Allgemeine Zeitung, Nr. 45, 14. Februar 1871.[Spaltenumbruch]
geschichtliche von Dr. Wilhelm Scherer, beide in Wien, bearbeitet. Es lag Die Geschichte der überrheinischen Provinzen, als Wohnsitzen unserer Es ist über diese Ereignisse und ihre bewegenden Ursachen viel ge- Der zweite Halbband, dessen Erscheinen noch aussteht, wird die Kata- [Spaltenumbruch]
geſchichtliche von Dr. Wilhelm Scherer, beide in Wien, bearbeitet. Es lag Die Geſchichte der überrheiniſchen Provinzen, als Wohnſitzen unſerer Es iſt über dieſe Ereigniſſe und ihre bewegenden Urſachen viel ge- Der zweite Halbband, deſſen Erſcheinen noch ausſteht, wird die Kata- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p> <floatingText> <body> <div type="jFeuilleton" n="1"> <div type="jComment" n="2"> <p><pb facs="#f0010" n="750"/><cb/> geſchichtliche von <hi rendition="#aq">Dr.</hi> Wilhelm Scherer, beide in Wien, bearbeitet. Es lag<lb/> in der Natur des Gegenſtandes daß die letztere Aufgabe lohnender aus-<lb/> fallen mußte als die erſtere. Bei einem verhältnißmäßig ſo kleinen Land-<lb/> ſtriche wie das Elſaß, der noch nicht einmal einen politiſchen Complex bil-<lb/> dete, können hiſtoriſche Ereigniſſe in der Regel erſt in zweiter Linie in Be-<lb/> tracht kommen. Vielleicht würde es zum Vortheil dieſes Theiles gereicht<lb/> haben wenn die allgemein politiſchen Verhältniſſe des deutſchen Reichs<lb/> etwas ausführlicher entwickelt worden wären. Die Bekanntſchaft mit<lb/> ihnen iſt überall vorausgeſetzt, ſo daß die localgeſchichtlichen Berührungs-<lb/> punkte nicht immer in ihrer vollen Klarheit zu Tage treten. Bei den cul-<lb/> turhiſtoriſchen Bildern wird dieſer Mangel weniger fühlbar. Hier ſind es<lb/> wichtige Höhepunkte um die ſich die Darſtellung dreht, die von ihrer Seite<lb/> aus einen weitſtrahlenden Einfluß auf die Geſammtheitz des Reichs aus-<lb/> übten, ſo daß die geſonderte Betrachtung eher ein abgerundetes Ganzes<lb/> bilden konnte.</p><lb/> <p>Die Geſchichte der überrheiniſchen Provinzen, als Wohnſitzen unſerer<lb/> germaniſchen Vorfahren, beginnt mit den Zeiten Cäſars und Arioviſts.<lb/> Aber erſt von der Mitte des 5. Jahrhunderts an kann von einem dauernden<lb/> Beſitze der Germanen geſprochen werden. Der ſüdliche Theil des Elſaßer<lb/> Landes wurde von Gliedern alemanniſchen, der nördliche von ſolchen frän-<lb/> kiſchen Stammes bewohnt. Anfänglich ſcheinen die keltiſchen Ureinwohner<lb/> noch ein bedeutendes, wenn auch nicht politiſch tonangebendes, Bevölke-<lb/> rungselement ausgemacht zu haben. Wenigſtens hat ſich dem Lande dar-<lb/> aus der Name gebildet, der ihm auch noch in den Zeiten ankleben blieb<lb/> als das Deutſchthum zur vollkommenen und unvermiſchten Ausbreitung<lb/> gekommen war. Das um das 7. Jahrhundert blühende fränkiſche Herr-<lb/> ſchergeſchlecht der Etichonen hatte ſich nämlich Herzoge der Eliſaſſen, d. i.<lb/> der fremden Bewohner, genannt. Unter den Kaiſern machte das Elſaß eine<lb/> Zeitlang einen Beſtandtheil des von Lothar <hi rendition="#aq">I</hi> gegründeten und nach ſeinem<lb/> Namen benannten, aber raſch zerfallenen Mittelreichs aus, an welches jetzt<lb/> nur noch die kleine Provinz Lothringen erinnert. Die darauf folgenden<lb/> politiſchen Schickſale unterſcheiden ſich nicht weſentlich von denen irgend-<lb/> einer andern deutſchen Mark. Hin- und hergeworfen von einem Beſitzer<lb/> zum andern, haben ſich im Oberelſaß (Sundgau) am längſten die Habs-<lb/> burger als Landgrafen behauptet, während das Niederelſaß einer ſtaats-<lb/> rechtlichen Vielgeſtaltigkeit anheimfiel, aus welcher die auffallend ſtark ver-<lb/> tretenen freien Reichsſtädte hervorleuchten. Jn dieſen letztern ſollte ſich<lb/> bald ein gewaltiger Schwung geiſtigen Lebens entfalten. Auf Grundlage<lb/> aufgeblühten Wohlſtandes und fördernder Wechſelwirkung unter einander<lb/> ſehen wir in dieſem Gränzland eine Cultur ſich entwickeln wie in keinem<lb/> anderen Gebiete des Reichs. Es gemahnt uns traurig beim Anblick der<lb/> jetzigen Verwälſchung der Geſinnung, wenn wir bemerken daß es gerade<lb/> das ſpecifiſche Deutſchthum war welches damals mit gehobener Freudig-<lb/> keit und bewußtem Stolze verfochten wurde und in ſeiner reinſten Form<lb/> zu Tage trat. War es doch der elſäßiſche Mönch Otfried welcher ſchon<lb/> im 9. Jahrhundert durch poetiſche Verdeutſchung der heiligen Bücher in<lb/> ſeiner Evangelien-Harmonie das einzige zu ſchaffen ſuchte was nach ſeiner<lb/> Meinung den Landsleuten noch fehle, „daß ſie Gottes Lob in ihrer eigenen<lb/> Zunge ſingen;“ und iſt doch nicht minder als erſter deutſcher Philoſoph,<lb/> welcher die Mutterſprache zum Ausdruckmittel ſeiner Lehrthätigkeit machte,<lb/> der Myſtiker Meiſter Eckardt († 1327) zu Straßburg zu nennen! Was<lb/> aber ſollen wir weiter ſagen von Namen wie Heinrich der Glicheſaere,<lb/> Sebaſtian Brandt, Thomas Murner, Reinmar von Hagenau, Gottfried<lb/> von Straßburg, Jakob Twinger, und den vielen andern welche Stamm-<lb/> ſäulen einer Literaturepoche waren wie wir Nationalen keine wieder ge-<lb/> habt haben! Ja, es war ein hoher Aufſchwung germaniſcher Culturent-<lb/> wicklung, dem aber der Umſchlag nicht fehlen ſollte, der Umſchlag welcher<lb/> eingeleitet wurde durch die glänzendſte Aeußerung des deutſchen Geiſtes,<lb/> die Reformation. Straßburg mit ſeinen thatkräftigen Bürgermeiſtern<lb/> und ſeinen Theologen ſtand unter den ſüddeutſchen Reichsſtädten in der<lb/> reformatoriſchen Bewegung mit voran. Auch als es galt den neuen Glau-<lb/> ben mit den Waffen zu vertheidigen, legte es ein bedeutendes Gewicht in<lb/> die Wagſchale. Als aber die unglücklichen Ereigniſſe welche ſich an den<lb/> Namen des ſchmalkaldiſchen Bundes heften ihre niederdrückenden Schat-<lb/> ten auszubreiten begannen, da ließ ſich die freie Reichsſtadt zu einer Hand-<lb/> lung hinreißen die man beim ſchonendſten Urtheil immer als eine bekla-<lb/> genswerthe, von religiöſer Ueberreiztheit eingeflößte That wird bezeichnen<lb/> müſſen. Jm Jahre 1546 war es als ſich Straßburg beim Anrücken des<lb/> Heeres Karls <hi rendition="#aq">V</hi> zum erſtenmal um Schutz ihres bedrohten Glaubens gegen<lb/> den Kaiſer an den allerchriſtlichſten König Heinrich <hi rendition="#aq">II</hi> von Frankreich<lb/> wandte, und das Geſuch unter Betonung der immer gepflegten freundnach-<lb/> barlichen Beziehungen, hauptſächlich durch den Hinweis zu bekräftigen<lb/> ſuchte wie gefährlich ein übermächtiges Kaiſerthum für Frankreich ſelbſt<lb/> werden könne. Mit Eifer wurde dieſe Gelegenheit von Heinrich <hi rendition="#aq">II</hi> er-<lb/> griffen die Straßburger ſeiner ſtets bereiten Fürſorge zu verſichern, wel-<lb/><cb/> cher Geſinnung er durch Bewilligung einer Subſidienanleihe von 80,000<lb/> Goldthalern Ausdruck zu verleihen ſuchte. Jndeſſen erfüllte dieſe Unter-<lb/> ſtützung nicht ihren Zweck, ſie verhinderte die ſchimpfliche Demüthigung<lb/> der Straßburger Abgeſandten im Heerlager Karls <hi rendition="#aq">V</hi> zu Nördlingen nicht,<lb/> und ebenſowenig, die Einführung des ſo genannten Jnterims, durch das die<lb/> Reformation lahmgelegt, und die Hauptvorkämpfer derſelben im Elſaß, die<lb/> Prediger Butzer und Fagius, in die Fremde zu wandern gezwungen wurden.<lb/> Es folgte eine trübe, unerquickliche Epoche, die ſich erſt nach Abſchluß des<lb/> Augsburger Religionsfriedens (1555) wieder zu beſſern begann. Der Plan<lb/> Heinrichs <hi rendition="#aq">II</hi>, ſich ſchon damals der Stadt durch einen Handſtreich zu bemächti-<lb/> gen, ſcheiterte an der Vorſicht und Wachſamkeit der Bürger, aber nichts-<lb/> deſtoweniger vollzog ſich um dieſe Zeit etwas weſtlicher die erſte jener ver-<lb/> hängnißvollen Abtrennungen vom Reiche, welche dem Raube der übrigen<lb/> Ländertheile den Boden ebnete. Metz, Toul und Verdun fielen durch<lb/> einen Subſidienvertrag, welchen Moriz von Sachſen in ſeinem Krieg gegen<lb/> den Kaiſer mit Heinrich <hi rendition="#aq">II</hi> abgeſchloſſen hatte, an Frankreich.</p><lb/> <p>Es iſt über dieſe Ereigniſſe und ihre bewegenden Urſachen viel ge-<lb/> ſchrieben und geſtritten worden, und vielleicht iſt man deßhalb noch nicht<lb/> zu einer abſchließenden Anſicht gekommen, weil man nicht beachtet hat daß<lb/> ſich hier, wie wir glauben, zwei verſchiedene aber in ihrer Art gleich-<lb/> berechtigte Geſchichtsmomente gegenüberſtehen. Jedenfalls können wir<lb/> uns nicht zu der Auffaſſung der HH. Verfaſſer bekennen, wenn die<lb/> ganze Schuld für das Unglück der Abtrennung dem Kaiſer aufgebürdet, und<lb/> die Handlungen des Landesfürſten und der Städte dadurch zu beſchönigen<lb/> geſucht werden daß man Karl <hi rendition="#aq">V.</hi> der als „Spanier“ ſelber ein Fremder<lb/> geweſen ſei, nicht die Lehnstreue zu halten gebraucht habe, und die Bünd-<lb/> niſſe mit dem Auslande darum gerechtfertigt erſchienen. Wir mögen nicht<lb/> ſo unbedenklich jene Auffaſſung als zutreffend unterſchreiben welche ſich in<lb/> dem Satze ausdrückt: „Für uns Deutſche aber, die wir die Geſchichte jener<lb/> Zeit zu beſchreiben in der Lage ſind, iſt es eine der tröſtlichſten Erſchei-<lb/> nungen daß wir mit ſolcher Sicherheit es ausſprechen können: der Ge-<lb/> danke der Losreißung des herrlichſten Gränzlandes vom deutſchen Reiche<lb/> nahm ſeinen Urſprung in dem katholiſirenden Fanatismus Karls <hi rendition="#aq">V</hi>, in der<lb/> unerträglichen Uebermacht des römiſchen Kaiſerthums, in der Hülfloſigkeit<lb/> des alten Reiches ſeine Machtſtellung und die Freiheit der Gewiſſen zu-<lb/> gleich und gleichermaßen aufrecht zu erhalten“ (S. 218). So unbedingte<lb/> Entgegenſtellung des römiſchen Kaiſerthums und des deutſchen Reichs iſt<lb/> uns für die damalige Zeit unverſtändlich. Auch war Karl <hi rendition="#aq">V.</hi> gewiß kein<lb/> katholiſcher Fanatiker. Jhm kam es weſentlich darauf an widerſpänſtige<lb/> Reichsglieder zum Gehorſam zurückzubringen und dabei die Wurzel der<lb/> Auflehnung auszurotten. Man kann, den obigen Satz umkehrend, ge-<lb/> wiß mit gleichem Recht behaupten: die Schwäche des Reiches ſei aus dem<lb/> Mangel der kaiſerlichen Autorität gegenüber dem anarchiſchen Reformirungs-<lb/> fanatismus des Landesfürſtenthums herzuleiten. Es klebte dem Kaiſer-<lb/> thum als dem weltlichen Richtſchwert der chriſtlichen Kirche eben ein kosmo-<lb/> politiſcher Charakter an, der erſt ſpäter durch die Jdee des <hi rendition="#g">nation alen<lb/> Kaiſerthums</hi> aus dem Felde geſchlagen werden konnte. Zwar datiren<lb/> die erſten Anfänge zu dieſer Jdee aus jener Zeit, aber es wäre viel zu viel<lb/> geſagt wenn man behaupten wollte: die proteſtantiſchen Fürſten hätten dieſes<lb/> Ziel klar vor Augen gehabt oder ihren politiſchen Schwerpunkt darauf ge-<lb/> legt. Von ſeinem Standpunkt aus handelte Karl <hi rendition="#aq">V.</hi> jedenfalls ganz cor-<lb/> rect gegen die reformatoriſche Bewegung zu Felde zu ziehen, wenn ihm<lb/> die Geſchichte nachher auch nicht Recht gegeben hat. Die Reformation war<lb/> nothwendig, aber ſie bedingte eben ſo ſehr eine Form der Reichsidee. Für<lb/> dieſe politiſche Frage hat die Zeit leider keinen Luther aufzuweiſen; es<lb/> bedurfte eines jahrhundertelangen ſchweren Einzel- und Maſſenkampfes,<lb/> um nach mannichfachen An- und Rückläufen endlich zu einem Ziele zu ge-<lb/> langen, das wir erſt in dieſen Tagen zur Ueberraſchung unſerer ſelbſt ſich<lb/> erfüllen ſehen ſollten. Der Proteſtantismus darf es ſich jetzt getroſt geſtehen<lb/> daß ihm die Hauptſchuld an der Zerrüttung des heiligen römiſchen<lb/> Reiches und nicht minder die unmittelbare Veranlaſſung zufällt welche die<lb/> Entfremdung der weſtlichen Gränzmark herbeigeführt hat. Sie iſt geſühnt<lb/> worden in dieſen Tagen. Eine proteſtantiſche Macht mußte die preisge-<lb/> gebenen Güter zurückerwerben, es war eine heilige Schuld, welche gezahlt<lb/> werden mußte und welche gezahlt worden iſt, ſo ganz und voll wie es uns<lb/> die kühnſte Hoffnung nicht hatte eingeben können. Und was ſollen wir<lb/> noch ſagen! Die Zeiten haben ſich erfüllt, unſer deutſches Volk jauchzt<lb/> heute ſeinem Nationalkaiſer zu, der ihm verſprochen und bewieſen hat daß<lb/> er ihm entgegenzubringen weiß Treue um Treue! Heil uns daß wir<lb/> dieſen Tag erleben durften!</p><lb/> <p>Der zweite Halbband, deſſen Erſcheinen noch ausſteht, wird die Kata-<lb/> ſtrophe des Elſaßes, ſeine Fremdherrſchaft und ſeine Wiedergewinnung zu<lb/> behandeln haben. Die Darſtellung ſowohl in den geſchichtlichen als bei<lb/> den culturhiſtoriſchen Abſchnitten iſt eben ſo fließend wie geiſtvoll und mit<lb/> kunſtvoller Heraushebung der Hauptſachen vor den nebenſächlichen Mo-<lb/></p> </div> </div> </body> </floatingText> </p> </div> </body> </text> </TEI> [750/0010]
geſchichtliche von Dr. Wilhelm Scherer, beide in Wien, bearbeitet. Es lag
in der Natur des Gegenſtandes daß die letztere Aufgabe lohnender aus-
fallen mußte als die erſtere. Bei einem verhältnißmäßig ſo kleinen Land-
ſtriche wie das Elſaß, der noch nicht einmal einen politiſchen Complex bil-
dete, können hiſtoriſche Ereigniſſe in der Regel erſt in zweiter Linie in Be-
tracht kommen. Vielleicht würde es zum Vortheil dieſes Theiles gereicht
haben wenn die allgemein politiſchen Verhältniſſe des deutſchen Reichs
etwas ausführlicher entwickelt worden wären. Die Bekanntſchaft mit
ihnen iſt überall vorausgeſetzt, ſo daß die localgeſchichtlichen Berührungs-
punkte nicht immer in ihrer vollen Klarheit zu Tage treten. Bei den cul-
turhiſtoriſchen Bildern wird dieſer Mangel weniger fühlbar. Hier ſind es
wichtige Höhepunkte um die ſich die Darſtellung dreht, die von ihrer Seite
aus einen weitſtrahlenden Einfluß auf die Geſammtheitz des Reichs aus-
übten, ſo daß die geſonderte Betrachtung eher ein abgerundetes Ganzes
bilden konnte.
Die Geſchichte der überrheiniſchen Provinzen, als Wohnſitzen unſerer
germaniſchen Vorfahren, beginnt mit den Zeiten Cäſars und Arioviſts.
Aber erſt von der Mitte des 5. Jahrhunderts an kann von einem dauernden
Beſitze der Germanen geſprochen werden. Der ſüdliche Theil des Elſaßer
Landes wurde von Gliedern alemanniſchen, der nördliche von ſolchen frän-
kiſchen Stammes bewohnt. Anfänglich ſcheinen die keltiſchen Ureinwohner
noch ein bedeutendes, wenn auch nicht politiſch tonangebendes, Bevölke-
rungselement ausgemacht zu haben. Wenigſtens hat ſich dem Lande dar-
aus der Name gebildet, der ihm auch noch in den Zeiten ankleben blieb
als das Deutſchthum zur vollkommenen und unvermiſchten Ausbreitung
gekommen war. Das um das 7. Jahrhundert blühende fränkiſche Herr-
ſchergeſchlecht der Etichonen hatte ſich nämlich Herzoge der Eliſaſſen, d. i.
der fremden Bewohner, genannt. Unter den Kaiſern machte das Elſaß eine
Zeitlang einen Beſtandtheil des von Lothar I gegründeten und nach ſeinem
Namen benannten, aber raſch zerfallenen Mittelreichs aus, an welches jetzt
nur noch die kleine Provinz Lothringen erinnert. Die darauf folgenden
politiſchen Schickſale unterſcheiden ſich nicht weſentlich von denen irgend-
einer andern deutſchen Mark. Hin- und hergeworfen von einem Beſitzer
zum andern, haben ſich im Oberelſaß (Sundgau) am längſten die Habs-
burger als Landgrafen behauptet, während das Niederelſaß einer ſtaats-
rechtlichen Vielgeſtaltigkeit anheimfiel, aus welcher die auffallend ſtark ver-
tretenen freien Reichsſtädte hervorleuchten. Jn dieſen letztern ſollte ſich
bald ein gewaltiger Schwung geiſtigen Lebens entfalten. Auf Grundlage
aufgeblühten Wohlſtandes und fördernder Wechſelwirkung unter einander
ſehen wir in dieſem Gränzland eine Cultur ſich entwickeln wie in keinem
anderen Gebiete des Reichs. Es gemahnt uns traurig beim Anblick der
jetzigen Verwälſchung der Geſinnung, wenn wir bemerken daß es gerade
das ſpecifiſche Deutſchthum war welches damals mit gehobener Freudig-
keit und bewußtem Stolze verfochten wurde und in ſeiner reinſten Form
zu Tage trat. War es doch der elſäßiſche Mönch Otfried welcher ſchon
im 9. Jahrhundert durch poetiſche Verdeutſchung der heiligen Bücher in
ſeiner Evangelien-Harmonie das einzige zu ſchaffen ſuchte was nach ſeiner
Meinung den Landsleuten noch fehle, „daß ſie Gottes Lob in ihrer eigenen
Zunge ſingen;“ und iſt doch nicht minder als erſter deutſcher Philoſoph,
welcher die Mutterſprache zum Ausdruckmittel ſeiner Lehrthätigkeit machte,
der Myſtiker Meiſter Eckardt († 1327) zu Straßburg zu nennen! Was
aber ſollen wir weiter ſagen von Namen wie Heinrich der Glicheſaere,
Sebaſtian Brandt, Thomas Murner, Reinmar von Hagenau, Gottfried
von Straßburg, Jakob Twinger, und den vielen andern welche Stamm-
ſäulen einer Literaturepoche waren wie wir Nationalen keine wieder ge-
habt haben! Ja, es war ein hoher Aufſchwung germaniſcher Culturent-
wicklung, dem aber der Umſchlag nicht fehlen ſollte, der Umſchlag welcher
eingeleitet wurde durch die glänzendſte Aeußerung des deutſchen Geiſtes,
die Reformation. Straßburg mit ſeinen thatkräftigen Bürgermeiſtern
und ſeinen Theologen ſtand unter den ſüddeutſchen Reichsſtädten in der
reformatoriſchen Bewegung mit voran. Auch als es galt den neuen Glau-
ben mit den Waffen zu vertheidigen, legte es ein bedeutendes Gewicht in
die Wagſchale. Als aber die unglücklichen Ereigniſſe welche ſich an den
Namen des ſchmalkaldiſchen Bundes heften ihre niederdrückenden Schat-
ten auszubreiten begannen, da ließ ſich die freie Reichsſtadt zu einer Hand-
lung hinreißen die man beim ſchonendſten Urtheil immer als eine bekla-
genswerthe, von religiöſer Ueberreiztheit eingeflößte That wird bezeichnen
müſſen. Jm Jahre 1546 war es als ſich Straßburg beim Anrücken des
Heeres Karls V zum erſtenmal um Schutz ihres bedrohten Glaubens gegen
den Kaiſer an den allerchriſtlichſten König Heinrich II von Frankreich
wandte, und das Geſuch unter Betonung der immer gepflegten freundnach-
barlichen Beziehungen, hauptſächlich durch den Hinweis zu bekräftigen
ſuchte wie gefährlich ein übermächtiges Kaiſerthum für Frankreich ſelbſt
werden könne. Mit Eifer wurde dieſe Gelegenheit von Heinrich II er-
griffen die Straßburger ſeiner ſtets bereiten Fürſorge zu verſichern, wel-
cher Geſinnung er durch Bewilligung einer Subſidienanleihe von 80,000
Goldthalern Ausdruck zu verleihen ſuchte. Jndeſſen erfüllte dieſe Unter-
ſtützung nicht ihren Zweck, ſie verhinderte die ſchimpfliche Demüthigung
der Straßburger Abgeſandten im Heerlager Karls V zu Nördlingen nicht,
und ebenſowenig, die Einführung des ſo genannten Jnterims, durch das die
Reformation lahmgelegt, und die Hauptvorkämpfer derſelben im Elſaß, die
Prediger Butzer und Fagius, in die Fremde zu wandern gezwungen wurden.
Es folgte eine trübe, unerquickliche Epoche, die ſich erſt nach Abſchluß des
Augsburger Religionsfriedens (1555) wieder zu beſſern begann. Der Plan
Heinrichs II, ſich ſchon damals der Stadt durch einen Handſtreich zu bemächti-
gen, ſcheiterte an der Vorſicht und Wachſamkeit der Bürger, aber nichts-
deſtoweniger vollzog ſich um dieſe Zeit etwas weſtlicher die erſte jener ver-
hängnißvollen Abtrennungen vom Reiche, welche dem Raube der übrigen
Ländertheile den Boden ebnete. Metz, Toul und Verdun fielen durch
einen Subſidienvertrag, welchen Moriz von Sachſen in ſeinem Krieg gegen
den Kaiſer mit Heinrich II abgeſchloſſen hatte, an Frankreich.
Es iſt über dieſe Ereigniſſe und ihre bewegenden Urſachen viel ge-
ſchrieben und geſtritten worden, und vielleicht iſt man deßhalb noch nicht
zu einer abſchließenden Anſicht gekommen, weil man nicht beachtet hat daß
ſich hier, wie wir glauben, zwei verſchiedene aber in ihrer Art gleich-
berechtigte Geſchichtsmomente gegenüberſtehen. Jedenfalls können wir
uns nicht zu der Auffaſſung der HH. Verfaſſer bekennen, wenn die
ganze Schuld für das Unglück der Abtrennung dem Kaiſer aufgebürdet, und
die Handlungen des Landesfürſten und der Städte dadurch zu beſchönigen
geſucht werden daß man Karl V. der als „Spanier“ ſelber ein Fremder
geweſen ſei, nicht die Lehnstreue zu halten gebraucht habe, und die Bünd-
niſſe mit dem Auslande darum gerechtfertigt erſchienen. Wir mögen nicht
ſo unbedenklich jene Auffaſſung als zutreffend unterſchreiben welche ſich in
dem Satze ausdrückt: „Für uns Deutſche aber, die wir die Geſchichte jener
Zeit zu beſchreiben in der Lage ſind, iſt es eine der tröſtlichſten Erſchei-
nungen daß wir mit ſolcher Sicherheit es ausſprechen können: der Ge-
danke der Losreißung des herrlichſten Gränzlandes vom deutſchen Reiche
nahm ſeinen Urſprung in dem katholiſirenden Fanatismus Karls V, in der
unerträglichen Uebermacht des römiſchen Kaiſerthums, in der Hülfloſigkeit
des alten Reiches ſeine Machtſtellung und die Freiheit der Gewiſſen zu-
gleich und gleichermaßen aufrecht zu erhalten“ (S. 218). So unbedingte
Entgegenſtellung des römiſchen Kaiſerthums und des deutſchen Reichs iſt
uns für die damalige Zeit unverſtändlich. Auch war Karl V. gewiß kein
katholiſcher Fanatiker. Jhm kam es weſentlich darauf an widerſpänſtige
Reichsglieder zum Gehorſam zurückzubringen und dabei die Wurzel der
Auflehnung auszurotten. Man kann, den obigen Satz umkehrend, ge-
wiß mit gleichem Recht behaupten: die Schwäche des Reiches ſei aus dem
Mangel der kaiſerlichen Autorität gegenüber dem anarchiſchen Reformirungs-
fanatismus des Landesfürſtenthums herzuleiten. Es klebte dem Kaiſer-
thum als dem weltlichen Richtſchwert der chriſtlichen Kirche eben ein kosmo-
politiſcher Charakter an, der erſt ſpäter durch die Jdee des nation alen
Kaiſerthums aus dem Felde geſchlagen werden konnte. Zwar datiren
die erſten Anfänge zu dieſer Jdee aus jener Zeit, aber es wäre viel zu viel
geſagt wenn man behaupten wollte: die proteſtantiſchen Fürſten hätten dieſes
Ziel klar vor Augen gehabt oder ihren politiſchen Schwerpunkt darauf ge-
legt. Von ſeinem Standpunkt aus handelte Karl V. jedenfalls ganz cor-
rect gegen die reformatoriſche Bewegung zu Felde zu ziehen, wenn ihm
die Geſchichte nachher auch nicht Recht gegeben hat. Die Reformation war
nothwendig, aber ſie bedingte eben ſo ſehr eine Form der Reichsidee. Für
dieſe politiſche Frage hat die Zeit leider keinen Luther aufzuweiſen; es
bedurfte eines jahrhundertelangen ſchweren Einzel- und Maſſenkampfes,
um nach mannichfachen An- und Rückläufen endlich zu einem Ziele zu ge-
langen, das wir erſt in dieſen Tagen zur Ueberraſchung unſerer ſelbſt ſich
erfüllen ſehen ſollten. Der Proteſtantismus darf es ſich jetzt getroſt geſtehen
daß ihm die Hauptſchuld an der Zerrüttung des heiligen römiſchen
Reiches und nicht minder die unmittelbare Veranlaſſung zufällt welche die
Entfremdung der weſtlichen Gränzmark herbeigeführt hat. Sie iſt geſühnt
worden in dieſen Tagen. Eine proteſtantiſche Macht mußte die preisge-
gebenen Güter zurückerwerben, es war eine heilige Schuld, welche gezahlt
werden mußte und welche gezahlt worden iſt, ſo ganz und voll wie es uns
die kühnſte Hoffnung nicht hatte eingeben können. Und was ſollen wir
noch ſagen! Die Zeiten haben ſich erfüllt, unſer deutſches Volk jauchzt
heute ſeinem Nationalkaiſer zu, der ihm verſprochen und bewieſen hat daß
er ihm entgegenzubringen weiß Treue um Treue! Heil uns daß wir
dieſen Tag erleben durften!
Der zweite Halbband, deſſen Erſcheinen noch ausſteht, wird die Kata-
ſtrophe des Elſaßes, ſeine Fremdherrſchaft und ſeine Wiedergewinnung zu
behandeln haben. Die Darſtellung ſowohl in den geſchichtlichen als bei
den culturhiſtoriſchen Abſchnitten iſt eben ſo fließend wie geiſtvoll und mit
kunſtvoller Heraushebung der Hauptſachen vor den nebenſächlichen Mo-
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(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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