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Allgemeine Zeitung, Nr. 87, 27. März 1848.

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Beilage zur Allgemeinen Zeitung.
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Noch ein Wort über Harleß' Heerpredigt.

Eines der stärksten Zeichen wie durchgrei-
fend die Bewegung ist welche Deutschland ergriffen hat, tritt uns in der
Heerpredigt des Dr. Harleß entgegen, die Ihr Blatt vom 21 März be-
sprochen hat. Wir begrüßen die Aeußerungen dieser Predigt mit herz-
licher Freude, mit um so herzlicherer, als noch vor kurzem von der Seite
welche in dem gefeierten Redner eines ihrer vorleuchtendsten Häupter
verehrt, in Beziehung auf freie Verfassung und auf das Verhältniß der
ab soluten Monarchie zu den Völkern Grundsätze vertreten worden sind
welche über jede geschriebene Verfassung den Stab brachen, und den
Widerstand des Absolutismus gegen die Forderungen der Völker stärk-
ten. Alles Talent und alle Energie des Charakters, die auf jener Seite
in bedeutender Stärke stehen, wird sich nun, nachdem der Führer ge-
sprochen, der Sache der bürgerlichen Freiheit und der Nationalehre zu-
wenden. Zu lange haben jene tüchtigen Männer den Mißverstand der
Regierungen getheilt und unterstützt daß alle und jede Forderungen der
Völker, daß jede freimüthige und dringende Aeußerung auf öffentlicher
Tribüne welche diese Forderung vertrat, nur aus oberflächlichem*) Frei-
heitsschwindel, aus Haß gegen die bestehende Ordnung hervorgegangen
und eine Auflehnung gegen die von Gott gegebenen Thronrechte sey.
So oft man es ihnen, und nicht am seltensten, auch in diesen Blättern,
gesagt hat: daß die freieste Entwicklung der Verfassung die Regierungen
stärke, daß das Verderben der Fürsten aus den Rathschlägen ihrer
kirchlich-zelotischen Camarillas hervorginge, die nun in Preußen z. B. den
übelberathenen König in endlose Verlegenheiten gebracht haben, daß es
darauf allein in religiöser Beziehung ankomme am Wesen des Christen-
thums festzuhalten und, frei in den Formen, in diesem Wesen einig zu
seyn -- sie hörten nicht, oder wenn sie hörten, so waren sie schnell mit
dem Vorwurf des Indifferentismus und Synkretismus zur Hand. Es
schien als ob ein liberaler, unabhängiger Mann nichts anderes als ein
Revolutionär und jeder Liebhaber kirchlichen Friedens nichts als ein
Lichtfreund seyn könne. Nun hat eine von Gott verhängte, aller Welt
unerwartete Bewegung den Ernst, die Wahrheit, die Besonnenheit jener
politischen Forderungen von den Schwindeleien und unreinen Treibereien
des litterarischen und andern Haufens gesondert, und der Glanz der
Idee eines freien in kräftiger Organisation starken Deutschlands unter
den Segnungen bürgerlicher Freiheit hat auch jene Augen getroffen, und
sie haben das Göttliche auch in diesen Bewegungen erkannt, sicherlich
mehr im Geist auch der lutherischen Kirche, deren Vormänner im sech-
zehnten Jahrhundert ebenso Starkes gegen Despotie und gouvernemen-
tale Mißbräuche sagten, als je auf einer deutschen Tribüne vorgekom-
men, als im Geist eines exclusiven, herrschsüchtigen, höhnischen und ver-
dammenden Credo, das sie früher geltend gemacht. Das Evangelium
predigt Freiheit auf der Basts der Sitte und des Gesetzes; nicht in dem
Lande des politischen und kirchlichen Formelnzwanges, sondern in den
Ländern der Freiheit springt die Quelle jenes Glaubens am stärksten,
der zu allem Guten stärkt und gegen alles Böse waffnet.



Nationalität.

Gemeinplätze werden mit Recht von beschei-
denen Schriftstellern wie von verständigen Lesern gemieden gleich stau-
bigen Feldern. Wer mag sie umpflügen, wer darauf ernten? Allbe-
kannte Dinge, wie die Macht der Nationalität eines großes Volkes und
die aufopfernde Vaterlandsliebe gebildeter Staatsbürger, sind billig
im 19ten Jahrhundert so sehr über allen Zweifel erhaben daß aus der
Gesammtheit ein jeder mit vollem Vertrauen darauf hinweist als auf
ein wohlgefülltes Zeughaus und auf einen fort und fort sich häufenden
Schatz. Mögen auch die Beispiele nicht sogleich zur Hand seyn: daß
es also sey, ist ein natürliches und vernünftiges Erforderniß, ein all-
gemeiner Vorsatz. Und was noch nicht Wahrheit ist, kann Wahrheit
werden. Auch Fictionen und Vorstellungen werden zu Wirklichkeiten
sobald die Menschen daran glauben. Siegreiche Thatsachen bringen
[Spaltenumbruch] ihnen das Ansehen von Gesetz und Recht. Haben nicht die Schweizer
trotz dreier Nationalitäten nur eine Nation, trotz 22 Souveränetäten
nur ein Vaterland vorstellen wollen? Und die Tagsatzung hat die
Theorie durchgeführt. Da aber andrer Orten die Sache unter ähn-
lichen Umständen doch anders stehen dürfte, ist es für alle Fälle da
nicht weise jene Waffen im Zeughause zu mustern, jene Schätze zu
wägen? Es ist ja Friede und alle Zeit dazu, ja in Deutschland ist es
umsomehr eine Ehrensache uns selbst darüber klar zu werden, als die
Fremden davon eine weit geringere oder gar keine Meinung haben.

Die Begriffe Nationalität und Vaterland haben eine naturwüchsige,
historische und eine theoretische, abstracte Seite. An welcher von beiden
hängt das Herz der Menschen? An dem reinen Blut gemeinsamer Al-
stammung, oder an der gemeinsamen geistigen und politischen Errun-
genschaft? Und wo ist das Vaterland der Vaterlandsliebe? In der
Heimath, dem Stammland, innerhalb der Sprachgränze, oder in dem
Staat, dem Ideal des geistigen Gesammtlebens? Die Zeiten wechseln
und mit ihnen ändern sich die Antworten auf solche Fragen. Auffal-
lend ist auf den ersten Blick wie in unserm Jahrhundert, dessen nivel-
lirende Cultur für die höhern Stände alle Entfernungen und Unter-
schiede aufzuheben scheint, dennoch der Begriff der Nationalitäten sich
zu Gegensätzen gesteigert hat, wie sie die frühere christliche Zeitrechnung
nicht kannte. Freilich umfaßt das Band einer einzigen Kirche jetzt nicht
mehr alle Völker Europa's, und die höhere christliche Bruderschaft gilt
unter ihnen nicht länger. Allein dieser Grund wirkt schon 300 Jahre.
Näher noch liegt die Erklärung daß eben in Europa überhaupt nur
vier große Nationen sich in die Weltherrschaft theilen und um den er-
sten Rang streiten -- eine jede mit eignen Vorzügen. Daher die ins
Auge fallende Eifersucht der Bewerber. Bei der deutschen Nation ist
der Eifer dadurch schon zu erklären daß ihr sozusagen die moralische
Persönlichkeit abgeht, die Beweiskraft der äußeren Erscheinung. Denn
die Form und Einkleidung des Bundes entspricht dem National-Ideal
weder nach rationalistischer noch historischer Auffassung vollkommen.
Ziehen wir als Nation das Gedächtniß unsrer Vorzeit, unsrer eigenen
Jugendanlagen zu Rathe, so werden wir uns nicht ohne Nutzen orientiren.
Das Bewußtseyn der Angehörigkeit durch die Geburt galt bei den Völkern
deutschen Blutes ursprünglich dem Stamm- und Stammesnamen. In
dem Spiegel der Geschichte erkennen wir uns so zuerst ohne Einheit der
Herrschaft und des nationalen Namens. Beide übertrugen zuerst die
Franken gewaltsam auf die übrigen Hauptstämme -- der Schwaben,
Bayern und Sachsen. Der große Karl brach recht abfichtlich das Wesen
der Stämme, und gab eine andere Ordnung durch Reich und Kirche.
Mit der Ehre und dem Segen der römischen Kaiserkrone wächst das
gemeinsame Bewußtseyn erst langsam heran zum Nationalstolz, zum
vernünftigen Willen des Zusammenhaltens und zu einem bleibenden
Ideal.

Durch die Schwächung des fränkischen Elementes bei den Theilun-
gen ein Jahrhundert nach Karl schlug auf deutschem Boden zwar die
Macht der Natur und die Eigenthümlichkeit der übrigen Stämme wie-
der durch, und behauptete über 300 Jahre in den Nationalherzogthü-
mern und deren Marken ihr Recht. Dieß sind die Jahrhunderte der
Ottonen, Salier und Hohenstaufen. Durchschnitten aber und unter-
bunden wurden die Hauptadern der Stämme allmählich durch die Erb-
lichkeit der Herzogthümer, die Trennung der Marken, die Exemtionen
der geistlichen Stifter, die Städtebünde, dann durch den Erbgang der
fürstlichen Häuser und ihre Theilungen; später durch die Religions-
spaltung; auch durch Verschiebung der alten Stammnamen, und end-
lich durch Kriege, Friedensschlüsse und Congreßverfügungen. So bleibt
denn in unsern Tagen, außer den Gränzen welche die Landeshoheit und
Souveränetät gezogen, und denjenigen welche die Sprachforscher müh-
sam suchen, zwischen den alten deutschen Stämmen kaum ein anderer
Gegensatz übrig als die unzutreffende charakterlose Unterscheidung von
Nord- und Süddeutschen. Die naturwüchsige Stammliebe scheint die
Entfaltung der Nationalität nicht länger zu behindern. Wir müssen
also nach andern Unterscheidungen fragen, und zunächst nach dem Ein-
fluß welchen die Eintheilung in verschiedene Staaten derselben Natio-
nalität auf die Gesammtnation übt. Verschiedene Staaten derselben
Nationalität hatte wohl auch die antike Welt der Griechen mit und ohne
Bund. Allein diese Griechen in ihrer guten Zeit waren von Nachbarn

*) D. h. eine gewisse Sorte Theosophen, die eine enge und dünkelhafte
Rechthaberei gern hinter der Bibel maskirt, sprach bei jeder Gelegen-
heit von ihrer eigenen stupenden "Geistestiefe". Trübe Wasser sehen
tief aus, sind es aber nicht immer. Red. d. Allg. Ztg.
Nr. 87.
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Beilage zur Allgemeinen Zeitung.
[Spaltenumbruch] 27 März 1848.


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Noch ein Wort über Harleß’ Heerpredigt.

Eines der ſtärkſten Zeichen wie durchgrei-
fend die Bewegung iſt welche Deutſchland ergriffen hat, tritt uns in der
Heerpredigt des Dr. Harleß entgegen, die Ihr Blatt vom 21 März be-
ſprochen hat. Wir begrüßen die Aeußerungen dieſer Predigt mit herz-
licher Freude, mit um ſo herzlicherer, als noch vor kurzem von der Seite
welche in dem gefeierten Redner eines ihrer vorleuchtendſten Häupter
verehrt, in Beziehung auf freie Verfaſſung und auf das Verhältniß der
ab ſoluten Monarchie zu den Völkern Grundſätze vertreten worden ſind
welche über jede geſchriebene Verfaſſung den Stab brachen, und den
Widerſtand des Abſolutismus gegen die Forderungen der Völker ſtärk-
ten. Alles Talent und alle Energie des Charakters, die auf jener Seite
in bedeutender Stärke ſtehen, wird ſich nun, nachdem der Führer ge-
ſprochen, der Sache der bürgerlichen Freiheit und der Nationalehre zu-
wenden. Zu lange haben jene tüchtigen Männer den Mißverſtand der
Regierungen getheilt und unterſtützt daß alle und jede Forderungen der
Völker, daß jede freimüthige und dringende Aeußerung auf öffentlicher
Tribüne welche dieſe Forderung vertrat, nur aus oberflächlichem*) Frei-
heitsſchwindel, aus Haß gegen die beſtehende Ordnung hervorgegangen
und eine Auflehnung gegen die von Gott gegebenen Thronrechte ſey.
So oft man es ihnen, und nicht am ſeltenſten, auch in dieſen Blättern,
geſagt hat: daß die freieſte Entwicklung der Verfaſſung die Regierungen
ſtärke, daß das Verderben der Fürſten aus den Rathſchlägen ihrer
kirchlich-zelotiſchen Camarillas hervorginge, die nun in Preußen z. B. den
übelberathenen König in endloſe Verlegenheiten gebracht haben, daß es
darauf allein in religiöſer Beziehung ankomme am Weſen des Chriſten-
thums feſtzuhalten und, frei in den Formen, in dieſem Weſen einig zu
ſeyn — ſie hörten nicht, oder wenn ſie hörten, ſo waren ſie ſchnell mit
dem Vorwurf des Indifferentismus und Synkretismus zur Hand. Es
ſchien als ob ein liberaler, unabhängiger Mann nichts anderes als ein
Revolutionär und jeder Liebhaber kirchlichen Friedens nichts als ein
Lichtfreund ſeyn könne. Nun hat eine von Gott verhängte, aller Welt
unerwartete Bewegung den Ernſt, die Wahrheit, die Beſonnenheit jener
politiſchen Forderungen von den Schwindeleien und unreinen Treibereien
des litterariſchen und andern Haufens geſondert, und der Glanz der
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den Segnungen bürgerlicher Freiheit hat auch jene Augen getroffen, und
ſie haben das Göttliche auch in dieſen Bewegungen erkannt, ſicherlich
mehr im Geiſt auch der lutheriſchen Kirche, deren Vormänner im ſech-
zehnten Jahrhundert ebenſo Starkes gegen Deſpotie und gouvernemen-
tale Mißbräuche ſagten, als je auf einer deutſchen Tribüne vorgekom-
men, als im Geiſt eines excluſiven, herrſchſüchtigen, höhniſchen und ver-
dammenden Credo, das ſie früher geltend gemacht. Das Evangelium
predigt Freiheit auf der Baſts der Sitte und des Geſetzes; nicht in dem
Lande des politiſchen und kirchlichen Formelnzwanges, ſondern in den
Ländern der Freiheit ſpringt die Quelle jenes Glaubens am ſtärkſten,
der zu allem Guten ſtärkt und gegen alles Böſe waffnet.



Nationalität.

Gemeinplätze werden mit Recht von beſchei-
denen Schriftſtellern wie von verſtändigen Leſern gemieden gleich ſtau-
bigen Feldern. Wer mag ſie umpflügen, wer darauf ernten? Allbe-
kannte Dinge, wie die Macht der Nationalität eines großes Volkes und
die aufopfernde Vaterlandsliebe gebildeter Staatsbürger, ſind billig
im 19ten Jahrhundert ſo ſehr über allen Zweifel erhaben daß aus der
Geſammtheit ein jeder mit vollem Vertrauen darauf hinweist als auf
ein wohlgefülltes Zeughaus und auf einen fort und fort ſich häufenden
Schatz. Mögen auch die Beiſpiele nicht ſogleich zur Hand ſeyn: daß
es alſo ſey, iſt ein natürliches und vernünftiges Erforderniß, ein all-
gemeiner Vorſatz. Und was noch nicht Wahrheit iſt, kann Wahrheit
werden. Auch Fictionen und Vorſtellungen werden zu Wirklichkeiten
ſobald die Menſchen daran glauben. Siegreiche Thatſachen bringen
[Spaltenumbruch] ihnen das Anſehen von Geſetz und Recht. Haben nicht die Schweizer
trotz dreier Nationalitäten nur eine Nation, trotz 22 Souveränetäten
nur ein Vaterland vorſtellen wollen? Und die Tagſatzung hat die
Theorie durchgeführt. Da aber andrer Orten die Sache unter ähn-
lichen Umſtänden doch anders ſtehen dürfte, iſt es für alle Fälle da
nicht weiſe jene Waffen im Zeughauſe zu muſtern, jene Schätze zu
wägen? Es iſt ja Friede und alle Zeit dazu, ja in Deutſchland iſt es
umſomehr eine Ehrenſache uns ſelbſt darüber klar zu werden, als die
Fremden davon eine weit geringere oder gar keine Meinung haben.

Die Begriffe Nationalität und Vaterland haben eine naturwüchſige,
hiſtoriſche und eine theoretiſche, abſtracte Seite. An welcher von beiden
hängt das Herz der Menſchen? An dem reinen Blut gemeinſamer Al-
ſtammung, oder an der gemeinſamen geiſtigen und politiſchen Errun-
genſchaft? Und wo iſt das Vaterland der Vaterlandsliebe? In der
Heimath, dem Stammland, innerhalb der Sprachgränze, oder in dem
Staat, dem Ideal des geiſtigen Geſammtlebens? Die Zeiten wechſeln
und mit ihnen ändern ſich die Antworten auf ſolche Fragen. Auffal-
lend iſt auf den erſten Blick wie in unſerm Jahrhundert, deſſen nivel-
lirende Cultur für die höhern Stände alle Entfernungen und Unter-
ſchiede aufzuheben ſcheint, dennoch der Begriff der Nationalitäten ſich
zu Gegenſätzen geſteigert hat, wie ſie die frühere chriſtliche Zeitrechnung
nicht kannte. Freilich umfaßt das Band einer einzigen Kirche jetzt nicht
mehr alle Völker Europa’s, und die höhere chriſtliche Bruderſchaft gilt
unter ihnen nicht länger. Allein dieſer Grund wirkt ſchon 300 Jahre.
Näher noch liegt die Erklärung daß eben in Europa überhaupt nur
vier große Nationen ſich in die Weltherrſchaft theilen und um den er-
ſten Rang ſtreiten — eine jede mit eignen Vorzügen. Daher die ins
Auge fallende Eiferſucht der Bewerber. Bei der deutſchen Nation iſt
der Eifer dadurch ſchon zu erklären daß ihr ſozuſagen die moraliſche
Perſönlichkeit abgeht, die Beweiskraft der äußeren Erſcheinung. Denn
die Form und Einkleidung des Bundes entſpricht dem National-Ideal
weder nach rationaliſtiſcher noch hiſtoriſcher Auffaſſung vollkommen.
Ziehen wir als Nation das Gedächtniß unſrer Vorzeit, unſrer eigenen
Jugendanlagen zu Rathe, ſo werden wir uns nicht ohne Nutzen orientiren.
Das Bewußtſeyn der Angehörigkeit durch die Geburt galt bei den Völkern
deutſchen Blutes urſprünglich dem Stamm- und Stammesnamen. In
dem Spiegel der Geſchichte erkennen wir uns ſo zuerſt ohne Einheit der
Herrſchaft und des nationalen Namens. Beide übertrugen zuerſt die
Franken gewaltſam auf die übrigen Hauptſtämme — der Schwaben,
Bayern und Sachſen. Der große Karl brach recht abfichtlich das Weſen
der Stämme, und gab eine andere Ordnung durch Reich und Kirche.
Mit der Ehre und dem Segen der römiſchen Kaiſerkrone wächst das
gemeinſame Bewußtſeyn erſt langſam heran zum Nationalſtolz, zum
vernünftigen Willen des Zuſammenhaltens und zu einem bleibenden
Ideal.

Durch die Schwächung des fränkiſchen Elementes bei den Theilun-
gen ein Jahrhundert nach Karl ſchlug auf deutſchem Boden zwar die
Macht der Natur und die Eigenthümlichkeit der übrigen Stämme wie-
der durch, und behauptete über 300 Jahre in den Nationalherzogthü-
mern und deren Marken ihr Recht. Dieß ſind die Jahrhunderte der
Ottonen, Salier und Hohenſtaufen. Durchſchnitten aber und unter-
bunden wurden die Hauptadern der Stämme allmählich durch die Erb-
lichkeit der Herzogthümer, die Trennung der Marken, die Exemtionen
der geiſtlichen Stifter, die Städtebünde, dann durch den Erbgang der
fürſtlichen Häuſer und ihre Theilungen; ſpäter durch die Religions-
ſpaltung; auch durch Verſchiebung der alten Stammnamen, und end-
lich durch Kriege, Friedensſchlüſſe und Congreßverfügungen. So bleibt
denn in unſern Tagen, außer den Gränzen welche die Landeshoheit und
Souveränetät gezogen, und denjenigen welche die Sprachforſcher müh-
ſam ſuchen, zwiſchen den alten deutſchen Stämmen kaum ein anderer
Gegenſatz übrig als die unzutreffende charakterloſe Unterſcheidung von
Nord- und Süddeutſchen. Die naturwüchſige Stammliebe ſcheint die
Entfaltung der Nationalität nicht länger zu behindern. Wir müſſen
alſo nach andern Unterſcheidungen fragen, und zunächſt nach dem Ein-
fluß welchen die Eintheilung in verſchiedene Staaten derſelben Natio-
nalität auf die Geſammtnation übt. Verſchiedene Staaten derſelben
Nationalität hatte wohl auch die antike Welt der Griechen mit und ohne
Bund. Allein dieſe Griechen in ihrer guten Zeit waren von Nachbarn

*) D. h. eine gewiſſe Sorte Theoſophen, die eine enge und dünkelhafte
Rechthaberei gern hinter der Bibel maskirt, ſprach bei jeder Gelegen-
heit von ihrer eigenen ſtupenden „Geiſtestiefe“. Trübe Waſſer ſehen
tief aus, ſind es aber nicht immer. Red. d. Allg. Ztg.
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[0009] Nr. 87. Beilage zur Allgemeinen Zeitung. 27 März 1848. Noch ein Wort über Harleß’ Heerpredigt. ** Aus Franken. Eines der ſtärkſten Zeichen wie durchgrei- fend die Bewegung iſt welche Deutſchland ergriffen hat, tritt uns in der Heerpredigt des Dr. Harleß entgegen, die Ihr Blatt vom 21 März be- ſprochen hat. Wir begrüßen die Aeußerungen dieſer Predigt mit herz- licher Freude, mit um ſo herzlicherer, als noch vor kurzem von der Seite welche in dem gefeierten Redner eines ihrer vorleuchtendſten Häupter verehrt, in Beziehung auf freie Verfaſſung und auf das Verhältniß der ab ſoluten Monarchie zu den Völkern Grundſätze vertreten worden ſind welche über jede geſchriebene Verfaſſung den Stab brachen, und den Widerſtand des Abſolutismus gegen die Forderungen der Völker ſtärk- ten. Alles Talent und alle Energie des Charakters, die auf jener Seite in bedeutender Stärke ſtehen, wird ſich nun, nachdem der Führer ge- ſprochen, der Sache der bürgerlichen Freiheit und der Nationalehre zu- wenden. Zu lange haben jene tüchtigen Männer den Mißverſtand der Regierungen getheilt und unterſtützt daß alle und jede Forderungen der Völker, daß jede freimüthige und dringende Aeußerung auf öffentlicher Tribüne welche dieſe Forderung vertrat, nur aus oberflächlichem *) Frei- heitsſchwindel, aus Haß gegen die beſtehende Ordnung hervorgegangen und eine Auflehnung gegen die von Gott gegebenen Thronrechte ſey. So oft man es ihnen, und nicht am ſeltenſten, auch in dieſen Blättern, geſagt hat: daß die freieſte Entwicklung der Verfaſſung die Regierungen ſtärke, daß das Verderben der Fürſten aus den Rathſchlägen ihrer kirchlich-zelotiſchen Camarillas hervorginge, die nun in Preußen z. B. den übelberathenen König in endloſe Verlegenheiten gebracht haben, daß es darauf allein in religiöſer Beziehung ankomme am Weſen des Chriſten- thums feſtzuhalten und, frei in den Formen, in dieſem Weſen einig zu ſeyn — ſie hörten nicht, oder wenn ſie hörten, ſo waren ſie ſchnell mit dem Vorwurf des Indifferentismus und Synkretismus zur Hand. Es ſchien als ob ein liberaler, unabhängiger Mann nichts anderes als ein Revolutionär und jeder Liebhaber kirchlichen Friedens nichts als ein Lichtfreund ſeyn könne. Nun hat eine von Gott verhängte, aller Welt unerwartete Bewegung den Ernſt, die Wahrheit, die Beſonnenheit jener politiſchen Forderungen von den Schwindeleien und unreinen Treibereien des litterariſchen und andern Haufens geſondert, und der Glanz der Idee eines freien in kräftiger Organiſation ſtarken Deutſchlands unter den Segnungen bürgerlicher Freiheit hat auch jene Augen getroffen, und ſie haben das Göttliche auch in dieſen Bewegungen erkannt, ſicherlich mehr im Geiſt auch der lutheriſchen Kirche, deren Vormänner im ſech- zehnten Jahrhundert ebenſo Starkes gegen Deſpotie und gouvernemen- tale Mißbräuche ſagten, als je auf einer deutſchen Tribüne vorgekom- men, als im Geiſt eines excluſiven, herrſchſüchtigen, höhniſchen und ver- dammenden Credo, das ſie früher geltend gemacht. Das Evangelium predigt Freiheit auf der Baſts der Sitte und des Geſetzes; nicht in dem Lande des politiſchen und kirchlichen Formelnzwanges, ſondern in den Ländern der Freiheit ſpringt die Quelle jenes Glaubens am ſtärkſten, der zu allem Guten ſtärkt und gegen alles Böſe waffnet. Nationalität. * Vom Rhein. Gemeinplätze werden mit Recht von beſchei- denen Schriftſtellern wie von verſtändigen Leſern gemieden gleich ſtau- bigen Feldern. Wer mag ſie umpflügen, wer darauf ernten? Allbe- kannte Dinge, wie die Macht der Nationalität eines großes Volkes und die aufopfernde Vaterlandsliebe gebildeter Staatsbürger, ſind billig im 19ten Jahrhundert ſo ſehr über allen Zweifel erhaben daß aus der Geſammtheit ein jeder mit vollem Vertrauen darauf hinweist als auf ein wohlgefülltes Zeughaus und auf einen fort und fort ſich häufenden Schatz. Mögen auch die Beiſpiele nicht ſogleich zur Hand ſeyn: daß es alſo ſey, iſt ein natürliches und vernünftiges Erforderniß, ein all- gemeiner Vorſatz. Und was noch nicht Wahrheit iſt, kann Wahrheit werden. Auch Fictionen und Vorſtellungen werden zu Wirklichkeiten ſobald die Menſchen daran glauben. Siegreiche Thatſachen bringen ihnen das Anſehen von Geſetz und Recht. Haben nicht die Schweizer trotz dreier Nationalitäten nur eine Nation, trotz 22 Souveränetäten nur ein Vaterland vorſtellen wollen? Und die Tagſatzung hat die Theorie durchgeführt. Da aber andrer Orten die Sache unter ähn- lichen Umſtänden doch anders ſtehen dürfte, iſt es für alle Fälle da nicht weiſe jene Waffen im Zeughauſe zu muſtern, jene Schätze zu wägen? Es iſt ja Friede und alle Zeit dazu, ja in Deutſchland iſt es umſomehr eine Ehrenſache uns ſelbſt darüber klar zu werden, als die Fremden davon eine weit geringere oder gar keine Meinung haben. Die Begriffe Nationalität und Vaterland haben eine naturwüchſige, hiſtoriſche und eine theoretiſche, abſtracte Seite. An welcher von beiden hängt das Herz der Menſchen? An dem reinen Blut gemeinſamer Al- ſtammung, oder an der gemeinſamen geiſtigen und politiſchen Errun- genſchaft? Und wo iſt das Vaterland der Vaterlandsliebe? In der Heimath, dem Stammland, innerhalb der Sprachgränze, oder in dem Staat, dem Ideal des geiſtigen Geſammtlebens? Die Zeiten wechſeln und mit ihnen ändern ſich die Antworten auf ſolche Fragen. Auffal- lend iſt auf den erſten Blick wie in unſerm Jahrhundert, deſſen nivel- lirende Cultur für die höhern Stände alle Entfernungen und Unter- ſchiede aufzuheben ſcheint, dennoch der Begriff der Nationalitäten ſich zu Gegenſätzen geſteigert hat, wie ſie die frühere chriſtliche Zeitrechnung nicht kannte. Freilich umfaßt das Band einer einzigen Kirche jetzt nicht mehr alle Völker Europa’s, und die höhere chriſtliche Bruderſchaft gilt unter ihnen nicht länger. Allein dieſer Grund wirkt ſchon 300 Jahre. Näher noch liegt die Erklärung daß eben in Europa überhaupt nur vier große Nationen ſich in die Weltherrſchaft theilen und um den er- ſten Rang ſtreiten — eine jede mit eignen Vorzügen. Daher die ins Auge fallende Eiferſucht der Bewerber. Bei der deutſchen Nation iſt der Eifer dadurch ſchon zu erklären daß ihr ſozuſagen die moraliſche Perſönlichkeit abgeht, die Beweiskraft der äußeren Erſcheinung. Denn die Form und Einkleidung des Bundes entſpricht dem National-Ideal weder nach rationaliſtiſcher noch hiſtoriſcher Auffaſſung vollkommen. Ziehen wir als Nation das Gedächtniß unſrer Vorzeit, unſrer eigenen Jugendanlagen zu Rathe, ſo werden wir uns nicht ohne Nutzen orientiren. Das Bewußtſeyn der Angehörigkeit durch die Geburt galt bei den Völkern deutſchen Blutes urſprünglich dem Stamm- und Stammesnamen. In dem Spiegel der Geſchichte erkennen wir uns ſo zuerſt ohne Einheit der Herrſchaft und des nationalen Namens. Beide übertrugen zuerſt die Franken gewaltſam auf die übrigen Hauptſtämme — der Schwaben, Bayern und Sachſen. Der große Karl brach recht abfichtlich das Weſen der Stämme, und gab eine andere Ordnung durch Reich und Kirche. Mit der Ehre und dem Segen der römiſchen Kaiſerkrone wächst das gemeinſame Bewußtſeyn erſt langſam heran zum Nationalſtolz, zum vernünftigen Willen des Zuſammenhaltens und zu einem bleibenden Ideal. Durch die Schwächung des fränkiſchen Elementes bei den Theilun- gen ein Jahrhundert nach Karl ſchlug auf deutſchem Boden zwar die Macht der Natur und die Eigenthümlichkeit der übrigen Stämme wie- der durch, und behauptete über 300 Jahre in den Nationalherzogthü- mern und deren Marken ihr Recht. Dieß ſind die Jahrhunderte der Ottonen, Salier und Hohenſtaufen. Durchſchnitten aber und unter- bunden wurden die Hauptadern der Stämme allmählich durch die Erb- lichkeit der Herzogthümer, die Trennung der Marken, die Exemtionen der geiſtlichen Stifter, die Städtebünde, dann durch den Erbgang der fürſtlichen Häuſer und ihre Theilungen; ſpäter durch die Religions- ſpaltung; auch durch Verſchiebung der alten Stammnamen, und end- lich durch Kriege, Friedensſchlüſſe und Congreßverfügungen. So bleibt denn in unſern Tagen, außer den Gränzen welche die Landeshoheit und Souveränetät gezogen, und denjenigen welche die Sprachforſcher müh- ſam ſuchen, zwiſchen den alten deutſchen Stämmen kaum ein anderer Gegenſatz übrig als die unzutreffende charakterloſe Unterſcheidung von Nord- und Süddeutſchen. Die naturwüchſige Stammliebe ſcheint die Entfaltung der Nationalität nicht länger zu behindern. Wir müſſen alſo nach andern Unterſcheidungen fragen, und zunächſt nach dem Ein- fluß welchen die Eintheilung in verſchiedene Staaten derſelben Natio- nalität auf die Geſammtnation übt. Verſchiedene Staaten derſelben Nationalität hatte wohl auch die antike Welt der Griechen mit und ohne Bund. Allein dieſe Griechen in ihrer guten Zeit waren von Nachbarn *) D. h. eine gewiſſe Sorte Theoſophen, die eine enge und dünkelhafte Rechthaberei gern hinter der Bibel maskirt, ſprach bei jeder Gelegen- heit von ihrer eigenen ſtupenden „Geiſtestiefe“. Trübe Waſſer ſehen tief aus, ſind es aber nicht immer. Red. d. Allg. Ztg.

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-04-08T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 87, 27. März 1848, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine87_1848/9>, abgerufen am 24.11.2024.