Allgemeine Zeitung, Nr. 77, 20. März 1900.Dienstag. Drittes Morgenblatt Nr. 77 der Allgemeinen Zeitung.20. März 1900. [Spaltenumbruch] Redefreiheit und Pöbelherrschaft in England. # London, 15. März.Die Redefreiheit, deren Eng- Den im Freien abgehaltenen Versammlungen wird kein Wie in der Hauptstadt, so geht es in den Provinzstädten, Die schlimmsten bisher ausgeübten Gewaltthaten fanden Nun sollte man vielleicht glauben, daß allermindestens Ein Kanonikus von Durham hatte anzudeuten gewagt, Oesterreich-Ungarn. Anfang vom Ende des Kohlenarbeiterstrikes. * Die Abwiegelungsaktion der Strikeführer, die Kampfes- Deutsche Obmännerkonferenz. * Wien, 18. März.Anläßlich der Vertagung des Zur Wiedervermählung der Kronprinzessin-Wittwe Stephanie. * Die gestrige "Wiener Zeitung" meldete: "Die Kron- "Unser Kaiser, gestählt, aber nicht verhärtet in der Schule Die jugendliche Erzherzogin Elisabeth dürfte in Zu- Elf Jahre sind vergangen, seitdem Erzherzogin Stephanie, Dienſtag. Drittes Morgenblatt Nr. 77 der Allgemeinen Zeitung.20. März 1900. [Spaltenumbruch] Redefreiheit und Pöbelherrſchaft in England. # London, 15. März.Die Redefreiheit, deren Eng- Den im Freien abgehaltenen Verſammlungen wird kein Wie in der Hauptſtadt, ſo geht es in den Provinzſtädten, Die ſchlimmſten bisher ausgeübten Gewaltthaten fanden Nun ſollte man vielleicht glauben, daß allermindeſtens Ein Kanonikus von Durham hatte anzudeuten gewagt, Oeſterreich-Ungarn. Anfang vom Ende des Kohlenarbeiterſtrikes. * Die Abwiegelungsaktion der Strikeführer, die Kampfes- Deutſche Obmännerkonferenz. * Wien, 18. März.Anläßlich der Vertagung des Zur Wiedervermählung der Kronprinzeſſin-Wittwe Stephanie. * Die geſtrige „Wiener Zeitung“ meldete: „Die Kron- „Unſer Kaiſer, geſtählt, aber nicht verhärtet in der Schule Die jugendliche Erzherzogin Eliſabeth dürfte in Zu- Elf Jahre ſind vergangen, ſeitdem Erzherzogin Stephanie, <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0009"/> <div type="jSupplement" n="1"> <floatingText> <front> <titlePage type="heading"> <docTitle> <titlePart type="main"><hi rendition="#b">Dienſtag. Drittes Morgenblatt Nr. 77 der Allgemeinen Zeitung.</hi>20. März 1900.</titlePart> </docTitle> </titlePage><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <cb/> </front> <body> <div type="jPoliticalNews" n="2"> <div type="jComment" n="3"> <head> <hi rendition="#b">Redefreiheit und Pöbelherrſchaft in England.</hi> </head><lb/> <dateline># <hi rendition="#b">London,</hi> 15. März.</dateline><lb/> <p>Die Redefreiheit, deren Eng-<lb/> land ſich ſo lange als der größten ſeiner politiſchen Errungen-<lb/> ſchaften gerühmt hat, iſt zu einem Schatten zuſammengeſunken.<lb/> Der gierige, gewaltthätige, unduldſame Jingoismus, der Süd-<lb/> afrika in Flammen ſetzte, hat ſie hinweggefegt. Und was das<lb/> Schlimmſte dabei iſt, — nur wenige Leute ſcheinen in Eng-<lb/> land Scham oder Bedauern darüber zu empfinden, daß ſeit<lb/> Wochen in allen Theilen des Landes organiſirte Anſtrengungen<lb/> gemacht werden, jede <hi rendition="#g">freie Meinungsäußerung betreffs<lb/> des ſüdafrikaniſchen Krieges zu verhindern</hi>. Es<lb/> hat ſich in London, Sheffield, Edinburg, Glasgow, Dundee,<lb/> Newcaſtle, Gateshead, Birmingham, Scarborough und anders-<lb/> wo als vollſtändig <hi rendition="#g">unmöglich</hi> erwieſen, ſogenannte <hi rendition="#g">Frie-<lb/> densmeetings</hi> abzuhalten, ohne daß die Theilnehmer<lb/> Gefahr laufen, ihr Verſammlungslokal von einem rohen Mob<lb/> überſchwemmt zu ſehen und riskiren müſſen, perſönlich aufs bru-<lb/> talſte mißhandelt zu werden. Das Verſammlungsrecht iſt eines<lb/> der unveräußerlichen Vorrechte britiſcher Staatsbürger, aber<lb/> thatſächlich iſt dieſes Recht augenblicklich allen denjenigen ab-<lb/> geſchnitten, die mit Bezug auf die Behandlung der Buren-<lb/> republiken eine maßvolle und verſöhnliche Politik befürworten.<lb/> Obwohl es die Pflicht der Polizei iſt, alle Verſammlungen<lb/> gegen gewaliſame Unterbrechungen zu ſchützen, ſo hat ſie<lb/> gerade den Meetings der Verſöhnungspartei nur ganz unzu-<lb/> länglichen Schutz gewährt oder hat ſie ganz und gar der<lb/> Mobherrſchaft preisgegeben. Das trat hier in <hi rendition="#g">London</hi> bei<lb/> der in <hi rendition="#g">Exeter Hall</hi> abgehaltenen Verſammlung hervor, wo<lb/> die Polizeibehörden erſt auf wiederholtes Drängen des Vor-<lb/> ſitzenden eine Abtheilung von 50 Mann zuhülfe ſchickten, die<lb/> gerade nur noch zur rechten Zeit erſchienen, um die bereits<lb/> ſich flüchtenden Veranſtalter vor den Mißhandlungen eines<lb/> wüthenden Haufens von Jingoes zu bewahren. Was übrigens<lb/> an den Ruheſtörern ſelbſt als am bemerkenswertheſten be-<lb/> zeichnet werden muß, iſt der Umſtand, daß ſie keineswegs<lb/> ausſchließlich aus dem Janhagel, ſondern zum großen Theil<lb/> aus Vertretern der ſogenannten beſſeren Klaſſen beſtanden.<lb/> Aber als ſchlimmſtes Zeichen der Zeit muß es wohl betrachtet<lb/> werden, daß am Tage vorher ein Jingo-Blatt an hervor-<lb/> ragender Stelle auf die beabſichtigte Verſammlung aufmerkſam<lb/> machte und ſich nicht entblödete, anzudeuten, daß die Ver-<lb/> anſtalter „eine <hi rendition="#g">Lektion</hi> verdienten“. Die Folge davon war,<lb/> daß das Meeting durch einen organiſirten Angriff geſprengt<lb/> wurde.</p><lb/> <p>Den im Freien abgehaltenen Verſammlungen wird kein<lb/> beſſeres Schickſal zutheil. Hören wir einmal, wie ein Jingo<lb/> die gelegentlich eines Verſöhnungsmeetings im Hyde-Park<lb/> vollbrachten Heldenthaten beſchreibt. Er meldet dem „Globe“:<lb/> „Als ich mich heute Nachmittag mit einigen Freunden im<lb/> Hyde-Park befand, ſtießen wir auf ein Meeting, das unter<lb/> dem Vorſitz eines Burenfreundes von Exeter Hall abgehalten<lb/> wurde, der Ihre Zeitung angriff, weil ſie zu gewaltſamer<lb/> Verhinderung der Verſammlung in der Exeter Hall auf-<lb/> gefordert hatte. Aber glücklicherweiſe kam er nicht lang zu<lb/> Worte, denn wir umzingelten ihn und Hunderte von uns<lb/> ſangen <hi rendition="#aq">„Rule Britannia“</hi> und <hi rendition="#aq">„God save the Queen“.</hi> Er<lb/> gerieth infolgedeſſen viel ärger in die Klemme als in Exeter<lb/> Hall; er war ſogar nahe daran, in Stücke zerriſſen zu werden.<lb/> Um ſein Leben zu retten, rannte er die Oxfordſtraße hinunter,<lb/> aber ein Huſar faßte ihn beim Kragen und gab ihm den<lb/> verdienten Lohn. Schließlich befreite ihn ein Poliziſt und<lb/> führte ihn um ſeiner Sicherheit willen nach der Polizei-<lb/> ſtation in Marylebone-Lane, während die Volksmenge nach-<lb/> folgte und Nationallieder ſang. Als wir an der Polizei-<lb/> ſtation angelangt waren, ſangen wir <hi rendition="#aq">„God save the<lb/> Queen“</hi>, und der Poliziſt, der den Mann führte, machte<lb/> ſich das Vergnügen, dieſem Burenfreund den Hut vom Kopf<lb/> zu nehmen, da er nicht <hi rendition="#aq">„gentleman“</hi> genug war, ihn während<lb/> des Singens der Nationalhymne ſelbſt abzunehmen. Dann<lb/> marſchirte die Menge, 1500 Mann ſtark, nach dem Hyde-<lb/> Park zurück, in der Hoffnung, noch mehr Burenfreunde vor-<lb/> zufinden, aber es waren keine mehr zu ſehen. Ich will noch<lb/> bemerken, daß dieſer Burenfreund erklärte, er werde Proteſte<lb/> an Ihre Zeitung ſchicken, aber wir ließen ihn nicht zum<lb/> Schreiben kommen, und Sie werden ſie auch nicht erhalten,<lb/> denn einer aus der Menge zerriß ſeine Papiere. Ihre<lb/> Zeitung verdient großes Lob, daß ſie auf die Verſammlung in<lb/> Exeter Hall aufmerkſam machte, ſo daß den Burenfreunden<lb/> das Spiel verdorben wurde.“ Der Schreiber dieſer Epiſtel<lb/> unterzeichnet ſich als ein „echter Engländer“. Man wird<lb/> ſich kaum recht klar darüber, wovor man im Grunde den<lb/> größeren Unwillen empfindet — ob vor der Roheit des ſo-<lb/> genannten „echten“ Engländerthums oder vor der Scham-<lb/> loſigkeit jenes Preßorgans, das das Lob, welches ihm für<lb/> ſeine Aufforderung zu Gewaltthaten gegen Andersdenkende<lb/> von dem „echten Engländer“ ertheilt wird, in ſeinen Spalten<lb/> ſelbſt verkündet.</p><lb/> <p>Wie in der Hauptſtadt, ſo geht es in den Provinzſtädten,<lb/> großen wie kleinen, her. Der Bürgermeiſter von <hi rendition="#g">Cam-<lb/> bridge</hi> hatte einer Anzahl <hi rendition="#g">Studenten</hi> eine Geldſtrafe<lb/> auferlegt, weil ſie am Tage der Befreiung von Ladyſmith<lb/> die Laden von verſchiedenen Kaufläden abgeriſſen hatten, um<lb/> ein Freudenfeuer aufleuchten zu laſſen. Seitdem iſt der<lb/> Bürgermeiſter dieſer Univerſitätsſtadt beſtändiger Bedrohung<lb/> ausgeſetzt und kann nur noch unter Polizeiſchutz ausgehen.<lb/> Bei einem in Glasgow veranſtalteten Verſöhnungsmeeting<lb/> nahm der Pöbel eine ſo drohende Haltung an, daß die<lb/> Redner, nachdem die Verſammlung geſprengt war, ſich in die<lb/> nächſte Polizeiſtation flüchten mußten. Viel ärger noch ging<lb/> es bei einem Friedensmeeting in Edinburg her. Hier er-<lb/> hoben die Jingoes von vornherein einen ſolchen Lärm, daß<lb/> kein Redner zu Worte kommen konnte. Sie geberdeten ſich<lb/> wie Wahnſinnige, erſtürmten ſchließlich das Podium und zer-<lb/> ſchmetterten Stühle und Bänke auf den Köpfen der Veranſtalter<lb/> der Verſammlung. Hr. <hi rendition="#g">Cronwright-Schreiner</hi>, der<lb/> Bruder des Premierminiſters der Kapkolonie, der die Haupt-<lb/> rede halten ſollte, erhielt außerhalb der Halle ſo heftige<lb/> Schläge auf den Kopf, daß er ohnmächtig zu Boden fiel —<lb/> und nur mit herkuliſchen Anſtrengungen konnte er von ſeinen<lb/> Freunden wieder unter den Fußtritten ſeiner Gegner hervor-<lb/> gezogen und vor dem Zutodetrampeln bewahrt werden. Ohne<lb/> Hut und mit zerriſſenen Kleidern erreichte er unter den<lb/> Drohungen des heulend nachfolgenden Pöbels ſein Hotel.<lb/> Dort angekommen, wurde er ſofort vom Wirth aufgefordert,<lb/> das Haus zu verlaſſen und wo anders Unterkunft zu ſuchen.<lb/> Es gelang ihm, unbemerkt zu entkommen. Als der Pöbel<lb/> entdeckte, daß ihm der gehaßte Friedensapoſtel entgangen war,<lb/> zog er vor das Haus des Kaufmanns, der den Vorſitz bei<lb/><cb/> dem Meeting geführt hatte, und zerſtörte, was ſich von außen<lb/> zerſtören ließ.</p><lb/> <p>Die ſchlimmſten bisher ausgeübten Gewaltthaten fanden<lb/> dieſer Tage in <hi rendition="#g">Scarborough</hi> ſtatt. Auch hier hatte die<lb/> Südafrikaniſche Verſöhnungsliga ein Meeting veranſtaltet, bei<lb/> dem wieder Hr. Cronwright-Schreiner reden ſollte. Vor dem<lb/> Verſammlungslokal, Rowniree’s Caf<hi rendition="#aq">é</hi>, hatte ſich eine in höchſter<lb/> Aufregung befindliche Volksmenge aufgeſtellt, die ſehr bald<lb/> die großen Glasſcheiben des Caf<hi rendition="#aq">é</hi> zertrümmerte, in die Ver-<lb/> ſammlung eindrang, das Lokal in Finſterniß verſetzte und<lb/> verſchiedene der Hauptperſonen mißhandelte. Draußen ſtanden<lb/> eine Anzahl angeſehener Bürger von Scarborough und<lb/> drückten ihre Billigung aus. „Es geſchieht ihnen recht“,<lb/> ſo hörte man ein Mitglied des Stadtraths ausrufen.<lb/> Sobald die vandaliſirenden Pöbelmengen bemerkten, daß<lb/> Cronwright-Schreiner und ſeine unmittelbaren Freunde ent-<lb/> kommen waren, zogen ſie, nachdem ſie in dem Caf<hi rendition="#aq">é</hi> der<lb/> Rowntrees alles zerſchlagen hatten, nach dem Kolonialwaaren-<lb/> geſchäft derſelben Firma und richteten hier Verwüſtung an.<lb/> Damit noch nicht zufrieden, marſchirten ſie nach dem Tuch-<lb/> waarengeſchäft und weiter noch nach den Privathäuſern der<lb/> verſchiedenen Mitglieder der Familie Rowntree und ließen<lb/> hier gleichfalls ihrer Vernichtungswuth freien Lauf. Die<lb/> Polizei erwies ſich dem raſenden Mob gegenüber als völlig<lb/> machtlos. Endlich — um 1 Uhr in der Frühe — erſchien<lb/> der zweite Bürgermeiſter, der Polizeipräſident und der Stadt-<lb/> ſchreiber mit 100 Soldaten unter der tobenden Menge, aber<lb/> erſt als der Bürgermeiſter die Aufruhrakte hatte verleſen<lb/> laſſen und gewaltſames Einſchreiten androhte, ließen die Ver-<lb/> theidiger des „Rechts und der Freiheit in Südafrika“ von<lb/> ihrem Zerſtörungswerk ab. Um 2 Uhr morgens war die<lb/> Ruhe wiederhergeſtellt.</p><lb/> <p>Nun ſollte man vielleicht glauben, daß allermindeſtens<lb/> die <hi rendition="#g">radikale</hi> Preſſe für das „unveräußerliche britiſche Recht<lb/> der Redefreiheit“ eintreten und die von dem Mob im ganzen<lb/> Land an dem Verſammlungsrecht geübte Vergewaltigung aufs<lb/> ſtrengſte tadeln würde — aber darin irrt man ſich durchaus.<lb/> Schon nach den in Edinburg verübten Gewaltthätigkeiten be-<lb/> richtete das „<hi rendition="#g">Daily Chronicle</hi>“ mit Wohlgefallen, daß die<lb/> Bevölkerung der ſchottiſchen Hauptſtadt Hrn. Schreiner eine<lb/> „Lektion“ ertheilt habe. Und heute nun ſchreibt das radikale<lb/> Preßorgan in Anknüpfung an die ſchmachvollen Vorgänge in<lb/> Scarborough: „Es iſt erſt einige Tage her, ſeit wir Hrn.<lb/> Cronwright-Schreiner den Rath gaben, von ſeinem thörichten<lb/> Verſuch abzulaſſen, das engliſche Volk zur Sache der Buren zu be-<lb/> kehren. Hr. Schreiner hat unſern Rath nicht befolgt und hat in-<lb/> folgedeſſen zu einem ernſten Friedensbruch in Scarborough <hi rendition="#g">Ver-<lb/> anlaſſung</hi> gegeben. (!) Wenn Hr. Schreiner ſich weigert, durch<lb/> Erfahrung zu lernen, und darauf beſteht, gegen die faſt ein-<lb/> ſtimmige Meinung unſres Volks anzurennen, ſo hat er ſich<lb/> nur ſelbſt für die Folgen zu danken. Geſtern ward er<lb/> ſchmählich gezwungen, ſich durch eine Seitenſtraße aus Scar-<lb/> borough zu flüchten; und wir hoffen wenigſtens, daß dieſer<lb/> würdeloſe Abgang ihm für die Zukunft zur Lehre dient und<lb/> daß er aufhören wird, weitere Störungen der öffentlichen<lb/> Ruhe hervorzurufen.“ Das „Daily Chronicle“ hat offenbar<lb/> ein ſehr kurzes Gedächtniß, oder, beſſer geſagt, es paßt ihm —<lb/> und dem engliſchen Volke — nicht, ſich an das Vergangene<lb/> zu erinnern. Diejenigen, die die Friedensmeetings gewaltſam<lb/> ſprengen und den Befürwortern einer gerechten Behandlung<lb/> der Buren die Köpfe einſchlagen, brüſten ſich damit, daß ſie<lb/> als wahre Patrioten handeln. Aber die Klopffechter-Patrioten<lb/> vergeſſen, daß einer der Gründe, warum England die ſüd-<lb/> afrikaniſchen Republiken mit Krieg bedrohte, der war, daß<lb/> die Buren — angeblich — den Uitlanders von Johannesburg<lb/> nicht geſtatten wollten, öffentliche Verſammlungen abzuhalten,<lb/> die Verwaltung von Pretoria zu kritiſiren und ihre Be-<lb/> ſchwerden in beſtimmten Reſolutionen auszudrücken. Es zeugt<lb/> von einer völligen Entartung der ſittlichen und politiſchen<lb/> Begriffe, daß die Jingoes, die ſich als die Vorkämpfer für<lb/> die Rechte der Uitlanders ausgeben, genau die Gewaltmittel<lb/> anwenden, deren ſie den Präſidenten Krüger fälſchlich an-<lb/> klagten, und daß ſie nicht vor Blutvergießen und Eigenthums-<lb/> zerſtörung zurückſchrecken, um ihre eigenen engliſchen Mit-<lb/> bürger an der Ausübung des Verſammlungsrechts und der<lb/> Redefreiheit zu hindern.</p><lb/> <p>Ein Kanonikus von Durham hatte anzudeuten gewagt,<lb/> daß in dem zu Exzeſſen geneigten Patriolismus der Menge<lb/> das „alkoholiſche Element“ eine Rolle ſpielte. Darin lag<lb/> gewiſſermaßen eine Entſchuldigung für das gewaltthätige<lb/> Benehmen des Mobs. Aber ein Richter des höchſten<lb/> Gerichtshofs und der Lord-Kanzler ſelbſt fielen ſofort mit<lb/> ſcharfem Verweis über den geiſtlichen Herrn her, weil er es<lb/> gewagt hatte, zu bezweifeln, daß das engliſche Volk von<lb/> etwas anderem als dem „reinſten“ Patriotismus beſeelt ſein<lb/> könne. Wir können es dem Kanonikus und dem Lord-Kanzler<lb/> überlaſſen, ſich über das „alkoholiſche Element“ im neuzeitigen<lb/> engliſchen Patriotismus auseinanderzuſetzen. Für uns iſt es<lb/> jedenfalls klar, daß die Redefreiheit in England nur noch<lb/> ſoweit beſteht, als ſie der Volksleidenſchaft paßt und der ge-<lb/> meinen Menge ſchmeichelt.</p> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <head> <hi rendition="#b">Oeſterreich-Ungarn.</hi> </head><lb/> <div n="4"> <head>Anfang vom Ende des Kohlenarbeiterſtrikes.</head><lb/> <p>* Die Abwiegelungsaktion der Strikeführer, die Kampfes-<lb/> müdigkeit auf beiden Seiten und gewiß nicht in letzter Linie<lb/> die zunehmende Noth der Arbeiter bei gänzlicher Leere der<lb/> Strikekaſſen haben endlich eine Wendung in dem über zwei<lb/> Monate andauernden Kohlenarbeiterſtrike herbeigeführt. Das<lb/> Abwiegeln ging nicht ſo leicht und wäre vielleicht jetzt noch<lb/> gar nicht gelungen, wenn nicht eben die anderen erwähnten<lb/> Momente beſtimmend auf die Arbeiter gewirkt hätten. Dem<lb/> Strikekomitee in <hi rendition="#g">Mähriſch-Oſtrau</hi> machte man zum Vor-<lb/> wurfe, daß die Konzeſſionen, welche heute erbeten werden<lb/> müſſen, vom Teſchener Einigungsamt ſchon vor fünf Wochen<lb/> freiwillig zugeſtanden worden ſeien und daß die Fortſetzung<lb/> des Kampfes bis jetzt bei ſolchem Ergebniß eigentlich zwecklos<lb/> geweſen ſei. Das iſt jedoch nicht ganz richtig, denn bei<lb/> früherer Beilegung des Strikes wäre die parlamentariſche<lb/> Aktion zugunſten der Verkürzung der Arbeitszeit im Bergbau<lb/> gewiß bis heute nicht ſo weit gediehen, als es der Fall iſt.<lb/> Der mehrerwähnte <hi rendition="#g">Beſchluß des ſozialpolitiſchen<lb/> Ausſchuſſes</hi> des Abgeordnetenhauſes betreffend den <hi rendition="#g">Neun-<lb/> ſtundentag</hi> iſt es nun, worauf ſich die Strikeführer haupt-<lb/> ſächlich beriefen, um die Arbeiter umzuſtimmen. Zugleich<lb/> wurde geltend gemacht, daß eine Fortſetzung des Strikes auf<lb/> die parlamentariſche Aktion keinen Einfluß mehr üben könnte,<lb/> da ſich der Reichsrath bekanntlich auf zwei Monate vertagt<lb/><cb/> hat. Man ſchlug alſo den Arbeitern vor, die <hi rendition="#g">Wieder-<lb/> aufnahme der Arbeit anzubieten</hi> unter der Voraus-<lb/> ſetzung, daß alle Entlaſſungen aus der Arbeit widerrufen<lb/> würden und daß die Gewerke bei ihren früheren Zuſagen<lb/> betreffs Lohnerhöhung u. ſ. w. verharrten So etwa wird<lb/> der Hergang aus <hi rendition="#g">Mähriſch-Oſtrau</hi> und <hi rendition="#g">Teplitz</hi> berichtet,<lb/> und er wird an anderen Orten ähnlich geweſen ſein. Aus<lb/> Oſtrau liegt auch bereits die <hi rendition="#g">Antwort der Gewerke</hi> auf<lb/> das Arbeitsanerbieten vor. Sie lehnten in ihrer geſtrigen<lb/> Verſammlung einen Generalpardon ab, ſagten jedoch ihren<lb/> bisherigen Arbeitern, welche die Arbeit wieder aufnehmen,<lb/> zu, daß ſie die vor dem Teſchener Einigungsamt gemachten<lb/> Zugeſtändniſſe beir. Lohnerhöhung und Auszahlung, ſowie<lb/> beir. das Gedingeweſen, aufrecht erhalten würden. Da die<lb/> Arbeiter ſich damit einverſtanden erklärten, kann der <hi rendition="#g">Aus-<lb/> ſtand im Oſtrau-Revier</hi> mit dem heutigen Tag als<lb/><hi rendition="#g">beendet</hi> gelten. Dieſes Revier fällt aber am meiſten ins<lb/> Gewicht, da hier Mitte voriger Woche noch etwa 21,000 Mann<lb/> ſtrikten. Aus den böhmiſchen Revieren fehlen zur Stunde<lb/> noch detaillirte Nachrichten über die Antworten der Gewerke,<lb/> doch wird aus Prag vom Heutigen (Montag) telegraphirt,<lb/> daß in <hi rendition="#g">einigen böhmiſchen Gebieten nahezu voll-<lb/> zählig gearbeitet wird</hi>, in den <hi rendition="#g">andern die Lage<lb/> unverändert iſt</hi>. In <hi rendition="#g">Troppau</hi> ſei die Situation jedoch<lb/> ungeklärt, da die Antwort der Gewerke auf den verlangten<lb/> Generalpardon noch nicht eingetroffen iſt. In <hi rendition="#g">Karbitz</hi> bei<lb/> Auſſig kam es am Freitag noch einmal zu ernſteren demon-<lb/> ſtrativen Auftritten, ſonſt ſcheinen die in den letzten Tagen<lb/> allerorten abgehaltenen Maſſenverſammlungen in Ruhe ver-<lb/> laufen zu ſein.</p> </div> </div><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <head>Deutſche Obmännerkonferenz.</head><lb/> <dateline>* <hi rendition="#b">Wien,</hi> 18. März.</dateline><lb/> <p>Anläßlich der Vertagung des<lb/> Reichsraths beſchloß die <hi rendition="#g">Obmännerkonferenz</hi> der deut-<lb/> ſchen Parteien der <hi rendition="#g">Linken</hi> einſtimmig, nöthigenfalls auch<lb/> während der Pauſe der Reichsrathsverhandlungen zur Wah-<lb/> rung der nationalpolitiſchen Intereſſen und der deutſchen Ge-<lb/> meinbürgſchaft in Wien zuſammenzutreten.</p> </div><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <head>Zur Wiedervermählung der Kronprinzeſſin-Wittwe Stephanie.</head><lb/> <p>* Die geſtrige „Wiener Zeitung“ meldete: „Die Kron-<lb/> prinzeſſin-Wittwe <hi rendition="#g">Stephanie</hi> hat ſich, nachdem ſie die Zu-<lb/> ſtimmung und Einwilligung des <hi rendition="#g">Kaiſers</hi> als Allerhöchſten<lb/> Familienoberhaupts eingeholt und erhalten hat, mit dem<lb/> Grafen <hi rendition="#g">Elemer Lonyay</hi> von Nagy-Lonya und Vaſaros-<lb/> Nameny, k. und k. Kämmerer und Legationsrath a. D.,<lb/> verlobt.“ Das iſt die erſte offizielle Verlautbarung zu der<lb/> bevorſtehenden Vermählung, von der zugleich mitgetheilt<lb/> wird, daß ſie „in den nächſten Tagen“ ſtattfinden werde.<lb/> Während die Kronprinzeſſin-Wittwe bekanntlich ſchon ſeit<lb/> längeren Tagen mit ihrer Tochter, Erzherzogin Eliſabeth,<lb/> in Miramar, wo die Hochzeit vor ſich gehen ſoll, weilt, traten<lb/> in den letzten Tagen noch mannichfache Verzögerungsgründe<lb/> auf, insbeſondere die Erkrankung des nunmehr in Görz<lb/> weilenden Bräutigams an Influenza. Doch ſoll der Graf<lb/> bereits wieder leidlich hergeſtellt ſein und ſeine Abreiſe nach<lb/> Miramar wird jeden Tag erwartet. Inzwiſchen ſteht in<lb/> Trieſt ein Salonwagen bereit, in dem die Erzherzogin<lb/><hi rendition="#g">Eliſabeth</hi> die Reiſe nach Gries antreten wird, bevor Graf<lb/> Lonyay in Miramar eintrifft. Die mit dem Verehelichungs-<lb/> alt verknüpften Formalitäten dürften jetzt völlig erledigt ſein.<lb/> Nach dem ungariſchen Geſetz über die Zivilehe müſſen im Aus-<lb/> lande abzuſchließende Ehen ungariſcher Staatsbürger auch in<lb/> Ungarn aufgeboten werden, von dem Aufgebot kann allerdings<lb/> die Verwaltungsbehörde dispenſiren, und dieſelbe hat im Falle<lb/> des Grafen Lonyay von dieſer Befugniß Gebrauch gemacht.<lb/> Die Kronprinzeſſin-Wittwe ihrerſeits verzichtet auf alle mit<lb/> ihrer bisherigen Zugehörigkeit zum öſterreichiſchen Kaiſer-<lb/> haus zuſammenhängenden Rechte. Eine Renunziation hat,<lb/> wie die „N. Fr. Pr.“ mittheilt, aus dem Grunde nicht ſtatt-<lb/> gefunden, weil die Kronprinzeſſin-Wittwe kein erbberechtigtes<lb/> Mitglied des Kaiſerhauſes war und die ſtaatsrechtliche Be-<lb/> deutung der Nenunziation eben in dem Verzicht auf die<lb/> Erbberechtigung beſteht. Sie führte den Titel einer Erz-<lb/> herzogin von Oeſterreich als angeheirathetes Mitglied des<lb/> Kaiſerhauſes und verliert durch ihre Vermählung mit dem<lb/> Grafen Lonyay dieſe Eigenſchaft, den Titel einer Erzherzogin,<lb/> ſowie das Recht auf die Anrede einer kaiſerlichen und könig-<lb/> lichen Hoheit. Ob ihr die Eigenſchaft einer Prinzeſſin des<lb/> belgiſchen Königshauſes und das Recht auf den Titel<lb/> königliche Hoheit gewahrt bleibt — man vermuthet, der<lb/> Kaiſer habe ſich in dieſem Sinn beim König der Belgier<lb/> verwendet — erſcheint noch nicht ganz klargeſtellt. Ueber<lb/> die Auffaſſung und Haltung des Kaiſers ſchreibt das den<lb/> Hofkreiſen naheſtehende „Fremdenblatt“:</p><lb/> <cit> <quote>„Unſer Kaiſer, geſtählt, aber nicht verhärtet in der Schule<lb/> ſchwerſter Erfahrungen, hat ſich den offenen Sinn gewahrt für<lb/> alles Fühlen und Empfinden, und ſo finden wir ihn bereit, mit<lb/> väterlicher Güte und Würde, wenn auch gewiß mit düſteren Er-<lb/> innerungen belaſtet, der geweſenen Gemahlin des einzigen<lb/> Sohnes die Wege zu ebnen, damit ſie ſich das Glück gründen<lb/> könne, auf das ſie hofft. Nachdem Se. Majeſtät ſich mit dieſer<lb/> Wendung befreundet hatte, kommt ſein ganzes vornehmes Weſen<lb/> an den Tag in der Haltung, die er der zukünftigen Gräfin<lb/> Lonyay gegenüber beobachtet. Nicht nur materiell bleibt der<lb/> Kaiſer ihr eine Stütze, er umgibt ſie auch nach wie vor mit Be-<lb/> weiſen von Fürſorge und Neigung.“</quote> </cit><lb/> <p>Die jugendliche Erzherzogin <hi rendition="#g">Eliſabeth</hi> dürfte in Zu-<lb/> kunft der beſonderen Obhut des Monarchen unterſtehen.</p><lb/> <p>Elf Jahre ſind vergangen, ſeitdem Erzherzogin <hi rendition="#g">Stephanie</hi>,<lb/> nach der traurigen Kataſtrophe von Meyerling, den Wittwen-<lb/> ſchleier anlegte. Im Mai 1881 war ſie als 17jährige Braut<lb/> des Kronprinzen Rudolf in Wien eingezogen. Welcher Grad<lb/> von Selbſtbeſcheidung bei der hohen Frau dazu gehörte, den<lb/> glanzvollen Namen und Rang einer öſterreichiſchen Erz-<lb/> herzogin mit der Stellung als Gattin eines magyariſchen<lb/> Grafen zu vertauſchen, iſt leicht zu ermeſſen, ebenſo, welcher<lb/> Entſchlußfeſtigkeit es bedurfte, um alle äußeren Schwierig-<lb/> keiten zu überwinden, die ſich der Ausführung ihres neuen<lb/> Eheplans in den Weg ſtellten. Wo ſie den Grafen Lonyay<lb/> zuerſt kennen gelernt hat, iſt bisher der Oeffentlichkeit nicht<lb/> ſicher bekannt geworden; nach einer Lesart geſchah es in<lb/> London, wo der Graf Botſchaftsattach<hi rendition="#aq">é</hi> war, nach anderer<lb/> bei einer Vorſtellung in Laxenburg. Graf Elemer <hi rendition="#g">Lonyay</hi><lb/> gehört einem alten ungariſchen Adelsgeſchlecht an, in den<lb/> Grafenſtand iſt er jedoch erſt im Jahre 1896 erhoben<lb/> worden, nachdem ſein Oheim, der ehemalige ungariſche<lb/> Miniſterpräſident Melchior v. Lonyay, den Grafentitel bereits<lb/> 1876 erhalten hatte. Graf Elemer Lonyay, der jetzt im<lb/> 36. Lebensjahre ſteht, hat bisher wenig in Ungarn, meiſt im<lb/> Ausland gelebt; er war von Haus aus Proteſtant, iſt aber<lb/> vor einiger Zeit, um eben eine der Schwierigkeiten, die ſeiner<lb/> Vermählung entgegenſtanden, zu beſeitigen, zum Katholizismus<lb/></p> </div> </div> </body> </floatingText> </div> </body> </text> </TEI> [0009]
Dienſtag. Drittes Morgenblatt Nr. 77 der Allgemeinen Zeitung.20. März 1900.
Redefreiheit und Pöbelherrſchaft in England.
# London, 15. März.
Die Redefreiheit, deren Eng-
land ſich ſo lange als der größten ſeiner politiſchen Errungen-
ſchaften gerühmt hat, iſt zu einem Schatten zuſammengeſunken.
Der gierige, gewaltthätige, unduldſame Jingoismus, der Süd-
afrika in Flammen ſetzte, hat ſie hinweggefegt. Und was das
Schlimmſte dabei iſt, — nur wenige Leute ſcheinen in Eng-
land Scham oder Bedauern darüber zu empfinden, daß ſeit
Wochen in allen Theilen des Landes organiſirte Anſtrengungen
gemacht werden, jede freie Meinungsäußerung betreffs
des ſüdafrikaniſchen Krieges zu verhindern. Es
hat ſich in London, Sheffield, Edinburg, Glasgow, Dundee,
Newcaſtle, Gateshead, Birmingham, Scarborough und anders-
wo als vollſtändig unmöglich erwieſen, ſogenannte Frie-
densmeetings abzuhalten, ohne daß die Theilnehmer
Gefahr laufen, ihr Verſammlungslokal von einem rohen Mob
überſchwemmt zu ſehen und riskiren müſſen, perſönlich aufs bru-
talſte mißhandelt zu werden. Das Verſammlungsrecht iſt eines
der unveräußerlichen Vorrechte britiſcher Staatsbürger, aber
thatſächlich iſt dieſes Recht augenblicklich allen denjenigen ab-
geſchnitten, die mit Bezug auf die Behandlung der Buren-
republiken eine maßvolle und verſöhnliche Politik befürworten.
Obwohl es die Pflicht der Polizei iſt, alle Verſammlungen
gegen gewaliſame Unterbrechungen zu ſchützen, ſo hat ſie
gerade den Meetings der Verſöhnungspartei nur ganz unzu-
länglichen Schutz gewährt oder hat ſie ganz und gar der
Mobherrſchaft preisgegeben. Das trat hier in London bei
der in Exeter Hall abgehaltenen Verſammlung hervor, wo
die Polizeibehörden erſt auf wiederholtes Drängen des Vor-
ſitzenden eine Abtheilung von 50 Mann zuhülfe ſchickten, die
gerade nur noch zur rechten Zeit erſchienen, um die bereits
ſich flüchtenden Veranſtalter vor den Mißhandlungen eines
wüthenden Haufens von Jingoes zu bewahren. Was übrigens
an den Ruheſtörern ſelbſt als am bemerkenswertheſten be-
zeichnet werden muß, iſt der Umſtand, daß ſie keineswegs
ausſchließlich aus dem Janhagel, ſondern zum großen Theil
aus Vertretern der ſogenannten beſſeren Klaſſen beſtanden.
Aber als ſchlimmſtes Zeichen der Zeit muß es wohl betrachtet
werden, daß am Tage vorher ein Jingo-Blatt an hervor-
ragender Stelle auf die beabſichtigte Verſammlung aufmerkſam
machte und ſich nicht entblödete, anzudeuten, daß die Ver-
anſtalter „eine Lektion verdienten“. Die Folge davon war,
daß das Meeting durch einen organiſirten Angriff geſprengt
wurde.
Den im Freien abgehaltenen Verſammlungen wird kein
beſſeres Schickſal zutheil. Hören wir einmal, wie ein Jingo
die gelegentlich eines Verſöhnungsmeetings im Hyde-Park
vollbrachten Heldenthaten beſchreibt. Er meldet dem „Globe“:
„Als ich mich heute Nachmittag mit einigen Freunden im
Hyde-Park befand, ſtießen wir auf ein Meeting, das unter
dem Vorſitz eines Burenfreundes von Exeter Hall abgehalten
wurde, der Ihre Zeitung angriff, weil ſie zu gewaltſamer
Verhinderung der Verſammlung in der Exeter Hall auf-
gefordert hatte. Aber glücklicherweiſe kam er nicht lang zu
Worte, denn wir umzingelten ihn und Hunderte von uns
ſangen „Rule Britannia“ und „God save the Queen“. Er
gerieth infolgedeſſen viel ärger in die Klemme als in Exeter
Hall; er war ſogar nahe daran, in Stücke zerriſſen zu werden.
Um ſein Leben zu retten, rannte er die Oxfordſtraße hinunter,
aber ein Huſar faßte ihn beim Kragen und gab ihm den
verdienten Lohn. Schließlich befreite ihn ein Poliziſt und
führte ihn um ſeiner Sicherheit willen nach der Polizei-
ſtation in Marylebone-Lane, während die Volksmenge nach-
folgte und Nationallieder ſang. Als wir an der Polizei-
ſtation angelangt waren, ſangen wir „God save the
Queen“, und der Poliziſt, der den Mann führte, machte
ſich das Vergnügen, dieſem Burenfreund den Hut vom Kopf
zu nehmen, da er nicht „gentleman“ genug war, ihn während
des Singens der Nationalhymne ſelbſt abzunehmen. Dann
marſchirte die Menge, 1500 Mann ſtark, nach dem Hyde-
Park zurück, in der Hoffnung, noch mehr Burenfreunde vor-
zufinden, aber es waren keine mehr zu ſehen. Ich will noch
bemerken, daß dieſer Burenfreund erklärte, er werde Proteſte
an Ihre Zeitung ſchicken, aber wir ließen ihn nicht zum
Schreiben kommen, und Sie werden ſie auch nicht erhalten,
denn einer aus der Menge zerriß ſeine Papiere. Ihre
Zeitung verdient großes Lob, daß ſie auf die Verſammlung in
Exeter Hall aufmerkſam machte, ſo daß den Burenfreunden
das Spiel verdorben wurde.“ Der Schreiber dieſer Epiſtel
unterzeichnet ſich als ein „echter Engländer“. Man wird
ſich kaum recht klar darüber, wovor man im Grunde den
größeren Unwillen empfindet — ob vor der Roheit des ſo-
genannten „echten“ Engländerthums oder vor der Scham-
loſigkeit jenes Preßorgans, das das Lob, welches ihm für
ſeine Aufforderung zu Gewaltthaten gegen Andersdenkende
von dem „echten Engländer“ ertheilt wird, in ſeinen Spalten
ſelbſt verkündet.
Wie in der Hauptſtadt, ſo geht es in den Provinzſtädten,
großen wie kleinen, her. Der Bürgermeiſter von Cam-
bridge hatte einer Anzahl Studenten eine Geldſtrafe
auferlegt, weil ſie am Tage der Befreiung von Ladyſmith
die Laden von verſchiedenen Kaufläden abgeriſſen hatten, um
ein Freudenfeuer aufleuchten zu laſſen. Seitdem iſt der
Bürgermeiſter dieſer Univerſitätsſtadt beſtändiger Bedrohung
ausgeſetzt und kann nur noch unter Polizeiſchutz ausgehen.
Bei einem in Glasgow veranſtalteten Verſöhnungsmeeting
nahm der Pöbel eine ſo drohende Haltung an, daß die
Redner, nachdem die Verſammlung geſprengt war, ſich in die
nächſte Polizeiſtation flüchten mußten. Viel ärger noch ging
es bei einem Friedensmeeting in Edinburg her. Hier er-
hoben die Jingoes von vornherein einen ſolchen Lärm, daß
kein Redner zu Worte kommen konnte. Sie geberdeten ſich
wie Wahnſinnige, erſtürmten ſchließlich das Podium und zer-
ſchmetterten Stühle und Bänke auf den Köpfen der Veranſtalter
der Verſammlung. Hr. Cronwright-Schreiner, der
Bruder des Premierminiſters der Kapkolonie, der die Haupt-
rede halten ſollte, erhielt außerhalb der Halle ſo heftige
Schläge auf den Kopf, daß er ohnmächtig zu Boden fiel —
und nur mit herkuliſchen Anſtrengungen konnte er von ſeinen
Freunden wieder unter den Fußtritten ſeiner Gegner hervor-
gezogen und vor dem Zutodetrampeln bewahrt werden. Ohne
Hut und mit zerriſſenen Kleidern erreichte er unter den
Drohungen des heulend nachfolgenden Pöbels ſein Hotel.
Dort angekommen, wurde er ſofort vom Wirth aufgefordert,
das Haus zu verlaſſen und wo anders Unterkunft zu ſuchen.
Es gelang ihm, unbemerkt zu entkommen. Als der Pöbel
entdeckte, daß ihm der gehaßte Friedensapoſtel entgangen war,
zog er vor das Haus des Kaufmanns, der den Vorſitz bei
dem Meeting geführt hatte, und zerſtörte, was ſich von außen
zerſtören ließ.
Die ſchlimmſten bisher ausgeübten Gewaltthaten fanden
dieſer Tage in Scarborough ſtatt. Auch hier hatte die
Südafrikaniſche Verſöhnungsliga ein Meeting veranſtaltet, bei
dem wieder Hr. Cronwright-Schreiner reden ſollte. Vor dem
Verſammlungslokal, Rowniree’s Café, hatte ſich eine in höchſter
Aufregung befindliche Volksmenge aufgeſtellt, die ſehr bald
die großen Glasſcheiben des Café zertrümmerte, in die Ver-
ſammlung eindrang, das Lokal in Finſterniß verſetzte und
verſchiedene der Hauptperſonen mißhandelte. Draußen ſtanden
eine Anzahl angeſehener Bürger von Scarborough und
drückten ihre Billigung aus. „Es geſchieht ihnen recht“,
ſo hörte man ein Mitglied des Stadtraths ausrufen.
Sobald die vandaliſirenden Pöbelmengen bemerkten, daß
Cronwright-Schreiner und ſeine unmittelbaren Freunde ent-
kommen waren, zogen ſie, nachdem ſie in dem Café der
Rowntrees alles zerſchlagen hatten, nach dem Kolonialwaaren-
geſchäft derſelben Firma und richteten hier Verwüſtung an.
Damit noch nicht zufrieden, marſchirten ſie nach dem Tuch-
waarengeſchäft und weiter noch nach den Privathäuſern der
verſchiedenen Mitglieder der Familie Rowntree und ließen
hier gleichfalls ihrer Vernichtungswuth freien Lauf. Die
Polizei erwies ſich dem raſenden Mob gegenüber als völlig
machtlos. Endlich — um 1 Uhr in der Frühe — erſchien
der zweite Bürgermeiſter, der Polizeipräſident und der Stadt-
ſchreiber mit 100 Soldaten unter der tobenden Menge, aber
erſt als der Bürgermeiſter die Aufruhrakte hatte verleſen
laſſen und gewaltſames Einſchreiten androhte, ließen die Ver-
theidiger des „Rechts und der Freiheit in Südafrika“ von
ihrem Zerſtörungswerk ab. Um 2 Uhr morgens war die
Ruhe wiederhergeſtellt.
Nun ſollte man vielleicht glauben, daß allermindeſtens
die radikale Preſſe für das „unveräußerliche britiſche Recht
der Redefreiheit“ eintreten und die von dem Mob im ganzen
Land an dem Verſammlungsrecht geübte Vergewaltigung aufs
ſtrengſte tadeln würde — aber darin irrt man ſich durchaus.
Schon nach den in Edinburg verübten Gewaltthätigkeiten be-
richtete das „Daily Chronicle“ mit Wohlgefallen, daß die
Bevölkerung der ſchottiſchen Hauptſtadt Hrn. Schreiner eine
„Lektion“ ertheilt habe. Und heute nun ſchreibt das radikale
Preßorgan in Anknüpfung an die ſchmachvollen Vorgänge in
Scarborough: „Es iſt erſt einige Tage her, ſeit wir Hrn.
Cronwright-Schreiner den Rath gaben, von ſeinem thörichten
Verſuch abzulaſſen, das engliſche Volk zur Sache der Buren zu be-
kehren. Hr. Schreiner hat unſern Rath nicht befolgt und hat in-
folgedeſſen zu einem ernſten Friedensbruch in Scarborough Ver-
anlaſſung gegeben. (!) Wenn Hr. Schreiner ſich weigert, durch
Erfahrung zu lernen, und darauf beſteht, gegen die faſt ein-
ſtimmige Meinung unſres Volks anzurennen, ſo hat er ſich
nur ſelbſt für die Folgen zu danken. Geſtern ward er
ſchmählich gezwungen, ſich durch eine Seitenſtraße aus Scar-
borough zu flüchten; und wir hoffen wenigſtens, daß dieſer
würdeloſe Abgang ihm für die Zukunft zur Lehre dient und
daß er aufhören wird, weitere Störungen der öffentlichen
Ruhe hervorzurufen.“ Das „Daily Chronicle“ hat offenbar
ein ſehr kurzes Gedächtniß, oder, beſſer geſagt, es paßt ihm —
und dem engliſchen Volke — nicht, ſich an das Vergangene
zu erinnern. Diejenigen, die die Friedensmeetings gewaltſam
ſprengen und den Befürwortern einer gerechten Behandlung
der Buren die Köpfe einſchlagen, brüſten ſich damit, daß ſie
als wahre Patrioten handeln. Aber die Klopffechter-Patrioten
vergeſſen, daß einer der Gründe, warum England die ſüd-
afrikaniſchen Republiken mit Krieg bedrohte, der war, daß
die Buren — angeblich — den Uitlanders von Johannesburg
nicht geſtatten wollten, öffentliche Verſammlungen abzuhalten,
die Verwaltung von Pretoria zu kritiſiren und ihre Be-
ſchwerden in beſtimmten Reſolutionen auszudrücken. Es zeugt
von einer völligen Entartung der ſittlichen und politiſchen
Begriffe, daß die Jingoes, die ſich als die Vorkämpfer für
die Rechte der Uitlanders ausgeben, genau die Gewaltmittel
anwenden, deren ſie den Präſidenten Krüger fälſchlich an-
klagten, und daß ſie nicht vor Blutvergießen und Eigenthums-
zerſtörung zurückſchrecken, um ihre eigenen engliſchen Mit-
bürger an der Ausübung des Verſammlungsrechts und der
Redefreiheit zu hindern.
Ein Kanonikus von Durham hatte anzudeuten gewagt,
daß in dem zu Exzeſſen geneigten Patriolismus der Menge
das „alkoholiſche Element“ eine Rolle ſpielte. Darin lag
gewiſſermaßen eine Entſchuldigung für das gewaltthätige
Benehmen des Mobs. Aber ein Richter des höchſten
Gerichtshofs und der Lord-Kanzler ſelbſt fielen ſofort mit
ſcharfem Verweis über den geiſtlichen Herrn her, weil er es
gewagt hatte, zu bezweifeln, daß das engliſche Volk von
etwas anderem als dem „reinſten“ Patriotismus beſeelt ſein
könne. Wir können es dem Kanonikus und dem Lord-Kanzler
überlaſſen, ſich über das „alkoholiſche Element“ im neuzeitigen
engliſchen Patriotismus auseinanderzuſetzen. Für uns iſt es
jedenfalls klar, daß die Redefreiheit in England nur noch
ſoweit beſteht, als ſie der Volksleidenſchaft paßt und der ge-
meinen Menge ſchmeichelt.
Oeſterreich-Ungarn.
Anfang vom Ende des Kohlenarbeiterſtrikes.
* Die Abwiegelungsaktion der Strikeführer, die Kampfes-
müdigkeit auf beiden Seiten und gewiß nicht in letzter Linie
die zunehmende Noth der Arbeiter bei gänzlicher Leere der
Strikekaſſen haben endlich eine Wendung in dem über zwei
Monate andauernden Kohlenarbeiterſtrike herbeigeführt. Das
Abwiegeln ging nicht ſo leicht und wäre vielleicht jetzt noch
gar nicht gelungen, wenn nicht eben die anderen erwähnten
Momente beſtimmend auf die Arbeiter gewirkt hätten. Dem
Strikekomitee in Mähriſch-Oſtrau machte man zum Vor-
wurfe, daß die Konzeſſionen, welche heute erbeten werden
müſſen, vom Teſchener Einigungsamt ſchon vor fünf Wochen
freiwillig zugeſtanden worden ſeien und daß die Fortſetzung
des Kampfes bis jetzt bei ſolchem Ergebniß eigentlich zwecklos
geweſen ſei. Das iſt jedoch nicht ganz richtig, denn bei
früherer Beilegung des Strikes wäre die parlamentariſche
Aktion zugunſten der Verkürzung der Arbeitszeit im Bergbau
gewiß bis heute nicht ſo weit gediehen, als es der Fall iſt.
Der mehrerwähnte Beſchluß des ſozialpolitiſchen
Ausſchuſſes des Abgeordnetenhauſes betreffend den Neun-
ſtundentag iſt es nun, worauf ſich die Strikeführer haupt-
ſächlich beriefen, um die Arbeiter umzuſtimmen. Zugleich
wurde geltend gemacht, daß eine Fortſetzung des Strikes auf
die parlamentariſche Aktion keinen Einfluß mehr üben könnte,
da ſich der Reichsrath bekanntlich auf zwei Monate vertagt
hat. Man ſchlug alſo den Arbeitern vor, die Wieder-
aufnahme der Arbeit anzubieten unter der Voraus-
ſetzung, daß alle Entlaſſungen aus der Arbeit widerrufen
würden und daß die Gewerke bei ihren früheren Zuſagen
betreffs Lohnerhöhung u. ſ. w. verharrten So etwa wird
der Hergang aus Mähriſch-Oſtrau und Teplitz berichtet,
und er wird an anderen Orten ähnlich geweſen ſein. Aus
Oſtrau liegt auch bereits die Antwort der Gewerke auf
das Arbeitsanerbieten vor. Sie lehnten in ihrer geſtrigen
Verſammlung einen Generalpardon ab, ſagten jedoch ihren
bisherigen Arbeitern, welche die Arbeit wieder aufnehmen,
zu, daß ſie die vor dem Teſchener Einigungsamt gemachten
Zugeſtändniſſe beir. Lohnerhöhung und Auszahlung, ſowie
beir. das Gedingeweſen, aufrecht erhalten würden. Da die
Arbeiter ſich damit einverſtanden erklärten, kann der Aus-
ſtand im Oſtrau-Revier mit dem heutigen Tag als
beendet gelten. Dieſes Revier fällt aber am meiſten ins
Gewicht, da hier Mitte voriger Woche noch etwa 21,000 Mann
ſtrikten. Aus den böhmiſchen Revieren fehlen zur Stunde
noch detaillirte Nachrichten über die Antworten der Gewerke,
doch wird aus Prag vom Heutigen (Montag) telegraphirt,
daß in einigen böhmiſchen Gebieten nahezu voll-
zählig gearbeitet wird, in den andern die Lage
unverändert iſt. In Troppau ſei die Situation jedoch
ungeklärt, da die Antwort der Gewerke auf den verlangten
Generalpardon noch nicht eingetroffen iſt. In Karbitz bei
Auſſig kam es am Freitag noch einmal zu ernſteren demon-
ſtrativen Auftritten, ſonſt ſcheinen die in den letzten Tagen
allerorten abgehaltenen Maſſenverſammlungen in Ruhe ver-
laufen zu ſein.
Deutſche Obmännerkonferenz.
* Wien, 18. März.
Anläßlich der Vertagung des
Reichsraths beſchloß die Obmännerkonferenz der deut-
ſchen Parteien der Linken einſtimmig, nöthigenfalls auch
während der Pauſe der Reichsrathsverhandlungen zur Wah-
rung der nationalpolitiſchen Intereſſen und der deutſchen Ge-
meinbürgſchaft in Wien zuſammenzutreten.
Zur Wiedervermählung der Kronprinzeſſin-Wittwe Stephanie.
* Die geſtrige „Wiener Zeitung“ meldete: „Die Kron-
prinzeſſin-Wittwe Stephanie hat ſich, nachdem ſie die Zu-
ſtimmung und Einwilligung des Kaiſers als Allerhöchſten
Familienoberhaupts eingeholt und erhalten hat, mit dem
Grafen Elemer Lonyay von Nagy-Lonya und Vaſaros-
Nameny, k. und k. Kämmerer und Legationsrath a. D.,
verlobt.“ Das iſt die erſte offizielle Verlautbarung zu der
bevorſtehenden Vermählung, von der zugleich mitgetheilt
wird, daß ſie „in den nächſten Tagen“ ſtattfinden werde.
Während die Kronprinzeſſin-Wittwe bekanntlich ſchon ſeit
längeren Tagen mit ihrer Tochter, Erzherzogin Eliſabeth,
in Miramar, wo die Hochzeit vor ſich gehen ſoll, weilt, traten
in den letzten Tagen noch mannichfache Verzögerungsgründe
auf, insbeſondere die Erkrankung des nunmehr in Görz
weilenden Bräutigams an Influenza. Doch ſoll der Graf
bereits wieder leidlich hergeſtellt ſein und ſeine Abreiſe nach
Miramar wird jeden Tag erwartet. Inzwiſchen ſteht in
Trieſt ein Salonwagen bereit, in dem die Erzherzogin
Eliſabeth die Reiſe nach Gries antreten wird, bevor Graf
Lonyay in Miramar eintrifft. Die mit dem Verehelichungs-
alt verknüpften Formalitäten dürften jetzt völlig erledigt ſein.
Nach dem ungariſchen Geſetz über die Zivilehe müſſen im Aus-
lande abzuſchließende Ehen ungariſcher Staatsbürger auch in
Ungarn aufgeboten werden, von dem Aufgebot kann allerdings
die Verwaltungsbehörde dispenſiren, und dieſelbe hat im Falle
des Grafen Lonyay von dieſer Befugniß Gebrauch gemacht.
Die Kronprinzeſſin-Wittwe ihrerſeits verzichtet auf alle mit
ihrer bisherigen Zugehörigkeit zum öſterreichiſchen Kaiſer-
haus zuſammenhängenden Rechte. Eine Renunziation hat,
wie die „N. Fr. Pr.“ mittheilt, aus dem Grunde nicht ſtatt-
gefunden, weil die Kronprinzeſſin-Wittwe kein erbberechtigtes
Mitglied des Kaiſerhauſes war und die ſtaatsrechtliche Be-
deutung der Nenunziation eben in dem Verzicht auf die
Erbberechtigung beſteht. Sie führte den Titel einer Erz-
herzogin von Oeſterreich als angeheirathetes Mitglied des
Kaiſerhauſes und verliert durch ihre Vermählung mit dem
Grafen Lonyay dieſe Eigenſchaft, den Titel einer Erzherzogin,
ſowie das Recht auf die Anrede einer kaiſerlichen und könig-
lichen Hoheit. Ob ihr die Eigenſchaft einer Prinzeſſin des
belgiſchen Königshauſes und das Recht auf den Titel
königliche Hoheit gewahrt bleibt — man vermuthet, der
Kaiſer habe ſich in dieſem Sinn beim König der Belgier
verwendet — erſcheint noch nicht ganz klargeſtellt. Ueber
die Auffaſſung und Haltung des Kaiſers ſchreibt das den
Hofkreiſen naheſtehende „Fremdenblatt“:
„Unſer Kaiſer, geſtählt, aber nicht verhärtet in der Schule
ſchwerſter Erfahrungen, hat ſich den offenen Sinn gewahrt für
alles Fühlen und Empfinden, und ſo finden wir ihn bereit, mit
väterlicher Güte und Würde, wenn auch gewiß mit düſteren Er-
innerungen belaſtet, der geweſenen Gemahlin des einzigen
Sohnes die Wege zu ebnen, damit ſie ſich das Glück gründen
könne, auf das ſie hofft. Nachdem Se. Majeſtät ſich mit dieſer
Wendung befreundet hatte, kommt ſein ganzes vornehmes Weſen
an den Tag in der Haltung, die er der zukünftigen Gräfin
Lonyay gegenüber beobachtet. Nicht nur materiell bleibt der
Kaiſer ihr eine Stütze, er umgibt ſie auch nach wie vor mit Be-
weiſen von Fürſorge und Neigung.“
Die jugendliche Erzherzogin Eliſabeth dürfte in Zu-
kunft der beſonderen Obhut des Monarchen unterſtehen.
Elf Jahre ſind vergangen, ſeitdem Erzherzogin Stephanie,
nach der traurigen Kataſtrophe von Meyerling, den Wittwen-
ſchleier anlegte. Im Mai 1881 war ſie als 17jährige Braut
des Kronprinzen Rudolf in Wien eingezogen. Welcher Grad
von Selbſtbeſcheidung bei der hohen Frau dazu gehörte, den
glanzvollen Namen und Rang einer öſterreichiſchen Erz-
herzogin mit der Stellung als Gattin eines magyariſchen
Grafen zu vertauſchen, iſt leicht zu ermeſſen, ebenſo, welcher
Entſchlußfeſtigkeit es bedurfte, um alle äußeren Schwierig-
keiten zu überwinden, die ſich der Ausführung ihres neuen
Eheplans in den Weg ſtellten. Wo ſie den Grafen Lonyay
zuerſt kennen gelernt hat, iſt bisher der Oeffentlichkeit nicht
ſicher bekannt geworden; nach einer Lesart geſchah es in
London, wo der Graf Botſchaftsattaché war, nach anderer
bei einer Vorſtellung in Laxenburg. Graf Elemer Lonyay
gehört einem alten ungariſchen Adelsgeſchlecht an, in den
Grafenſtand iſt er jedoch erſt im Jahre 1896 erhoben
worden, nachdem ſein Oheim, der ehemalige ungariſche
Miniſterpräſident Melchior v. Lonyay, den Grafentitel bereits
1876 erhalten hatte. Graf Elemer Lonyay, der jetzt im
36. Lebensjahre ſteht, hat bisher wenig in Ungarn, meiſt im
Ausland gelebt; er war von Haus aus Proteſtant, iſt aber
vor einiger Zeit, um eben eine der Schwierigkeiten, die ſeiner
Vermählung entgegenſtanden, zu beſeitigen, zum Katholizismus
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(2022-02-11T12:00:00Z)
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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
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