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Allgemeine Zeitung, Nr. 78, 18. März 1848.

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[Spaltenumbruch] Fortschritte geschehen. In materieller Hinsicht rechnen wir hieher: die
Postreform, die Eisenbahnen, die Herabsetzung der Militärdienstzeit, die
erwachende Anerkennung eines industriellen Elements im Staat, die
Entwickelung der technischen Lehranstalten, die freilich noch lange nicht
vollständig durchgeführte Revision des Zolltarifs etc. und manches andere,
welches hier aufzuführen zeitraubend und zwecklos wäre. Mit der Auf-
zählung unserer Eroberungen auf dem geistigen Felde werden wir leider
schneller zu Ende kommen, doch rechnen wir hieher vorzüglich das Er-
wachen einer öffentlichen Meinung und die steigende Bedeutung und
Thätigkeit der Landstände.

Wie dem aber auch seyn mag, namhafte Fortschritte sind ge-
schehen -- viele ohne, wenige durch die Regierung -- und wir nehmen
diese wenn auch sparsame Errungenschaft freudig als Abschlagszahlung
an. Aber für die politische Entwickelung des Gesammtstaats, für die
Garantien unserer Zukunft, für die höchsten Jnteressen der Monarchie
als eines Ganzen ist nichts, gar nichts geschehen -- noch immer schwin-
det uns der Boden zusehends unter den Füßen -- noch immer werfen wir
denselben angstvollen Blick in die Zukunft und stehen taumelnd an dem
Rande desselben Abgrunds.

Wir erkennen vollkommen die heilsamen Resultate mancher mate-
riellen Verbesserung welche diese letzte Zeit ins Leben gerufen hat --
wir halten namentlich den Einfluß der Eisenbahnen auf unsern geistigen
und nationalökonomischen Aufschwung für groß, für unberechenbar --
ebenso erkennen wir mit Dank die weise Fürsorge des Beschlusses welcher
den Actienschwindel, den verderblichen Begleiter so großartiger Unter-
nehmungen in andern Staaten, von uns fernhielt -- freilich aber auch
die Vollendung des Netzes verzögerte welche uns der gehofften Wirkungen
im vollen Maße theilhaftig machen soll -- wir stellen den sichtlichen Auf-
schwung unserer Industrie nicht in Abrede, obwohl diese noch lange das
nicht ist was sie seyn könnte, was sie in andern Staaten unter weit un-
günstigern Verhältnissen geworden ist -- wir wollen auch gerne zugeben
daß die erste und wichtigste unserer Erwerbsquellen, die Landwirthschaft,
sich in manchen Provinzen merklich gehoben habe, obwohl sie selbst dort
einen Vergleich mit dem übrigen Deutschland noch lange nicht aushalten
dürfte. Wollte Gott daß wir den Lobrednern des Bestehenden noch
mehr und unbedingtere Zugeständnisse machen könnten! Aber wir leiden
noch immer und mehr als je an jener trostlosen Halbheit und Unsicher-
heit aller unserer Zustände welche uns zu keinem heilsamen Entschluß
kommen läßt -- noch immer und mehr als jemals erstickt eine stagnirende
und doch an Zahl täglich wachsende Bureaukratie jede selbständige Regung
im Staat -- noch immer schleppen wir unsere Finanzen zwischen kümmer-
lichen Ersparnissen und fortdauernden Anleihen mühsam fort -- mit je-
dem Jahr bröckelt der Cement weiter ab welcher bisher die Provinzen
Eines Staats zusammenhielt -- mit jedem Jahr erweitert sich der un-
heilvolle Riß und das weit unheilbringendere Mißtrauen.

Wir fragen laut und zuversichtlich: wer in Oesterreich, wer vom
Thron herab bis in die niedrigste Hütte nährt nicht im Innersten seiner
Seele die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, der eminenten Noth-
wendigkeit einer durchgreifenden Systemsänderung? Gibt es in den weiten
Ländern welche dem Scepter des Kaisers huldigen nur Einen Glücklichen
der sich gegenwärtig noch in die beruhigende Erwartung einlullen kann
daß die gepriesene österreichische Stabilität noch zwanzig, ja noch zehn
Jahre Bestand vor sich habe? Jn den Palästen der Großen wie in der
Hofburg des Kaisers, in den Kanzleien der Beamten wie auf den Straßen
und Plätzen der Städte und Dörfer wird man nur Eine Antwort auf
diese Frage finden. Die Revolution der Geister ist vollbracht -- der
alte felsenfeste Glaube verschwunden -- und ohne diesen bewegt man
keine Berge mehr.

Und diesem allgemeinen Abfall der öffentlichen Meinung gegenüber
sieht eine leider nur zu mächtige Partei in der Angst ihres Herzens Ge-
spenster am hellen Tage -- untergräbt in übelverstandener Politik den
Zusammenhang zwischen den einzelnen Provinzen der Monarchie, ihr
einziges und sicherstes Palladium, stachelt die Nationalitäten eine gegen
die andere auf und gibt ihnen selbst die Waffen in die Hand, deren ganze
Bedeutung sie nicht ahnt -- versucht es bald sich auf diese Seite zu stützen
bald auf jene, und findet nirgends Vertrauen.

Wo ist die innere Kraft welche allein Vertrauen, Achtung oder
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ziehung in letzter Zeit gemacht? Wo ist die Macht und Stellung nach
außen eines Staats von achtunddreißig Millionen Menschen würdig,
und geeignet den gerechten Nationalstolz des Oesterreichers zu befrie-
[Spaltenumbruch] digen? Auf welcher Stufe steht die Wissenschaft, die Bildung, die
Jntelligenz in unserm Vaterlande? Was ist mit den Talenten geschehen
die der Herr euch anvertraute? Habt ihr sie wuchern lassen wie es eure
Pflicht und euer Vortheil gebot? Wie steht es um die alten, heiligen,
verbriesten Rechte des Volks? Was ist mit dem Recht der Selbstbe-
steuerung, der Selbstregierung (Self-Government) geschehen? Kurz,
wo ist eine Stütze, wo eine historische, rechtliche oder factische Basis des
gegenwärtigen Systems? Wir suchen vergebens nach einer solchen und
finden weder Kraft noch Recht.

Daher säumen wir nicht länger es offen auszusprechen: so wie es
jetzt ist kann es nicht bleiben -- soll es auch nicht, denn nur im Fort-
schritt liegt das Leben, Stillstand aber ist Tod. Klar und offen liegt
der Weg vor uns welcher uns in das Land der Verheißung führen soll --
nicht durch das rothe Meer einer Revolution, sondern auf dem friedlichen
Wege einer stufenweisen aber durchgreifenden Reform -- es müßte uns
denn der Herr mit Blindheit schlagen daß wir die uralte Panacee nicht
erkennten, die ewige Trias jeder wohlgeordneten Staatsverfassung:
Aristokratie, Intelligenz und Municipalfreiheit."
Aus Paris.

Sonderbar ist die Lage des französischen
Militärs. Wenn Ludwig Philipp nicht ganz und durchaus den Kopf
verloren hätte, wenn er während der Stunden seiner politischen Agonie,
seines moralischen Elends nur den Kopf der Marie Amalie auf seinen
Schultern empfunden hätte, wer kann sagen was geschehen wäre? Mit
einem starken Truppencorps unter dem Oberbefehl des Marschalls Bu-
geaud hätte er sich aus Paris ziehen, ein Heer und einen starken An-
hang um sich schaaren können. Oder die Desorganisation des Heeres
wäre nicht erfolgt zu Paris, denn diese Desorganisation war die Folge
tausend sich durchkreuzender Befehle. Diese Befehle schwirrten verwir-
rend wie die Pfeile in der Luft, und mußten den höchsten Verdruß der
Obersten und Hauptleute erregen. Ein Befehl löschte den andern aus,
und so ging alles in Tumult auf. Der Untergang dieser Dynastie, es
ist bitter zu sagen, war kopf- und rathloser sogar als der Untergang
der älteren Linie. Gab es denn keinen einzigen Mann in dem Hause
Orleans? Waren die entfernten Prinzen gerade die entschlosseneren?
Der Herzog von Nemours wenigstens hat als Ex-Regent treu an der
Wittwe des Herzogs von Orleans, der ernannten Regentin, gehalten.
Beim Sturm und Einbruch des Volkes in der Deputirtenkammer ver-
dankte er seine Rettung einigen Mitgliedern der Nationalgarde und ei-
nigen wenigen sich um ihn schaarenden Deputirten. Sie entkleideten
ihn gewissermaßen in der Kammer selber, dicht um ihn sich drängend,
und warfen ihm einen andern Anzug um. So entkam er, verborgen
eine Zeitlang hinter einem Steinhaufen. Mit höchster Noth wurde
die Herzogin von Orleans durch einige Deputirte der Opposition aus
dem Getümmel gerettet; der kleine Graf von Paris kam in Gefahr in
der Masse erdrückt zu werden; man rettete ihn indem man ihn über die
Köpfe hinweghob und von Arm zu Arm reichte. Es war eine furcht-
bare Scene. Der Herzog von Montpensier hatte so ganz den Kopf ver-
loren daß er seine Frau fahren ließ, die, an spanische Scenen gewöhnt,
viel persönliche Unerschrockenheit beurkundet hat. Was seyn soll geschieht
doch, aber es geschieht oft unter andern Verhältnissen und noch größern
Umschweifen. Ich zweifle nicht an dem endlichen Sieg den die arbei-
tenden Volksmassen über die Bürgerclasse davongetragen hätten, und
wäre auch das Haus Orleans auf dem Thron geblieben; aber es wäre
anders erfolgt. Eine militärische Macht hätte sich ausgebildet, nicht als
herrschende wie unter Napoleon, aber als eine Macht mit der es dem
Hause Orleans hätte gelingen können in die spanischen und italienischen
Angelegenheiten einzugreifen, wahrscheinlich in Opposition mit Eng-
land, aber in irgendeinem Bündniß mit den italienischen Mächten zur
Vermittlung in Betreff Oesterreichs. Das ist alles in den Wind auf-
gegangen, und nun steht das Heer da in der sonderbarsten Lage in wel-
cher sich jemals zu der Masse der Bevölkerung ein Heer besunden hat.
1830 ging ein Theil des Heeres zur Bürgerclasse über, welche die Re-
volution von 1830 bewirkt hatte. Mit Ausnahme der Garde war das Heer
nie eigentlich für die ältere Linie gewesen, die Demüthigung von 1814
war noch zu tief empfunden. Man kann nicht sagen daß das Heer in
den Straßen von Paris unterlegen sey, es hat sich nicht geschlagen, es
ist entwaffnet worden; nur die Municipalgarde hat sich geschlagen, und
ist wörtlich zerhauen worden. Man kann aber auch nicht sagen daß das

[Spaltenumbruch] Fortſchritte geſchehen. In materieller Hinſicht rechnen wir hieher: die
Poſtreform, die Eiſenbahnen, die Herabſetzung der Militärdienſtzeit, die
erwachende Anerkennung eines induſtriellen Elements im Staat, die
Entwickelung der techniſchen Lehranſtalten, die freilich noch lange nicht
vollſtändig durchgeführte Reviſion des Zolltarifs ꝛc. und manches andere,
welches hier aufzuführen zeitraubend und zwecklos wäre. Mit der Auf-
zählung unſerer Eroberungen auf dem geiſtigen Felde werden wir leider
ſchneller zu Ende kommen, doch rechnen wir hieher vorzüglich das Er-
wachen einer öffentlichen Meinung und die ſteigende Bedeutung und
Thätigkeit der Landſtände.

Wie dem aber auch ſeyn mag, namhafte Fortſchritte ſind ge-
ſchehen — viele ohne, wenige durch die Regierung — und wir nehmen
dieſe wenn auch ſparſame Errungenſchaft freudig als Abſchlagszahlung
an. Aber für die politiſche Entwickelung des Geſammtſtaats, für die
Garantien unſerer Zukunft, für die höchſten Jntereſſen der Monarchie
als eines Ganzen iſt nichts, gar nichts geſchehen — noch immer ſchwin-
det uns der Boden zuſehends unter den Füßen — noch immer werfen wir
denſelben angſtvollen Blick in die Zukunft und ſtehen taumelnd an dem
Rande desſelben Abgrunds.

Wir erkennen vollkommen die heilſamen Reſultate mancher mate-
riellen Verbeſſerung welche dieſe letzte Zeit ins Leben gerufen hat —
wir halten namentlich den Einfluß der Eiſenbahnen auf unſern geiſtigen
und nationalökonomiſchen Aufſchwung für groß, für unberechenbar —
ebenſo erkennen wir mit Dank die weiſe Fürſorge des Beſchluſſes welcher
den Actienſchwindel, den verderblichen Begleiter ſo großartiger Unter-
nehmungen in andern Staaten, von uns fernhielt — freilich aber auch
die Vollendung des Netzes verzögerte welche uns der gehofften Wirkungen
im vollen Maße theilhaftig machen ſoll — wir ſtellen den ſichtlichen Auf-
ſchwung unſerer Induſtrie nicht in Abrede, obwohl dieſe noch lange das
nicht iſt was ſie ſeyn könnte, was ſie in andern Staaten unter weit un-
günſtigern Verhältniſſen geworden iſt — wir wollen auch gerne zugeben
daß die erſte und wichtigſte unſerer Erwerbsquellen, die Landwirthſchaft,
ſich in manchen Provinzen merklich gehoben habe, obwohl ſie ſelbſt dort
einen Vergleich mit dem übrigen Deutſchland noch lange nicht aushalten
dürfte. Wollte Gott daß wir den Lobrednern des Beſtehenden noch
mehr und unbedingtere Zugeſtändniſſe machen könnten! Aber wir leiden
noch immer und mehr als je an jener troſtloſen Halbheit und Unſicher-
heit aller unſerer Zuſtände welche uns zu keinem heilſamen Entſchluß
kommen läßt — noch immer und mehr als jemals erſtickt eine ſtagnirende
und doch an Zahl täglich wachſende Bureaukratie jede ſelbſtändige Regung
im Staat — noch immer ſchleppen wir unſere Finanzen zwiſchen kümmer-
lichen Erſparniſſen und fortdauernden Anleihen mühſam fort — mit je-
dem Jahr bröckelt der Cement weiter ab welcher bisher die Provinzen
Eines Staats zuſammenhielt — mit jedem Jahr erweitert ſich der un-
heilvolle Riß und das weit unheilbringendere Mißtrauen.

Wir fragen laut und zuverſichtlich: wer in Oeſterreich, wer vom
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Seele die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, der eminenten Noth-
wendigkeit einer durchgreifenden Syſtemsänderung? Gibt es in den weiten
Ländern welche dem Scepter des Kaiſers huldigen nur Einen Glücklichen
der ſich gegenwärtig noch in die beruhigende Erwartung einlullen kann
daß die geprieſene öſterreichiſche Stabilität noch zwanzig, ja noch zehn
Jahre Beſtand vor ſich habe? Jn den Paläſten der Großen wie in der
Hofburg des Kaiſers, in den Kanzleien der Beamten wie auf den Straßen
und Plätzen der Städte und Dörfer wird man nur Eine Antwort auf
dieſe Frage finden. Die Revolution der Geiſter iſt vollbracht — der
alte felſenfeſte Glaube verſchwunden — und ohne dieſen bewegt man
keine Berge mehr.

Und dieſem allgemeinen Abfall der öffentlichen Meinung gegenüber
ſieht eine leider nur zu mächtige Partei in der Angſt ihres Herzens Ge-
ſpenſter am hellen Tage — untergräbt in übelverſtandener Politik den
Zuſammenhang zwiſchen den einzelnen Provinzen der Monarchie, ihr
einziges und ſicherſtes Palladium, ſtachelt die Nationalitäten eine gegen
die andere auf und gibt ihnen ſelbſt die Waffen in die Hand, deren ganze
Bedeutung ſie nicht ahnt — verſucht es bald ſich auf dieſe Seite zu ſtützen
bald auf jene, und findet nirgends Vertrauen.

Wo iſt die innere Kraft welche allein Vertrauen, Achtung oder
Furcht erwecken kann? Welche Erfahrungen haben wir in dieſer Be-
ziehung in letzter Zeit gemacht? Wo iſt die Macht und Stellung nach
außen eines Staats von achtunddreißig Millionen Menſchen würdig,
und geeignet den gerechten Nationalſtolz des Oeſterreichers zu befrie-
[Spaltenumbruch] digen? Auf welcher Stufe ſteht die Wiſſenſchaft, die Bildung, die
Jntelligenz in unſerm Vaterlande? Was iſt mit den Talenten geſchehen
die der Herr euch anvertraute? Habt ihr ſie wuchern laſſen wie es eure
Pflicht und euer Vortheil gebot? Wie ſteht es um die alten, heiligen,
verbrieſten Rechte des Volks? Was iſt mit dem Recht der Selbſtbe-
ſteuerung, der Selbſtregierung (Self-Government) geſchehen? Kurz,
wo iſt eine Stütze, wo eine hiſtoriſche, rechtliche oder factiſche Baſis des
gegenwärtigen Syſtems? Wir ſuchen vergebens nach einer ſolchen und
finden weder Kraft noch Recht.

Daher ſäumen wir nicht länger es offen auszuſprechen: ſo wie es
jetzt iſt kann es nicht bleiben — ſoll es auch nicht, denn nur im Fort-
ſchritt liegt das Leben, Stillſtand aber iſt Tod. Klar und offen liegt
der Weg vor uns welcher uns in das Land der Verheißung führen ſoll —
nicht durch das rothe Meer einer Revolution, ſondern auf dem friedlichen
Wege einer ſtufenweiſen aber durchgreifenden Reform — es müßte uns
denn der Herr mit Blindheit ſchlagen daß wir die uralte Panacee nicht
erkennten, die ewige Trias jeder wohlgeordneten Staatsverfaſſung:
Ariſtokratie, Intelligenz und Municipalfreiheit.“
Aus Paris.

Sonderbar iſt die Lage des franzöſiſchen
Militärs. Wenn Ludwig Philipp nicht ganz und durchaus den Kopf
verloren hätte, wenn er während der Stunden ſeiner politiſchen Agonie,
ſeines moraliſchen Elends nur den Kopf der Marie Amalie auf ſeinen
Schultern empfunden hätte, wer kann ſagen was geſchehen wäre? Mit
einem ſtarken Truppencorps unter dem Oberbefehl des Marſchalls Bu-
geaud hätte er ſich aus Paris ziehen, ein Heer und einen ſtarken An-
hang um ſich ſchaaren können. Oder die Desorganiſation des Heeres
wäre nicht erfolgt zu Paris, denn dieſe Desorganiſation war die Folge
tauſend ſich durchkreuzender Befehle. Dieſe Befehle ſchwirrten verwir-
rend wie die Pfeile in der Luft, und mußten den höchſten Verdruß der
Oberſten und Hauptleute erregen. Ein Befehl löſchte den andern aus,
und ſo ging alles in Tumult auf. Der Untergang dieſer Dynaſtie, es
iſt bitter zu ſagen, war kopf- und rathloſer ſogar als der Untergang
der älteren Linie. Gab es denn keinen einzigen Mann in dem Hauſe
Orleans? Waren die entfernten Prinzen gerade die entſchloſſeneren?
Der Herzog von Nemours wenigſtens hat als Ex-Regent treu an der
Wittwe des Herzogs von Orleans, der ernannten Regentin, gehalten.
Beim Sturm und Einbruch des Volkes in der Deputirtenkammer ver-
dankte er ſeine Rettung einigen Mitgliedern der Nationalgarde und ei-
nigen wenigen ſich um ihn ſchaarenden Deputirten. Sie entkleideten
ihn gewiſſermaßen in der Kammer ſelber, dicht um ihn ſich drängend,
und warfen ihm einen andern Anzug um. So entkam er, verborgen
eine Zeitlang hinter einem Steinhaufen. Mit höchſter Noth wurde
die Herzogin von Orleans durch einige Deputirte der Oppoſition aus
dem Getümmel gerettet; der kleine Graf von Paris kam in Gefahr in
der Maſſe erdrückt zu werden; man rettete ihn indem man ihn über die
Köpfe hinweghob und von Arm zu Arm reichte. Es war eine furcht-
bare Scene. Der Herzog von Montpenſier hatte ſo ganz den Kopf ver-
loren daß er ſeine Frau fahren ließ, die, an ſpaniſche Scenen gewöhnt,
viel perſönliche Unerſchrockenheit beurkundet hat. Was ſeyn ſoll geſchieht
doch, aber es geſchieht oft unter andern Verhältniſſen und noch größern
Umſchweifen. Ich zweifle nicht an dem endlichen Sieg den die arbei-
tenden Volksmaſſen über die Bürgerclaſſe davongetragen hätten, und
wäre auch das Haus Orleans auf dem Thron geblieben; aber es wäre
anders erfolgt. Eine militäriſche Macht hätte ſich ausgebildet, nicht als
herrſchende wie unter Napoleon, aber als eine Macht mit der es dem
Hauſe Orleans hätte gelingen können in die ſpaniſchen und italieniſchen
Angelegenheiten einzugreifen, wahrſcheinlich in Oppoſition mit Eng-
land, aber in irgendeinem Bündniß mit den italieniſchen Mächten zur
Vermittlung in Betreff Oeſterreichs. Das iſt alles in den Wind auf-
gegangen, und nun ſteht das Heer da in der ſonderbarſten Lage in wel-
cher ſich jemals zu der Maſſe der Bevölkerung ein Heer beſunden hat.
1830 ging ein Theil des Heeres zur Bürgerclaſſe über, welche die Re-
volution von 1830 bewirkt hatte. Mit Ausnahme der Garde war das Heer
nie eigentlich für die ältere Linie geweſen, die Demüthigung von 1814
war noch zu tief empfunden. Man kann nicht ſagen daß das Heer in
den Straßen von Paris unterlegen ſey, es hat ſich nicht geſchlagen, es
iſt entwaffnet worden; nur die Municipalgarde hat ſich geſchlagen, und
iſt wörtlich zerhauen worden. Man kann aber auch nicht ſagen daß das

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[[1244]/0012] Fortſchritte geſchehen. In materieller Hinſicht rechnen wir hieher: die Poſtreform, die Eiſenbahnen, die Herabſetzung der Militärdienſtzeit, die erwachende Anerkennung eines induſtriellen Elements im Staat, die Entwickelung der techniſchen Lehranſtalten, die freilich noch lange nicht vollſtändig durchgeführte Reviſion des Zolltarifs ꝛc. und manches andere, welches hier aufzuführen zeitraubend und zwecklos wäre. Mit der Auf- zählung unſerer Eroberungen auf dem geiſtigen Felde werden wir leider ſchneller zu Ende kommen, doch rechnen wir hieher vorzüglich das Er- wachen einer öffentlichen Meinung und die ſteigende Bedeutung und Thätigkeit der Landſtände. Wie dem aber auch ſeyn mag, namhafte Fortſchritte ſind ge- ſchehen — viele ohne, wenige durch die Regierung — und wir nehmen dieſe wenn auch ſparſame Errungenſchaft freudig als Abſchlagszahlung an. Aber für die politiſche Entwickelung des Geſammtſtaats, für die Garantien unſerer Zukunft, für die höchſten Jntereſſen der Monarchie als eines Ganzen iſt nichts, gar nichts geſchehen — noch immer ſchwin- det uns der Boden zuſehends unter den Füßen — noch immer werfen wir denſelben angſtvollen Blick in die Zukunft und ſtehen taumelnd an dem Rande desſelben Abgrunds. Wir erkennen vollkommen die heilſamen Reſultate mancher mate- riellen Verbeſſerung welche dieſe letzte Zeit ins Leben gerufen hat — wir halten namentlich den Einfluß der Eiſenbahnen auf unſern geiſtigen und nationalökonomiſchen Aufſchwung für groß, für unberechenbar — ebenſo erkennen wir mit Dank die weiſe Fürſorge des Beſchluſſes welcher den Actienſchwindel, den verderblichen Begleiter ſo großartiger Unter- nehmungen in andern Staaten, von uns fernhielt — freilich aber auch die Vollendung des Netzes verzögerte welche uns der gehofften Wirkungen im vollen Maße theilhaftig machen ſoll — wir ſtellen den ſichtlichen Auf- ſchwung unſerer Induſtrie nicht in Abrede, obwohl dieſe noch lange das nicht iſt was ſie ſeyn könnte, was ſie in andern Staaten unter weit un- günſtigern Verhältniſſen geworden iſt — wir wollen auch gerne zugeben daß die erſte und wichtigſte unſerer Erwerbsquellen, die Landwirthſchaft, ſich in manchen Provinzen merklich gehoben habe, obwohl ſie ſelbſt dort einen Vergleich mit dem übrigen Deutſchland noch lange nicht aushalten dürfte. Wollte Gott daß wir den Lobrednern des Beſtehenden noch mehr und unbedingtere Zugeſtändniſſe machen könnten! Aber wir leiden noch immer und mehr als je an jener troſtloſen Halbheit und Unſicher- heit aller unſerer Zuſtände welche uns zu keinem heilſamen Entſchluß kommen läßt — noch immer und mehr als jemals erſtickt eine ſtagnirende und doch an Zahl täglich wachſende Bureaukratie jede ſelbſtändige Regung im Staat — noch immer ſchleppen wir unſere Finanzen zwiſchen kümmer- lichen Erſparniſſen und fortdauernden Anleihen mühſam fort — mit je- dem Jahr bröckelt der Cement weiter ab welcher bisher die Provinzen Eines Staats zuſammenhielt — mit jedem Jahr erweitert ſich der un- heilvolle Riß und das weit unheilbringendere Mißtrauen. Wir fragen laut und zuverſichtlich: wer in Oeſterreich, wer vom Thron herab bis in die niedrigſte Hütte nährt nicht im Innerſten ſeiner Seele die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, der eminenten Noth- wendigkeit einer durchgreifenden Syſtemsänderung? Gibt es in den weiten Ländern welche dem Scepter des Kaiſers huldigen nur Einen Glücklichen der ſich gegenwärtig noch in die beruhigende Erwartung einlullen kann daß die geprieſene öſterreichiſche Stabilität noch zwanzig, ja noch zehn Jahre Beſtand vor ſich habe? Jn den Paläſten der Großen wie in der Hofburg des Kaiſers, in den Kanzleien der Beamten wie auf den Straßen und Plätzen der Städte und Dörfer wird man nur Eine Antwort auf dieſe Frage finden. Die Revolution der Geiſter iſt vollbracht — der alte felſenfeſte Glaube verſchwunden — und ohne dieſen bewegt man keine Berge mehr. Und dieſem allgemeinen Abfall der öffentlichen Meinung gegenüber ſieht eine leider nur zu mächtige Partei in der Angſt ihres Herzens Ge- ſpenſter am hellen Tage — untergräbt in übelverſtandener Politik den Zuſammenhang zwiſchen den einzelnen Provinzen der Monarchie, ihr einziges und ſicherſtes Palladium, ſtachelt die Nationalitäten eine gegen die andere auf und gibt ihnen ſelbſt die Waffen in die Hand, deren ganze Bedeutung ſie nicht ahnt — verſucht es bald ſich auf dieſe Seite zu ſtützen bald auf jene, und findet nirgends Vertrauen. Wo iſt die innere Kraft welche allein Vertrauen, Achtung oder Furcht erwecken kann? Welche Erfahrungen haben wir in dieſer Be- ziehung in letzter Zeit gemacht? Wo iſt die Macht und Stellung nach außen eines Staats von achtunddreißig Millionen Menſchen würdig, und geeignet den gerechten Nationalſtolz des Oeſterreichers zu befrie- digen? Auf welcher Stufe ſteht die Wiſſenſchaft, die Bildung, die Jntelligenz in unſerm Vaterlande? Was iſt mit den Talenten geſchehen die der Herr euch anvertraute? Habt ihr ſie wuchern laſſen wie es eure Pflicht und euer Vortheil gebot? Wie ſteht es um die alten, heiligen, verbrieſten Rechte des Volks? Was iſt mit dem Recht der Selbſtbe- ſteuerung, der Selbſtregierung (Self-Government) geſchehen? Kurz, wo iſt eine Stütze, wo eine hiſtoriſche, rechtliche oder factiſche Baſis des gegenwärtigen Syſtems? Wir ſuchen vergebens nach einer ſolchen und finden weder Kraft noch Recht. Daher ſäumen wir nicht länger es offen auszuſprechen: ſo wie es jetzt iſt kann es nicht bleiben — ſoll es auch nicht, denn nur im Fort- ſchritt liegt das Leben, Stillſtand aber iſt Tod. Klar und offen liegt der Weg vor uns welcher uns in das Land der Verheißung führen ſoll — nicht durch das rothe Meer einer Revolution, ſondern auf dem friedlichen Wege einer ſtufenweiſen aber durchgreifenden Reform — es müßte uns denn der Herr mit Blindheit ſchlagen daß wir die uralte Panacee nicht erkennten, die ewige Trias jeder wohlgeordneten Staatsverfaſſung: Ariſtokratie, Intelligenz und Municipalfreiheit.“ Aus Paris. ♀ Paris, 10 März. Sonderbar iſt die Lage des franzöſiſchen Militärs. Wenn Ludwig Philipp nicht ganz und durchaus den Kopf verloren hätte, wenn er während der Stunden ſeiner politiſchen Agonie, ſeines moraliſchen Elends nur den Kopf der Marie Amalie auf ſeinen Schultern empfunden hätte, wer kann ſagen was geſchehen wäre? Mit einem ſtarken Truppencorps unter dem Oberbefehl des Marſchalls Bu- geaud hätte er ſich aus Paris ziehen, ein Heer und einen ſtarken An- hang um ſich ſchaaren können. Oder die Desorganiſation des Heeres wäre nicht erfolgt zu Paris, denn dieſe Desorganiſation war die Folge tauſend ſich durchkreuzender Befehle. Dieſe Befehle ſchwirrten verwir- rend wie die Pfeile in der Luft, und mußten den höchſten Verdruß der Oberſten und Hauptleute erregen. Ein Befehl löſchte den andern aus, und ſo ging alles in Tumult auf. Der Untergang dieſer Dynaſtie, es iſt bitter zu ſagen, war kopf- und rathloſer ſogar als der Untergang der älteren Linie. Gab es denn keinen einzigen Mann in dem Hauſe Orleans? Waren die entfernten Prinzen gerade die entſchloſſeneren? Der Herzog von Nemours wenigſtens hat als Ex-Regent treu an der Wittwe des Herzogs von Orleans, der ernannten Regentin, gehalten. Beim Sturm und Einbruch des Volkes in der Deputirtenkammer ver- dankte er ſeine Rettung einigen Mitgliedern der Nationalgarde und ei- nigen wenigen ſich um ihn ſchaarenden Deputirten. Sie entkleideten ihn gewiſſermaßen in der Kammer ſelber, dicht um ihn ſich drängend, und warfen ihm einen andern Anzug um. So entkam er, verborgen eine Zeitlang hinter einem Steinhaufen. Mit höchſter Noth wurde die Herzogin von Orleans durch einige Deputirte der Oppoſition aus dem Getümmel gerettet; der kleine Graf von Paris kam in Gefahr in der Maſſe erdrückt zu werden; man rettete ihn indem man ihn über die Köpfe hinweghob und von Arm zu Arm reichte. Es war eine furcht- bare Scene. Der Herzog von Montpenſier hatte ſo ganz den Kopf ver- loren daß er ſeine Frau fahren ließ, die, an ſpaniſche Scenen gewöhnt, viel perſönliche Unerſchrockenheit beurkundet hat. Was ſeyn ſoll geſchieht doch, aber es geſchieht oft unter andern Verhältniſſen und noch größern Umſchweifen. Ich zweifle nicht an dem endlichen Sieg den die arbei- tenden Volksmaſſen über die Bürgerclaſſe davongetragen hätten, und wäre auch das Haus Orleans auf dem Thron geblieben; aber es wäre anders erfolgt. Eine militäriſche Macht hätte ſich ausgebildet, nicht als herrſchende wie unter Napoleon, aber als eine Macht mit der es dem Hauſe Orleans hätte gelingen können in die ſpaniſchen und italieniſchen Angelegenheiten einzugreifen, wahrſcheinlich in Oppoſition mit Eng- land, aber in irgendeinem Bündniß mit den italieniſchen Mächten zur Vermittlung in Betreff Oeſterreichs. Das iſt alles in den Wind auf- gegangen, und nun ſteht das Heer da in der ſonderbarſten Lage in wel- cher ſich jemals zu der Maſſe der Bevölkerung ein Heer beſunden hat. 1830 ging ein Theil des Heeres zur Bürgerclaſſe über, welche die Re- volution von 1830 bewirkt hatte. Mit Ausnahme der Garde war das Heer nie eigentlich für die ältere Linie geweſen, die Demüthigung von 1814 war noch zu tief empfunden. Man kann nicht ſagen daß das Heer in den Straßen von Paris unterlegen ſey, es hat ſich nicht geſchlagen, es iſt entwaffnet worden; nur die Municipalgarde hat ſich geſchlagen, und iſt wörtlich zerhauen worden. Man kann aber auch nicht ſagen daß das

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-04-08T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.




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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 78, 18. März 1848, S. [1244]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine78_1848/12>, abgerufen am 21.11.2024.