Allgemeine Zeitung, Nr. 46, 15. Februar 1871.[Spaltenumbruch]
schaffen und so jede Concurrenz aus dem Felde schlagen. Es könnte dann Möge sich also Oesterreich genau überlegen wozu es die gewiß be- Joseph Hillebrand. Joseph Hillebrand, früher Oberstudienrath und Professor der Hillebrand war 1788 zu Großdüngen bei Hildesheim geboren, ein Hillebrand war in der Philosophie anfänglich Eklektiker, geistvolle Seit den dreißiger Jahren begann der Einfluß Hegels auf Hillebrands Gervinus hatte die Bildungsgeschichte Deutschlands im vollen und Gerade die literaturgeschichtlichen Vorlesungen hatten die öffentliche [Spaltenumbruch]
ſchaffen und ſo jede Concurrenz aus dem Felde ſchlagen. Es könnte dann Möge ſich alſo Oeſterreich genau überlegen wozu es die gewiß be- Joſeph Hillebrand. ♂ Joſeph Hillebrand, früher Oberſtudienrath und Profeſſor der Hillebrand war 1788 zu Großdüngen bei Hildesheim geboren, ein Hillebrand war in der Philoſophie anfänglich Eklektiker, geiſtvolle Seit den dreißiger Jahren begann der Einfluß Hegels auf Hillebrands Gervinus hatte die Bildungsgeſchichte Deutſchlands im vollen und Gerade die literaturgeſchichtlichen Vorleſungen hatten die öffentliche <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p> <floatingText> <body> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div type="jComment" n="2"> <p><pb facs="#f0011" n="771"/><cb/> ſchaffen und ſo jede Concurrenz aus dem Felde ſchlagen. Es könnte dann<lb/> ſogar Salz als Ballaſt nach Serbien bringen, und Eiſen ſo wie Kohlen in<lb/> derſelben Weiſe dorthin und nach jedem Punkte der Strecke zu Thal. Die<lb/> Oeſterreicher mögen uns bei dieſer Gelegenheit geſtatten daran zu erinnern<lb/> daß das köſtliche und billige ſteieriſche Eiſen auf engliſchen Märkten nicht<lb/> Abſatz ſinden kann weil es durch die Fracht bis dahin zu ſehr vertheuert<lb/> wird, wohingegen die Fabricate aus dem ſchlechtern und am Erzeugungs-<lb/> orte theureren engliſchen Eiſen in Steiermark und Oeſterreich ſehr wohl<lb/> Abſatz finden, weil ſie die Fracht vertragen können. Die Nutzanwendung<lb/> braucht wohl nicht weiter detaillirt zu werden. Es iſt engherzig dem Con-<lb/> currenten vorhandene Wege zu ſperren, aber es iſt irrationell und ſelbſt-<lb/> mörderiſch ihm Canäle zu öffnen die hauptſächlich ihm zu gute kommen.<lb/> Mehr ausführen als einführen, das iſt Englands volkswirthſchaftlicher<lb/> Glaubensſatz, und daß es Deutſchland möglich war ihn zu adoptiren, ver-<lb/> dankt es in erſter Reihe der däniſchen Blokade von 1848, die uns auf un-<lb/> ſere eigene Berg- und Hütten-Induſtrie anwies; in zweiter Reihe half der<lb/> Krimkrieg, welcher die Ausfuhr von Berg- und Hütten-Producten nach<lb/> Deutſchland verbot — woher damals die Wuth der Engländer wegen un-<lb/> ſerer Neutralität. Auch die jetzige Blokade ſchadet England mehr als uns<lb/> — darum ſeine Friedensliebe.</p><lb/> <p>Möge ſich alſo Oeſterreich genau überlegen wozu es die gewiß be-<lb/> reitwilligſt gewährte Unterſtützung des Deutſchen Reiches in den orientali-<lb/> ſchen Angelegenheiten fordert, damit es ihm nicht gehe wie der Frau mit<lb/> den drei Wünſchen, deren Erfüllung ihr Zeus aus Dankbarkeit verheißen<lb/> hatte.</p> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div type="jCulturalNews" n="1"> <div type="jComment" n="2"> <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#b">Joſeph Hillebrand.</hi> </hi> </head><lb/> <p>♂ Joſeph Hillebrand, früher Oberſtudienrath und Profeſſor der<lb/> Philoſophie in Gießen, iſt dort am 28 Januar an der Seite zweier ihm<lb/> vorausgegangenen Frauen zur Erde beſtattet worden; er war, 83 Jahre<lb/> alt, zu Soden im Taunus nach kurzer Krankheit im Arm ſeiner Töchter<lb/> am 25 Januar geſtorben, nachdem er vor mehreren Jahren eine Staar-<lb/> operation glücklich überſtanden und mit regem Geiſte dem Umſchwung der<lb/> deutſchen Geſchichte gefolgt war, für welchen auch er ein begabter und<lb/> eifriger Vorarbeiter geweſen.</p><lb/> <p>Hillebrand war 1788 zu Großdüngen bei Hildesheim geboren, ein<lb/> Bauernſohn, der durch ſein Talent die Augen der katholiſchen Geiſtlichkeit<lb/> auf ſich zog und für deren Stand beſtimmt ward. So kam er auf die la-<lb/> teiniſche Schule und dann in das Klerikalſeminar zu Hildesheim; von da<lb/> aus ſandte ihn die damalige weſtfäliſche Regierung nach Göttingen um<lb/> orientaliſche und altelaſſiſche Sprachen zu ſtudieren. Er erhielt ſofort eine<lb/> Lehrerſtelle am Joſephinum in Hildesheim, und durch den Biſchof wurden<lb/> ihm glänzende Ausſichten eröffnet. Aber ſeiner ganzen Natur nach ſah<lb/> er das Leben nur im Fluſſe der Entwicklung, er wollte die Wahrheit im<lb/> eigenen Denken und Forſchen gewinnen, es widerſtrebte ihm die im Dogma<lb/> erſtarrte Ueberlieferung zu verkündigen und zu rechtfertigen, und da er<lb/> ſchon die Prieſterweihe empfangen hatte, ſo trat er, um die volle Freiheit<lb/> des Geiſtes und Herzens wieder zu gewinnen, zum Proteſtantismus über;<lb/> das ſelbſtändige Gewiſſen, die Ueberzeugung der eigenen Vernunft ward<lb/> ſeine Richtſchnur. Hillebrand ſtellte ſich ganz auf eigene Füße. Er war<lb/> Hauslehrer in Belgien, und begleitete ſeine Zöglinge auf die Univerſität<lb/> nach Würzburg. Eine Schrift über Erziehung verſchaffte ihm den Ruf zu<lb/> einer außerordentlichen Profeſſur nach Heidelberg, wo er nach Hegels Ab-<lb/> gang ordentlicher Profeſſor der Philoſophie wurde, bald darauf aber (1822)<lb/> in gleicher Eigenſchaft und als Director des Gymnaſiums nach Gießen<lb/> überſiedelte; die Stelle des Pädagogarchen legte er 1834 nieder, als er in<lb/> den heſſiſchen Oberſtudienrath eintrat. Faſt 30 Jahre lang entfaltete Hille-<lb/> brand nun in Gießen eine hervorragende und einflußreiche Lehrerthätig-<lb/> keit. Er war ein Meiſter im freien Vortrag, für die Debatte geſchaffen,<lb/> ſtets in eigener Geiſtesarbeit, ſtets auf dem Katheder neu producirend. So<lb/> liebte er auch den Verkehr mit der Jugend, mit Studenten und aufſtreben-<lb/> den Docenten, die ſelbſt im Werden und Ringen begriffen waren, und die<lb/> er fern von aller Selbſtſucht in jeder Weiſe mit Wort und That zu fördern<lb/> ſich angelegen ſein ließ. Sein gaſtliches Haus ſtand ihnen offen, und ſeine<lb/> eigene Familie entwickelte ſich in einer Atmoſphäre freier Bildung. Der<lb/> älteſte Sohn, Profeſſor des deutſchen Rechts in Zürich, iſt früh einem Herz-<lb/> leiden erlegen, der jüngſte lebt als kürzlich vertriebener Profeſſor von<lb/> Douai eben in Florenz, bekannt durch Schriften über italieniſche Literatur<lb/> und durch ſeine Aufſätze im „Journal des D<hi rendition="#aq">é</hi>bats,“ welche den Franzoſen<lb/> das Verſtändniß für die deutſche Geſchichte ſeit 1866 erſchließen ſollten.<lb/> Zwei andere Söhne giengen als Aerzte nach Amerika. Die älteſte Tochter<lb/> gründete eine Erziehungsanſtalt für Mädchen in Soden.</p><lb/> <p>Hillebrand war in der Philoſophie anfänglich Eklektiker, geiſtvolle<lb/> Kritik war mehr ſeine Sache als ſchulmäßiges Syſtematiſiren; er gieng<lb/> von der Lebenserfahrung aus, und ſeine Anthropologie, ſeine Literaräſthetik<lb/><cb/> waren mehr durch den Reichthum einzelner treffenden Bemerkungen als<lb/> durch wiſſenſchaftliche Begründung oder Ableitung von den höchſten Prin-<lb/> cipien beachtenswerth. Die <hi rendition="#aq">Aesthetica literaria antiqua critica</hi> fügte<lb/> die Stellen der griechiſchen und römiſchen Schriftſteller über Rhetorik und<lb/> Poetik zuſammen. Hillebrand ſelber hatte in der Jugend einige Romane<lb/> geſchrieben, von denen der eine, „Paradies und Welt,“ den Idealismus des<lb/> Herzens am Ende ſiegreich im Kampfe mit der realiſtiſchen Proſa erwies;<lb/> wenn auch die didaktiſche Tendenz vorwog, ſo hatte er doch durch dieſe<lb/> eigene künſtleriſche Thätigkeit ſich für die Kunſtkritik vorgebildet, die ſpäter<lb/> ſeine Stärke war.</p><lb/> <p>Seit den dreißiger Jahren begann der Einfluß Hegels auf Hillebrands<lb/> eigenes Denken; aber er hielt von Haus aus an der Selbſtändigkeit des<lb/> individuellen Lebens feſt, und ſo gewann er eine vermittelnde und mittlere<lb/> Stellung zwiſchen Hegel und Herbart oder Leibniz. Die „Philoſophie des<lb/> Geiſtes“ (1835) entwickelte von der Pſychologie aus die Principien des<lb/> Rechts, der Kunſt, der Religion, und der „Organismus der Jdee“ gab<lb/> eine Art von Philoſophie der Geſchichte der Philoſophie — die Darſtellung<lb/> wie die Hauptgedanken und Grundbegriffe der Menſchheit ſich vom Alter-<lb/> thum bis in die Gegenwart mit innerer Folgerichtigkeit, im Zuſammen-<lb/> hang und in wechſelſeitiger Ergänzung der Gegenſätze entwickelt haben.<lb/> Das Buch ruht auf gründlichen Studien der Quellen, und iſt zwar nicht<lb/> für den Anfänger, wohl aber für den wiſſenſchaftlich Geſchulten eine vor-<lb/> zügliche Ueberſicht der hauptſächlichſten philoſophiſchen Syſteme nach ihrem<lb/> Kern und Wahrheitsgehalt. Seltſam daß Hillebrand, der mündlich ſo<lb/> populär zu reden verſtand, ſchriftſtelleriſch damals ſo ſchwerfällig und über-<lb/> laden mit fremdländiſcher Terminologie ſchrieb, und dadurch der Verbrei-<lb/> tung ſeiner Jdeen im Wege ſtand. Er überwand das erſt in dem Werke<lb/> welches ihn in weiteren Kreiſen berühmt machte, in den drei Bänden über<lb/> „die deutſche Nationalliteratur ſeit dem Anfang des 18. Jahrhunderts,“<lb/> 1845 in erſter, 1850 in zweiter Auflage erſchienen. Dieſem Buch kam zu<lb/> gute daß es ziemlich unmittelbar aus den Vorträgen hervorgieng welche<lb/> Hillebrand an Winterabenden über den Gegenſtand hielt, und die viele ge-<lb/> bildete Männer in den Hörſaal zu den Studenten hereinzogen.</p><lb/> <p>Gervinus hatte die Bildungsgeſchichte Deutſchlands im vollen und<lb/> großen Strom ihrer Entwicklung gezeichnet, er hatte bei den einzelnen<lb/> dichteriſchen Schöpfungen nicht die äſthetiſche Werthſchätzung in den Vor-<lb/> dergrund geſtellt, ſondern die Betrachtung wie ſie aus Stimmungen der<lb/> Zeit hervorgegangen und welche Wirkung ſie auf das Leben geübt; er<lb/> hatte die Einflüſſe betont welche der Dichter von ſeiner Umgebung er-<lb/> fahren. Hillebrand ſtellt die dichteriſche Individualität eines jeden in den<lb/> Mittelpunkt, ſucht ſie ſcharf zu charakteriſiren, und prüft die Werke an dem<lb/> Maßſtabe des Ideals nach ihrer formalen Vollendung wie nach ihrem<lb/> ewigen Gehalt. So ergänzt er das Werk des Vorgängers und auch das des<lb/> Nachfolgers, Julian Schmidt, ich meine gerade die neue Bearbeitung von<lb/> deſſen Buch, welches all die Auswüchſe und Anſtöße entfernt hat die ich<lb/> vor Jahren in dieſen Blättern angriff, und das Geſammtgemälde unſerer<lb/> Literatur in der Art vor uns entfaltet daß es die ſynchroniſtiſche Methode<lb/> befolgt, und nicht wie Hillebrand jeden Dichter oder Denker für ſich in der<lb/> Totalität ſeines Schaffens ſchildert, ſondern die Werke aufzählt welche,<lb/> wenn nicht von Jahr zu Jahr, doch von Luſtrum zu Luſtrum nebenein-<lb/> ander erſchienen; in dieſer Fülle des Mannichfaltigen zeigt ſich die Wechſel-<lb/> wirkung desſelben, die bei Hillebrand minder klar wird, während bei Schmidt<lb/> das Geſammtbild der Individualität nicht ſo energiſch wie bei ihm hervor-<lb/> tritt. Aber beide Arten ſind berechtigt, und wir freuen uns daß wir Ar-<lb/> beiten haben in welchen ſie ſo vorzüglich ausgeführt ſind. Hillebrands<lb/> Lieblingsdichter iſt Goethe; um zu ihm hinzuleiten, war er in den Vor-<lb/> leſungen oft zu herb in der Kritik Schillers, an dem er auch im Buch, bei<lb/> aller Anerkennung des Menſchen und Schriftſtellers im Ganzen, doch im<lb/> Einzelnen zu ſehr mäkelt. Die Charakteriſtik Goethe’s, die einen halben<lb/> Band füllt, iſt das Gelungenſte des Werkes. Ich habe nie verſtehen können<lb/> wie man das engliſche Buch von Lewis ſo bewundern mochte, da es doch in<lb/> Bezug auf äſthetiſche Würdigung dieſer Darſtellung Hillebrands nicht das<lb/> Waſſer reicht, das Biographiſche aber durch Hermann Marggraff und<lb/> Goedecke gleichfalls übertroffen iſt. Es war theils Ausländerei, theils<lb/> aber auch die Unwiſſenheit ſo vieler Tagesſchriftſteller, die eine neue Ar-<lb/> beit kritiſiren ohne die Vorgänger zu kennen, ohne etwas im Zuſammen-<lb/> hang der Literatur auffaſſen zu können. Der Neuzeit gegenüber erſcheint<lb/> Hillebrand ſtreng, weil er ſie an der Höhe Goethe’s mißt; denn er erkennt<lb/> nicht das Aufkeimen friſcher Elemente, nicht das Recht des Lebenden.</p><lb/> <p>Gerade die literaturgeſchichtlichen Vorleſungen hatten die öffentliche<lb/> Aufmerkſamkeit auf Hillebrand gelenkt, und ſo wählte ihn die Stadt Gießen<lb/> 1847 zu ihrem Landtagsabgeordneten. Als ſolcher machte er das Revo-<lb/> lutionsjahr durch; eine Zeitlang war er Kammerpräſident. Entſchieden<lb/> freiſinnig wollte er, nachdem die Einigung Deutſchlands nicht gelungen<lb/> war, dann im Einzelſtaat die Forderungen und Errungenſchaften der Be-<lb/></p> </div> </div> </body> </floatingText> </p> </div> </body> </text> </TEI> [771/0011]
ſchaffen und ſo jede Concurrenz aus dem Felde ſchlagen. Es könnte dann
ſogar Salz als Ballaſt nach Serbien bringen, und Eiſen ſo wie Kohlen in
derſelben Weiſe dorthin und nach jedem Punkte der Strecke zu Thal. Die
Oeſterreicher mögen uns bei dieſer Gelegenheit geſtatten daran zu erinnern
daß das köſtliche und billige ſteieriſche Eiſen auf engliſchen Märkten nicht
Abſatz ſinden kann weil es durch die Fracht bis dahin zu ſehr vertheuert
wird, wohingegen die Fabricate aus dem ſchlechtern und am Erzeugungs-
orte theureren engliſchen Eiſen in Steiermark und Oeſterreich ſehr wohl
Abſatz finden, weil ſie die Fracht vertragen können. Die Nutzanwendung
braucht wohl nicht weiter detaillirt zu werden. Es iſt engherzig dem Con-
currenten vorhandene Wege zu ſperren, aber es iſt irrationell und ſelbſt-
mörderiſch ihm Canäle zu öffnen die hauptſächlich ihm zu gute kommen.
Mehr ausführen als einführen, das iſt Englands volkswirthſchaftlicher
Glaubensſatz, und daß es Deutſchland möglich war ihn zu adoptiren, ver-
dankt es in erſter Reihe der däniſchen Blokade von 1848, die uns auf un-
ſere eigene Berg- und Hütten-Induſtrie anwies; in zweiter Reihe half der
Krimkrieg, welcher die Ausfuhr von Berg- und Hütten-Producten nach
Deutſchland verbot — woher damals die Wuth der Engländer wegen un-
ſerer Neutralität. Auch die jetzige Blokade ſchadet England mehr als uns
— darum ſeine Friedensliebe.
Möge ſich alſo Oeſterreich genau überlegen wozu es die gewiß be-
reitwilligſt gewährte Unterſtützung des Deutſchen Reiches in den orientali-
ſchen Angelegenheiten fordert, damit es ihm nicht gehe wie der Frau mit
den drei Wünſchen, deren Erfüllung ihr Zeus aus Dankbarkeit verheißen
hatte.
Joſeph Hillebrand.
♂ Joſeph Hillebrand, früher Oberſtudienrath und Profeſſor der
Philoſophie in Gießen, iſt dort am 28 Januar an der Seite zweier ihm
vorausgegangenen Frauen zur Erde beſtattet worden; er war, 83 Jahre
alt, zu Soden im Taunus nach kurzer Krankheit im Arm ſeiner Töchter
am 25 Januar geſtorben, nachdem er vor mehreren Jahren eine Staar-
operation glücklich überſtanden und mit regem Geiſte dem Umſchwung der
deutſchen Geſchichte gefolgt war, für welchen auch er ein begabter und
eifriger Vorarbeiter geweſen.
Hillebrand war 1788 zu Großdüngen bei Hildesheim geboren, ein
Bauernſohn, der durch ſein Talent die Augen der katholiſchen Geiſtlichkeit
auf ſich zog und für deren Stand beſtimmt ward. So kam er auf die la-
teiniſche Schule und dann in das Klerikalſeminar zu Hildesheim; von da
aus ſandte ihn die damalige weſtfäliſche Regierung nach Göttingen um
orientaliſche und altelaſſiſche Sprachen zu ſtudieren. Er erhielt ſofort eine
Lehrerſtelle am Joſephinum in Hildesheim, und durch den Biſchof wurden
ihm glänzende Ausſichten eröffnet. Aber ſeiner ganzen Natur nach ſah
er das Leben nur im Fluſſe der Entwicklung, er wollte die Wahrheit im
eigenen Denken und Forſchen gewinnen, es widerſtrebte ihm die im Dogma
erſtarrte Ueberlieferung zu verkündigen und zu rechtfertigen, und da er
ſchon die Prieſterweihe empfangen hatte, ſo trat er, um die volle Freiheit
des Geiſtes und Herzens wieder zu gewinnen, zum Proteſtantismus über;
das ſelbſtändige Gewiſſen, die Ueberzeugung der eigenen Vernunft ward
ſeine Richtſchnur. Hillebrand ſtellte ſich ganz auf eigene Füße. Er war
Hauslehrer in Belgien, und begleitete ſeine Zöglinge auf die Univerſität
nach Würzburg. Eine Schrift über Erziehung verſchaffte ihm den Ruf zu
einer außerordentlichen Profeſſur nach Heidelberg, wo er nach Hegels Ab-
gang ordentlicher Profeſſor der Philoſophie wurde, bald darauf aber (1822)
in gleicher Eigenſchaft und als Director des Gymnaſiums nach Gießen
überſiedelte; die Stelle des Pädagogarchen legte er 1834 nieder, als er in
den heſſiſchen Oberſtudienrath eintrat. Faſt 30 Jahre lang entfaltete Hille-
brand nun in Gießen eine hervorragende und einflußreiche Lehrerthätig-
keit. Er war ein Meiſter im freien Vortrag, für die Debatte geſchaffen,
ſtets in eigener Geiſtesarbeit, ſtets auf dem Katheder neu producirend. So
liebte er auch den Verkehr mit der Jugend, mit Studenten und aufſtreben-
den Docenten, die ſelbſt im Werden und Ringen begriffen waren, und die
er fern von aller Selbſtſucht in jeder Weiſe mit Wort und That zu fördern
ſich angelegen ſein ließ. Sein gaſtliches Haus ſtand ihnen offen, und ſeine
eigene Familie entwickelte ſich in einer Atmoſphäre freier Bildung. Der
älteſte Sohn, Profeſſor des deutſchen Rechts in Zürich, iſt früh einem Herz-
leiden erlegen, der jüngſte lebt als kürzlich vertriebener Profeſſor von
Douai eben in Florenz, bekannt durch Schriften über italieniſche Literatur
und durch ſeine Aufſätze im „Journal des Débats,“ welche den Franzoſen
das Verſtändniß für die deutſche Geſchichte ſeit 1866 erſchließen ſollten.
Zwei andere Söhne giengen als Aerzte nach Amerika. Die älteſte Tochter
gründete eine Erziehungsanſtalt für Mädchen in Soden.
Hillebrand war in der Philoſophie anfänglich Eklektiker, geiſtvolle
Kritik war mehr ſeine Sache als ſchulmäßiges Syſtematiſiren; er gieng
von der Lebenserfahrung aus, und ſeine Anthropologie, ſeine Literaräſthetik
waren mehr durch den Reichthum einzelner treffenden Bemerkungen als
durch wiſſenſchaftliche Begründung oder Ableitung von den höchſten Prin-
cipien beachtenswerth. Die Aesthetica literaria antiqua critica fügte
die Stellen der griechiſchen und römiſchen Schriftſteller über Rhetorik und
Poetik zuſammen. Hillebrand ſelber hatte in der Jugend einige Romane
geſchrieben, von denen der eine, „Paradies und Welt,“ den Idealismus des
Herzens am Ende ſiegreich im Kampfe mit der realiſtiſchen Proſa erwies;
wenn auch die didaktiſche Tendenz vorwog, ſo hatte er doch durch dieſe
eigene künſtleriſche Thätigkeit ſich für die Kunſtkritik vorgebildet, die ſpäter
ſeine Stärke war.
Seit den dreißiger Jahren begann der Einfluß Hegels auf Hillebrands
eigenes Denken; aber er hielt von Haus aus an der Selbſtändigkeit des
individuellen Lebens feſt, und ſo gewann er eine vermittelnde und mittlere
Stellung zwiſchen Hegel und Herbart oder Leibniz. Die „Philoſophie des
Geiſtes“ (1835) entwickelte von der Pſychologie aus die Principien des
Rechts, der Kunſt, der Religion, und der „Organismus der Jdee“ gab
eine Art von Philoſophie der Geſchichte der Philoſophie — die Darſtellung
wie die Hauptgedanken und Grundbegriffe der Menſchheit ſich vom Alter-
thum bis in die Gegenwart mit innerer Folgerichtigkeit, im Zuſammen-
hang und in wechſelſeitiger Ergänzung der Gegenſätze entwickelt haben.
Das Buch ruht auf gründlichen Studien der Quellen, und iſt zwar nicht
für den Anfänger, wohl aber für den wiſſenſchaftlich Geſchulten eine vor-
zügliche Ueberſicht der hauptſächlichſten philoſophiſchen Syſteme nach ihrem
Kern und Wahrheitsgehalt. Seltſam daß Hillebrand, der mündlich ſo
populär zu reden verſtand, ſchriftſtelleriſch damals ſo ſchwerfällig und über-
laden mit fremdländiſcher Terminologie ſchrieb, und dadurch der Verbrei-
tung ſeiner Jdeen im Wege ſtand. Er überwand das erſt in dem Werke
welches ihn in weiteren Kreiſen berühmt machte, in den drei Bänden über
„die deutſche Nationalliteratur ſeit dem Anfang des 18. Jahrhunderts,“
1845 in erſter, 1850 in zweiter Auflage erſchienen. Dieſem Buch kam zu
gute daß es ziemlich unmittelbar aus den Vorträgen hervorgieng welche
Hillebrand an Winterabenden über den Gegenſtand hielt, und die viele ge-
bildete Männer in den Hörſaal zu den Studenten hereinzogen.
Gervinus hatte die Bildungsgeſchichte Deutſchlands im vollen und
großen Strom ihrer Entwicklung gezeichnet, er hatte bei den einzelnen
dichteriſchen Schöpfungen nicht die äſthetiſche Werthſchätzung in den Vor-
dergrund geſtellt, ſondern die Betrachtung wie ſie aus Stimmungen der
Zeit hervorgegangen und welche Wirkung ſie auf das Leben geübt; er
hatte die Einflüſſe betont welche der Dichter von ſeiner Umgebung er-
fahren. Hillebrand ſtellt die dichteriſche Individualität eines jeden in den
Mittelpunkt, ſucht ſie ſcharf zu charakteriſiren, und prüft die Werke an dem
Maßſtabe des Ideals nach ihrer formalen Vollendung wie nach ihrem
ewigen Gehalt. So ergänzt er das Werk des Vorgängers und auch das des
Nachfolgers, Julian Schmidt, ich meine gerade die neue Bearbeitung von
deſſen Buch, welches all die Auswüchſe und Anſtöße entfernt hat die ich
vor Jahren in dieſen Blättern angriff, und das Geſammtgemälde unſerer
Literatur in der Art vor uns entfaltet daß es die ſynchroniſtiſche Methode
befolgt, und nicht wie Hillebrand jeden Dichter oder Denker für ſich in der
Totalität ſeines Schaffens ſchildert, ſondern die Werke aufzählt welche,
wenn nicht von Jahr zu Jahr, doch von Luſtrum zu Luſtrum nebenein-
ander erſchienen; in dieſer Fülle des Mannichfaltigen zeigt ſich die Wechſel-
wirkung desſelben, die bei Hillebrand minder klar wird, während bei Schmidt
das Geſammtbild der Individualität nicht ſo energiſch wie bei ihm hervor-
tritt. Aber beide Arten ſind berechtigt, und wir freuen uns daß wir Ar-
beiten haben in welchen ſie ſo vorzüglich ausgeführt ſind. Hillebrands
Lieblingsdichter iſt Goethe; um zu ihm hinzuleiten, war er in den Vor-
leſungen oft zu herb in der Kritik Schillers, an dem er auch im Buch, bei
aller Anerkennung des Menſchen und Schriftſtellers im Ganzen, doch im
Einzelnen zu ſehr mäkelt. Die Charakteriſtik Goethe’s, die einen halben
Band füllt, iſt das Gelungenſte des Werkes. Ich habe nie verſtehen können
wie man das engliſche Buch von Lewis ſo bewundern mochte, da es doch in
Bezug auf äſthetiſche Würdigung dieſer Darſtellung Hillebrands nicht das
Waſſer reicht, das Biographiſche aber durch Hermann Marggraff und
Goedecke gleichfalls übertroffen iſt. Es war theils Ausländerei, theils
aber auch die Unwiſſenheit ſo vieler Tagesſchriftſteller, die eine neue Ar-
beit kritiſiren ohne die Vorgänger zu kennen, ohne etwas im Zuſammen-
hang der Literatur auffaſſen zu können. Der Neuzeit gegenüber erſcheint
Hillebrand ſtreng, weil er ſie an der Höhe Goethe’s mißt; denn er erkennt
nicht das Aufkeimen friſcher Elemente, nicht das Recht des Lebenden.
Gerade die literaturgeſchichtlichen Vorleſungen hatten die öffentliche
Aufmerkſamkeit auf Hillebrand gelenkt, und ſo wählte ihn die Stadt Gießen
1847 zu ihrem Landtagsabgeordneten. Als ſolcher machte er das Revo-
lutionsjahr durch; eine Zeitlang war er Kammerpräſident. Entſchieden
freiſinnig wollte er, nachdem die Einigung Deutſchlands nicht gelungen
war, dann im Einzelſtaat die Forderungen und Errungenſchaften der Be-
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(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
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