Allgemeine Zeitung, Nr. 76, 16. März 1848.[Spaltenumbruch]
Die Entwickelung und Consolidirung des österreichi- * Von der Donau, im Februar.schen Kaiserstaates.*) Wenn der östereichische Ehe wir jedoch dieß näher nachweisen, müssen wir das Bekenntniß Die Republik Venedig wird auch nicht wieder erstehen, so wenig Ein Blick auf die Karte zeigt uns ferner daß dieses im Osten des Jn dem Entwicklungsgang welchen Staaten und Völker nehmen Diese Andeutungen werden genügen die Anficht zu rechtfertigen Wenn aber das politische sowie das materielle Jnteresse Oesterreich *) Bruchstück einer umfassenden Schrift über die neuesten Bewegungen
in Oesterreich. Einige Wochen vor der Pariser Februarrevolution geschrieben. [Spaltenumbruch]
Die Entwickelung und Conſolidirung des öſterreichi- * Von der Donau, im Februar.ſchen Kaiſerſtaates.*) Wenn der öſtereichiſche Ehe wir jedoch dieß näher nachweiſen, müſſen wir das Bekenntniß Die Republik Venedig wird auch nicht wieder erſtehen, ſo wenig Ein Blick auf die Karte zeigt uns ferner daß dieſes im Oſten des Jn dem Entwicklungsgang welchen Staaten und Völker nehmen Dieſe Andeutungen werden genügen die Anficht zu rechtfertigen Wenn aber das politiſche ſowie das materielle Jntereſſe Oeſterreich *) Bruchſtück einer umfaſſenden Schrift über die neueſten Bewegungen
in Oeſterreich. Einige Wochen vor der Pariſer Februarrevolution geſchrieben. <TEI> <text> <body> <div type="jSupplement" n="1"> <floatingText> <body> <div type="jPoliticalNews" n="2"> <div type="jComment" n="3"> <pb facs="#f0010" n="1210"/> <cb/> </div> <div type="jComment" n="3"> <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#b">Die Entwickelung und Conſolidirung des öſterreichi-<lb/> ſchen Kaiſerſtaates.</hi> <note place="foot" n="*)">Bruchſtück einer umfaſſenden Schrift über die neueſten Bewegungen<lb/> in Oeſterreich. 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Es wird daher nicht über-<lb/> flüſſig ſeyn zu zeigen daß trotz der Verſchiedenheit der Völkerſchaften<lb/> und der Jnſtitutionen die in Oeſterreich herrſchen, das gemeinſame<lb/> Band welches alle zuſammenhält, nicht nur in der Perſon des Regen-<lb/> ten, ſondern <hi rendition="#g">in dem Weſen der Dinge</hi> vorhanden iſt, und daß jene<lb/> Verſchiedenheiten der Verſchmelzung des ganzen Körpers nicht im<lb/> Wege ſtehen.</p><lb/> <p>Ehe wir jedoch dieß näher nachweiſen, müſſen wir das Bekenntniß<lb/> ablegen daß wir hier von zwei Ländertheilen abſtrahiren von welchen<lb/> es mindeſtens problematiſch iſt ob auch ſie dem Amalgamirungs-Proceß<lb/> folgen werden, den die übrigen Theile der Monarchie ſeit lange her<lb/> begonnen haben. Wir meinen nämlich Gallizien und Jtalien. Un-<lb/> möglich iſt es nicht; denn tauſend Fäden, tauſend Jntereſſen knüpfen<lb/> auch dieſe Länder an den großen Körper dem ſie angehören. Galli-<lb/> zien hat nur die Wahl öſterreichiſch zu bleiben oder ruſſiſch zu werden.<lb/> Denn die Wiederherſtellung Polens iſt ein Traum, dem faſt alle Bedin-<lb/> gungen der Ausführbarkeit fehlen: ihm ſteht nicht nur die äußere Macht<lb/> dreier wohlorganiſirten Großſtaaten, ſondern auch der Charakter der Na-<lb/> tion und vor allem der klaffende Riß entgegen welcher für immer ſeit<lb/> den letzten Ereigniſſen die beiden mächtigſten ſocialen Schichten getrennt<lb/> hat. Das ruſſiſche Reich kann zerfallen und wird es vielleicht. Polen<lb/> kann dann aufhören ruſſiſch oder öſterreichiſch und preußiſch zu ſeyn,<lb/> aber — polniſch wird es nimmermehr! Reiche welche in ſich ſelbſt zu-<lb/> ſammenbrachen, find nie wieder erſtanden. Polen iſt in dieſem Fall; denn<lb/> niemals war die Theilung Polens möglich ohne die im Jnnern dieſes<lb/> unglücklichen Landes vorhergegangene Zerſetzung.</p><lb/> <p>Die Republik Venedig wird auch nicht wieder erſtehen, ſo wenig<lb/> als die Lombardei wieder in ihre ehemaligen kleinen Gebiete zerbröckeln<lb/> wird. Aber ein großes, einiges Jtalien kann ſich zuſammenfinden, ſo<lb/> wie ſich Frankreich zuſammenfand, und Deutſchland täglich an Einheit<lb/> gewinnt. Doch laſſen ſich verſchiedene Formen für dieſe Vereinigung<lb/> denken, und Dank ſey es dem Lichte der Aufklärung, den Fortſchritten<lb/> der Menſchheit — nicht immer bedarf es des Zerreißens der alten Bande,<lb/> um in neue Verhältniſſe überzutreten. Die geiſtige Macht ſteht heut-<lb/> zutage höher als die materielle; Eroberungen geſchehen nicht mehr durch<lb/> Kanonen bloß, ſondern weit dauernder und ausgedehnter unter der<lb/> Aegide höherer Potenzen. Der Geiſt der Aſſociation bewirkt täglich<lb/> neue Wunder, und verbreitet ſich eben darum immer mehr über den civi-<lb/> liſtrten Theil der Welt. Mit ihm aber wächst auch die Neigung der<lb/> Völker ſich bei gleichen Jntereſſen enger zu verbinden. Dieſe Neigung<lb/> führt zum Frieden nicht zum Kriege, ſie öffnet den Weg der Verſtändi-<lb/> gung, der Ausgleichung aller Belange. Und wir wollen hoffen daß<lb/> die gegenwärtige Bewegung welche Jtalien erfaßt hat, die nicht mehr<lb/> von tollkühnen Abenteurern und Revolutionsmännern, ſondern von<lb/> dem Haupte der Kirche und den Souveränen des Landes ſelbſt ausgeht,<lb/> die geiſtigen und materiellen Bedürfniſſe der Halbinſel in einer Weiſe<lb/> befriedigen wird die ohne gewaltſame Zerſtörung der vorhandenen Ver-<lb/> hältniſſe das gewünſchte Ziel erreicht; wohin wir denn auch eine den<lb/> vorhandenen Rechten Rechnung tragende politiſche Vereinigung Jtaliens,<lb/> ſey es als Bundesſtaat oder in anderer Weiſe zählen, damit es endlich<lb/> nach mehr als einem Jahrtauſend aufhöre fremden Jntereſſen dienſtbar<lb/> zu ſeyn, und in den Stand geſetzt werde eine ſelbſtändige Politik<lb/> verfolgen zu können. Doch ſo gut der deutſche Bund einen Theil Oeſter-<lb/> reichs in ſich aufnimmt, <hi rendition="#g">kann es dereinſt — dem unbeſchadet —<lb/> auch der italieniſche</hi>, wenn gegen überwiegende Einflüſſe das Nöthige<lb/> vorgekehrt wird. Der öſterreichiſche Staat ohne Galizien und Jtalien,<lb/> von denen wir ein für allemal abſehen wollen, hat ſich faſt durchgängig<lb/> auf regelmäßigem, friedlichem Wege durch Belehnung, Erbverträge<lb/> und Königswahlen in ſeiner jetzigen Geſtalt zuſammengefunden, und<lb/><cb/> ſeit einer Reihe von Jahrhunderten als ein Ganzes erhalten. Und<lb/> wenn auch im Laufe der Zeit in einzelnen Theilen Colliſionen mit dem<lb/> Regenten vorkamen, ſo lagen ihnen zumeiſt Streitigkeiten wegen Re-<lb/> ligion oder politiſcher Rechte zum Grunde, niemals das <hi rendition="#g">wirkliche<lb/> Bedürfniß</hi> ſich loszureißen oder gar andern Staaten anzuſchließen.<lb/> Wohl aber ſehen wir die Völker treu ausharren in Bedrängniß und<lb/> Noth an der Seite ihrer Fürſten und kein Opfer ſcheuen die Jntegrität<lb/> aller unter einem Scepter vereinigten Lande gemeinſam zu ſchützen,<lb/> und zwar nicht etwa nur gegen die Türken, den Feind der Chriſtenheit,<lb/> ſondern gegen jedermann ohne alle Ausnahme.</p><lb/> <p>Ein Blick auf die Karte zeigt uns ferner daß dieſes im Oſten des<lb/> civiliſirten Europa gelegene Reich ſowohl in ſtrategiſcher als in mercan-<lb/> tiler Beziehung ſich mehr oder weniger ſo geſtalten und abrunden mußte,<lb/> wenn es die Bedingungen dauernder Lebensfähigkeit in dem Staaten-<lb/> compler Europa’s überhaupt und als Großmacht insbeſondere in ſich<lb/> vereinigen wollte.</p><lb/> <p>Jn dem Entwicklungsgang welchen Staaten und Völker nehmen<lb/> herrſcht ebenſowenig der Zufall als in irgendeinem andern Gebiete, den<lb/> überhaupt nur das blöde Auge eines beſchränkten Verſtandes in jenen<lb/> Dingen erblickt die er anders ſich nicht zu erklären vermag; und ſo<lb/> gewiß als jedes Haar auf unſerem Haupte gezählt iſt, ſo gewiß haben<lb/> auch diejenigen Geſetze unter deren Herrſchaft wir Menſchen ſtehen,<lb/> Oeſterreich geſchaffen und erhalten; Ungarn z. B. bedurfte um der tür-<lb/> kiſchen Macht nicht zu erliegen, die es mehr als einmal zu verſchlingen<lb/> drohte, Oeſterreichs und ſeiner Nebenländer, und Böhmen mußte ent-<lb/> weder Oeſterreich erobern, an welcher Aufgabe Ottokar ſcheiterte, oder<lb/> es mußte über kurz oder lang öſterreichiſch werden, denn für Böh men<lb/> war unter allen Nachbarſtaaten Oeſterreich der gefährlichſte, wie nicht<lb/> minder der reichſte und lockendſte; für Oeſterreich aber war Böhmen und<lb/> Mähren eine Bedingung ſeiner Conſolidirung und ſeiner Abrundung,<lb/> zumal wenn Ungarn mit in Anſchlag gebracht wird. Tirol, Steiermark,<lb/> Kärnthen, Krain liegen zwiſchen Oeſterreich und Jtalien eingekeilt, und<lb/> waren daher an Oeſterreich gewieſen durch Stammverwandtſchaft ſo-<lb/> wohl als durch italieniſche Zerriffenheit, die an ihren Gränzen außer<lb/> Venedig (das die See und die Küſten ſuchte) keine Macht entſtehen ließ,<lb/> nach der jene gravitiren konnten; für Oeſterreich aber waren dieſe Ge-<lb/> birgsländer ein Gürtel von Feſtungen, die es gegen Süden und Weſten<lb/> ſchützten.</p><lb/> <p>Dieſe Andeutungen werden genügen die Anficht zu rechtfertigen<lb/> daß ein Großſtaat an den Ufern der Donau ſich gerade ſo wie Oeſter-<lb/> reich geworden geſtalten mußte, und zwar um ſo mehr als ein großer<lb/> Theil der Handelsbeziehungen jener nun vereinigten Länder an den<lb/> Ufern dieſes mächtigen Stromes ſich längſt ſchon feſtgeſetzt hatte.<lb/> Gegenwärtig aber nach ſo langem Verbande münden in tauſendfältigen<lb/> Richtungen die materiellen Jntereſſen der öſterreichiſchen Lande an der<lb/> großen Waſſerſtraße aus, die das kleine Erzherzogthum Oeſterreich und<lb/> das große Königreich Ungarn beſpült. Dieſe Jntereſſen find zu ſehr ent-<lb/> wickelt und verzweigt, als daß ſich ein freiwilliges Lostrennen der be-<lb/> theiligten Länder unter dem Geſichtspunkte materieller Vortheile geden-<lb/> ken ließe. Es kann höchſtens die Frage entſtehen ob Ungarn oder Oeſter-<lb/> reich über ſie herrſchen ſoll — was an und für ſich eine müßige Frage<lb/> iſt; denn der ungariſche König regiert gegenwärtig den öſterreichiſchen<lb/> Kaiſerſtaat ebenſo gut als der öſterreichiſche Erzherzog.</p><lb/> <p>Wenn aber das politiſche ſowie das materielle Jntereſſe Oeſterreich<lb/> zu einem compacten Ganzen vereinigt hat, ſo müſſen dieſe doch mächti-<lb/> ger geweſen ſeyn als die nationalen Sympathien nach welchen moderne<lb/> Weltverbeſſerer die Staaten zuſammenfügen wollen. Und gerade Oeſter-<lb/> reich, das aus ſo vielen Stämmen zuſammengeſetzte Oeſterreich hat be-<lb/> reits und wird auch gewiß noch thatſächlicher den Beweis liefern daß es<lb/> einen höheren Patriotismus, eine höhere Anſchauung der Geſchichte der<lb/> Menſchheit gibt als jenen Männern innewohnt die ihren Blick nur<lb/> immerfort <hi rendition="#g">zurück</hi> und nicht auch vorwärts wenden, die es vergeſſen zu<lb/> haben ſcheinen daß das Geſetz einer immerwährenden Metamorphoſe die<lb/> Welt beherrſcht, und daß gerade nur durch ſie der Fortſchritt möglich<lb/> iſt. England, Nordamerika beweiſen übrigens thatſächlich daß die<lb/> Racenverſchiedenheit kein Hinderniß iſt die höchſten Zwecke zu erreichen,<lb/> welche die Aufgabe der Menſchheit find, und wir ſehen dort in dem <hi rendition="#g">ge-<lb/> meinſamen</hi> Streben, in dem <hi rendition="#g">gemeinſamen</hi> Ziel, in der Erinne-<lb/> rung des <hi rendition="#g">gemeinſam</hi> Geförderten die Traditionen ehemaliger Stamm-<lb/> verwandtſchaft erbleichen — im Hochgefühl einer neuen höher ſtehe nden<lb/> Nationalität.</p><lb/> </div> </div> </body> </floatingText> </div> </body> </text> </TEI> [1210/0010]
Die Entwickelung und Conſolidirung des öſterreichi-
ſchen Kaiſerſtaates. *)
* Von der Donau, im Februar.
Wenn der öſtereichiſche
Staat, wie es im wohlverſtandenen Jntereſſe aller liegt, als ein Ganzes
betrachtet und aufgefaßt wird, in welchem die Ländertheile aus denen
er zuſammengeſetzt iſt, nicht nach Trennung ſondern Vereinigung ſtreben
ſollen, ſo erhalten die Erſcheinungen, die ſich dem Auge des Beobachters
darbieten, eine ganz andere Färbung und Geltung als die welche man
nicht ſelten gewöhnt iſt ihnen beizulegen. Es wird daher nicht über-
flüſſig ſeyn zu zeigen daß trotz der Verſchiedenheit der Völkerſchaften
und der Jnſtitutionen die in Oeſterreich herrſchen, das gemeinſame
Band welches alle zuſammenhält, nicht nur in der Perſon des Regen-
ten, ſondern in dem Weſen der Dinge vorhanden iſt, und daß jene
Verſchiedenheiten der Verſchmelzung des ganzen Körpers nicht im
Wege ſtehen.
Ehe wir jedoch dieß näher nachweiſen, müſſen wir das Bekenntniß
ablegen daß wir hier von zwei Ländertheilen abſtrahiren von welchen
es mindeſtens problematiſch iſt ob auch ſie dem Amalgamirungs-Proceß
folgen werden, den die übrigen Theile der Monarchie ſeit lange her
begonnen haben. Wir meinen nämlich Gallizien und Jtalien. Un-
möglich iſt es nicht; denn tauſend Fäden, tauſend Jntereſſen knüpfen
auch dieſe Länder an den großen Körper dem ſie angehören. Galli-
zien hat nur die Wahl öſterreichiſch zu bleiben oder ruſſiſch zu werden.
Denn die Wiederherſtellung Polens iſt ein Traum, dem faſt alle Bedin-
gungen der Ausführbarkeit fehlen: ihm ſteht nicht nur die äußere Macht
dreier wohlorganiſirten Großſtaaten, ſondern auch der Charakter der Na-
tion und vor allem der klaffende Riß entgegen welcher für immer ſeit
den letzten Ereigniſſen die beiden mächtigſten ſocialen Schichten getrennt
hat. Das ruſſiſche Reich kann zerfallen und wird es vielleicht. Polen
kann dann aufhören ruſſiſch oder öſterreichiſch und preußiſch zu ſeyn,
aber — polniſch wird es nimmermehr! Reiche welche in ſich ſelbſt zu-
ſammenbrachen, find nie wieder erſtanden. Polen iſt in dieſem Fall; denn
niemals war die Theilung Polens möglich ohne die im Jnnern dieſes
unglücklichen Landes vorhergegangene Zerſetzung.
Die Republik Venedig wird auch nicht wieder erſtehen, ſo wenig
als die Lombardei wieder in ihre ehemaligen kleinen Gebiete zerbröckeln
wird. Aber ein großes, einiges Jtalien kann ſich zuſammenfinden, ſo
wie ſich Frankreich zuſammenfand, und Deutſchland täglich an Einheit
gewinnt. Doch laſſen ſich verſchiedene Formen für dieſe Vereinigung
denken, und Dank ſey es dem Lichte der Aufklärung, den Fortſchritten
der Menſchheit — nicht immer bedarf es des Zerreißens der alten Bande,
um in neue Verhältniſſe überzutreten. Die geiſtige Macht ſteht heut-
zutage höher als die materielle; Eroberungen geſchehen nicht mehr durch
Kanonen bloß, ſondern weit dauernder und ausgedehnter unter der
Aegide höherer Potenzen. Der Geiſt der Aſſociation bewirkt täglich
neue Wunder, und verbreitet ſich eben darum immer mehr über den civi-
liſtrten Theil der Welt. Mit ihm aber wächst auch die Neigung der
Völker ſich bei gleichen Jntereſſen enger zu verbinden. Dieſe Neigung
führt zum Frieden nicht zum Kriege, ſie öffnet den Weg der Verſtändi-
gung, der Ausgleichung aller Belange. Und wir wollen hoffen daß
die gegenwärtige Bewegung welche Jtalien erfaßt hat, die nicht mehr
von tollkühnen Abenteurern und Revolutionsmännern, ſondern von
dem Haupte der Kirche und den Souveränen des Landes ſelbſt ausgeht,
die geiſtigen und materiellen Bedürfniſſe der Halbinſel in einer Weiſe
befriedigen wird die ohne gewaltſame Zerſtörung der vorhandenen Ver-
hältniſſe das gewünſchte Ziel erreicht; wohin wir denn auch eine den
vorhandenen Rechten Rechnung tragende politiſche Vereinigung Jtaliens,
ſey es als Bundesſtaat oder in anderer Weiſe zählen, damit es endlich
nach mehr als einem Jahrtauſend aufhöre fremden Jntereſſen dienſtbar
zu ſeyn, und in den Stand geſetzt werde eine ſelbſtändige Politik
verfolgen zu können. Doch ſo gut der deutſche Bund einen Theil Oeſter-
reichs in ſich aufnimmt, kann es dereinſt — dem unbeſchadet —
auch der italieniſche, wenn gegen überwiegende Einflüſſe das Nöthige
vorgekehrt wird. Der öſterreichiſche Staat ohne Galizien und Jtalien,
von denen wir ein für allemal abſehen wollen, hat ſich faſt durchgängig
auf regelmäßigem, friedlichem Wege durch Belehnung, Erbverträge
und Königswahlen in ſeiner jetzigen Geſtalt zuſammengefunden, und
ſeit einer Reihe von Jahrhunderten als ein Ganzes erhalten. Und
wenn auch im Laufe der Zeit in einzelnen Theilen Colliſionen mit dem
Regenten vorkamen, ſo lagen ihnen zumeiſt Streitigkeiten wegen Re-
ligion oder politiſcher Rechte zum Grunde, niemals das wirkliche
Bedürfniß ſich loszureißen oder gar andern Staaten anzuſchließen.
Wohl aber ſehen wir die Völker treu ausharren in Bedrängniß und
Noth an der Seite ihrer Fürſten und kein Opfer ſcheuen die Jntegrität
aller unter einem Scepter vereinigten Lande gemeinſam zu ſchützen,
und zwar nicht etwa nur gegen die Türken, den Feind der Chriſtenheit,
ſondern gegen jedermann ohne alle Ausnahme.
Ein Blick auf die Karte zeigt uns ferner daß dieſes im Oſten des
civiliſirten Europa gelegene Reich ſowohl in ſtrategiſcher als in mercan-
tiler Beziehung ſich mehr oder weniger ſo geſtalten und abrunden mußte,
wenn es die Bedingungen dauernder Lebensfähigkeit in dem Staaten-
compler Europa’s überhaupt und als Großmacht insbeſondere in ſich
vereinigen wollte.
Jn dem Entwicklungsgang welchen Staaten und Völker nehmen
herrſcht ebenſowenig der Zufall als in irgendeinem andern Gebiete, den
überhaupt nur das blöde Auge eines beſchränkten Verſtandes in jenen
Dingen erblickt die er anders ſich nicht zu erklären vermag; und ſo
gewiß als jedes Haar auf unſerem Haupte gezählt iſt, ſo gewiß haben
auch diejenigen Geſetze unter deren Herrſchaft wir Menſchen ſtehen,
Oeſterreich geſchaffen und erhalten; Ungarn z. B. bedurfte um der tür-
kiſchen Macht nicht zu erliegen, die es mehr als einmal zu verſchlingen
drohte, Oeſterreichs und ſeiner Nebenländer, und Böhmen mußte ent-
weder Oeſterreich erobern, an welcher Aufgabe Ottokar ſcheiterte, oder
es mußte über kurz oder lang öſterreichiſch werden, denn für Böh men
war unter allen Nachbarſtaaten Oeſterreich der gefährlichſte, wie nicht
minder der reichſte und lockendſte; für Oeſterreich aber war Böhmen und
Mähren eine Bedingung ſeiner Conſolidirung und ſeiner Abrundung,
zumal wenn Ungarn mit in Anſchlag gebracht wird. Tirol, Steiermark,
Kärnthen, Krain liegen zwiſchen Oeſterreich und Jtalien eingekeilt, und
waren daher an Oeſterreich gewieſen durch Stammverwandtſchaft ſo-
wohl als durch italieniſche Zerriffenheit, die an ihren Gränzen außer
Venedig (das die See und die Küſten ſuchte) keine Macht entſtehen ließ,
nach der jene gravitiren konnten; für Oeſterreich aber waren dieſe Ge-
birgsländer ein Gürtel von Feſtungen, die es gegen Süden und Weſten
ſchützten.
Dieſe Andeutungen werden genügen die Anficht zu rechtfertigen
daß ein Großſtaat an den Ufern der Donau ſich gerade ſo wie Oeſter-
reich geworden geſtalten mußte, und zwar um ſo mehr als ein großer
Theil der Handelsbeziehungen jener nun vereinigten Länder an den
Ufern dieſes mächtigen Stromes ſich längſt ſchon feſtgeſetzt hatte.
Gegenwärtig aber nach ſo langem Verbande münden in tauſendfältigen
Richtungen die materiellen Jntereſſen der öſterreichiſchen Lande an der
großen Waſſerſtraße aus, die das kleine Erzherzogthum Oeſterreich und
das große Königreich Ungarn beſpült. Dieſe Jntereſſen find zu ſehr ent-
wickelt und verzweigt, als daß ſich ein freiwilliges Lostrennen der be-
theiligten Länder unter dem Geſichtspunkte materieller Vortheile geden-
ken ließe. Es kann höchſtens die Frage entſtehen ob Ungarn oder Oeſter-
reich über ſie herrſchen ſoll — was an und für ſich eine müßige Frage
iſt; denn der ungariſche König regiert gegenwärtig den öſterreichiſchen
Kaiſerſtaat ebenſo gut als der öſterreichiſche Erzherzog.
Wenn aber das politiſche ſowie das materielle Jntereſſe Oeſterreich
zu einem compacten Ganzen vereinigt hat, ſo müſſen dieſe doch mächti-
ger geweſen ſeyn als die nationalen Sympathien nach welchen moderne
Weltverbeſſerer die Staaten zuſammenfügen wollen. Und gerade Oeſter-
reich, das aus ſo vielen Stämmen zuſammengeſetzte Oeſterreich hat be-
reits und wird auch gewiß noch thatſächlicher den Beweis liefern daß es
einen höheren Patriotismus, eine höhere Anſchauung der Geſchichte der
Menſchheit gibt als jenen Männern innewohnt die ihren Blick nur
immerfort zurück und nicht auch vorwärts wenden, die es vergeſſen zu
haben ſcheinen daß das Geſetz einer immerwährenden Metamorphoſe die
Welt beherrſcht, und daß gerade nur durch ſie der Fortſchritt möglich
iſt. England, Nordamerika beweiſen übrigens thatſächlich daß die
Racenverſchiedenheit kein Hinderniß iſt die höchſten Zwecke zu erreichen,
welche die Aufgabe der Menſchheit find, und wir ſehen dort in dem ge-
meinſamen Streben, in dem gemeinſamen Ziel, in der Erinne-
rung des gemeinſam Geförderten die Traditionen ehemaliger Stamm-
verwandtſchaft erbleichen — im Hochgefühl einer neuen höher ſtehe nden
Nationalität.
*) Bruchſtück einer umfaſſenden Schrift über die neueſten Bewegungen
in Oeſterreich. Einige Wochen vor der Pariſer Februarrevolution
geſchrieben.
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(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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