Allgemeine Zeitung, Nr. 96, 6. April 1849.[Spaltenumbruch]
gefährlich hält. Man kann wohl sagen daß Guizot für die französische Während Guizot sich ganz auf der Höhe der allgemeinsten Politik Thiers begriff vollkommen daß in solchen Verhältnissen das erste Auf- Wir haben von Thiers zwei Arbeiten im Auge, wenn man die erste, Es werden sich unsere Leser wohl noch dessen erinnern wie mit der Er beginnt den eigentlichen Inhalt seiner Rede, indem er die gegen- [Spaltenumbruch]
gefährlich hält. Man kann wohl ſagen daß Guizot für die franzöſiſche Während Guizot ſich ganz auf der Höhe der allgemeinſten Politik Thiers begriff vollkommen daß in ſolchen Verhältniſſen das erſte Auf- Wir haben von Thiers zwei Arbeiten im Auge, wenn man die erſte, Es werden ſich unſere Leſer wohl noch deſſen erinnern wie mit der Er beginnt den eigentlichen Inhalt ſeiner Rede, indem er die gegen- <TEI> <text> <body> <div type="jSupplement" n="1"> <floatingText> <body> <div type="jPoliticalNews" n="2"> <div type="jComment" n="3"> <p><pb facs="#f0010" n="1474"/><cb/> gefährlich hält. Man kann wohl ſagen daß Guizot für die franzöſiſche<lb/> Republik unmöglicher iſt als dieſe Republik es für Guizot iſt. Aber Eins<lb/> ſcheint doch das Hauptergebniß dieſer Schrift für den unbefangenen Beob-<lb/> achter: daß Guizot mit ſeiner entſchieden conſervativen Ueberzeugung<lb/> der Republik ebenſo viel nützen würde als er eben durch dieſelbe dem<lb/> Königthum geſchadet hat. Denn dieſes iſt ſchon ſeiner Natur nach con-<lb/> ſervativ, jene iſt ihrer Natur nach in ſteter Bewegung. Nur eine Reihe<lb/> ſolcher Männer wie Guizot werden die Republik in Frankreich retten; für<lb/> das königliche Frankreich war ſchon <hi rendition="#g">einer</hi> zu viel. Und darum glauben<lb/> wir daß dereinſt, wenn Guizot Leben und Kraft bleibt, die Republik an<lb/> ihm noch einmal ihre Hauptſtütze finden wird; die Aufnahme Guizots in<lb/> Paris aber wird der ſchlagendſte Beweis von der Lebensfähigkeit des<lb/> Staates ſeyn, an deſſen Umſturz Guizot ſo wichtigen Theil genommen.</p><lb/> <p>Während Guizot ſich ganz auf der Höhe der allgemeinſten Politik<lb/> hält, tritt Thiers, der Mann der Rue Poitiers, in ganz anderer Weiſe<lb/> auf. Der Blitz der Revolution iſt unmittelbar neben ihm in den Boden<lb/> geſchlagen. Es iſt nicht mehr ſeine Sache mit den Naturkräften der Ge-<lb/> ſchichte zu ſtreiten; er will keinen Kampf mit einer Gewalt die einen Thron<lb/> und einen Rivalen in vierundzwanzig Stunden aus dem Buche der Ge-<lb/> ſchichte ſpurlos verwiſchte. Sein Herz und ſein Geiſt hängt an keiner<lb/> Regierungsform; ihm kommt es darauf an in der gegebenen Form ſeinen<lb/> Platz für ſeine großen Talente zu finden. Als die Republik des Ideals<lb/> unter Lamartine ſich auf den Thron ſetzte, ſtand Thiers ruhig betrachtend<lb/> im Hintergrunde. Er erkannte bald daß die neuen, zum Theil noch ganz<lb/> chaotiſchen, zum Theil ganz unvernünftigen Ideen welche die neue Re-<lb/> publik unter ihrem Herzen trug, nicht das Gebiet ſeyen auf dem ein<lb/> Staatsmann ſeine Stellung bauen könne; er überließ es Lamartine den<lb/> Fall des Engels der Politik praktiſch durchzumachen; erſt als die Elemente<lb/> ſich klärten, trat er auf, und mit bewundernswerther Schärfe wies er ſich<lb/> ſogleich ſeinen Platz als Parteiführer an. Er ſah ebenſo gut als Guizot<lb/> die Maſſe, die der letztere in der citirten Schrift Cap. <hi rendition="#aq">III</hi> die „guten Bür-<lb/> ger“ nennt, und deren Grundſatz es war: „Wir wollen warten. Vielleicht<lb/> wird die Republik anders ſeyn; möge die Erfahrung uns belehren; ſie ſoll<lb/> durch keine Gewaltthätigkeit geſtört werden.“ Thiers erkannte daß dieſer<lb/> Maſſe ein Führer, und mehr noch, daß ihr ein Feldgeſchrei fehle. Er<lb/> wußte als erfahrener Mann daß gerade dieſe Maſſe ſelten beſtimmt iſt in<lb/> dem was ſie will, daß ſie aber in gewiſſen Fragen ſehr beſtimmt weiß was<lb/> ſie nicht will. Er bedachte wohl daß ſie gegen den der ſie in dieſen Fragen<lb/> vertritt, ſehr dankbar iſt; er beſchloß ſich an ihre Spitze zu ſtellen, und<lb/> die Bahn der Zukunft für ſich offen zu halten. Wenn das Wort Bour-<lb/> geoiſie nicht eine Nebenbedeutung hätte, ſo würden wir ſagen daß Thiers<lb/> ſich von der Zeit ſeines neueſten Auftretens an zum Doctrinär der Bour-<lb/> geoiſie gemacht hat. Er hat zum erſtenmal den Schild erhoben gegen die<lb/><hi rendition="#g">ſociale</hi> Republik, wie Guizot gegen die <hi rendition="#g">demokratiſche</hi>. Und damit<lb/> iſt denn für den der Frankreich kennt im Grunde die Stellung beider Män-<lb/> ner bezeichnet.</p><lb/> <p>Thiers begriff vollkommen daß in ſolchen Verhältniſſen das erſte Auf-<lb/> treten — wenn es wirken ſoll — definitiv die Stellung des öffentlichen<lb/> Charakters umgeben muß. Er begann mit ſeiner Rede gegen Proudhon,<lb/> die wirklich ein kleines Meiſterſtück iſt. Die Republik iſt ihm und ſeinen<lb/> Freunden kein Gegenſtand des Kampfes, ſie iſt eine Thatſache. „Meine<lb/> Freunde und ich, wir haben die Republik nicht <hi rendition="#g">gemacht</hi>, wir haben ſie<lb/> nicht <hi rendition="#g">gewünſcht</hi>, aber wir nehmen ſie redlich und <hi rendition="#g">aufrichtigan</hi>.“ Das<lb/> iſt das Loſungswort des Bürgerſtandes: die aufrichtige <hi rendition="#g">Annahme</hi> der<lb/> Republik. Der trockene Verſtand des Bürgers ſieht ein daß die Frage nach<lb/> der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Republik eine gänzlich müßige iſt;<lb/> es find die dunkel geahnten <hi rendition="#g">Conſequenzen</hi> der Republik auf die ſein<lb/> Inſtinct den beſorgten Blick richtet; wer vor den Conſequenzen ſchützt,<lb/> wird die Republik in Händen haben; und die bedenklichſte dieſer Conſe-<lb/> quenzen iſt die <hi rendition="#g">ſociale</hi>. Das erkennt Thiers, und ihr tritt er daher mit<lb/> Entſchiedenheit entgegen. Gleich ſein erſtes Auftreten gegen Proudhon<lb/> zeichnet ihn als den Vorkämpfer der antiſocialen Richtung, der Republik<lb/> welche die ſociale Entwicklung nicht mehr und nicht weniger will als das<lb/> Königthum, und welche daher denn auch — das iſt es worauf es ankommt<lb/> — nicht größere Opfer vom Bürger fordert als die Monarchie. Das iſt<lb/> die Bedingung unter der die Bourgeoiſie die Republik angenommen hat;<lb/> die Vertheidigung dieſer Sätze macht Thiers zu einem in ſeiner Stellung<lb/> durchaus ſcharf hingeſtellten Staatsmann; es iſt das <hi rendition="#aq">moneyed interest</hi><lb/> das er vertritt.</p><lb/> <p>Wir haben von Thiers zwei Arbeiten im Auge, wenn man die erſte,<lb/> die Rede über das Eigenthum und das Recht auf Arbeit, neben der aus-<lb/> führlicheren Schrift „das Eigenthum“ ſo nennen will. Es iſt die letztere<lb/> Schrift im Grunde nur eine weitläuftigere und gründlichere Darlegung<lb/> deſſen was in ſeiner Rede berührt ward, und inſofern von mehr wiſſen-<lb/> ſchaftlichem Intereſſe, während bei jener das politiſche Intereſſe größer iſt.<lb/><cb/> Wir werden daher jene beſonders im Auge haben; ſie zeigt mit den Ueber-<lb/> zeugungen des Redners zugleich die Stellung welche die frühere Linke der<lb/> Kammer in der neuen Ordnung der Dinge einnimmt, und erregt daher<lb/> doppeltes Intereſſe.</p><lb/> <p>Es werden ſich unſere Leſer wohl noch deſſen erinnern wie mit der<lb/> Februar-Revolution die alte Linke plötzlich in den Hintergrund trat, und<lb/> wie die Zweifelhaftigkeit ihres Auftretens bei den Reformbanketten ihr<lb/> eine Niederlage beigebracht hatte von der ſie ſich ſchwer wieder erholte.<lb/> Dennoch erholte ſie ſich; ſie erſchien wieder in der Kammer, und die neue<lb/> Linke trat ihr jetzt als erbitterte Gegnerin entgegen. Unter den vielen<lb/> Vorwürfen mit denen man die erſtere zu vernichten dachte, war der nicht<lb/> der geringſte daß ſich die alte Oppoſition zwar ſehr mit ihren eigenen,<lb/> aber niemals mit den Angelegenheiten des niedern Volks, niemals mit der<lb/> ſocialen Frage beſchäftigt habe. Niemals habe Thiers etwas für die Arbei-<lb/> terclaſſe gethan, niemals ſich ein klares Bild von ihrer Lage gemacht, nie-<lb/> mals einen beſtimmten Plan ausgearbeitet oder verfolgt. Dieſer Vorwurf<lb/> laſtete ſchwer auf Thiers und ſeiner Partei; er galt ſelbſt für die Bour-<lb/> geoiſie, denn ihr nüchterner Verſtand ſah ſehr wohl ein daß die Verhält-<lb/> niſſe von den Leitern des Staats hierüber wenigſtens eine klare Einſicht<lb/> forderten. Wie ſollte ihr Haupt den Socialismus bekämpfen, wenn er ihn<lb/> nicht kannte? Woher ſollte man Vertrauen zu ihm nehmen, wenn er wäh-<lb/> rend des ganzen Juliuskönigthums ſich niemals mit dieſer Frage beſchäf-<lb/> tigt hatte? Dieſe Bedenklichkeit mußte Thiers vor allem zerſtören, und er<lb/> that dieß mit der ihm eigenen Leichtigkeit und Sicherheit, mit der er von<lb/> jeher als Redner ſo glänzende Siege gewonnen.</p><lb/> <p>Er beginnt den eigentlichen Inhalt ſeiner Rede, indem er die gegen-<lb/> ſeitige Stellung klar macht. „Ihr klagt die alte Staatswirthſchaft, die<lb/> alten Staatsmänner an: das Loos des Volkes nicht verbeſſert zu haben.“<lb/> Ich antworte mit derſelben Frage: „welches ſind Eure Mittel?“ Die bei-<lb/> den Principien der alten und neuen Volkswirthſchaft, der alten und neuen<lb/> Verwaltung in Beziehung auf die niederen Claſſen treten ſich entgegen.<lb/> Der Gang der Darlegung iſt klar. Thiers zeigt zunächſt was die erſte iſt,<lb/> worauf ſie ſich begründet, und was die alten Staatsmänner gethan.<lb/> „Meine Herren, als Staatsmann habe ich Unterſuchungen angeſtellt, ich<lb/> ſtelle ſie täglich als Privatmann an, über den Zuſtand der arbeitenden<lb/> Claſſen, über die Bedingungen der Arbeit, über die der Erzeugung; denn<lb/> die Staatsmänner die Sie gleichgültig gegen das Volkswohl nennen, haben<lb/> ſich gewiſſenhaft mit deſſen Bedingungen beſchäftigt. Möglich daß ſie nicht<lb/> vermocht haben dieſelben aufzufinden oder zu verwirklichen, aber gewollt<lb/> und verſucht haben ſie es.“ Die Ergebniſſe dieſer Unterſuchungen, die zu-<lb/> nächſt dem praktiſchen Staatsmanne angehören, ſind anders als die welche<lb/> die ſociale Republik ihren Forderungen zum Grunde legt. Es iſt <hi rendition="#g">nicht<lb/> wahr</hi> daß der Zuſtand der arbeitenden Claſſen ein ſchlechterer iſt als er<lb/> früher geweſen; es iſt <hi rendition="#g">wahr</hi> im Gegentbeil daß der Arbeiter gegenwärtig<lb/><hi rendition="#g">mehr</hi>, und bedeutend mehr verdient als früher, ja als vor zehn, vor<lb/> zwanzig Jahren. Thiers weist dieß an höchſt intereſſanten Beiſpielen nach,<lb/> und mit dieſen Zahlen gewaffnet tritt er im Namen der Bougeoiſie den<lb/> utopiſtiſchen Forderungen der ſocialen Linken entgegen. Nicht minder be-<lb/> ſtimmt und klar iſt er in Beziehung auf die Theorie. Er zeigt zuerſt daß<lb/> die Baſts aller Civiliſation das vielbeſtrittene <hi rendition="#g">Eigenthum</hi> iſt, das mit<lb/> der <hi rendition="#g">Freiheit</hi> Hand in Hand gehen muß; daß aber dieſes Eigenthum ſel-<lb/> ber wieder nur die Frucht der <hi rendition="#g">Arbeit</hi> ſeyn kann, ohne die es nie entſtan-<lb/> den wäre, ohne die das entſtandene untergehen muß. Dieſer Theil ſeiner<lb/> Rede iſt in ſeiner ſpäteren Schrift mit großer Klarheit und Eleganz dar-<lb/> gelegt; es iſt der Beweis deſſen die Bourgeoiſie auf zweien Punkten vor-<lb/> züglich bedarf: erſtlich gegen die Forderung einer gleichmäßigern Berthei-<lb/> lung des Vermögens, zweitens gegen die Forderung einer bedeutenderen<lb/> Unterſtützung der Armen. Endlich greift Thiers die Syſteme der ſocialen<lb/> Republik, den Communismus und Socialismus oder das Princip der Ge-<lb/> ſellſchaftung an. Er hat den Muth den guten Willen in ihnen anzuer-<lb/> kennen; aber er will von ihnen aus keine praktiſche Maßregel — „gewiß,<lb/> es bedarf das Leben großer und erhabener Ideen, und auch ich bin und<lb/> werde ſeyn ein Vertreter des Idealen; aber wenn es ſich vom Volk, vom<lb/> Lohn, vom Verbrauch handelt, ſo muß man beſtimmte Zahlen haben.“<lb/> Das Gebiet der Zahlen iſt das unnahbare für jede ſociale Idee; mit ſiche-<lb/> rer Hand weiß Thiers von den Abſtractionen den Blick in dieſe praktiſche<lb/> aber ſtarre Welt zurückzulenken. Wie er von dem Verdienſte redet, haben<lb/> wir ſchon bezeichnet; ſchlagender aber iſt der Schluß der Rede, wo er nach-<lb/> weist daß im Grunde die ſociale Republik nur das Umgekehrte der ariſto-<lb/> kratiſchen thut, indem ſie, auf Koſten aller übrigen Mitglieder der Geſell-<lb/> ſchaft, den Handarbeiter ernähren und pflegen will. Hier häufen ſich treff-<lb/> liche Gedanken; ſie faſſen ſich in dem Schlußſatze zuſammen: das Recht<lb/> auf Arbeit wollt ihr dem Handarbeiter zugeſtehen, dem Mitgliede der<lb/> höheren Stände nicht; „das Recht aber iſt das Erbtheil aller; wenn es nur<lb/> für <hi rendition="#g">eine</hi> Claſſe gilt ſo <hi rendition="#g">iſt es keins; ein Recht das man dieſem be-<lb/></hi></p> </div> </div> </body> </floatingText> </div> </body> </text> </TEI> [1474/0010]
gefährlich hält. Man kann wohl ſagen daß Guizot für die franzöſiſche
Republik unmöglicher iſt als dieſe Republik es für Guizot iſt. Aber Eins
ſcheint doch das Hauptergebniß dieſer Schrift für den unbefangenen Beob-
achter: daß Guizot mit ſeiner entſchieden conſervativen Ueberzeugung
der Republik ebenſo viel nützen würde als er eben durch dieſelbe dem
Königthum geſchadet hat. Denn dieſes iſt ſchon ſeiner Natur nach con-
ſervativ, jene iſt ihrer Natur nach in ſteter Bewegung. Nur eine Reihe
ſolcher Männer wie Guizot werden die Republik in Frankreich retten; für
das königliche Frankreich war ſchon einer zu viel. Und darum glauben
wir daß dereinſt, wenn Guizot Leben und Kraft bleibt, die Republik an
ihm noch einmal ihre Hauptſtütze finden wird; die Aufnahme Guizots in
Paris aber wird der ſchlagendſte Beweis von der Lebensfähigkeit des
Staates ſeyn, an deſſen Umſturz Guizot ſo wichtigen Theil genommen.
Während Guizot ſich ganz auf der Höhe der allgemeinſten Politik
hält, tritt Thiers, der Mann der Rue Poitiers, in ganz anderer Weiſe
auf. Der Blitz der Revolution iſt unmittelbar neben ihm in den Boden
geſchlagen. Es iſt nicht mehr ſeine Sache mit den Naturkräften der Ge-
ſchichte zu ſtreiten; er will keinen Kampf mit einer Gewalt die einen Thron
und einen Rivalen in vierundzwanzig Stunden aus dem Buche der Ge-
ſchichte ſpurlos verwiſchte. Sein Herz und ſein Geiſt hängt an keiner
Regierungsform; ihm kommt es darauf an in der gegebenen Form ſeinen
Platz für ſeine großen Talente zu finden. Als die Republik des Ideals
unter Lamartine ſich auf den Thron ſetzte, ſtand Thiers ruhig betrachtend
im Hintergrunde. Er erkannte bald daß die neuen, zum Theil noch ganz
chaotiſchen, zum Theil ganz unvernünftigen Ideen welche die neue Re-
publik unter ihrem Herzen trug, nicht das Gebiet ſeyen auf dem ein
Staatsmann ſeine Stellung bauen könne; er überließ es Lamartine den
Fall des Engels der Politik praktiſch durchzumachen; erſt als die Elemente
ſich klärten, trat er auf, und mit bewundernswerther Schärfe wies er ſich
ſogleich ſeinen Platz als Parteiführer an. Er ſah ebenſo gut als Guizot
die Maſſe, die der letztere in der citirten Schrift Cap. III die „guten Bür-
ger“ nennt, und deren Grundſatz es war: „Wir wollen warten. Vielleicht
wird die Republik anders ſeyn; möge die Erfahrung uns belehren; ſie ſoll
durch keine Gewaltthätigkeit geſtört werden.“ Thiers erkannte daß dieſer
Maſſe ein Führer, und mehr noch, daß ihr ein Feldgeſchrei fehle. Er
wußte als erfahrener Mann daß gerade dieſe Maſſe ſelten beſtimmt iſt in
dem was ſie will, daß ſie aber in gewiſſen Fragen ſehr beſtimmt weiß was
ſie nicht will. Er bedachte wohl daß ſie gegen den der ſie in dieſen Fragen
vertritt, ſehr dankbar iſt; er beſchloß ſich an ihre Spitze zu ſtellen, und
die Bahn der Zukunft für ſich offen zu halten. Wenn das Wort Bour-
geoiſie nicht eine Nebenbedeutung hätte, ſo würden wir ſagen daß Thiers
ſich von der Zeit ſeines neueſten Auftretens an zum Doctrinär der Bour-
geoiſie gemacht hat. Er hat zum erſtenmal den Schild erhoben gegen die
ſociale Republik, wie Guizot gegen die demokratiſche. Und damit
iſt denn für den der Frankreich kennt im Grunde die Stellung beider Män-
ner bezeichnet.
Thiers begriff vollkommen daß in ſolchen Verhältniſſen das erſte Auf-
treten — wenn es wirken ſoll — definitiv die Stellung des öffentlichen
Charakters umgeben muß. Er begann mit ſeiner Rede gegen Proudhon,
die wirklich ein kleines Meiſterſtück iſt. Die Republik iſt ihm und ſeinen
Freunden kein Gegenſtand des Kampfes, ſie iſt eine Thatſache. „Meine
Freunde und ich, wir haben die Republik nicht gemacht, wir haben ſie
nicht gewünſcht, aber wir nehmen ſie redlich und aufrichtigan.“ Das
iſt das Loſungswort des Bürgerſtandes: die aufrichtige Annahme der
Republik. Der trockene Verſtand des Bürgers ſieht ein daß die Frage nach
der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Republik eine gänzlich müßige iſt;
es find die dunkel geahnten Conſequenzen der Republik auf die ſein
Inſtinct den beſorgten Blick richtet; wer vor den Conſequenzen ſchützt,
wird die Republik in Händen haben; und die bedenklichſte dieſer Conſe-
quenzen iſt die ſociale. Das erkennt Thiers, und ihr tritt er daher mit
Entſchiedenheit entgegen. Gleich ſein erſtes Auftreten gegen Proudhon
zeichnet ihn als den Vorkämpfer der antiſocialen Richtung, der Republik
welche die ſociale Entwicklung nicht mehr und nicht weniger will als das
Königthum, und welche daher denn auch — das iſt es worauf es ankommt
— nicht größere Opfer vom Bürger fordert als die Monarchie. Das iſt
die Bedingung unter der die Bourgeoiſie die Republik angenommen hat;
die Vertheidigung dieſer Sätze macht Thiers zu einem in ſeiner Stellung
durchaus ſcharf hingeſtellten Staatsmann; es iſt das moneyed interest
das er vertritt.
Wir haben von Thiers zwei Arbeiten im Auge, wenn man die erſte,
die Rede über das Eigenthum und das Recht auf Arbeit, neben der aus-
führlicheren Schrift „das Eigenthum“ ſo nennen will. Es iſt die letztere
Schrift im Grunde nur eine weitläuftigere und gründlichere Darlegung
deſſen was in ſeiner Rede berührt ward, und inſofern von mehr wiſſen-
ſchaftlichem Intereſſe, während bei jener das politiſche Intereſſe größer iſt.
Wir werden daher jene beſonders im Auge haben; ſie zeigt mit den Ueber-
zeugungen des Redners zugleich die Stellung welche die frühere Linke der
Kammer in der neuen Ordnung der Dinge einnimmt, und erregt daher
doppeltes Intereſſe.
Es werden ſich unſere Leſer wohl noch deſſen erinnern wie mit der
Februar-Revolution die alte Linke plötzlich in den Hintergrund trat, und
wie die Zweifelhaftigkeit ihres Auftretens bei den Reformbanketten ihr
eine Niederlage beigebracht hatte von der ſie ſich ſchwer wieder erholte.
Dennoch erholte ſie ſich; ſie erſchien wieder in der Kammer, und die neue
Linke trat ihr jetzt als erbitterte Gegnerin entgegen. Unter den vielen
Vorwürfen mit denen man die erſtere zu vernichten dachte, war der nicht
der geringſte daß ſich die alte Oppoſition zwar ſehr mit ihren eigenen,
aber niemals mit den Angelegenheiten des niedern Volks, niemals mit der
ſocialen Frage beſchäftigt habe. Niemals habe Thiers etwas für die Arbei-
terclaſſe gethan, niemals ſich ein klares Bild von ihrer Lage gemacht, nie-
mals einen beſtimmten Plan ausgearbeitet oder verfolgt. Dieſer Vorwurf
laſtete ſchwer auf Thiers und ſeiner Partei; er galt ſelbſt für die Bour-
geoiſie, denn ihr nüchterner Verſtand ſah ſehr wohl ein daß die Verhält-
niſſe von den Leitern des Staats hierüber wenigſtens eine klare Einſicht
forderten. Wie ſollte ihr Haupt den Socialismus bekämpfen, wenn er ihn
nicht kannte? Woher ſollte man Vertrauen zu ihm nehmen, wenn er wäh-
rend des ganzen Juliuskönigthums ſich niemals mit dieſer Frage beſchäf-
tigt hatte? Dieſe Bedenklichkeit mußte Thiers vor allem zerſtören, und er
that dieß mit der ihm eigenen Leichtigkeit und Sicherheit, mit der er von
jeher als Redner ſo glänzende Siege gewonnen.
Er beginnt den eigentlichen Inhalt ſeiner Rede, indem er die gegen-
ſeitige Stellung klar macht. „Ihr klagt die alte Staatswirthſchaft, die
alten Staatsmänner an: das Loos des Volkes nicht verbeſſert zu haben.“
Ich antworte mit derſelben Frage: „welches ſind Eure Mittel?“ Die bei-
den Principien der alten und neuen Volkswirthſchaft, der alten und neuen
Verwaltung in Beziehung auf die niederen Claſſen treten ſich entgegen.
Der Gang der Darlegung iſt klar. Thiers zeigt zunächſt was die erſte iſt,
worauf ſie ſich begründet, und was die alten Staatsmänner gethan.
„Meine Herren, als Staatsmann habe ich Unterſuchungen angeſtellt, ich
ſtelle ſie täglich als Privatmann an, über den Zuſtand der arbeitenden
Claſſen, über die Bedingungen der Arbeit, über die der Erzeugung; denn
die Staatsmänner die Sie gleichgültig gegen das Volkswohl nennen, haben
ſich gewiſſenhaft mit deſſen Bedingungen beſchäftigt. Möglich daß ſie nicht
vermocht haben dieſelben aufzufinden oder zu verwirklichen, aber gewollt
und verſucht haben ſie es.“ Die Ergebniſſe dieſer Unterſuchungen, die zu-
nächſt dem praktiſchen Staatsmanne angehören, ſind anders als die welche
die ſociale Republik ihren Forderungen zum Grunde legt. Es iſt nicht
wahr daß der Zuſtand der arbeitenden Claſſen ein ſchlechterer iſt als er
früher geweſen; es iſt wahr im Gegentbeil daß der Arbeiter gegenwärtig
mehr, und bedeutend mehr verdient als früher, ja als vor zehn, vor
zwanzig Jahren. Thiers weist dieß an höchſt intereſſanten Beiſpielen nach,
und mit dieſen Zahlen gewaffnet tritt er im Namen der Bougeoiſie den
utopiſtiſchen Forderungen der ſocialen Linken entgegen. Nicht minder be-
ſtimmt und klar iſt er in Beziehung auf die Theorie. Er zeigt zuerſt daß
die Baſts aller Civiliſation das vielbeſtrittene Eigenthum iſt, das mit
der Freiheit Hand in Hand gehen muß; daß aber dieſes Eigenthum ſel-
ber wieder nur die Frucht der Arbeit ſeyn kann, ohne die es nie entſtan-
den wäre, ohne die das entſtandene untergehen muß. Dieſer Theil ſeiner
Rede iſt in ſeiner ſpäteren Schrift mit großer Klarheit und Eleganz dar-
gelegt; es iſt der Beweis deſſen die Bourgeoiſie auf zweien Punkten vor-
züglich bedarf: erſtlich gegen die Forderung einer gleichmäßigern Berthei-
lung des Vermögens, zweitens gegen die Forderung einer bedeutenderen
Unterſtützung der Armen. Endlich greift Thiers die Syſteme der ſocialen
Republik, den Communismus und Socialismus oder das Princip der Ge-
ſellſchaftung an. Er hat den Muth den guten Willen in ihnen anzuer-
kennen; aber er will von ihnen aus keine praktiſche Maßregel — „gewiß,
es bedarf das Leben großer und erhabener Ideen, und auch ich bin und
werde ſeyn ein Vertreter des Idealen; aber wenn es ſich vom Volk, vom
Lohn, vom Verbrauch handelt, ſo muß man beſtimmte Zahlen haben.“
Das Gebiet der Zahlen iſt das unnahbare für jede ſociale Idee; mit ſiche-
rer Hand weiß Thiers von den Abſtractionen den Blick in dieſe praktiſche
aber ſtarre Welt zurückzulenken. Wie er von dem Verdienſte redet, haben
wir ſchon bezeichnet; ſchlagender aber iſt der Schluß der Rede, wo er nach-
weist daß im Grunde die ſociale Republik nur das Umgekehrte der ariſto-
kratiſchen thut, indem ſie, auf Koſten aller übrigen Mitglieder der Geſell-
ſchaft, den Handarbeiter ernähren und pflegen will. Hier häufen ſich treff-
liche Gedanken; ſie faſſen ſich in dem Schlußſatze zuſammen: das Recht
auf Arbeit wollt ihr dem Handarbeiter zugeſtehen, dem Mitgliede der
höheren Stände nicht; „das Recht aber iſt das Erbtheil aller; wenn es nur
für eine Claſſe gilt ſo iſt es keins; ein Recht das man dieſem be-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2022-09-09T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |