnlichen Regeln zu befolgen. Der Alterspräſident beantragte die vier jüngſten Mitglieder zu Secretären zu ernennen. An der ſich hieran knüpfenden kurzen Debatte waren Garnier-Pagès und Dupont betheiligt. Dalot betonte: das Land wiſſe daß eine geſetzmäßige Gewalt an ſeiner Spitze ſtehe. Girard vertheidigte ebenfalls die ſofortige Ernen- nung der Secretäre. Der Antrag des Präſidenten gelangte zur Annahme. Caſtellone, Tannegny, Duchâtel und Willon de Rémuſat wurden in das Bureau berufen. Die Verſammlung vertagte ſich hierauf auf morgen 1 Uhr Nachmittags. Die Sitzung wird im gewöhnlichen Sitzungsſaal ſtattfinden, welcher bis dahin vollſtändig in Stand geſetzt ſein wird. Weitere Telegramme ſiehe fünfte Seite. Geſchichte des Elſaßes von den älteſten Zeiten bis auf die Gegenwart. *) A. O. Es erwahrt ſich immer neu das alte bibliſche Gleichniß vom verlornen Schaf, über deſſen Wiederfinden größere Freude ſei als über den Beſitz der ganzen Heerde; wohl kaum aber hat es jemals ſeine Anwen- dung ſo augenſcheinlich herausgefordert als in den großen Tagen der Gegenwart, wo ein jahrhundertelang entfremdeter edler Volksſtamm dem deutſchen Vaterland wieder zugeführt werden ſoll. Die plötzlich aufge- ſchoſſene gewaltige Elſaß-Literatur gibt ein anſchauliches Zeugniß ab von dem freudigen Antheil welchen das deutſche Volk — und nicht minder die Buchhändlerſpeculation — an dem Ereigniß nimmt. Eine Unzahl Schriften belletriſtiſcher, hiſtoriſcher und ſtatiſtiſch-geographiſcher Art hat den deutſchen Büchermarkt überſchwemmt, und ſich die Aufgabe geſtellt die Bekanntſchaft mit der alten Weſtmark wieder zu vermitteln. Wer nur einen Theil davon ſich durch die Hände gehen läßt, kann in kurzem über die Verhältniſſe der neuen Provinz beſſer unterrichtet ſein als über die Zuſtände ſeiner eigenen Heimath. Und gewiß iſt das Jntereſſe des Publicums ein wohlberechtigtes. Handelt es ſich doch um einen Volksſtamm der, ſolange er mit der Fa- milie verbunden war, mit Stolz der ihrige genannt wurde; rühmen und erfreuen wir uns doch weſentlich durch ſeine ſchöpferiſche Mitwirkung jener erſten großen Kunſt- und Literaturepoche welche, dem Culturleben ſelbſt- kräftig reichsſtädtiſchen Bürgerthums entſproſſend, noch jetzt uns in vielfach unerreichter Weiſe als Vorbild voraufſteht. Ehe ein neidiſches Geſchick das theure Glied vom Hauſe abriß, legte das Elſaß ſeinen ehrbewußten Beruf darein als Hort deutſchen Volkthums der wälſchen Nachbar- ſchaft gegenüber zu gelten, und hauptſächlich dieſem Hochgefühl ver- danken wir jene geiſtigen Großthaten welche als reinſte Ausdrucks- formen unſerer nationalen Cultur von uns Nachgebornen werthgeſchätzt und als theure Erbſtücke mitfortgeführt werden. Nur durch ſchnöde Ver- gewaltigung konnte der deutſcheſte der deutſchen Volksſtämme dem Vater- land entriſſen werden, aber durch blutige Gewalt wird er heutigen Tags auch zurückgeholt — eine mahnende Warnung an alle diejenigen welche ihr räuberiſches Gelüſte nicht zähmen mögen nach den Gütern un- ſerer geduldigen, aber keinen Schimpf vergeſſenden Nation. Eine mahnende Warnung nicht minder für uns ſelbſt. Das Elſaß muß uns in doppeltem Sinne mit Gewalt wieder erworben werden. Die Fremdherrſchaft, welche unſern Vätern identiſch war mit Sklaverei, hat es dahin bringen können daß ein edler Stamm ſich auch innerlich der Mutter entfremdete, daß er die Feſſel liebgewann welche ihm um den Preis ſeiner idealen Exiſtenz den Mammon irdiſcher Genußgüter und zeitlichen Wohllebens verſchacherte. Es konnte dahin kommen daß die auf ihre Selbſtändigkeit eiferſüchtige ger- maniſche Natur ſich in ihr Gegentheil verkehrte, und die goldene Abhängig- keit vorzog dem freien Hochgefühl des Mannes, Herr zu ſein im eigenen, ſei es auch im kleinſten Hauſe. Seit ſeiner. Vereinigung mit Frankreich hat daß Elſaß nichts bleibendes mehr hervorgebracht. Das Vermögen eigenartiger Entwicklung war ihm abhanden gekommen. Freilich iſt es dadurch von vielen ſchweren Wirren und trüben Schickſalen, welche unſer Vaterland in der Folgezeit aus einer Prüfung in die andere warfen, ver- ſchont geblieben, und hat ſich einen ökonomiſchen Wohlſtand bewahrt der ihm den Namen eines der geſegnetſten Landſtriche aller Länder eingebracht und ſeiner Jnduſtrie die tonangebende Stelle in Frankreich erworben hat. Kaum eine deutſche Provinz kann ſich in dieſer Beziehung mit dem Elſaß vergleichen. Dafür darf aber unſere Nation mit Stolz für ſich in Anſpruch nehmen daß ſie, wo es immer galt, die materiellen Güter für den Gewinn des idealen geiſtigen Gehaltes gern in die Schanze ſchlug und, indem ſie darnach trachtete was vor allem noththut, von ſelbſt ſich nun die Früchte in den Schooß fallen ſieht, welche der ſtete Gewinn aufopfernden Strebens ſind und ſein müſſen. 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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen, Susanne Haaf: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-04-08T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.




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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 45, 14. Februar 1871, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine45_1871/9>, abgerufen am 03.12.2024.