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Allgemeine Zeitung, Nr. 76, 16. März 1848.

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Die Entwickelung und Consolidirung des österreichi-
schen Kaiserstaates.
*)

Wenn der östereichische
Staat, wie es im wohlverstandenen Jnteresse aller liegt, als ein Ganzes
betrachtet und aufgefaßt wird, in welchem die Ländertheile aus denen
er zusammengesetzt ist, nicht nach Trennung sondern Vereinigung streben
sollen, so erhalten die Erscheinungen, die sich dem Auge des Beobachters
darbieten, eine ganz andere Färbung und Geltung als die welche man
nicht selten gewöhnt ist ihnen beizulegen. Es wird daher nicht über-
flüssig seyn zu zeigen daß trotz der Verschiedenheit der Völkerschaften
und der Jnstitutionen die in Oesterreich herrschen, das gemeinsame
Band welches alle zusammenhält, nicht nur in der Person des Regen-
ten, sondern in dem Wesen der Dinge vorhanden ist, und daß jene
Verschiedenheiten der Verschmelzung des ganzen Körpers nicht im
Wege stehen.

Ehe wir jedoch dieß näher nachweisen, müssen wir das Bekenntniß
ablegen daß wir hier von zwei Ländertheilen abstrahiren von welchen
es mindestens problematisch ist ob auch sie dem Amalgamirungs-Proceß
folgen werden, den die übrigen Theile der Monarchie seit lange her
begonnen haben. Wir meinen nämlich Gallizien und Jtalien. Un-
möglich ist es nicht; denn tausend Fäden, tausend Jnteressen knüpfen
auch diese Länder an den großen Körper dem sie angehören. Galli-
zien hat nur die Wahl österreichisch zu bleiben oder russisch zu werden.
Denn die Wiederherstellung Polens ist ein Traum, dem fast alle Bedin-
gungen der Ausführbarkeit fehlen: ihm steht nicht nur die äußere Macht
dreier wohlorganisirten Großstaaten, sondern auch der Charakter der Na-
tion und vor allem der klaffende Riß entgegen welcher für immer seit
den letzten Ereignissen die beiden mächtigsten socialen Schichten getrennt
hat. Das russische Reich kann zerfallen und wird es vielleicht. Polen
kann dann aufhören russisch oder österreichisch und preußisch zu seyn,
aber -- polnisch wird es nimmermehr! Reiche welche in sich selbst zu-
sammenbrachen, find nie wieder erstanden. Polen ist in diesem Fall; denn
niemals war die Theilung Polens möglich ohne die im Jnnern dieses
unglücklichen Landes vorhergegangene Zersetzung.

Die Republik Venedig wird auch nicht wieder erstehen, so wenig
als die Lombardei wieder in ihre ehemaligen kleinen Gebiete zerbröckeln
wird. Aber ein großes, einiges Jtalien kann sich zusammenfinden, so
wie sich Frankreich zusammenfand, und Deutschland täglich an Einheit
gewinnt. Doch lassen sich verschiedene Formen für diese Vereinigung
denken, und Dank sey es dem Lichte der Aufklärung, den Fortschritten
der Menschheit -- nicht immer bedarf es des Zerreißens der alten Bande,
um in neue Verhältnisse überzutreten. Die geistige Macht steht heut-
zutage höher als die materielle; Eroberungen geschehen nicht mehr durch
Kanonen bloß, sondern weit dauernder und ausgedehnter unter der
Aegide höherer Potenzen. Der Geist der Association bewirkt täglich
neue Wunder, und verbreitet sich eben darum immer mehr über den civi-
listrten Theil der Welt. Mit ihm aber wächst auch die Neigung der
Völker sich bei gleichen Jnteressen enger zu verbinden. Diese Neigung
führt zum Frieden nicht zum Kriege, sie öffnet den Weg der Verständi-
gung, der Ausgleichung aller Belange. Und wir wollen hoffen daß
die gegenwärtige Bewegung welche Jtalien erfaßt hat, die nicht mehr
von tollkühnen Abenteurern und Revolutionsmännern, sondern von
dem Haupte der Kirche und den Souveränen des Landes selbst ausgeht,
die geistigen und materiellen Bedürfnisse der Halbinsel in einer Weise
befriedigen wird die ohne gewaltsame Zerstörung der vorhandenen Ver-
hältnisse das gewünschte Ziel erreicht; wohin wir denn auch eine den
vorhandenen Rechten Rechnung tragende politische Vereinigung Jtaliens,
sey es als Bundesstaat oder in anderer Weise zählen, damit es endlich
nach mehr als einem Jahrtausend aufhöre fremden Jnteressen dienstbar
zu seyn, und in den Stand gesetzt werde eine selbständige Politik
verfolgen zu können. Doch so gut der deutsche Bund einen Theil Oester-
reichs in sich aufnimmt, kann es dereinst -- dem unbeschadet --
auch der italienische
, wenn gegen überwiegende Einflüsse das Nöthige
vorgekehrt wird. Der österreichische Staat ohne Galizien und Jtalien,
von denen wir ein für allemal absehen wollen, hat sich fast durchgängig
auf regelmäßigem, friedlichem Wege durch Belehnung, Erbverträge
und Königswahlen in seiner jetzigen Gestalt zusammengefunden, und
[Spaltenumbruch] seit einer Reihe von Jahrhunderten als ein Ganzes erhalten. Und
wenn auch im Laufe der Zeit in einzelnen Theilen Collisionen mit dem
Regenten vorkamen, so lagen ihnen zumeist Streitigkeiten wegen Re-
ligion oder politischer Rechte zum Grunde, niemals das wirkliche
Bedürfniß
sich loszureißen oder gar andern Staaten anzuschließen.
Wohl aber sehen wir die Völker treu ausharren in Bedrängniß und
Noth an der Seite ihrer Fürsten und kein Opfer scheuen die Jntegrität
aller unter einem Scepter vereinigten Lande gemeinsam zu schützen,
und zwar nicht etwa nur gegen die Türken, den Feind der Christenheit,
sondern gegen jedermann ohne alle Ausnahme.

Ein Blick auf die Karte zeigt uns ferner daß dieses im Osten des
civilisirten Europa gelegene Reich sowohl in strategischer als in mercan-
tiler Beziehung sich mehr oder weniger so gestalten und abrunden mußte,
wenn es die Bedingungen dauernder Lebensfähigkeit in dem Staaten-
compler Europa's überhaupt und als Großmacht insbesondere in sich
vereinigen wollte.

Jn dem Entwicklungsgang welchen Staaten und Völker nehmen
herrscht ebensowenig der Zufall als in irgendeinem andern Gebiete, den
überhaupt nur das blöde Auge eines beschränkten Verstandes in jenen
Dingen erblickt die er anders sich nicht zu erklären vermag; und so
gewiß als jedes Haar auf unserem Haupte gezählt ist, so gewiß haben
auch diejenigen Gesetze unter deren Herrschaft wir Menschen stehen,
Oesterreich geschaffen und erhalten; Ungarn z. B. bedurfte um der tür-
kischen Macht nicht zu erliegen, die es mehr als einmal zu verschlingen
drohte, Oesterreichs und seiner Nebenländer, und Böhmen mußte ent-
weder Oesterreich erobern, an welcher Aufgabe Ottokar scheiterte, oder
es mußte über kurz oder lang österreichisch werden, denn für Böh men
war unter allen Nachbarstaaten Oesterreich der gefährlichste, wie nicht
minder der reichste und lockendste; für Oesterreich aber war Böhmen und
Mähren eine Bedingung seiner Consolidirung und seiner Abrundung,
zumal wenn Ungarn mit in Anschlag gebracht wird. Tirol, Steiermark,
Kärnthen, Krain liegen zwischen Oesterreich und Jtalien eingekeilt, und
waren daher an Oesterreich gewiesen durch Stammverwandtschaft so-
wohl als durch italienische Zerriffenheit, die an ihren Gränzen außer
Venedig (das die See und die Küsten suchte) keine Macht entstehen ließ,
nach der jene gravitiren konnten; für Oesterreich aber waren diese Ge-
birgsländer ein Gürtel von Festungen, die es gegen Süden und Westen
schützten.

Diese Andeutungen werden genügen die Anficht zu rechtfertigen
daß ein Großstaat an den Ufern der Donau sich gerade so wie Oester-
reich geworden gestalten mußte, und zwar um so mehr als ein großer
Theil der Handelsbeziehungen jener nun vereinigten Länder an den
Ufern dieses mächtigen Stromes sich längst schon festgesetzt hatte.
Gegenwärtig aber nach so langem Verbande münden in tausendfältigen
Richtungen die materiellen Jnteressen der österreichischen Lande an der
großen Wasserstraße aus, die das kleine Erzherzogthum Oesterreich und
das große Königreich Ungarn bespült. Diese Jnteressen find zu sehr ent-
wickelt und verzweigt, als daß sich ein freiwilliges Lostrennen der be-
theiligten Länder unter dem Gesichtspunkte materieller Vortheile geden-
ken ließe. Es kann höchstens die Frage entstehen ob Ungarn oder Oester-
reich über sie herrschen soll -- was an und für sich eine müßige Frage
ist; denn der ungarische König regiert gegenwärtig den österreichischen
Kaiserstaat ebenso gut als der österreichische Erzherzog.

Wenn aber das politische sowie das materielle Jnteresse Oesterreich
zu einem compacten Ganzen vereinigt hat, so müssen diese doch mächti-
ger gewesen seyn als die nationalen Sympathien nach welchen moderne
Weltverbesserer die Staaten zusammenfügen wollen. Und gerade Oester-
reich, das aus so vielen Stämmen zusammengesetzte Oesterreich hat be-
reits und wird auch gewiß noch thatsächlicher den Beweis liefern daß es
einen höheren Patriotismus, eine höhere Anschauung der Geschichte der
Menschheit gibt als jenen Männern innewohnt die ihren Blick nur
immerfort zurück und nicht auch vorwärts wenden, die es vergessen zu
haben scheinen daß das Gesetz einer immerwährenden Metamorphose die
Welt beherrscht, und daß gerade nur durch sie der Fortschritt möglich
ist. England, Nordamerika beweisen übrigens thatsächlich daß die
Racenverschiedenheit kein Hinderniß ist die höchsten Zwecke zu erreichen,
welche die Aufgabe der Menschheit find, und wir sehen dort in dem ge-
meinsamen
Streben, in dem gemeinsamen Ziel, in der Erinne-
rung des gemeinsam Geförderten die Traditionen ehemaliger Stamm-
verwandtschaft erbleichen -- im Hochgefühl einer neuen höher stehe nden
Nationalität.

*) Bruchstück einer umfassenden Schrift über die neuesten Bewegungen
in Oesterreich. Einige Wochen vor der Pariser Februarrevolution
geschrieben.
[Spaltenumbruch]
Die Entwickelung und Conſolidirung des öſterreichi-
ſchen Kaiſerſtaates.
*)

Wenn der öſtereichiſche
Staat, wie es im wohlverſtandenen Jntereſſe aller liegt, als ein Ganzes
betrachtet und aufgefaßt wird, in welchem die Ländertheile aus denen
er zuſammengeſetzt iſt, nicht nach Trennung ſondern Vereinigung ſtreben
ſollen, ſo erhalten die Erſcheinungen, die ſich dem Auge des Beobachters
darbieten, eine ganz andere Färbung und Geltung als die welche man
nicht ſelten gewöhnt iſt ihnen beizulegen. Es wird daher nicht über-
flüſſig ſeyn zu zeigen daß trotz der Verſchiedenheit der Völkerſchaften
und der Jnſtitutionen die in Oeſterreich herrſchen, das gemeinſame
Band welches alle zuſammenhält, nicht nur in der Perſon des Regen-
ten, ſondern in dem Weſen der Dinge vorhanden iſt, und daß jene
Verſchiedenheiten der Verſchmelzung des ganzen Körpers nicht im
Wege ſtehen.

Ehe wir jedoch dieß näher nachweiſen, müſſen wir das Bekenntniß
ablegen daß wir hier von zwei Ländertheilen abſtrahiren von welchen
es mindeſtens problematiſch iſt ob auch ſie dem Amalgamirungs-Proceß
folgen werden, den die übrigen Theile der Monarchie ſeit lange her
begonnen haben. Wir meinen nämlich Gallizien und Jtalien. Un-
möglich iſt es nicht; denn tauſend Fäden, tauſend Jntereſſen knüpfen
auch dieſe Länder an den großen Körper dem ſie angehören. Galli-
zien hat nur die Wahl öſterreichiſch zu bleiben oder ruſſiſch zu werden.
Denn die Wiederherſtellung Polens iſt ein Traum, dem faſt alle Bedin-
gungen der Ausführbarkeit fehlen: ihm ſteht nicht nur die äußere Macht
dreier wohlorganiſirten Großſtaaten, ſondern auch der Charakter der Na-
tion und vor allem der klaffende Riß entgegen welcher für immer ſeit
den letzten Ereigniſſen die beiden mächtigſten ſocialen Schichten getrennt
hat. Das ruſſiſche Reich kann zerfallen und wird es vielleicht. Polen
kann dann aufhören ruſſiſch oder öſterreichiſch und preußiſch zu ſeyn,
aber — polniſch wird es nimmermehr! Reiche welche in ſich ſelbſt zu-
ſammenbrachen, find nie wieder erſtanden. Polen iſt in dieſem Fall; denn
niemals war die Theilung Polens möglich ohne die im Jnnern dieſes
unglücklichen Landes vorhergegangene Zerſetzung.

Die Republik Venedig wird auch nicht wieder erſtehen, ſo wenig
als die Lombardei wieder in ihre ehemaligen kleinen Gebiete zerbröckeln
wird. Aber ein großes, einiges Jtalien kann ſich zuſammenfinden, ſo
wie ſich Frankreich zuſammenfand, und Deutſchland täglich an Einheit
gewinnt. Doch laſſen ſich verſchiedene Formen für dieſe Vereinigung
denken, und Dank ſey es dem Lichte der Aufklärung, den Fortſchritten
der Menſchheit — nicht immer bedarf es des Zerreißens der alten Bande,
um in neue Verhältniſſe überzutreten. Die geiſtige Macht ſteht heut-
zutage höher als die materielle; Eroberungen geſchehen nicht mehr durch
Kanonen bloß, ſondern weit dauernder und ausgedehnter unter der
Aegide höherer Potenzen. Der Geiſt der Aſſociation bewirkt täglich
neue Wunder, und verbreitet ſich eben darum immer mehr über den civi-
liſtrten Theil der Welt. Mit ihm aber wächst auch die Neigung der
Völker ſich bei gleichen Jntereſſen enger zu verbinden. Dieſe Neigung
führt zum Frieden nicht zum Kriege, ſie öffnet den Weg der Verſtändi-
gung, der Ausgleichung aller Belange. Und wir wollen hoffen daß
die gegenwärtige Bewegung welche Jtalien erfaßt hat, die nicht mehr
von tollkühnen Abenteurern und Revolutionsmännern, ſondern von
dem Haupte der Kirche und den Souveränen des Landes ſelbſt ausgeht,
die geiſtigen und materiellen Bedürfniſſe der Halbinſel in einer Weiſe
befriedigen wird die ohne gewaltſame Zerſtörung der vorhandenen Ver-
hältniſſe das gewünſchte Ziel erreicht; wohin wir denn auch eine den
vorhandenen Rechten Rechnung tragende politiſche Vereinigung Jtaliens,
ſey es als Bundesſtaat oder in anderer Weiſe zählen, damit es endlich
nach mehr als einem Jahrtauſend aufhöre fremden Jntereſſen dienſtbar
zu ſeyn, und in den Stand geſetzt werde eine ſelbſtändige Politik
verfolgen zu können. Doch ſo gut der deutſche Bund einen Theil Oeſter-
reichs in ſich aufnimmt, kann es dereinſt — dem unbeſchadet —
auch der italieniſche
, wenn gegen überwiegende Einflüſſe das Nöthige
vorgekehrt wird. Der öſterreichiſche Staat ohne Galizien und Jtalien,
von denen wir ein für allemal abſehen wollen, hat ſich faſt durchgängig
auf regelmäßigem, friedlichem Wege durch Belehnung, Erbverträge
und Königswahlen in ſeiner jetzigen Geſtalt zuſammengefunden, und
[Spaltenumbruch] ſeit einer Reihe von Jahrhunderten als ein Ganzes erhalten. Und
wenn auch im Laufe der Zeit in einzelnen Theilen Colliſionen mit dem
Regenten vorkamen, ſo lagen ihnen zumeiſt Streitigkeiten wegen Re-
ligion oder politiſcher Rechte zum Grunde, niemals das wirkliche
Bedürfniß
ſich loszureißen oder gar andern Staaten anzuſchließen.
Wohl aber ſehen wir die Völker treu ausharren in Bedrängniß und
Noth an der Seite ihrer Fürſten und kein Opfer ſcheuen die Jntegrität
aller unter einem Scepter vereinigten Lande gemeinſam zu ſchützen,
und zwar nicht etwa nur gegen die Türken, den Feind der Chriſtenheit,
ſondern gegen jedermann ohne alle Ausnahme.

Ein Blick auf die Karte zeigt uns ferner daß dieſes im Oſten des
civiliſirten Europa gelegene Reich ſowohl in ſtrategiſcher als in mercan-
tiler Beziehung ſich mehr oder weniger ſo geſtalten und abrunden mußte,
wenn es die Bedingungen dauernder Lebensfähigkeit in dem Staaten-
compler Europa’s überhaupt und als Großmacht insbeſondere in ſich
vereinigen wollte.

Jn dem Entwicklungsgang welchen Staaten und Völker nehmen
herrſcht ebenſowenig der Zufall als in irgendeinem andern Gebiete, den
überhaupt nur das blöde Auge eines beſchränkten Verſtandes in jenen
Dingen erblickt die er anders ſich nicht zu erklären vermag; und ſo
gewiß als jedes Haar auf unſerem Haupte gezählt iſt, ſo gewiß haben
auch diejenigen Geſetze unter deren Herrſchaft wir Menſchen ſtehen,
Oeſterreich geſchaffen und erhalten; Ungarn z. B. bedurfte um der tür-
kiſchen Macht nicht zu erliegen, die es mehr als einmal zu verſchlingen
drohte, Oeſterreichs und ſeiner Nebenländer, und Böhmen mußte ent-
weder Oeſterreich erobern, an welcher Aufgabe Ottokar ſcheiterte, oder
es mußte über kurz oder lang öſterreichiſch werden, denn für Böh men
war unter allen Nachbarſtaaten Oeſterreich der gefährlichſte, wie nicht
minder der reichſte und lockendſte; für Oeſterreich aber war Böhmen und
Mähren eine Bedingung ſeiner Conſolidirung und ſeiner Abrundung,
zumal wenn Ungarn mit in Anſchlag gebracht wird. Tirol, Steiermark,
Kärnthen, Krain liegen zwiſchen Oeſterreich und Jtalien eingekeilt, und
waren daher an Oeſterreich gewieſen durch Stammverwandtſchaft ſo-
wohl als durch italieniſche Zerriffenheit, die an ihren Gränzen außer
Venedig (das die See und die Küſten ſuchte) keine Macht entſtehen ließ,
nach der jene gravitiren konnten; für Oeſterreich aber waren dieſe Ge-
birgsländer ein Gürtel von Feſtungen, die es gegen Süden und Weſten
ſchützten.

Dieſe Andeutungen werden genügen die Anficht zu rechtfertigen
daß ein Großſtaat an den Ufern der Donau ſich gerade ſo wie Oeſter-
reich geworden geſtalten mußte, und zwar um ſo mehr als ein großer
Theil der Handelsbeziehungen jener nun vereinigten Länder an den
Ufern dieſes mächtigen Stromes ſich längſt ſchon feſtgeſetzt hatte.
Gegenwärtig aber nach ſo langem Verbande münden in tauſendfältigen
Richtungen die materiellen Jntereſſen der öſterreichiſchen Lande an der
großen Waſſerſtraße aus, die das kleine Erzherzogthum Oeſterreich und
das große Königreich Ungarn beſpült. Dieſe Jntereſſen find zu ſehr ent-
wickelt und verzweigt, als daß ſich ein freiwilliges Lostrennen der be-
theiligten Länder unter dem Geſichtspunkte materieller Vortheile geden-
ken ließe. Es kann höchſtens die Frage entſtehen ob Ungarn oder Oeſter-
reich über ſie herrſchen ſoll — was an und für ſich eine müßige Frage
iſt; denn der ungariſche König regiert gegenwärtig den öſterreichiſchen
Kaiſerſtaat ebenſo gut als der öſterreichiſche Erzherzog.

Wenn aber das politiſche ſowie das materielle Jntereſſe Oeſterreich
zu einem compacten Ganzen vereinigt hat, ſo müſſen dieſe doch mächti-
ger geweſen ſeyn als die nationalen Sympathien nach welchen moderne
Weltverbeſſerer die Staaten zuſammenfügen wollen. Und gerade Oeſter-
reich, das aus ſo vielen Stämmen zuſammengeſetzte Oeſterreich hat be-
reits und wird auch gewiß noch thatſächlicher den Beweis liefern daß es
einen höheren Patriotismus, eine höhere Anſchauung der Geſchichte der
Menſchheit gibt als jenen Männern innewohnt die ihren Blick nur
immerfort zurück und nicht auch vorwärts wenden, die es vergeſſen zu
haben ſcheinen daß das Geſetz einer immerwährenden Metamorphoſe die
Welt beherrſcht, und daß gerade nur durch ſie der Fortſchritt möglich
iſt. England, Nordamerika beweiſen übrigens thatſächlich daß die
Racenverſchiedenheit kein Hinderniß iſt die höchſten Zwecke zu erreichen,
welche die Aufgabe der Menſchheit find, und wir ſehen dort in dem ge-
meinſamen
Streben, in dem gemeinſamen Ziel, in der Erinne-
rung des gemeinſam Geförderten die Traditionen ehemaliger Stamm-
verwandtſchaft erbleichen — im Hochgefühl einer neuen höher ſtehe nden
Nationalität.

*) Bruchſtück einer umfaſſenden Schrift über die neueſten Bewegungen
in Oeſterreich. Einige Wochen vor der Pariſer Februarrevolution
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[1210/0010] Die Entwickelung und Conſolidirung des öſterreichi- ſchen Kaiſerſtaates. *) * Von der Donau, im Februar. Wenn der öſtereichiſche Staat, wie es im wohlverſtandenen Jntereſſe aller liegt, als ein Ganzes betrachtet und aufgefaßt wird, in welchem die Ländertheile aus denen er zuſammengeſetzt iſt, nicht nach Trennung ſondern Vereinigung ſtreben ſollen, ſo erhalten die Erſcheinungen, die ſich dem Auge des Beobachters darbieten, eine ganz andere Färbung und Geltung als die welche man nicht ſelten gewöhnt iſt ihnen beizulegen. Es wird daher nicht über- flüſſig ſeyn zu zeigen daß trotz der Verſchiedenheit der Völkerſchaften und der Jnſtitutionen die in Oeſterreich herrſchen, das gemeinſame Band welches alle zuſammenhält, nicht nur in der Perſon des Regen- ten, ſondern in dem Weſen der Dinge vorhanden iſt, und daß jene Verſchiedenheiten der Verſchmelzung des ganzen Körpers nicht im Wege ſtehen. Ehe wir jedoch dieß näher nachweiſen, müſſen wir das Bekenntniß ablegen daß wir hier von zwei Ländertheilen abſtrahiren von welchen es mindeſtens problematiſch iſt ob auch ſie dem Amalgamirungs-Proceß folgen werden, den die übrigen Theile der Monarchie ſeit lange her begonnen haben. Wir meinen nämlich Gallizien und Jtalien. Un- möglich iſt es nicht; denn tauſend Fäden, tauſend Jntereſſen knüpfen auch dieſe Länder an den großen Körper dem ſie angehören. Galli- zien hat nur die Wahl öſterreichiſch zu bleiben oder ruſſiſch zu werden. Denn die Wiederherſtellung Polens iſt ein Traum, dem faſt alle Bedin- gungen der Ausführbarkeit fehlen: ihm ſteht nicht nur die äußere Macht dreier wohlorganiſirten Großſtaaten, ſondern auch der Charakter der Na- tion und vor allem der klaffende Riß entgegen welcher für immer ſeit den letzten Ereigniſſen die beiden mächtigſten ſocialen Schichten getrennt hat. Das ruſſiſche Reich kann zerfallen und wird es vielleicht. Polen kann dann aufhören ruſſiſch oder öſterreichiſch und preußiſch zu ſeyn, aber — polniſch wird es nimmermehr! Reiche welche in ſich ſelbſt zu- ſammenbrachen, find nie wieder erſtanden. Polen iſt in dieſem Fall; denn niemals war die Theilung Polens möglich ohne die im Jnnern dieſes unglücklichen Landes vorhergegangene Zerſetzung. Die Republik Venedig wird auch nicht wieder erſtehen, ſo wenig als die Lombardei wieder in ihre ehemaligen kleinen Gebiete zerbröckeln wird. Aber ein großes, einiges Jtalien kann ſich zuſammenfinden, ſo wie ſich Frankreich zuſammenfand, und Deutſchland täglich an Einheit gewinnt. Doch laſſen ſich verſchiedene Formen für dieſe Vereinigung denken, und Dank ſey es dem Lichte der Aufklärung, den Fortſchritten der Menſchheit — nicht immer bedarf es des Zerreißens der alten Bande, um in neue Verhältniſſe überzutreten. Die geiſtige Macht ſteht heut- zutage höher als die materielle; Eroberungen geſchehen nicht mehr durch Kanonen bloß, ſondern weit dauernder und ausgedehnter unter der Aegide höherer Potenzen. Der Geiſt der Aſſociation bewirkt täglich neue Wunder, und verbreitet ſich eben darum immer mehr über den civi- liſtrten Theil der Welt. Mit ihm aber wächst auch die Neigung der Völker ſich bei gleichen Jntereſſen enger zu verbinden. Dieſe Neigung führt zum Frieden nicht zum Kriege, ſie öffnet den Weg der Verſtändi- gung, der Ausgleichung aller Belange. Und wir wollen hoffen daß die gegenwärtige Bewegung welche Jtalien erfaßt hat, die nicht mehr von tollkühnen Abenteurern und Revolutionsmännern, ſondern von dem Haupte der Kirche und den Souveränen des Landes ſelbſt ausgeht, die geiſtigen und materiellen Bedürfniſſe der Halbinſel in einer Weiſe befriedigen wird die ohne gewaltſame Zerſtörung der vorhandenen Ver- hältniſſe das gewünſchte Ziel erreicht; wohin wir denn auch eine den vorhandenen Rechten Rechnung tragende politiſche Vereinigung Jtaliens, ſey es als Bundesſtaat oder in anderer Weiſe zählen, damit es endlich nach mehr als einem Jahrtauſend aufhöre fremden Jntereſſen dienſtbar zu ſeyn, und in den Stand geſetzt werde eine ſelbſtändige Politik verfolgen zu können. Doch ſo gut der deutſche Bund einen Theil Oeſter- reichs in ſich aufnimmt, kann es dereinſt — dem unbeſchadet — auch der italieniſche, wenn gegen überwiegende Einflüſſe das Nöthige vorgekehrt wird. Der öſterreichiſche Staat ohne Galizien und Jtalien, von denen wir ein für allemal abſehen wollen, hat ſich faſt durchgängig auf regelmäßigem, friedlichem Wege durch Belehnung, Erbverträge und Königswahlen in ſeiner jetzigen Geſtalt zuſammengefunden, und ſeit einer Reihe von Jahrhunderten als ein Ganzes erhalten. Und wenn auch im Laufe der Zeit in einzelnen Theilen Colliſionen mit dem Regenten vorkamen, ſo lagen ihnen zumeiſt Streitigkeiten wegen Re- ligion oder politiſcher Rechte zum Grunde, niemals das wirkliche Bedürfniß ſich loszureißen oder gar andern Staaten anzuſchließen. Wohl aber ſehen wir die Völker treu ausharren in Bedrängniß und Noth an der Seite ihrer Fürſten und kein Opfer ſcheuen die Jntegrität aller unter einem Scepter vereinigten Lande gemeinſam zu ſchützen, und zwar nicht etwa nur gegen die Türken, den Feind der Chriſtenheit, ſondern gegen jedermann ohne alle Ausnahme. Ein Blick auf die Karte zeigt uns ferner daß dieſes im Oſten des civiliſirten Europa gelegene Reich ſowohl in ſtrategiſcher als in mercan- tiler Beziehung ſich mehr oder weniger ſo geſtalten und abrunden mußte, wenn es die Bedingungen dauernder Lebensfähigkeit in dem Staaten- compler Europa’s überhaupt und als Großmacht insbeſondere in ſich vereinigen wollte. Jn dem Entwicklungsgang welchen Staaten und Völker nehmen herrſcht ebenſowenig der Zufall als in irgendeinem andern Gebiete, den überhaupt nur das blöde Auge eines beſchränkten Verſtandes in jenen Dingen erblickt die er anders ſich nicht zu erklären vermag; und ſo gewiß als jedes Haar auf unſerem Haupte gezählt iſt, ſo gewiß haben auch diejenigen Geſetze unter deren Herrſchaft wir Menſchen ſtehen, Oeſterreich geſchaffen und erhalten; Ungarn z. B. bedurfte um der tür- kiſchen Macht nicht zu erliegen, die es mehr als einmal zu verſchlingen drohte, Oeſterreichs und ſeiner Nebenländer, und Böhmen mußte ent- weder Oeſterreich erobern, an welcher Aufgabe Ottokar ſcheiterte, oder es mußte über kurz oder lang öſterreichiſch werden, denn für Böh men war unter allen Nachbarſtaaten Oeſterreich der gefährlichſte, wie nicht minder der reichſte und lockendſte; für Oeſterreich aber war Böhmen und Mähren eine Bedingung ſeiner Conſolidirung und ſeiner Abrundung, zumal wenn Ungarn mit in Anſchlag gebracht wird. Tirol, Steiermark, Kärnthen, Krain liegen zwiſchen Oeſterreich und Jtalien eingekeilt, und waren daher an Oeſterreich gewieſen durch Stammverwandtſchaft ſo- wohl als durch italieniſche Zerriffenheit, die an ihren Gränzen außer Venedig (das die See und die Küſten ſuchte) keine Macht entſtehen ließ, nach der jene gravitiren konnten; für Oeſterreich aber waren dieſe Ge- birgsländer ein Gürtel von Feſtungen, die es gegen Süden und Weſten ſchützten. Dieſe Andeutungen werden genügen die Anficht zu rechtfertigen daß ein Großſtaat an den Ufern der Donau ſich gerade ſo wie Oeſter- reich geworden geſtalten mußte, und zwar um ſo mehr als ein großer Theil der Handelsbeziehungen jener nun vereinigten Länder an den Ufern dieſes mächtigen Stromes ſich längſt ſchon feſtgeſetzt hatte. Gegenwärtig aber nach ſo langem Verbande münden in tauſendfältigen Richtungen die materiellen Jntereſſen der öſterreichiſchen Lande an der großen Waſſerſtraße aus, die das kleine Erzherzogthum Oeſterreich und das große Königreich Ungarn beſpült. Dieſe Jntereſſen find zu ſehr ent- wickelt und verzweigt, als daß ſich ein freiwilliges Lostrennen der be- theiligten Länder unter dem Geſichtspunkte materieller Vortheile geden- ken ließe. Es kann höchſtens die Frage entſtehen ob Ungarn oder Oeſter- reich über ſie herrſchen ſoll — was an und für ſich eine müßige Frage iſt; denn der ungariſche König regiert gegenwärtig den öſterreichiſchen Kaiſerſtaat ebenſo gut als der öſterreichiſche Erzherzog. Wenn aber das politiſche ſowie das materielle Jntereſſe Oeſterreich zu einem compacten Ganzen vereinigt hat, ſo müſſen dieſe doch mächti- ger geweſen ſeyn als die nationalen Sympathien nach welchen moderne Weltverbeſſerer die Staaten zuſammenfügen wollen. Und gerade Oeſter- reich, das aus ſo vielen Stämmen zuſammengeſetzte Oeſterreich hat be- reits und wird auch gewiß noch thatſächlicher den Beweis liefern daß es einen höheren Patriotismus, eine höhere Anſchauung der Geſchichte der Menſchheit gibt als jenen Männern innewohnt die ihren Blick nur immerfort zurück und nicht auch vorwärts wenden, die es vergeſſen zu haben ſcheinen daß das Geſetz einer immerwährenden Metamorphoſe die Welt beherrſcht, und daß gerade nur durch ſie der Fortſchritt möglich iſt. England, Nordamerika beweiſen übrigens thatſächlich daß die Racenverſchiedenheit kein Hinderniß iſt die höchſten Zwecke zu erreichen, welche die Aufgabe der Menſchheit find, und wir ſehen dort in dem ge- meinſamen Streben, in dem gemeinſamen Ziel, in der Erinne- rung des gemeinſam Geförderten die Traditionen ehemaliger Stamm- verwandtſchaft erbleichen — im Hochgefühl einer neuen höher ſtehe nden Nationalität. *) Bruchſtück einer umfaſſenden Schrift über die neueſten Bewegungen in Oeſterreich. Einige Wochen vor der Pariſer Februarrevolution geſchrieben.

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 76, 16. März 1848, S. 1210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine76_1848/10>, abgerufen am 01.06.2024.