Allgemeine Zeitung, Nr. 87, 27. März 1848.[Spaltenumbruch]
umgeben die geistig ihnen nicht gleich, politisch nicht über ihnen stan- Da die antike Staatsliebe dem deutschen Blut von Grund aus Was die eigentlichen politischen Parteien betrifft -- so ist der Aus Wien. Jupiter Wien, 22 März. Die großen und erfreulichen Ereignisse *) Bezeichnet die Tage in denen der Auffatz uns zugekommen.
[Spaltenumbruch]
umgeben die geiſtig ihnen nicht gleich, politiſch nicht über ihnen ſtan- Da die antike Staatsliebe dem deutſchen Blut von Grund aus Was die eigentlichen politiſchen Parteien betrifft — ſo iſt der Aus Wien. ♃ Wien, 22 März. Die großen und erfreulichen Ereigniſſe *) Bezeichnet die Tage in denen der Auffatz uns zugekommen.
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Da es näm-<lb/> lich zur Zeit ihres Aufkommens in Deutſchland ſchon zu ſpät war ſich<lb/> in der kaiſerlichen Gewalt der Geſammtnation zu verkörpern, ſo ver-<lb/> ſuchte ſie ſich nur an der Landeshoheit der Reichsfürſten, und ward die<lb/> Seele, der Keim der Größe des Territorialweſens. Mit rückſichtsloſer<lb/> Conſequenz und ſchlecht belohntem Eifer leiſteten die Gelehrten und<lb/> Staatstheoretiker hierbei große Dienſte. Ganz nach dem Muſter antiker<lb/> Republiken bauten ſie ihre abſtracte Staatsgewalt auf und dotirten ſie<lb/> mit allen erdenklichen Rechten, unbekümmert an wen dieſe Allmacht in<lb/> der Wirklichkeit ungetheilt überging, wer ſie übte. Doch brauchte die<lb/> ſouveräne Staatsidee noch drei Jahrhunderte bis ſie alle hiſtoriſchen<lb/> Hinderniſſe, alle ſchwerverdaulichen Körper in Reich und Kirche zerſetzt,<lb/> ausgeſtoßen und beſiegt hatte.</p><lb/> <p>Da die antike Staatsliebe dem deutſchen Blut von Grund aus<lb/> fremd iſt, ſo ſchlug der theoretiſche Patriotismus doch nur in ſehr we-<lb/> nigen deutſchen Staaten Wurzel. Will man in dieſen Staaten von<lb/> einer preußiſchen, einer bayeriſchen Nation reden, ſo läßt ſich der Be-<lb/> griff noch allenfalls in einer Definition unterbringen; ſchwieriger wird<lb/> die Sache wenn wir nach einer lippiſchen und hamburgiſchen Nation<lb/> fragen. Man fühlt wohl, hier darf dem guten Geſchmack des Sprach-<lb/> gebrauchs keine Gewalt angethan werden. Die Gegenſätze ſolcher Na-<lb/> tionalitäten beruhen gar nur auf conventionellen Beſtimmungen und<lb/> dynaſtiſchen Rechten. Sprache, Bildung, Geſchichte, Litteratur und<lb/> Bundesrecht laſſen der Natur gemäß in den Gränzen der deutſchen<lb/> Staaten keine Unterbrechung einer gemeinſamen größeren Nationalität<lb/> erkennen, ſondern vielmehr einen Sporn, eine Schule. Unter einer<lb/> nur noch ſcheinbaren äußeren Einheit des Reichs war das Bewußtſeyn<lb/> deutſcher Nationalität langſam entſchlummert. Dasſelbe zur Reaction<lb/> zu erwecken bedurfte es einer ſchmählichen fremden Unterjochung, einer<lb/> für alle Stände und Volksclaſſen beſchämenden Mißhandlung, einer<lb/> gemeinſamen Verzweiflung wie ſie die Freiheitskriege zeigten. Der<lb/> Anſtoß war mächtig und nachhaltig. Wenn auch in den darauf fol-<lb/> genden 25 Jahren die Lebensthätigkeit ſich ſcheinbar mehr in den con-<lb/> ſtitutionellen Kämpfen im Innern der mittleren und kleineren Staaten<lb/> äußerte, ſo hat doch das Jahr 1840 die Macht der Nationalität in der<lb/> Weiſe dargethan daß künftig nicht wohl eine Regierung ihr zuwider<lb/> wird handeln mögen. Alſo nicht der Unterſchied der Stämme, der<lb/> Staaten und Regierungen ſteht der deutſchen Nationalität ſo ſehr im<lb/> Wege und hindert ſie in politiſcher Bildung voranzuſchreiten, als ein<lb/> anderer tieferer Grund in den Charakteranlagen der Nation ſelbſt.<lb/> Gibt es nicht gewiſſe Züge welche ſich beſonders zeigen in der Art wie<lb/> ſich die Parteien bei uns entgegenſtehen, die politiſchen, die kirchlichen<lb/> und die der materiellen Intereſſen? In der Art wie ſie ſich beſonders<lb/> in der Preſſe und ſelbſt in der Cenſur bekämpfen? Man ſagt zwar mit<lb/> Recht daß der Streit überall das Leben bedinge, und oft während der<lb/> heftigſten inneren Kämpfe die Thatkraft ſich auch nach außen am mäch-<lb/> tigſten bewähre. Allein dazu gehört daß die Parteien in einem Staat<lb/> doch in einigen weſentlichen Punkten untereinander einig ſeyen, daß ſie<lb/> irgendwo einen gemeinſamen Boden anerkennen, daß ſie ſich gegenſeitig<lb/> nicht allein das Recht des Daſeyns zugeſtehen, ſondern auch den guten<lb/> Glauben, die ehrliche Ueberzeugung, und daß ſie andere perſönliche,<lb/> zur Parteiſache nicht gehörende Eigenſchaften gelten laſſen. In allen<lb/> dieſen Stücken ſind wir ſehr krank. Die Spaltungen und Riſſe unſeres<lb/> geiſtigen Lebens gehen tief ein, und quer durch Stämme, Staaten und<lb/> Gemeinden, ja durch die Nationalität ſelbſt hindurch, und laſſen dieſe<lb/> — während man ſie in Worten vergöttert — in der That oft als Irr-<lb/> thum und Lüge erſcheinen. Dann ſchlägt bei vielen, ehrlich geſagt,<lb/> das Herz nicht für Brüder gleichen politiſchen Glaubens in Polen, Ita-<lb/> lien und der Schweiz, ja jenſeits des Oceans, ganz anders feurig als<lb/> für die Brüder im Nachbarhaus, die zwar dasſelbe Deutſch reden, aber<lb/> ein anderes Staatslexikon leſen? Die Wünſche und Sympathien,<lb/> Adreſſen und Collecten kennen keine Gränzpfähle, und die Schaden-<lb/> freude bei gewiſſen Ereigniſſen erinnert an jene naive Bauerntochter<lb/> die, von den Eltern gegen ihren Willen verheirathet, und von ihrem<lb/><cb/> Manne alsbald geprügelt, oft ausrief: „das gönn’ ich meinen Leuten!“<lb/> Betrachten wir den Einfluß jener Parteiſtellungen auf unſere Nationa-<lb/> lität noch etwas näher, gewiß ſo finden wir daß keine Partei in Deutſch-<lb/> land mit Bewußtſeyn antinational iſt. Ohne Zweifel geht auch jetzt<lb/> noch am tiefſten durch das Herz des Volkes die Spaltung im Glauben.<lb/> In dieſem Gefäß der deutſchen Einheit iſt ein ſo ſtarker Sprung daß<lb/> ein heller Klang daraus wohl ſchwerlich zu den Ohren der jetzt Leben-<lb/> den mehr dringen wird. Was nützt es daß in der proteſtantiſchen Welt<lb/> ſo manches katholiſche Gemüth, in der katholiſchen ſo viel proteſtanti-<lb/> ſcher Verſtand zerſtreut iſt? Wen kann es tröſten daß der Grundgedanke<lb/> des Chriſtenthums ebenſo wie die poetiſche und ſinnbildliche Ausſtat-<lb/> tung der Phantaſten bei ganzen Schichten beider Welten erloſchen<lb/> ſcheint? ja daß die vorzugsweiſe leſenden, ſchreibenden, redenden und<lb/> handelnden Maſſen ſogar den tieferen Glaubensfragen eigentlich fremd<lb/> ſind? Die Wurzeln beider feindlichen Principien liegen in dem ge-<lb/> lockerten Boden, und die letzten Jahre haben bewieſen wie ſelbſt deren<lb/> wilde Schößlinge wunderbar auffchießen, wenn ſie als Surrogate poli-<lb/> tiſcher Agentien dienen. Solche Verſuchungen ſind faſt zu ſtark für<lb/> uns! Aber deſſenungeachtet wollen wir nicht verzweifeln. Die Lehre<lb/> kam vielleicht gerade zu rechter Zeit, damit künftig politiſcher Streit<lb/> nur auf politiſchem Boden geführt werde. In den Reihen der natio-<lb/> nalen, vorherrſchend proteſtantiſchen Bewegung weiß man doch jetzt daß<lb/> die katholiſchen Deutſchen, welche aus unvergänglichen Gründen des<lb/> Vertrauens und der Liebe zu ihrer Kirche halten, an Zahl und Macht<lb/> zu ſtark ſind als daß gegen oder ohne ſie von Nationalität die Rede<lb/> ſeyn dürfte. Und wenn auch die katholiſchen Intereſſen gegen das bu-<lb/> reaukratiſche Jahrhundert ihre eigenen Kämpfe zu führen haben, zu<lb/> denen die proteſtantiſchen nicht ganz die Parallele bieten, ſo iſt doch<lb/> um ſo weniger Grund vorhanden dieſe Stellung zu verrücken oder gar<lb/> zu verdächtigen, als ſie heute mit dem Intereſſe keiner weltlichen Macht<lb/> mehr zuſammenfällt, ſondern allein auf der freiwilligen Treue der Be-<lb/> völkerungen beruht.</p><lb/> <p>Was die eigentlichen politiſchen Parteien betrifft — ſo iſt der<lb/> Begriff einer Partei mit anerkannten Häuptern und Preßorganen in<lb/> Deutſchland zwar geſetzlich bis jetzt nicht zugelaſſen, und auch bei ver-<lb/> änderten Preßverhältniſſen hätten die Regierungen wohl unrecht wenn<lb/> ſie über ihre reſpectiven Gränzen hinaus das Vorhandenſeyn einer pro-<lb/> greſſiſtiſchen Nationalpartei zugeſtehen wollten, ohne ihr eine conſer-<lb/> vative Bundespartei entgegenſetzen zu können — aber gegenwärtig ſind,<lb/> wie geſagt, alle Fractionen der öffentlichen Meinung national, oder<lb/> haben wenigſtens bis zum Beweis des Gegentheils ein Recht dafür zu<lb/> gelten. Schwerer wird der Beweis, weit praktiſcher die Probe auf dem<lb/> Gebiete der materiellen Intereſſen. Dafür iſt die Bewegung hier um<lb/> ſo geſünder und hoffnungsvoller. Und wenn auch zwiſchen Handels-<lb/> freiheit und Schutzſyſtem, zwiſchen dem Zollverein und ſeinen Gegen-<lb/> ſätzen der Kampf langſam und peinlich ſcheint, ſo iſt doch der Fortſchritt<lb/> ſicher und wird in Deutſchland die Gefahren des Communismus nicht<lb/> weniger als die jüdiſche Geldallmacht überwinden helfen. Hier iſt ein<lb/> wahrer Prüfſtein der Nationalität, und ihr gegenüber wird auf die<lb/> Dauer das vornehme Naſerümpfen einer kosmopolitiſchen Freiſtadt<lb/> ebenſowenig Glück machen als ein beſchränkter Kantönligeiſt. Es möge<lb/> uns offene Mitbewerbung und ehrlicher Kampf auch hier geſtattet und<lb/> anerkannt werden. Das ganze Thema iſt reich und ſein Inhaltsver-<lb/> zeichniß noch lange nicht erſchöpft. Die Gegenſätze zu andern Natio-<lb/> nalitäten durch die verſchiedenen geſellſchaftlichen Stände durchgeführt,<lb/> deren corporative und individuelle Tugenden, Schwächen und Untugen-<lb/> den mit Selbſtverläugnung betrachtet, bieten ein neues weites Feld.<lb/> Die erſten Gedanken zu dieſen Zeilen hatten ſich um die Jahreswende<lb/> aneinandergereiht; nun mögen ſie ſich in der Mitte zwiſchen den Neu-<lb/> jahrswünſchen und Faſtenpredigten ihre Stelle ſuchen.<note place="foot" n="*)">Bezeichnet die Tage in denen der Auffatz uns zugekommen.</note></p> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div type="jPoliticalNews" n="2"> <div n="3"> <head> <hi rendition="#b">Aus Wien.</hi> </head><lb/> <div type="jArticle" n="4"> <dateline>♃ <hi rendition="#b">Wien,</hi> 22 März.</dateline><lb/> <p>Die großen und erfreulichen Ereigniſſe<lb/> überſtrömen uns völlig, ſo daß wir die Zeit zu umfaſſenden Schilde-<lb/> rungen nicht haben und uns auf bloße Erwähnung der Thatſachen be-<lb/> ſchränken müſſen. Amneſtie allen politiſchen Gefangenen in Polen und<lb/> Lombardei-Venedig. Dieſer kaiſerliche Act erfüllt die Herzen von<lb/> Tauſenden mit Freude und Dank. Die hier lebenden Engländer haben<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </floatingText> </div> </body> </text> </TEI> [1386/0010]
umgeben die geiſtig ihnen nicht gleich, politiſch nicht über ihnen ſtan-
den; gegenüber ihnen ſtand nur der Barbar. Die Idee des Staates
konnte ſich daher bei ihnen auf dem der menſchlichen Wirkungskraft ſo
angemeſſenen Umfang einzelner Stadtgebiete am leichteſten verwirk-
lichen, am vollkommenſten entwickeln. Dieſe Idee des Staates aber,
die Mutter der abſtracten Vaterlandsliebe, hat nach ihrer Auferſtehung
gegen Ende des Mittelalters unter allen Nationen Europa’s ein beſon-
ders merkwürdiges Schickſal bei uns Deutſchen gehabt. Da es näm-
lich zur Zeit ihres Aufkommens in Deutſchland ſchon zu ſpät war ſich
in der kaiſerlichen Gewalt der Geſammtnation zu verkörpern, ſo ver-
ſuchte ſie ſich nur an der Landeshoheit der Reichsfürſten, und ward die
Seele, der Keim der Größe des Territorialweſens. Mit rückſichtsloſer
Conſequenz und ſchlecht belohntem Eifer leiſteten die Gelehrten und
Staatstheoretiker hierbei große Dienſte. Ganz nach dem Muſter antiker
Republiken bauten ſie ihre abſtracte Staatsgewalt auf und dotirten ſie
mit allen erdenklichen Rechten, unbekümmert an wen dieſe Allmacht in
der Wirklichkeit ungetheilt überging, wer ſie übte. Doch brauchte die
ſouveräne Staatsidee noch drei Jahrhunderte bis ſie alle hiſtoriſchen
Hinderniſſe, alle ſchwerverdaulichen Körper in Reich und Kirche zerſetzt,
ausgeſtoßen und beſiegt hatte.
Da die antike Staatsliebe dem deutſchen Blut von Grund aus
fremd iſt, ſo ſchlug der theoretiſche Patriotismus doch nur in ſehr we-
nigen deutſchen Staaten Wurzel. Will man in dieſen Staaten von
einer preußiſchen, einer bayeriſchen Nation reden, ſo läßt ſich der Be-
griff noch allenfalls in einer Definition unterbringen; ſchwieriger wird
die Sache wenn wir nach einer lippiſchen und hamburgiſchen Nation
fragen. Man fühlt wohl, hier darf dem guten Geſchmack des Sprach-
gebrauchs keine Gewalt angethan werden. Die Gegenſätze ſolcher Na-
tionalitäten beruhen gar nur auf conventionellen Beſtimmungen und
dynaſtiſchen Rechten. Sprache, Bildung, Geſchichte, Litteratur und
Bundesrecht laſſen der Natur gemäß in den Gränzen der deutſchen
Staaten keine Unterbrechung einer gemeinſamen größeren Nationalität
erkennen, ſondern vielmehr einen Sporn, eine Schule. Unter einer
nur noch ſcheinbaren äußeren Einheit des Reichs war das Bewußtſeyn
deutſcher Nationalität langſam entſchlummert. Dasſelbe zur Reaction
zu erwecken bedurfte es einer ſchmählichen fremden Unterjochung, einer
für alle Stände und Volksclaſſen beſchämenden Mißhandlung, einer
gemeinſamen Verzweiflung wie ſie die Freiheitskriege zeigten. Der
Anſtoß war mächtig und nachhaltig. Wenn auch in den darauf fol-
genden 25 Jahren die Lebensthätigkeit ſich ſcheinbar mehr in den con-
ſtitutionellen Kämpfen im Innern der mittleren und kleineren Staaten
äußerte, ſo hat doch das Jahr 1840 die Macht der Nationalität in der
Weiſe dargethan daß künftig nicht wohl eine Regierung ihr zuwider
wird handeln mögen. Alſo nicht der Unterſchied der Stämme, der
Staaten und Regierungen ſteht der deutſchen Nationalität ſo ſehr im
Wege und hindert ſie in politiſcher Bildung voranzuſchreiten, als ein
anderer tieferer Grund in den Charakteranlagen der Nation ſelbſt.
Gibt es nicht gewiſſe Züge welche ſich beſonders zeigen in der Art wie
ſich die Parteien bei uns entgegenſtehen, die politiſchen, die kirchlichen
und die der materiellen Intereſſen? In der Art wie ſie ſich beſonders
in der Preſſe und ſelbſt in der Cenſur bekämpfen? Man ſagt zwar mit
Recht daß der Streit überall das Leben bedinge, und oft während der
heftigſten inneren Kämpfe die Thatkraft ſich auch nach außen am mäch-
tigſten bewähre. Allein dazu gehört daß die Parteien in einem Staat
doch in einigen weſentlichen Punkten untereinander einig ſeyen, daß ſie
irgendwo einen gemeinſamen Boden anerkennen, daß ſie ſich gegenſeitig
nicht allein das Recht des Daſeyns zugeſtehen, ſondern auch den guten
Glauben, die ehrliche Ueberzeugung, und daß ſie andere perſönliche,
zur Parteiſache nicht gehörende Eigenſchaften gelten laſſen. In allen
dieſen Stücken ſind wir ſehr krank. Die Spaltungen und Riſſe unſeres
geiſtigen Lebens gehen tief ein, und quer durch Stämme, Staaten und
Gemeinden, ja durch die Nationalität ſelbſt hindurch, und laſſen dieſe
— während man ſie in Worten vergöttert — in der That oft als Irr-
thum und Lüge erſcheinen. Dann ſchlägt bei vielen, ehrlich geſagt,
das Herz nicht für Brüder gleichen politiſchen Glaubens in Polen, Ita-
lien und der Schweiz, ja jenſeits des Oceans, ganz anders feurig als
für die Brüder im Nachbarhaus, die zwar dasſelbe Deutſch reden, aber
ein anderes Staatslexikon leſen? Die Wünſche und Sympathien,
Adreſſen und Collecten kennen keine Gränzpfähle, und die Schaden-
freude bei gewiſſen Ereigniſſen erinnert an jene naive Bauerntochter
die, von den Eltern gegen ihren Willen verheirathet, und von ihrem
Manne alsbald geprügelt, oft ausrief: „das gönn’ ich meinen Leuten!“
Betrachten wir den Einfluß jener Parteiſtellungen auf unſere Nationa-
lität noch etwas näher, gewiß ſo finden wir daß keine Partei in Deutſch-
land mit Bewußtſeyn antinational iſt. Ohne Zweifel geht auch jetzt
noch am tiefſten durch das Herz des Volkes die Spaltung im Glauben.
In dieſem Gefäß der deutſchen Einheit iſt ein ſo ſtarker Sprung daß
ein heller Klang daraus wohl ſchwerlich zu den Ohren der jetzt Leben-
den mehr dringen wird. Was nützt es daß in der proteſtantiſchen Welt
ſo manches katholiſche Gemüth, in der katholiſchen ſo viel proteſtanti-
ſcher Verſtand zerſtreut iſt? Wen kann es tröſten daß der Grundgedanke
des Chriſtenthums ebenſo wie die poetiſche und ſinnbildliche Ausſtat-
tung der Phantaſten bei ganzen Schichten beider Welten erloſchen
ſcheint? ja daß die vorzugsweiſe leſenden, ſchreibenden, redenden und
handelnden Maſſen ſogar den tieferen Glaubensfragen eigentlich fremd
ſind? Die Wurzeln beider feindlichen Principien liegen in dem ge-
lockerten Boden, und die letzten Jahre haben bewieſen wie ſelbſt deren
wilde Schößlinge wunderbar auffchießen, wenn ſie als Surrogate poli-
tiſcher Agentien dienen. Solche Verſuchungen ſind faſt zu ſtark für
uns! Aber deſſenungeachtet wollen wir nicht verzweifeln. Die Lehre
kam vielleicht gerade zu rechter Zeit, damit künftig politiſcher Streit
nur auf politiſchem Boden geführt werde. In den Reihen der natio-
nalen, vorherrſchend proteſtantiſchen Bewegung weiß man doch jetzt daß
die katholiſchen Deutſchen, welche aus unvergänglichen Gründen des
Vertrauens und der Liebe zu ihrer Kirche halten, an Zahl und Macht
zu ſtark ſind als daß gegen oder ohne ſie von Nationalität die Rede
ſeyn dürfte. Und wenn auch die katholiſchen Intereſſen gegen das bu-
reaukratiſche Jahrhundert ihre eigenen Kämpfe zu führen haben, zu
denen die proteſtantiſchen nicht ganz die Parallele bieten, ſo iſt doch
um ſo weniger Grund vorhanden dieſe Stellung zu verrücken oder gar
zu verdächtigen, als ſie heute mit dem Intereſſe keiner weltlichen Macht
mehr zuſammenfällt, ſondern allein auf der freiwilligen Treue der Be-
völkerungen beruht.
Was die eigentlichen politiſchen Parteien betrifft — ſo iſt der
Begriff einer Partei mit anerkannten Häuptern und Preßorganen in
Deutſchland zwar geſetzlich bis jetzt nicht zugelaſſen, und auch bei ver-
änderten Preßverhältniſſen hätten die Regierungen wohl unrecht wenn
ſie über ihre reſpectiven Gränzen hinaus das Vorhandenſeyn einer pro-
greſſiſtiſchen Nationalpartei zugeſtehen wollten, ohne ihr eine conſer-
vative Bundespartei entgegenſetzen zu können — aber gegenwärtig ſind,
wie geſagt, alle Fractionen der öffentlichen Meinung national, oder
haben wenigſtens bis zum Beweis des Gegentheils ein Recht dafür zu
gelten. Schwerer wird der Beweis, weit praktiſcher die Probe auf dem
Gebiete der materiellen Intereſſen. Dafür iſt die Bewegung hier um
ſo geſünder und hoffnungsvoller. Und wenn auch zwiſchen Handels-
freiheit und Schutzſyſtem, zwiſchen dem Zollverein und ſeinen Gegen-
ſätzen der Kampf langſam und peinlich ſcheint, ſo iſt doch der Fortſchritt
ſicher und wird in Deutſchland die Gefahren des Communismus nicht
weniger als die jüdiſche Geldallmacht überwinden helfen. Hier iſt ein
wahrer Prüfſtein der Nationalität, und ihr gegenüber wird auf die
Dauer das vornehme Naſerümpfen einer kosmopolitiſchen Freiſtadt
ebenſowenig Glück machen als ein beſchränkter Kantönligeiſt. Es möge
uns offene Mitbewerbung und ehrlicher Kampf auch hier geſtattet und
anerkannt werden. Das ganze Thema iſt reich und ſein Inhaltsver-
zeichniß noch lange nicht erſchöpft. Die Gegenſätze zu andern Natio-
nalitäten durch die verſchiedenen geſellſchaftlichen Stände durchgeführt,
deren corporative und individuelle Tugenden, Schwächen und Untugen-
den mit Selbſtverläugnung betrachtet, bieten ein neues weites Feld.
Die erſten Gedanken zu dieſen Zeilen hatten ſich um die Jahreswende
aneinandergereiht; nun mögen ſie ſich in der Mitte zwiſchen den Neu-
jahrswünſchen und Faſtenpredigten ihre Stelle ſuchen. *)
Aus Wien.
♃ Wien, 22 März.
Die großen und erfreulichen Ereigniſſe
überſtrömen uns völlig, ſo daß wir die Zeit zu umfaſſenden Schilde-
rungen nicht haben und uns auf bloße Erwähnung der Thatſachen be-
ſchränken müſſen. Amneſtie allen politiſchen Gefangenen in Polen und
Lombardei-Venedig. Dieſer kaiſerliche Act erfüllt die Herzen von
Tauſenden mit Freude und Dank. Die hier lebenden Engländer haben
*) Bezeichnet die Tage in denen der Auffatz uns zugekommen.
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(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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