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Allgemeine Zeitung, Nr. 76, 16. März 1848.

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Nr. 76.
[Spaltenumbruch]
Beilage zur Allgemeinen Zeitung.
[Spaltenumbruch] 16 März 1848.


[Spaltenumbruch]
Die Rationalvertretung im Bunde.
II.

.. Wer hätte gestern noch gedacht daß Helvetien und Deutschland
nach einander die Bahn der Reformen in ihren Staatsverfassungen wie
in ihrer Bundesverfassung betreten würden? Was dort Anstoß der Ju-
liusrevolution war, hat hier die französische Februarrevolution bewirkt.
Die Schweiz leidet an den Widersprüchen zwischen Kantonalsouveränetät
und Nationalmacht. Unter andern Namen find es dieselben Uebel wor-
an Deutschland krank ist. Jn beiden Ländern wurde der Staatenbund
zu schwach erfunden, und sie machen den Uebergang in den Bundesstaat.
Der Vereinigten Staaten von Nordamerika, mit mehr Bewußtseyn der
Lebensbedingungen einer nationalen Conföderation und mit weiterer Vor-
aussicht der politischen Nöthigungen, haben vor länger als einem hal-
ben Jahrhundert ohne solchen äußern Druck aus freier Selbstbestim-
mung denselben Schritt gethan. Daß wir im staatsphilosophischen
Deutschland ihn so spät thun, und, von den Ereignissen überrascht, uns
nun gestehen müssen die absolute Unzulänglichkeit von Jnstitutionen die
unsern bequemen Optimisten so gern als ein Werk für die Ewigkeit
galten, daß wir ihn umringt von tausend Schrecken und Gefahren im
Sturm thun müssen, wollen wir nicht anders Staaten und Nation
vor unsern Augen untergehen sehen, darin liegt freilich etwas demü-
thigendes, aber auch die gebieterische Aufforderung ihn jetzt wenigstens
nicht mehr halb, sondern ganz zu thun. Also kein Zöpfl'sches Par-
lament -- wir meinen die Vorschläge des Hofrath Zöpfl von Heidelberg.
Das wäre kein Parlament, sondern einer jener ständischen Ausschüsse
welche die Parlamente zu Grunde richten, dieser mit dem Dünkel etwas
organisches zu seyn, weil er die neunundsechzig Stimmen des Plenum
der Bundesversammlung beibehält, die weder politische noch volk-
liche Abtheilungen noch ein Verhältniß der Macht repräsentiren, son-
dern eine willkürliche Souveränetätsfiction von 1815 find. Ein solcher
Ausschuß, der nicht anders als von Jnstructionen abhängig gedacht
werden könnte, hätte alle Schwächen einer schweizerischen Tagsatzung;
er möchte anfangs noch so populär und patriotisch zusammengesetzt seyn,
würde aber bald ein passtves Anhängsel der Gesandtschaften der ver-
schiedenen Länder werden; wir hätten dann zwei Tagsatzungen, und
durch den gleichfalls angerathenen Wechsel der obersten Bundesmagi-
stratur würden wir uns ein republicanisches Princip aneignen, aber
ohne die Kraft welche republicanische Principien aus der nationalen
Unmittelbarkeit schöpfen. Wahrlich es hieße den Ernst der Zeit
schlecht verstehen, fände sie uns noch auf dem Punkt des leidigen
Hegemoniezanks und der sogenannten deutschen Freiheit, welcher der
Rangstreit der Fürsten über das Vaterland ging. Diese Freiheit hat
Polen umgebracht, sie hat die edelsten seiner Söhne ins Eril getrie-
ben, aber wir haben eine zu hohe Meinung von den Großen Deutsch-
lands als daß wir glauben könnten daß sie, in einem Augenblick wo
die Nation vielleicht bald zu ungeheuren Anstrengungen berufen ist
um ihre Unabhängigkeit zu vertheidigen, nicht bereit seyn sollten alle Ei-
fersucht freudigen Muthes auf dem Altar des Vaterlandes zu opfern.
Welch eine Wiedergeburt Deutschlands, wenn man es im Angesicht
des Abgrundes welcher Fürsten und Völker, die Nation selbst zu ver-
schlingen droht, nicht weiter brächte als einige Formen zu erfinden
um die unverbesserliche Zwietracht zu maskiren. Man täusche sich
nicht. Das ist ein armer Trost wenn wir einer französischen Re-
publik die Existenzfähigkeit absprechen. Wir können die gemeine Lo-
gik und Erfahrung für uns haben daß eine Volksherrschaft von
sechsunddreißig Millionen ein an sich unmögliches Staatsexperiment
sey, und doch dürfte uns das wenig helfen, selbst wenn die Neu-
heit der Thatsachen nicht alle Berechnungen unsicher machte. Wir haben
Adelsrepubliken gesehen, Soldatenrepubliken, Republiken des dritten
Standes, der Reichen, gemischte Republiken. Eine Republik des vierten
Standes, eine Arbeiter- und Bauernrepublik sieht die erstaunte Welt
zum erstenmal. Ein Bestand derselben auch nur von einigen Jahren
(und Jahre find im Leben der Nationen wie Augenblicke), wo dann im-
merhin innere Auflösung durch Parteien, Militärdictatur, Tyrannei nach-
kommen möchte, würde bei den überall aus den untersten Schichten der
Gesellschaft ausgährenden Sympathien hinreichen aus dieser mächtigen
Organisation aller populären Jnstincte und Jnteressen eine Bewegung
[Spaltenumbruch] hervorbrechen zu lassen, unwiderstehlich, stark genug das alte Europa aus
den Angeln zu heben. Aber wir find nicht einmal berechtigt dem neuen
Frankreich Jdeologie zum Vorwurf zu machen, als ob wir die Praktische-
ren wären, als ob wir wirklich bisher eine Politik des Möglichen befolgt
hätten. Haben wir doch unser Haus auf Sand gebaut und merken es
erst hintennach; und war es etwa weniger Jdeologie wenn man auf
einem System hohler Rechtsfictionen, erkünstelter Jnterpretationen, der
Vorenthaltung oder Verkümmerung der theuersten constitutionellen
Bürgschaften, oder gar inmitten der unermeßlichen Fortschritte des
Zeitalters, der geistigen und materiellen Wettkämpfe, auf einem Sy-
stem der Stabilität die Grundsäulen der Ordnung aufrichten wollte?
War es weniger Jdeologie wenn eine Diplomatie von großer Positivität,
Welterfahrung und Menschenkenntniß sich dennoch einbilden konnte in den
Erziehungstalenten der Gesellschaft Jesu den Talisman entdeckt zu haben
gegen den gefürchteten Zeitgeist? War es ein haltbares Bundessystem
wenn nicht nur die Nation bei Berathung ihrer Jnteressen keine Stimme
hatte, nicht nur diese Berathung für sie ein Geheimniß war wie die Be-
schlüsse der Vorsehung, sondern wenn im Schoos des Bundes selbst ein
bald lauter, bald ftiller Krieg, der Krieg des Absolutismus gegen den
versassungsmäßigen Rechtsstaat, die mühsamen volksthümlichen Errun-
genschaften immer von neuem in Frage stellte und dadurch ein gegen-
seitiges Mißtrauen unterhielt, das ebenso schädlich seyn mußte für den
innern Frieden als für die künftige Waffengenofsenschaft auf dem Schlacht-
feld? War es endlich constitutionelle Wahrheit wenn man Reactions-
diener von 1824 noch als Staatslenker von 1848 sah, und es Regel war
keine parlamentarischen Minister zu wählen? Wenn man jetzt, nachdem
die "Charte- verite" und die "wohlfeile Regierung" der Juliusdynastie, diese
viel bewunderte Musterwirthschaft, ein so klägliches Ende genommen hat,
Männer wie Thon-Dittmer, F. Römer, P. Pfitzer, Duvernoy, H. v.
Gagern beruft, so ist dieß ein Ereigniß das wir als einen ersten Schritt
zur Befestigung des Vertrauens zwischen Regierungen und Völkern be-
grüßen. Die Schlagwörter mit denen man einander verfolgt und ge-
plagt hat, conservativ, radical u. dergl., haben jetzt größtentheils ihre
Bedeutung verloren, da man erkennt daß das conservativste Princip,
wenn auch die Mittel wegen einer Nothlage oft radical find, das der
Selbsterhaltung, der nationalen Ehre und Selbständigkeit ist, und daß
man auf den Oppositionsbänken sitzen und doch ein redlicher Freund
seines Landes, ein richtiger Beurtheiler seiner Bedürfnisse und Jnteressen
seyn kann. Aber diese mit Jubel aufgenommenen Anfänge einer parlamen-
tarischen Regierung find sehr unfichere Concessionen, solange nicht durch
eine Bundesreform eine dauerhafte Grundlage nach innen und nach außen
gewonnen ist. Hätten wir dieses Werk in einer andern Zeit versucht, wer
weiß ob nicht die Guizots sammt all den Doctrinärs der alten Tradition
Einrede erhoben hätten so gut als gegen die Schweiz, da ja auch unsere
Eidgenossenschaft eine gewährleistete von den Mächten ist? Heute lassen
sie uns ungestört reformiren, sie müssen froh seyn wenn wir's thun,
denn wer wird den Welttheil stützen wenn auch Deutschland wankt?
Benützen wir den Augenblick der sich noch nie so schön dargeboten hat,
um einmal wieder Maifeld zu halten, aber nicht zu provisorischen Jn-
stitutionen, zu Staatsschöpfungen wie der Zollverein auf Aufkündigung,
sondern zur Gründung einer mächtigen Bundeseinheit. Man kann nicht
alle fünf oder sechs Jahre Nationalbegeisterung predigen, und sie als-
bald wieder in Schlaf lullen lassen, indeß die Nation eben immer nur
ein gestaltloser Begriff, eine "geographische Benennung" bleibt. Erhebe
sie sich denn in sichtbarer Herrlichkeit, und wähle ein Bundesoberhaupt.
Und warum nur für die Zeit der Gefahr, warum nicht gleich in der
populärsten Form für das Verständniß des Bauern wie des Fürsten?
Warum taucht die alte verehrte Majestät des kaiserlichen Namens so
schüchtern auf? Doch die Entwicklungen find unaufhaltsam -- auf den
30 März ladet der Ausschuß des Heidelberger Vereins zu einer Notabeln-
Versammlung nach Frankfurt, um die Grundzüge einer nationalen Par-
lamentsverfassung vorzulegen und zu berathen. Hoffen wir daß Deutsch-
land seine Delegirten auf der vollen Höhe einer Aufgabe finden werde
für deren glückliche Lösung sie der Mit und Nachwelt verantwortlich
sind.



Nr. 76.
[Spaltenumbruch]
Beilage zur Allgemeinen Zeitung.
[Spaltenumbruch] 16 März 1848.


[Spaltenumbruch]
Die Rationalvertretung im Bunde.
II.

.. Wer hätte geſtern noch gedacht daß Helvetien und Deutſchland
nach einander die Bahn der Reformen in ihren Staatsverfaſſungen wie
in ihrer Bundesverfaſſung betreten würden? Was dort Anſtoß der Ju-
liusrevolution war, hat hier die franzöſiſche Februarrevolution bewirkt.
Die Schweiz leidet an den Widerſprüchen zwiſchen Kantonalſouveränetät
und Nationalmacht. Unter andern Namen find es dieſelben Uebel wor-
an Deutſchland krank iſt. Jn beiden Ländern wurde der Staatenbund
zu ſchwach erfunden, und ſie machen den Uebergang in den Bundesſtaat.
Der Vereinigten Staaten von Nordamerika, mit mehr Bewußtſeyn der
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ausſicht der politiſchen Nöthigungen, haben vor länger als einem hal-
ben Jahrhundert ohne ſolchen äußern Druck aus freier Selbſtbeſtim-
mung denſelben Schritt gethan. Daß wir im ſtaatsphiloſophiſchen
Deutſchland ihn ſo ſpät thun, und, von den Ereigniſſen überraſcht, uns
nun geſtehen müſſen die abſolute Unzulänglichkeit von Jnſtitutionen die
unſern bequemen Optimiſten ſo gern als ein Werk für die Ewigkeit
galten, daß wir ihn umringt von tauſend Schrecken und Gefahren im
Sturm thun müſſen, wollen wir nicht anders Staaten und Nation
vor unſern Augen untergehen ſehen, darin liegt freilich etwas demü-
thigendes, aber auch die gebieteriſche Aufforderung ihn jetzt wenigſtens
nicht mehr halb, ſondern ganz zu thun. Alſo kein Zöpfl’ſches Par-
lament — wir meinen die Vorſchläge des Hofrath Zöpfl von Heidelberg.
Das wäre kein Parlament, ſondern einer jener ſtändiſchen Ausſchüſſe
welche die Parlamente zu Grunde richten, dieſer mit dem Dünkel etwas
organiſches zu ſeyn, weil er die neunundſechzig Stimmen des Plenum
der Bundesverſammlung beibehält, die weder politiſche noch volk-
liche Abtheilungen noch ein Verhältniß der Macht repräſentiren, ſon-
dern eine willkürliche Souveränetätsfiction von 1815 find. Ein ſolcher
Ausſchuß, der nicht anders als von Jnſtructionen abhängig gedacht
werden könnte, hätte alle Schwächen einer ſchweizeriſchen Tagſatzung;
er möchte anfangs noch ſo populär und patriotiſch zuſammengeſetzt ſeyn,
würde aber bald ein paſſtves Anhängſel der Geſandtſchaften der ver-
ſchiedenen Länder werden; wir hätten dann zwei Tagſatzungen, und
durch den gleichfalls angerathenen Wechſel der oberſten Bundesmagi-
ſtratur würden wir uns ein republicaniſches Princip aneignen, aber
ohne die Kraft welche republicaniſche Principien aus der nationalen
Unmittelbarkeit ſchöpfen. Wahrlich es hieße den Ernſt der Zeit
ſchlecht verſtehen, fände ſie uns noch auf dem Punkt des leidigen
Hegemoniezanks und der ſogenannten deutſchen Freiheit, welcher der
Rangſtreit der Fürſten über das Vaterland ging. Dieſe Freiheit hat
Polen umgebracht, ſie hat die edelſten ſeiner Söhne ins Eril getrie-
ben, aber wir haben eine zu hohe Meinung von den Großen Deutſch-
lands als daß wir glauben könnten daß ſie, in einem Augenblick wo
die Nation vielleicht bald zu ungeheuren Anſtrengungen berufen iſt
um ihre Unabhängigkeit zu vertheidigen, nicht bereit ſeyn ſollten alle Ei-
ferſucht freudigen Muthes auf dem Altar des Vaterlandes zu opfern.
Welch eine Wiedergeburt Deutſchlands, wenn man es im Angeſicht
des Abgrundes welcher Fürſten und Völker, die Nation ſelbſt zu ver-
ſchlingen droht, nicht weiter brächte als einige Formen zu erfinden
um die unverbeſſerliche Zwietracht zu maskiren. Man täuſche ſich
nicht. Das iſt ein armer Troſt wenn wir einer franzöſiſchen Re-
publik die Exiſtenzfähigkeit abſprechen. Wir können die gemeine Lo-
gik und Erfahrung für uns haben daß eine Volksherrſchaft von
ſechsunddreißig Millionen ein an ſich unmögliches Staatsexperiment
ſey, und doch dürfte uns das wenig helfen, ſelbſt wenn die Neu-
heit der Thatſachen nicht alle Berechnungen unſicher machte. Wir haben
Adelsrepubliken geſehen, Soldatenrepubliken, Republiken des dritten
Standes, der Reichen, gemiſchte Republiken. Eine Republik des vierten
Standes, eine Arbeiter- und Bauernrepublik ſieht die erſtaunte Welt
zum erſtenmal. Ein Beſtand derſelben auch nur von einigen Jahren
(und Jahre find im Leben der Nationen wie Augenblicke), wo dann im-
merhin innere Auflöſung durch Parteien, Militärdictatur, Tyrannei nach-
kommen möchte, würde bei den überall aus den unterſten Schichten der
Geſellſchaft auſgährenden Sympathien hinreichen aus dieſer mächtigen
Organiſation aller populären Jnſtincte und Jntereſſen eine Bewegung
[Spaltenumbruch] hervorbrechen zu laſſen, unwiderſtehlich, ſtark genug das alte Europa aus
den Angeln zu heben. Aber wir find nicht einmal berechtigt dem neuen
Frankreich Jdeologie zum Vorwurf zu machen, als ob wir die Praktiſche-
ren wären, als ob wir wirklich bisher eine Politik des Möglichen befolgt
hätten. Haben wir doch unſer Haus auf Sand gebaut und merken es
erſt hintennach; und war es etwa weniger Jdeologie wenn man auf
einem Syſtem hohler Rechtsfictionen, erkünſtelter Jnterpretationen, der
Vorenthaltung oder Verkümmerung der theuerſten conſtitutionellen
Bürgſchaften, oder gar inmitten der unermeßlichen Fortſchritte des
Zeitalters, der geiſtigen und materiellen Wettkämpfe, auf einem Sy-
ſtem der Stabilität die Grundſäulen der Ordnung aufrichten wollte?
War es weniger Jdeologie wenn eine Diplomatie von großer Poſitivität,
Welterfahrung und Menſchenkenntniß ſich dennoch einbilden konnte in den
Erziehungstalenten der Geſellſchaft Jeſu den Talisman entdeckt zu haben
gegen den gefürchteten Zeitgeiſt? War es ein haltbares Bundesſyſtem
wenn nicht nur die Nation bei Berathung ihrer Jntereſſen keine Stimme
hatte, nicht nur dieſe Berathung für ſie ein Geheimniß war wie die Be-
ſchlüſſe der Vorſehung, ſondern wenn im Schoos des Bundes ſelbſt ein
bald lauter, bald ftiller Krieg, der Krieg des Abſolutismus gegen den
verſaſſungsmäßigen Rechtsſtaat, die mühſamen volksthümlichen Errun-
genſchaften immer von neuem in Frage ſtellte und dadurch ein gegen-
ſeitiges Mißtrauen unterhielt, das ebenſo ſchädlich ſeyn mußte für den
innern Frieden als für die künftige Waffengenofſenſchaft auf dem Schlacht-
feld? War es endlich conſtitutionelle Wahrheit wenn man Reactions-
diener von 1824 noch als Staatslenker von 1848 ſah, und es Regel war
keine parlamentariſchen Miniſter zu wählen? Wenn man jetzt, nachdem
die „Charte- verité“ und die „wohlfeile Regierung“ der Juliusdynaſtie, dieſe
viel bewunderte Muſterwirthſchaft, ein ſo klägliches Ende genommen hat,
Männer wie Thon-Dittmer, F. Römer, P. Pfitzer, Duvernoy, H. v.
Gagern beruft, ſo iſt dieß ein Ereigniß das wir als einen erſten Schritt
zur Befeſtigung des Vertrauens zwiſchen Regierungen und Völkern be-
grüßen. Die Schlagwörter mit denen man einander verfolgt und ge-
plagt hat, conſervativ, radical u. dergl., haben jetzt größtentheils ihre
Bedeutung verloren, da man erkennt daß das conſervativſte Princip,
wenn auch die Mittel wegen einer Nothlage oft radical find, das der
Selbſterhaltung, der nationalen Ehre und Selbſtändigkeit iſt, und daß
man auf den Oppoſitionsbänken ſitzen und doch ein redlicher Freund
ſeines Landes, ein richtiger Beurtheiler ſeiner Bedürfniſſe und Jntereſſen
ſeyn kann. Aber dieſe mit Jubel aufgenommenen Anfänge einer parlamen-
tariſchen Regierung find ſehr unfichere Conceſſionen, ſolange nicht durch
eine Bundesreform eine dauerhafte Grundlage nach innen und nach außen
gewonnen iſt. Hätten wir dieſes Werk in einer andern Zeit verſucht, wer
weiß ob nicht die Guizots ſammt all den Doctrinärs der alten Tradition
Einrede erhoben hätten ſo gut als gegen die Schweiz, da ja auch unſere
Eidgenoſſenſchaft eine gewährleiſtete von den Mächten iſt? Heute laſſen
ſie uns ungeſtört reformiren, ſie müſſen froh ſeyn wenn wir’s thun,
denn wer wird den Welttheil ſtützen wenn auch Deutſchland wankt?
Benützen wir den Augenblick der ſich noch nie ſo ſchön dargeboten hat,
um einmal wieder Maifeld zu halten, aber nicht zu proviſoriſchen Jn-
ſtitutionen, zu Staatsſchöpfungen wie der Zollverein auf Aufkündigung,
ſondern zur Gründung einer mächtigen Bundeseinheit. Man kann nicht
alle fünf oder ſechs Jahre Nationalbegeiſterung predigen, und ſie als-
bald wieder in Schlaf lullen laſſen, indeß die Nation eben immer nur
ein geſtaltloſer Begriff, eine „geographiſche Benennung“ bleibt. Erhebe
ſie ſich denn in ſichtbarer Herrlichkeit, und wähle ein Bundesoberhaupt.
Und warum nur für die Zeit der Gefahr, warum nicht gleich in der
populärſten Form für das Verſtändniß des Bauern wie des Fürſten?
Warum taucht die alte verehrte Majeſtät des kaiſerlichen Namens ſo
ſchüchtern auf? Doch die Entwicklungen find unaufhaltſam — auf den
30 März ladet der Ausſchuß des Heidelberger Vereins zu einer Notabeln-
Verſammlung nach Frankfurt, um die Grundzüge einer nationalen Par-
lamentsverfaſſung vorzulegen und zu berathen. Hoffen wir daß Deutſch-
land ſeine Delegirten auf der vollen Höhe einer Aufgabe finden werde
für deren glückliche Löſung ſie der Mit und Nachwelt verantwortlich
ſind.



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[0009] Nr. 76. Beilage zur Allgemeinen Zeitung. 16 März 1848. Die Rationalvertretung im Bunde. II. .. Wer hätte geſtern noch gedacht daß Helvetien und Deutſchland nach einander die Bahn der Reformen in ihren Staatsverfaſſungen wie in ihrer Bundesverfaſſung betreten würden? Was dort Anſtoß der Ju- liusrevolution war, hat hier die franzöſiſche Februarrevolution bewirkt. Die Schweiz leidet an den Widerſprüchen zwiſchen Kantonalſouveränetät und Nationalmacht. Unter andern Namen find es dieſelben Uebel wor- an Deutſchland krank iſt. Jn beiden Ländern wurde der Staatenbund zu ſchwach erfunden, und ſie machen den Uebergang in den Bundesſtaat. Der Vereinigten Staaten von Nordamerika, mit mehr Bewußtſeyn der Lebensbedingungen einer nationalen Conföderation und mit weiterer Vor- ausſicht der politiſchen Nöthigungen, haben vor länger als einem hal- ben Jahrhundert ohne ſolchen äußern Druck aus freier Selbſtbeſtim- mung denſelben Schritt gethan. Daß wir im ſtaatsphiloſophiſchen Deutſchland ihn ſo ſpät thun, und, von den Ereigniſſen überraſcht, uns nun geſtehen müſſen die abſolute Unzulänglichkeit von Jnſtitutionen die unſern bequemen Optimiſten ſo gern als ein Werk für die Ewigkeit galten, daß wir ihn umringt von tauſend Schrecken und Gefahren im Sturm thun müſſen, wollen wir nicht anders Staaten und Nation vor unſern Augen untergehen ſehen, darin liegt freilich etwas demü- thigendes, aber auch die gebieteriſche Aufforderung ihn jetzt wenigſtens nicht mehr halb, ſondern ganz zu thun. Alſo kein Zöpfl’ſches Par- lament — wir meinen die Vorſchläge des Hofrath Zöpfl von Heidelberg. Das wäre kein Parlament, ſondern einer jener ſtändiſchen Ausſchüſſe welche die Parlamente zu Grunde richten, dieſer mit dem Dünkel etwas organiſches zu ſeyn, weil er die neunundſechzig Stimmen des Plenum der Bundesverſammlung beibehält, die weder politiſche noch volk- liche Abtheilungen noch ein Verhältniß der Macht repräſentiren, ſon- dern eine willkürliche Souveränetätsfiction von 1815 find. Ein ſolcher Ausſchuß, der nicht anders als von Jnſtructionen abhängig gedacht werden könnte, hätte alle Schwächen einer ſchweizeriſchen Tagſatzung; er möchte anfangs noch ſo populär und patriotiſch zuſammengeſetzt ſeyn, würde aber bald ein paſſtves Anhängſel der Geſandtſchaften der ver- ſchiedenen Länder werden; wir hätten dann zwei Tagſatzungen, und durch den gleichfalls angerathenen Wechſel der oberſten Bundesmagi- ſtratur würden wir uns ein republicaniſches Princip aneignen, aber ohne die Kraft welche republicaniſche Principien aus der nationalen Unmittelbarkeit ſchöpfen. Wahrlich es hieße den Ernſt der Zeit ſchlecht verſtehen, fände ſie uns noch auf dem Punkt des leidigen Hegemoniezanks und der ſogenannten deutſchen Freiheit, welcher der Rangſtreit der Fürſten über das Vaterland ging. Dieſe Freiheit hat Polen umgebracht, ſie hat die edelſten ſeiner Söhne ins Eril getrie- ben, aber wir haben eine zu hohe Meinung von den Großen Deutſch- lands als daß wir glauben könnten daß ſie, in einem Augenblick wo die Nation vielleicht bald zu ungeheuren Anſtrengungen berufen iſt um ihre Unabhängigkeit zu vertheidigen, nicht bereit ſeyn ſollten alle Ei- ferſucht freudigen Muthes auf dem Altar des Vaterlandes zu opfern. Welch eine Wiedergeburt Deutſchlands, wenn man es im Angeſicht des Abgrundes welcher Fürſten und Völker, die Nation ſelbſt zu ver- ſchlingen droht, nicht weiter brächte als einige Formen zu erfinden um die unverbeſſerliche Zwietracht zu maskiren. Man täuſche ſich nicht. Das iſt ein armer Troſt wenn wir einer franzöſiſchen Re- publik die Exiſtenzfähigkeit abſprechen. Wir können die gemeine Lo- gik und Erfahrung für uns haben daß eine Volksherrſchaft von ſechsunddreißig Millionen ein an ſich unmögliches Staatsexperiment ſey, und doch dürfte uns das wenig helfen, ſelbſt wenn die Neu- heit der Thatſachen nicht alle Berechnungen unſicher machte. Wir haben Adelsrepubliken geſehen, Soldatenrepubliken, Republiken des dritten Standes, der Reichen, gemiſchte Republiken. Eine Republik des vierten Standes, eine Arbeiter- und Bauernrepublik ſieht die erſtaunte Welt zum erſtenmal. Ein Beſtand derſelben auch nur von einigen Jahren (und Jahre find im Leben der Nationen wie Augenblicke), wo dann im- merhin innere Auflöſung durch Parteien, Militärdictatur, Tyrannei nach- kommen möchte, würde bei den überall aus den unterſten Schichten der Geſellſchaft auſgährenden Sympathien hinreichen aus dieſer mächtigen Organiſation aller populären Jnſtincte und Jntereſſen eine Bewegung hervorbrechen zu laſſen, unwiderſtehlich, ſtark genug das alte Europa aus den Angeln zu heben. Aber wir find nicht einmal berechtigt dem neuen Frankreich Jdeologie zum Vorwurf zu machen, als ob wir die Praktiſche- ren wären, als ob wir wirklich bisher eine Politik des Möglichen befolgt hätten. Haben wir doch unſer Haus auf Sand gebaut und merken es erſt hintennach; und war es etwa weniger Jdeologie wenn man auf einem Syſtem hohler Rechtsfictionen, erkünſtelter Jnterpretationen, der Vorenthaltung oder Verkümmerung der theuerſten conſtitutionellen Bürgſchaften, oder gar inmitten der unermeßlichen Fortſchritte des Zeitalters, der geiſtigen und materiellen Wettkämpfe, auf einem Sy- ſtem der Stabilität die Grundſäulen der Ordnung aufrichten wollte? War es weniger Jdeologie wenn eine Diplomatie von großer Poſitivität, Welterfahrung und Menſchenkenntniß ſich dennoch einbilden konnte in den Erziehungstalenten der Geſellſchaft Jeſu den Talisman entdeckt zu haben gegen den gefürchteten Zeitgeiſt? War es ein haltbares Bundesſyſtem wenn nicht nur die Nation bei Berathung ihrer Jntereſſen keine Stimme hatte, nicht nur dieſe Berathung für ſie ein Geheimniß war wie die Be- ſchlüſſe der Vorſehung, ſondern wenn im Schoos des Bundes ſelbſt ein bald lauter, bald ftiller Krieg, der Krieg des Abſolutismus gegen den verſaſſungsmäßigen Rechtsſtaat, die mühſamen volksthümlichen Errun- genſchaften immer von neuem in Frage ſtellte und dadurch ein gegen- ſeitiges Mißtrauen unterhielt, das ebenſo ſchädlich ſeyn mußte für den innern Frieden als für die künftige Waffengenofſenſchaft auf dem Schlacht- feld? War es endlich conſtitutionelle Wahrheit wenn man Reactions- diener von 1824 noch als Staatslenker von 1848 ſah, und es Regel war keine parlamentariſchen Miniſter zu wählen? Wenn man jetzt, nachdem die „Charte- verité“ und die „wohlfeile Regierung“ der Juliusdynaſtie, dieſe viel bewunderte Muſterwirthſchaft, ein ſo klägliches Ende genommen hat, Männer wie Thon-Dittmer, F. Römer, P. Pfitzer, Duvernoy, H. v. Gagern beruft, ſo iſt dieß ein Ereigniß das wir als einen erſten Schritt zur Befeſtigung des Vertrauens zwiſchen Regierungen und Völkern be- grüßen. Die Schlagwörter mit denen man einander verfolgt und ge- plagt hat, conſervativ, radical u. dergl., haben jetzt größtentheils ihre Bedeutung verloren, da man erkennt daß das conſervativſte Princip, wenn auch die Mittel wegen einer Nothlage oft radical find, das der Selbſterhaltung, der nationalen Ehre und Selbſtändigkeit iſt, und daß man auf den Oppoſitionsbänken ſitzen und doch ein redlicher Freund ſeines Landes, ein richtiger Beurtheiler ſeiner Bedürfniſſe und Jntereſſen ſeyn kann. Aber dieſe mit Jubel aufgenommenen Anfänge einer parlamen- tariſchen Regierung find ſehr unfichere Conceſſionen, ſolange nicht durch eine Bundesreform eine dauerhafte Grundlage nach innen und nach außen gewonnen iſt. Hätten wir dieſes Werk in einer andern Zeit verſucht, wer weiß ob nicht die Guizots ſammt all den Doctrinärs der alten Tradition Einrede erhoben hätten ſo gut als gegen die Schweiz, da ja auch unſere Eidgenoſſenſchaft eine gewährleiſtete von den Mächten iſt? Heute laſſen ſie uns ungeſtört reformiren, ſie müſſen froh ſeyn wenn wir’s thun, denn wer wird den Welttheil ſtützen wenn auch Deutſchland wankt? Benützen wir den Augenblick der ſich noch nie ſo ſchön dargeboten hat, um einmal wieder Maifeld zu halten, aber nicht zu proviſoriſchen Jn- ſtitutionen, zu Staatsſchöpfungen wie der Zollverein auf Aufkündigung, ſondern zur Gründung einer mächtigen Bundeseinheit. Man kann nicht alle fünf oder ſechs Jahre Nationalbegeiſterung predigen, und ſie als- bald wieder in Schlaf lullen laſſen, indeß die Nation eben immer nur ein geſtaltloſer Begriff, eine „geographiſche Benennung“ bleibt. Erhebe ſie ſich denn in ſichtbarer Herrlichkeit, und wähle ein Bundesoberhaupt. Und warum nur für die Zeit der Gefahr, warum nicht gleich in der populärſten Form für das Verſtändniß des Bauern wie des Fürſten? Warum taucht die alte verehrte Majeſtät des kaiſerlichen Namens ſo ſchüchtern auf? Doch die Entwicklungen find unaufhaltſam — auf den 30 März ladet der Ausſchuß des Heidelberger Vereins zu einer Notabeln- Verſammlung nach Frankfurt, um die Grundzüge einer nationalen Par- lamentsverfaſſung vorzulegen und zu berathen. Hoffen wir daß Deutſch- land ſeine Delegirten auf der vollen Höhe einer Aufgabe finden werde für deren glückliche Löſung ſie der Mit und Nachwelt verantwortlich ſind.

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-04-08T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 76, 16. März 1848, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine76_1848/9>, abgerufen am 23.11.2024.