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Badener Zeitung. Nr. 38, Baden (Niederösterreich), 12.05.1909.

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Mittwoch Badener Zeitung 12. Mai 1909 Nr. 38

[Spaltenumbruch]
Zum Schulgesetz-Jubiläum.

Der Wonnemonat dieses Jahres bringt
uns auch ein Jubiläum, welches wir Grund
genug haben, nicht im Zeichen der Freude,
sondern infolge getäuschter Hoffnungen im
Zeichen des Protestes zu begehen. Am 14.
Mai l. J. jährt es sich zum 40. male, daß
jenes Reichsvolksschulgesetz, das eine not-
wendige Folge der 67er Gesetze war und in
seiner ursprünglichen Form, in seinem idealen
Geist vom Auslande mit Achtung zur Kenntnis
genommen wurde, im Inlande einen kleinen
Kulturkampf entfesselte, die kaiserliche Sanktion
erlangte. Die Lehrerschaft Oesterreichs atmete
erleichtert auf, scheinbar befreit von bereits
unerträglich gewordenen Fesseln römischer
Knechtschaft und Metternich'scher Duckmäuser-
politik, die Intelligenz des Reiches und zum
Teil auch das nach Bildung und Fortschritt
lechzende Bürgertum, die unterdrückten Arbeiter-
stände, sie jubelten über das "Geschenk" des
Thrones, das verheißungsoll eine bessere
Zukunft in der Ferne erschimmern ließ. Die
Verfassungsänderung wirkte wie kühl rieselnder
Regenschauer nach langer dumpfbrütender
Gewitterschwüle, nur vom Süden herauf, vom
Zentrum der katholischen Christenheit, vom
Palaste des gottgleichen Papismus aus jagten
noch dräuende Wolken über die Alpenhöhen
und grelle Blitze schossen in die Hofburg nach
Wien, der Bannstrahl sollte treffen, die Ex-
kommunikation ein habsburgisches Canossa
erzwingen. Die liberale, fortschrittzeugende
Bewegung in Oesterreich aber hatte mächtig
eingesetzt und schritt, anfangs wenigstens,
rücksichtslos vorwärts, der widerstrebenden
Gegner nicht achtend. Die Freude über die
Befreiung aus ultramontaner Umklammerung
ließ alle Vorsicht außeracht und man über-
sah jene dunkle Macht, die zähneknirschend
den unbändigen Zorn hinter heimtückischen
Katzbuckeln und honigsüßem Jesuitenlächeln
verbarg, eine neue Taktik einschlug, indem sie
den offenen Kampf vermied, die jungen Ver-
fassungsbestimmungen schlau in selbstfördernde
[Spaltenumbruch] Leitersprossen verwandelte und so langsam
aber sicher, wirkend wie schleichendes Gift,
alle Vertretungskörper von unten bis oben
verseuchte.

Auf diese Weise kam die Schulnovelle
1882 zustande, auf diese Art wurde Ober-
österreich, später Niederösterreich errungen,
dieser Feldzugsplan zeitigte aus dem Anti-
semitismus das moderne Demagogentum des
"Christlichen Sozialismus", diese Aera gebar
uns Machthaber, Schuldespoten wie Lueger,
Geßmann u. s. w., bis wir nun endlich so-
weit gekommen, daß unser einst so gepriesenes
Reichsvolksschulgesetz nur mehr als ein loses,
kraftloses Skelett sein Dasein fristet, denn
die wenigen Sehnen, die noch halbwegs den
gänzlichen Zusammenbruch des Hasner'schen
Triumphes zusammenhalten, sie sind bereits
angeschnitten von der Gewaltzange des Halb-
tagsunterrichtes, von der Verkürzung der
Schulpflicht, vom Gewissenszwang, von der
Disziplinarfuchtel, den hämisch wirkenden
Einreihungspraktiken des "Herrn von Wien"
und seiner gelehrigen Schüler mit und ohne
Regierungsfrack, beziehungsweise vatikanischer
Feldbinde und dogmatisiertem Weisheitsbarett.
Der eigentliche Beweggrund zur großmütig-
wohlwollenden Gewährung der Volksrechte
war das unnachsichtlich gebietende, dem Zeit-
geiste entspringende "Muß", der dynastische
Selbsterhaltungstrieb, das radikale, aber in
seiner weiteren gleichglitigen Anwendung und
Ausführung allmählich einschlummernde Gegen-
mittel für Revolution und republikanische
Strömungen. Beweis dessen, daß die römische
Kurie gar bald herausgebracht hatte, wo
eigentlich der Hase im Pfeffer lag und daß Hoch-
adel und Regierung im Stillen den Mephisto
herbeisehnten, ist die Erfolgspolitik der kleri-
kalen Heilsarmee im Reiche in den letzten
Jahrzehnten, und unsere freisinnigen Parteien
sind von der Vernachlässigung ihrer errungenen
Positionen und der unverantwortlichen Preis-
gebung der freiheitlichen Prinzipien in keiner
Weise freizusprechen. Mandatsjagd und Frak-
tionspolitik, Nationalitätenhader und Liebe-
[Spaltenumbruch] dienerei, Wettkriechen und übertriebene Loya-
lität spielten der lauernden Katze im schwarzen
Sammtpelze alle Fäden in die Hand nnd nun
sitzt sie mit gespreizten Krallen und gierig
funkelnden Augen vor ihrer Beute, entschlossen,
dieselbe nicht so leichten Kaufes wieder aus
den Pranken zu lassen. Unsere Abgeordneten
scheuten den Kulturkampf und haben trotz
aller virtuosen Leisetreterei und krankhaften
Schläfrigkeit ganz übersehen, daß die Ent-
scheidung schon gefallen und sie selbst die
Besiegten sind.

Ihre Schwäche und ihr ängstliches Zurück-
weichen vor jedem Konflikt mit dem Klerus
machte die Vertreter der klerikalen Richtung
im Abgeordnetenhause immer kühner. Als ein
Zeichen dieses Machtgefühls galt der Ausfall
des oberösterreichischen Dechanten Pflügl,
der am 17. Februar 1875 über das Vor-
herrschen absoluter Willkür Beschwerde erhob
und sich dabei folgende von liberaler Seite
energisch zurückgewiesene Verunglimpfung
Kaiser Josef II. erlaubte: "... Durch den
von gewisser Seite, wie ich meine, nicht über-
zeugungsgemäß, aber als Zngmittel halb ver-
götterten Kaiser Josef II., welcher -- die
Hand aufs Herz -- der absoluteste Absolutist
war und welchen der Herr noch zur
rechten Zeit abberief ...
"

Die Argumentation der Klerikalen gegen
das neue Schulgesetz erhellt auch aus einer
weiteren Rede des obgenannten streitbaren
Geistes, der in einer Debatte über das
Schulgesetz am 23. März 1878 die Neuschule
"als einen Vampyr bezeichnete, der dem
Volke das Blut aussaugt und es an
den Bettelstab bringen muß!
"

Der Kampf gegen das Reichsvolksschul-
gesetz nahm nun kein Ende. Fast in jedem
Sessionsabschnitte der beiden Abegeordneten-
häuser wurden Anträge auf Herabminderung
der Schulpflicht und auf Konfessionalisierung
der Schule bis in die jüngste Zeit hinein
eingebracht.

Und wer muß nun die Kriegsentschädi-
gung bezahlen? Das freidenkende Volk,




[Spaltenumbruch]

allen seinen altväterischen Bürgern ersteht da vor
unseren Augen. Wir kehren mit ihm ein in die
niedere Schankstube "zum Löwen" oder "Greifen",
ziehen mit ihm durch die benachbarten Wälder und
Dörfer und sehen ein liebes, niedliches Mädchen jene
vergangene Welt beleben. Wir sehen den gleichen
Jüngling heranreifen, machen beim Lesen der Briefe
aus dieser Zeit seine Freuden und Sorgen als Haus-
vater mit und wir sehen ihn endlich alt, müde vom
Wandern und Ringen und still zurückgezogen in sich
selbst. So sind wir nicht einmal, sondern oft und
oft imstande, den ganzen Lebenslauf eines Menschen
mit Hilfe alter Briefe vor uns aufzurollen. Sei es
jetzt wie bei diesem Beispiele das Leben eines Mannes
der Wissenschaft oder sei es das Leben eines ein-
fachen Handwerkers, der vom Wanderburschen zum
angesehenen Bürger den Weg durchzog oder seien
es die heimlichen Mädchenträume eines unserer Groß-
mütterchens oder ihrer späteren Nöten als Haus-
frauen; kurz, sei es was immer für ein Stück mensch-
lichen Daseins und Empfindens, meistens werden wir
es derart gezeichnet finden, daß wir es gerne betrachten,
weil es so natürlich und harmlos ist.

Fragen wir uns aber jetzt auf das Gewissen:
Würden unsere Nachkommen einmal auch so imstande
sein, unsere Seele aus Briefen zu studieren, würden
sie dann ein erschöpfendes, naturgetreues Bild davon
erhalten, würden sie aber überhaupt ein Interesse für
so etwas haben, weil ihnen der Briefstil unserer
Zeit anmutete?

Nehme man es mir nicht übel, wenn ich diese
Frage kühn verneine.

Heute legen wir nicht mehr unsere Seele in die
schablonenmäßig fabrizierten Episteln; darum wird
sie auch keiner darin finden.

Wenn wir aber angesichts dieser Tatsache nach
deren Urgrund forschen, so gelangen wir zu einer
sehr traurigen Erkenntnis. Die Briefe wurden früher
[Spaltenumbruch] mit mehr Hingebung geschrieben, weil sie mit mehr
Liebe gelesen wurden. Die Teilnahme an den Schick-
salen seiner Lieben war in der Zeit der Zöpfe und
Haarbeutel doch eine größere. Das Blühen des häus-
lichen Gesellschaftslebens und eine unseren Altvätern
ureigene, von dem modernen Naturalismus mit Un-
recht verlästerte, zarte Poesie waren die Wiegen
dieses schönen Gefühles. Es ließe sich gerade über
diesen Punkt viel mehr reden, als in den Rahmen
des gegenwärtigen Aufsatzes hineinpaßt. Ein paar
Worte sollen ihm später noch gewidmet sein.

Einstmals -- um wieder zu dem eigentlichen
Gegenstande zu kommen -- begrüßte man gerne den
Klang des Posthornes, weil man damit die freudige
Erwartung verband, es könnte uns der Postillon eine
Depesche von lieber Hand überbringen. Solche nahm
man freudig an, erbrach klopfenden Herzens das
Siegel und las ihren Inhalt zwei- und dreimale;
dann hob man sie auf als teure Andenken. Noch in
späten Tagen kramte man gerne die Schatulle aus,
in der man seine Briefe verwahrt hielt und durchsah
die alten, zerknitterten Blätter mit Liebe und Weh-
mut. Waren sie doch Erinnerungen aus der Jugend-
zeit, jedes für sich ein kleiner sprechender Freund,
jedes geweiht durch die Züge einer wohlvertrauten,
oft längst erkalteten Hand.

Und die Stammbücher! Etwas längst verschwun-
denes sind sie schon. Nur noch einige gefühlsreiche
Mädchen huldigen meist auch nur in ihren frühen
Jugendjahren diesem altmodischen Brauche, welcher
früher fast jedermann eigen war. Eine gewisse
Lächerlichkeit wird heutzutage oft dabei empfunden,
wenn von den vielen bekannten geistlosen Stamm-
buchversen die Rede ist. Aber, daß solche hohle
Sprüche den Hauptinhalt der Stammbücher bilden,
ist eigentlich auch schon wieder eine Erscheinung aus
der neueren Zeit ihres Verfalles, wo sie nur mehr
von unreifen Menschen gepflegt werden. In Wahrheit
[Spaltenumbruch] jedoch hatten sie einen großen Wert für ihre Be-
sitzer.

Sie zählten in der Zeit, wo es noch keine Pho-
tographie gab und man nicht jedem ein Bild von
sich schenken konnte, zu den wichtigsten Andenken an
ferne oder verstorbene Personen.

Hat die Graphologie mit ihren Uebertrieben-
heiten auch nicht einen besonderen Anklang bei dem
Publikum gefunden, so ist es dennoch eine allbe-
kannte Sache, daß die Schrift von dem persönlichen
Charakter des Schreibers streng abhängig ist. Aus
diesem resultiert die an sich vollkommen richtige Idee
die hauptsächlichsten Eigenarten eines Menschen müssen
sich in seinen Schriftzügen ausprägen. Und dies ist
nicht unwahr, wie sehr man in der Kunst der Deutung
von Handschriften weit über das Ziel geschossen hat.
Es kann daher den Sammlungen von Stammblättern
ein hoher idealer Wert schon aus dem Grunde nie
und nimmer abgesprochen werden. Aber noch ein
zweiter und wichtiger Faktor tritt hinzu. Die Wahl
des Zitates, welches uns der betreffende Freund auf
ein Stammblatt schreibt, läßt unter Umständen Schlüsse
auf seine Denkungsart zu, sowie auch das Verhältnis,
in welchem er zu unserer Person steht, verraten kann.
Manchesmal klingt daraus ein Bekenntnis seines
verborgensten Empfindens, welches er uns gegenüber
hegt, ein Bekenntnis, das er auf diese Art unbewußt
ablegte und uns im gewöhnlichen Verkehre wohl
kaum gewährt hätte.

Allerdings gehört, um solches herauszufinden,
ein scharfer, feinfühlender Blick dazu und vor allem
eine ruhige und kalte Anschauungskraft, welche sich
nie von egoistischer Eitelkeit irreführen läßt und in
kein Wort aus Haß oder Selbstgefallen mehr hinein-
legt, als ursprünglich damit gesagt sein wollte.

So vereinigten sich zwei bedeutendr Faktoren
des Wertes in einem Stammblatte: das Schrift-
denkmal und die Widmung eines Sinnspruches. Zu


Mittwoch Badener Zeitung 12. Mai 1909 Nr. 38

[Spaltenumbruch]
Zum Schulgeſetz-Jubiläum.

Der Wonnemonat dieſes Jahres bringt
uns auch ein Jubiläum, welches wir Grund
genug haben, nicht im Zeichen der Freude,
ſondern infolge getäuſchter Hoffnungen im
Zeichen des Proteſtes zu begehen. Am 14.
Mai l. J. jährt es ſich zum 40. male, daß
jenes Reichsvolksſchulgeſetz, das eine not-
wendige Folge der 67er Geſetze war und in
ſeiner urſprünglichen Form, in ſeinem idealen
Geiſt vom Auslande mit Achtung zur Kenntnis
genommen wurde, im Inlande einen kleinen
Kulturkampf entfeſſelte, die kaiſerliche Sanktion
erlangte. Die Lehrerſchaft Oeſterreichs atmete
erleichtert auf, ſcheinbar befreit von bereits
unerträglich gewordenen Feſſeln römiſcher
Knechtſchaft und Metternich’ſcher Duckmäuſer-
politik, die Intelligenz des Reiches und zum
Teil auch das nach Bildung und Fortſchritt
lechzende Bürgertum, die unterdrückten Arbeiter-
ſtände, ſie jubelten über das „Geſchenk“ des
Thrones, das verheißungsoll eine beſſere
Zukunft in der Ferne erſchimmern ließ. Die
Verfaſſungsänderung wirkte wie kühl rieſelnder
Regenſchauer nach langer dumpfbrütender
Gewitterſchwüle, nur vom Süden herauf, vom
Zentrum der katholiſchen Chriſtenheit, vom
Palaſte des gottgleichen Papismus aus jagten
noch dräuende Wolken über die Alpenhöhen
und grelle Blitze ſchoſſen in die Hofburg nach
Wien, der Bannſtrahl ſollte treffen, die Ex-
kommunikation ein habsburgiſches Canoſſa
erzwingen. Die liberale, fortſchrittzeugende
Bewegung in Oeſterreich aber hatte mächtig
eingeſetzt und ſchritt, anfangs wenigſtens,
rückſichtslos vorwärts, der widerſtrebenden
Gegner nicht achtend. Die Freude über die
Befreiung aus ultramontaner Umklammerung
ließ alle Vorſicht außeracht und man über-
ſah jene dunkle Macht, die zähneknirſchend
den unbändigen Zorn hinter heimtückiſchen
Katzbuckeln und honigſüßem Jeſuitenlächeln
verbarg, eine neue Taktik einſchlug, indem ſie
den offenen Kampf vermied, die jungen Ver-
faſſungsbeſtimmungen ſchlau in ſelbſtfördernde
[Spaltenumbruch] Leiterſproſſen verwandelte und ſo langſam
aber ſicher, wirkend wie ſchleichendes Gift,
alle Vertretungskörper von unten bis oben
verſeuchte.

Auf dieſe Weiſe kam die Schulnovelle
1882 zuſtande, auf dieſe Art wurde Ober-
öſterreich, ſpäter Niederöſterreich errungen,
dieſer Feldzugsplan zeitigte aus dem Anti-
ſemitismus das moderne Demagogentum des
„Chriſtlichen Sozialismus“, dieſe Aera gebar
uns Machthaber, Schuldeſpoten wie Lueger,
Geßmann u. ſ. w., bis wir nun endlich ſo-
weit gekommen, daß unſer einſt ſo geprieſenes
Reichsvolksſchulgeſetz nur mehr als ein loſes,
kraftloſes Skelett ſein Daſein friſtet, denn
die wenigen Sehnen, die noch halbwegs den
gänzlichen Zuſammenbruch des Haſner’ſchen
Triumphes zuſammenhalten, ſie ſind bereits
angeſchnitten von der Gewaltzange des Halb-
tagsunterrichtes, von der Verkürzung der
Schulpflicht, vom Gewiſſenszwang, von der
Disziplinarfuchtel, den hämiſch wirkenden
Einreihungspraktiken des „Herrn von Wien“
und ſeiner gelehrigen Schüler mit und ohne
Regierungsfrack, beziehungsweiſe vatikaniſcher
Feldbinde und dogmatiſiertem Weisheitsbarett.
Der eigentliche Beweggrund zur großmütig-
wohlwollenden Gewährung der Volksrechte
war das unnachſichtlich gebietende, dem Zeit-
geiſte entſpringende „Muß“, der dynaſtiſche
Selbſterhaltungstrieb, das radikale, aber in
ſeiner weiteren gleichglitigen Anwendung und
Ausführung allmählich einſchlummernde Gegen-
mittel für Revolution und republikaniſche
Strömungen. Beweis deſſen, daß die römiſche
Kurie gar bald herausgebracht hatte, wo
eigentlich der Haſe im Pfeffer lag und daß Hoch-
adel und Regierung im Stillen den Mephiſto
herbeiſehnten, iſt die Erfolgspolitik der kleri-
kalen Heilsarmee im Reiche in den letzten
Jahrzehnten, und unſere freiſinnigen Parteien
ſind von der Vernachläſſigung ihrer errungenen
Poſitionen und der unverantwortlichen Preis-
gebung der freiheitlichen Prinzipien in keiner
Weiſe freizuſprechen. Mandatsjagd und Frak-
tionspolitik, Nationalitätenhader und Liebe-
[Spaltenumbruch] dienerei, Wettkriechen und übertriebene Loya-
lität ſpielten der lauernden Katze im ſchwarzen
Sammtpelze alle Fäden in die Hand nnd nun
ſitzt ſie mit geſpreizten Krallen und gierig
funkelnden Augen vor ihrer Beute, entſchloſſen,
dieſelbe nicht ſo leichten Kaufes wieder aus
den Pranken zu laſſen. Unſere Abgeordneten
ſcheuten den Kulturkampf und haben trotz
aller virtuoſen Leiſetreterei und krankhaften
Schläfrigkeit ganz überſehen, daß die Ent-
ſcheidung ſchon gefallen und ſie ſelbſt die
Beſiegten ſind.

Ihre Schwäche und ihr ängſtliches Zurück-
weichen vor jedem Konflikt mit dem Klerus
machte die Vertreter der klerikalen Richtung
im Abgeordnetenhauſe immer kühner. Als ein
Zeichen dieſes Machtgefühls galt der Ausfall
des oberöſterreichiſchen Dechanten Pflügl,
der am 17. Februar 1875 über das Vor-
herrſchen abſoluter Willkür Beſchwerde erhob
und ſich dabei folgende von liberaler Seite
energiſch zurückgewieſene Verunglimpfung
Kaiſer Joſef II. erlaubte: „... Durch den
von gewiſſer Seite, wie ich meine, nicht über-
zeugungsgemäß, aber als Zngmittel halb ver-
götterten Kaiſer Joſef II., welcher — die
Hand aufs Herz — der abſoluteſte Abſolutiſt
war und welchen der Herr noch zur
rechten Zeit abberief ...

Die Argumentation der Klerikalen gegen
das neue Schulgeſetz erhellt auch aus einer
weiteren Rede des obgenannten ſtreitbaren
Geiſtes, der in einer Debatte über das
Schulgeſetz am 23. März 1878 die Neuſchule
„als einen Vampyr bezeichnete, der dem
Volke das Blut ausſaugt und es an
den Bettelſtab bringen muß!

Der Kampf gegen das Reichsvolksſchul-
geſetz nahm nun kein Ende. Faſt in jedem
Seſſionsabſchnitte der beiden Abegeordneten-
häuſer wurden Anträge auf Herabminderung
der Schulpflicht und auf Konfeſſionaliſierung
der Schule bis in die jüngſte Zeit hinein
eingebracht.

Und wer muß nun die Kriegsentſchädi-
gung bezahlen? Das freidenkende Volk,




[Spaltenumbruch]

allen ſeinen altväteriſchen Bürgern erſteht da vor
unſeren Augen. Wir kehren mit ihm ein in die
niedere Schankſtube „zum Löwen“ oder „Greifen“,
ziehen mit ihm durch die benachbarten Wälder und
Dörfer und ſehen ein liebes, niedliches Mädchen jene
vergangene Welt beleben. Wir ſehen den gleichen
Jüngling heranreifen, machen beim Leſen der Briefe
aus dieſer Zeit ſeine Freuden und Sorgen als Haus-
vater mit und wir ſehen ihn endlich alt, müde vom
Wandern und Ringen und ſtill zurückgezogen in ſich
ſelbſt. So ſind wir nicht einmal, ſondern oft und
oft imſtande, den ganzen Lebenslauf eines Menſchen
mit Hilfe alter Briefe vor uns aufzurollen. Sei es
jetzt wie bei dieſem Beiſpiele das Leben eines Mannes
der Wiſſenſchaft oder ſei es das Leben eines ein-
fachen Handwerkers, der vom Wanderburſchen zum
angeſehenen Bürger den Weg durchzog oder ſeien
es die heimlichen Mädchenträume eines unſerer Groß-
mütterchens oder ihrer ſpäteren Nöten als Haus-
frauen; kurz, ſei es was immer für ein Stück menſch-
lichen Daſeins und Empfindens, meiſtens werden wir
es derart gezeichnet finden, daß wir es gerne betrachten,
weil es ſo natürlich und harmlos iſt.

Fragen wir uns aber jetzt auf das Gewiſſen:
Würden unſere Nachkommen einmal auch ſo imſtande
ſein, unſere Seele aus Briefen zu ſtudieren, würden
ſie dann ein erſchöpfendes, naturgetreues Bild davon
erhalten, würden ſie aber überhaupt ein Intereſſe für
ſo etwas haben, weil ihnen der Briefſtil unſerer
Zeit anmutete?

Nehme man es mir nicht übel, wenn ich dieſe
Frage kühn verneine.

Heute legen wir nicht mehr unſere Seele in die
ſchablonenmäßig fabrizierten Epiſteln; darum wird
ſie auch keiner darin finden.

Wenn wir aber angeſichts dieſer Tatſache nach
deren Urgrund forſchen, ſo gelangen wir zu einer
ſehr traurigen Erkenntnis. Die Briefe wurden früher
[Spaltenumbruch] mit mehr Hingebung geſchrieben, weil ſie mit mehr
Liebe geleſen wurden. Die Teilnahme an den Schick-
ſalen ſeiner Lieben war in der Zeit der Zöpfe und
Haarbeutel doch eine größere. Das Blühen des häus-
lichen Geſellſchaftslebens und eine unſeren Altvätern
ureigene, von dem modernen Naturalismus mit Un-
recht verläſterte, zarte Poeſie waren die Wiegen
dieſes ſchönen Gefühles. Es ließe ſich gerade über
dieſen Punkt viel mehr reden, als in den Rahmen
des gegenwärtigen Aufſatzes hineinpaßt. Ein paar
Worte ſollen ihm ſpäter noch gewidmet ſein.

Einſtmals — um wieder zu dem eigentlichen
Gegenſtande zu kommen — begrüßte man gerne den
Klang des Poſthornes, weil man damit die freudige
Erwartung verband, es könnte uns der Poſtillon eine
Depeſche von lieber Hand überbringen. Solche nahm
man freudig an, erbrach klopfenden Herzens das
Siegel und las ihren Inhalt zwei- und dreimale;
dann hob man ſie auf als teure Andenken. Noch in
ſpäten Tagen kramte man gerne die Schatulle aus,
in der man ſeine Briefe verwahrt hielt und durchſah
die alten, zerknitterten Blätter mit Liebe und Weh-
mut. Waren ſie doch Erinnerungen aus der Jugend-
zeit, jedes für ſich ein kleiner ſprechender Freund,
jedes geweiht durch die Züge einer wohlvertrauten,
oft längſt erkalteten Hand.

Und die Stammbücher! Etwas längſt verſchwun-
denes ſind ſie ſchon. Nur noch einige gefühlsreiche
Mädchen huldigen meiſt auch nur in ihren frühen
Jugendjahren dieſem altmodiſchen Brauche, welcher
früher faſt jedermann eigen war. Eine gewiſſe
Lächerlichkeit wird heutzutage oft dabei empfunden,
wenn von den vielen bekannten geiſtloſen Stamm-
buchverſen die Rede iſt. Aber, daß ſolche hohle
Sprüche den Hauptinhalt der Stammbücher bilden,
iſt eigentlich auch ſchon wieder eine Erſcheinung aus
der neueren Zeit ihres Verfalles, wo ſie nur mehr
von unreifen Menſchen gepflegt werden. In Wahrheit
[Spaltenumbruch] jedoch hatten ſie einen großen Wert für ihre Be-
ſitzer.

Sie zählten in der Zeit, wo es noch keine Pho-
tographie gab und man nicht jedem ein Bild von
ſich ſchenken konnte, zu den wichtigſten Andenken an
ferne oder verſtorbene Perſonen.

Hat die Graphologie mit ihren Uebertrieben-
heiten auch nicht einen beſonderen Anklang bei dem
Publikum gefunden, ſo iſt es dennoch eine allbe-
kannte Sache, daß die Schrift von dem perſönlichen
Charakter des Schreibers ſtreng abhängig iſt. Aus
dieſem reſultiert die an ſich vollkommen richtige Idee
die hauptſächlichſten Eigenarten eines Menſchen müſſen
ſich in ſeinen Schriftzügen ausprägen. Und dies iſt
nicht unwahr, wie ſehr man in der Kunſt der Deutung
von Handſchriften weit über das Ziel geſchoſſen hat.
Es kann daher den Sammlungen von Stammblättern
ein hoher idealer Wert ſchon aus dem Grunde nie
und nimmer abgeſprochen werden. Aber noch ein
zweiter und wichtiger Faktor tritt hinzu. Die Wahl
des Zitates, welches uns der betreffende Freund auf
ein Stammblatt ſchreibt, läßt unter Umſtänden Schlüſſe
auf ſeine Denkungsart zu, ſowie auch das Verhältnis,
in welchem er zu unſerer Perſon ſteht, verraten kann.
Manchesmal klingt daraus ein Bekenntnis ſeines
verborgenſten Empfindens, welches er uns gegenüber
hegt, ein Bekenntnis, das er auf dieſe Art unbewußt
ablegte und uns im gewöhnlichen Verkehre wohl
kaum gewährt hätte.

Allerdings gehört, um ſolches herauszufinden,
ein ſcharfer, feinfühlender Blick dazu und vor allem
eine ruhige und kalte Anſchauungskraft, welche ſich
nie von egoiſtiſcher Eitelkeit irreführen läßt und in
kein Wort aus Haß oder Selbſtgefallen mehr hinein-
legt, als urſprünglich damit geſagt ſein wollte.

So vereinigten ſich zwei bedeutendr Faktoren
des Wertes in einem Stammblatte: das Schrift-
denkmal und die Widmung eines Sinnſpruches. Zu


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[2/0002] Mittwoch Badener Zeitung 12. Mai 1909 Nr. 38 Zum Schulgeſetz-Jubiläum. Der Wonnemonat dieſes Jahres bringt uns auch ein Jubiläum, welches wir Grund genug haben, nicht im Zeichen der Freude, ſondern infolge getäuſchter Hoffnungen im Zeichen des Proteſtes zu begehen. Am 14. Mai l. J. jährt es ſich zum 40. male, daß jenes Reichsvolksſchulgeſetz, das eine not- wendige Folge der 67er Geſetze war und in ſeiner urſprünglichen Form, in ſeinem idealen Geiſt vom Auslande mit Achtung zur Kenntnis genommen wurde, im Inlande einen kleinen Kulturkampf entfeſſelte, die kaiſerliche Sanktion erlangte. Die Lehrerſchaft Oeſterreichs atmete erleichtert auf, ſcheinbar befreit von bereits unerträglich gewordenen Feſſeln römiſcher Knechtſchaft und Metternich’ſcher Duckmäuſer- politik, die Intelligenz des Reiches und zum Teil auch das nach Bildung und Fortſchritt lechzende Bürgertum, die unterdrückten Arbeiter- ſtände, ſie jubelten über das „Geſchenk“ des Thrones, das verheißungsoll eine beſſere Zukunft in der Ferne erſchimmern ließ. Die Verfaſſungsänderung wirkte wie kühl rieſelnder Regenſchauer nach langer dumpfbrütender Gewitterſchwüle, nur vom Süden herauf, vom Zentrum der katholiſchen Chriſtenheit, vom Palaſte des gottgleichen Papismus aus jagten noch dräuende Wolken über die Alpenhöhen und grelle Blitze ſchoſſen in die Hofburg nach Wien, der Bannſtrahl ſollte treffen, die Ex- kommunikation ein habsburgiſches Canoſſa erzwingen. 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Mandatsjagd und Frak- tionspolitik, Nationalitätenhader und Liebe- dienerei, Wettkriechen und übertriebene Loya- lität ſpielten der lauernden Katze im ſchwarzen Sammtpelze alle Fäden in die Hand nnd nun ſitzt ſie mit geſpreizten Krallen und gierig funkelnden Augen vor ihrer Beute, entſchloſſen, dieſelbe nicht ſo leichten Kaufes wieder aus den Pranken zu laſſen. Unſere Abgeordneten ſcheuten den Kulturkampf und haben trotz aller virtuoſen Leiſetreterei und krankhaften Schläfrigkeit ganz überſehen, daß die Ent- ſcheidung ſchon gefallen und ſie ſelbſt die Beſiegten ſind. Ihre Schwäche und ihr ängſtliches Zurück- weichen vor jedem Konflikt mit dem Klerus machte die Vertreter der klerikalen Richtung im Abgeordnetenhauſe immer kühner. Als ein Zeichen dieſes Machtgefühls galt der Ausfall des oberöſterreichiſchen Dechanten Pflügl, der am 17. 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Faſt in jedem Seſſionsabſchnitte der beiden Abegeordneten- häuſer wurden Anträge auf Herabminderung der Schulpflicht und auf Konfeſſionaliſierung der Schule bis in die jüngſte Zeit hinein eingebracht. Und wer muß nun die Kriegsentſchädi- gung bezahlen? Das freidenkende Volk, allen ſeinen altväteriſchen Bürgern erſteht da vor unſeren Augen. Wir kehren mit ihm ein in die niedere Schankſtube „zum Löwen“ oder „Greifen“, ziehen mit ihm durch die benachbarten Wälder und Dörfer und ſehen ein liebes, niedliches Mädchen jene vergangene Welt beleben. Wir ſehen den gleichen Jüngling heranreifen, machen beim Leſen der Briefe aus dieſer Zeit ſeine Freuden und Sorgen als Haus- vater mit und wir ſehen ihn endlich alt, müde vom Wandern und Ringen und ſtill zurückgezogen in ſich ſelbſt. So ſind wir nicht einmal, ſondern oft und oft imſtande, den ganzen Lebenslauf eines Menſchen mit Hilfe alter Briefe vor uns aufzurollen. Sei es jetzt wie bei dieſem Beiſpiele das Leben eines Mannes der Wiſſenſchaft oder ſei es das Leben eines ein- fachen Handwerkers, der vom Wanderburſchen zum angeſehenen Bürger den Weg durchzog oder ſeien es die heimlichen Mädchenträume eines unſerer Groß- mütterchens oder ihrer ſpäteren Nöten als Haus- frauen; kurz, ſei es was immer für ein Stück menſch- lichen Daſeins und Empfindens, meiſtens werden wir es derart gezeichnet finden, daß wir es gerne betrachten, weil es ſo natürlich und harmlos iſt. Fragen wir uns aber jetzt auf das Gewiſſen: Würden unſere Nachkommen einmal auch ſo imſtande ſein, unſere Seele aus Briefen zu ſtudieren, würden ſie dann ein erſchöpfendes, naturgetreues Bild davon erhalten, würden ſie aber überhaupt ein Intereſſe für ſo etwas haben, weil ihnen der Briefſtil unſerer Zeit anmutete? Nehme man es mir nicht übel, wenn ich dieſe Frage kühn verneine. Heute legen wir nicht mehr unſere Seele in die ſchablonenmäßig fabrizierten Epiſteln; darum wird ſie auch keiner darin finden. Wenn wir aber angeſichts dieſer Tatſache nach deren Urgrund forſchen, ſo gelangen wir zu einer ſehr traurigen Erkenntnis. Die Briefe wurden früher mit mehr Hingebung geſchrieben, weil ſie mit mehr Liebe geleſen wurden. Die Teilnahme an den Schick- ſalen ſeiner Lieben war in der Zeit der Zöpfe und Haarbeutel doch eine größere. Das Blühen des häus- lichen Geſellſchaftslebens und eine unſeren Altvätern ureigene, von dem modernen Naturalismus mit Un- recht verläſterte, zarte Poeſie waren die Wiegen dieſes ſchönen Gefühles. Es ließe ſich gerade über dieſen Punkt viel mehr reden, als in den Rahmen des gegenwärtigen Aufſatzes hineinpaßt. Ein paar Worte ſollen ihm ſpäter noch gewidmet ſein. Einſtmals — um wieder zu dem eigentlichen Gegenſtande zu kommen — begrüßte man gerne den Klang des Poſthornes, weil man damit die freudige Erwartung verband, es könnte uns der Poſtillon eine Depeſche von lieber Hand überbringen. Solche nahm man freudig an, erbrach klopfenden Herzens das Siegel und las ihren Inhalt zwei- und dreimale; dann hob man ſie auf als teure Andenken. Noch in ſpäten Tagen kramte man gerne die Schatulle aus, in der man ſeine Briefe verwahrt hielt und durchſah die alten, zerknitterten Blätter mit Liebe und Weh- mut. Waren ſie doch Erinnerungen aus der Jugend- zeit, jedes für ſich ein kleiner ſprechender Freund, jedes geweiht durch die Züge einer wohlvertrauten, oft längſt erkalteten Hand. Und die Stammbücher! Etwas längſt verſchwun- denes ſind ſie ſchon. Nur noch einige gefühlsreiche Mädchen huldigen meiſt auch nur in ihren frühen Jugendjahren dieſem altmodiſchen Brauche, welcher früher faſt jedermann eigen war. Eine gewiſſe Lächerlichkeit wird heutzutage oft dabei empfunden, wenn von den vielen bekannten geiſtloſen Stamm- buchverſen die Rede iſt. Aber, daß ſolche hohle Sprüche den Hauptinhalt der Stammbücher bilden, iſt eigentlich auch ſchon wieder eine Erſcheinung aus der neueren Zeit ihres Verfalles, wo ſie nur mehr von unreifen Menſchen gepflegt werden. In Wahrheit jedoch hatten ſie einen großen Wert für ihre Be- ſitzer. Sie zählten in der Zeit, wo es noch keine Pho- tographie gab und man nicht jedem ein Bild von ſich ſchenken konnte, zu den wichtigſten Andenken an ferne oder verſtorbene Perſonen. Hat die Graphologie mit ihren Uebertrieben- heiten auch nicht einen beſonderen Anklang bei dem Publikum gefunden, ſo iſt es dennoch eine allbe- kannte Sache, daß die Schrift von dem perſönlichen Charakter des Schreibers ſtreng abhängig iſt. Aus dieſem reſultiert die an ſich vollkommen richtige Idee die hauptſächlichſten Eigenarten eines Menſchen müſſen ſich in ſeinen Schriftzügen ausprägen. Und dies iſt nicht unwahr, wie ſehr man in der Kunſt der Deutung von Handſchriften weit über das Ziel geſchoſſen hat. Es kann daher den Sammlungen von Stammblättern ein hoher idealer Wert ſchon aus dem Grunde nie und nimmer abgeſprochen werden. Aber noch ein zweiter und wichtiger Faktor tritt hinzu. Die Wahl des Zitates, welches uns der betreffende Freund auf ein Stammblatt ſchreibt, läßt unter Umſtänden Schlüſſe auf ſeine Denkungsart zu, ſowie auch das Verhältnis, in welchem er zu unſerer Perſon ſteht, verraten kann. Manchesmal klingt daraus ein Bekenntnis ſeines verborgenſten Empfindens, welches er uns gegenüber hegt, ein Bekenntnis, das er auf dieſe Art unbewußt ablegte und uns im gewöhnlichen Verkehre wohl kaum gewährt hätte. Allerdings gehört, um ſolches herauszufinden, ein ſcharfer, feinfühlender Blick dazu und vor allem eine ruhige und kalte Anſchauungskraft, welche ſich nie von egoiſtiſcher Eitelkeit irreführen läßt und in kein Wort aus Haß oder Selbſtgefallen mehr hinein- legt, als urſprünglich damit geſagt ſein wollte. So vereinigten ſich zwei bedeutendr Faktoren des Wertes in einem Stammblatte: das Schrift- denkmal und die Widmung eines Sinnſpruches. Zu

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Zitationshilfe: Badener Zeitung. Nr. 38, Baden (Niederösterreich), 12.05.1909, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_badener038_1909/2>, abgerufen am 21.11.2024.