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Tübinger Chronik. Nr. 13. [Tübingen (Württemberg)], 29. Januar 1845.

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Tübinger
[Abbildung] Chronik.
Eine Zeitschrift für Stadt und Land.


Nro 13.
[Spaltenumbruch] Mittwoch den 29. Januar.[Spaltenumbruch] 1845.


[Beginn Spaltensatz]
Die Laterne.

Während der Julitage traf eine der Patrouillen,
welche die Straßen von Paris säuberten, in der
Straße Moutorgueil spät Abends einen Mann, wie
er eine Laterne herabschlug, um sie hinwegzuschlep-
pen. Ehe er sie jedoch hinwegschaffen konnte, war
er umringt und mußte mit der Laterne in die Wach
stube wandern, um am andern Morgen vor der Be-
hörde Rechenschaft zu geben. Der Mann ließ sich
willig von dannen führen, hielt sich aber immer in
der Nähe der Laterne, auf die er von Zeit zu Zeit
einen schmerzlichen Blick warf. Umsonst hefteten
sich alle Augen der Soldaten mit Verwunderung auf
ihn und "seine Laterne", wie er sie nannte; er blieb
traurig, als ginge er neben der Leiche eines Kindes
her. Sein Aeußeres gab keinen Schlüssel zu diesem
Benehmen. Er schien etwa fünfzig Jahre alt, hatte
das Gesicht eines Ehrenmannes und ganz militä-
rischen Anstand; ein Dieb konnte er nicht seyn. Als
man mit ihm auf der Wache angelangt war, frag-
ten ihn mehrere Soldaten, ob er die Laterne aus
Noth gestohlen habe? - "Nein!" gab er zur Ant-
wort, und ein Thränenstrom stürzte über sein Gesicht.
Man kam, da man ihn so leiden sah, still überein,
ihm die Flucht bequem zu machen, und gab ihm das
unter die Hand. Er blieb, als wüßte er nichts da-
von, und war auch wirklich so vertieft in seinen
Gram, daß er von allen dahin gehenden Andeutun-
gen keine zu verstehen schien. Es wurde ihm nun
deutlich gesagt, daß er sich davon machen könne; er
erhob sich auch wirklich von dem Sessel und ging
einige Schritte auf die Straße hinaus. Doch, ehe
man es sich versah, kehrte er zurück und bat mit be-
wegter Stimme, ihm das Wegtragen der Laterne zu
erlauben. Die Soldaten staunten und fragten nach
dem Beweggrunde dieser sonderbaren Bitte, und der
Mann gab seine Antwort in folgender Erzählung:

"Sie staunen über meine Bitte", sagte er, "Sie
werden sie natürlich finden, wenn Sie erst wissen,
was ich Jhnen mittheilen will. Ein Bild, ein Ring
mit Haaren, eine verwelkte Blume und andere nich-
tige Dinge machen ja oft ein Blatt aus in dem Le-
ben eines Menschen: sie sind für denselben der Ge-
danke eines geschwundenen Glücks, das Vermächtniß
einer theuern Person, welche nicht mehr ist. Alle
Dinge erhalten ihren Werth nur dadurch, was der
Mensch sich dabei denkt und fühlt, und Jeder hat
[Spaltenumbruch] seine eigenen theuren Reliquien der Art. Und so
ist's mit der Laterne. Sie hat für Andere keinen
Werth und für mich den höchsten; sie ist kein ein-
zelnes Blatt in meinem Leben, sondern mein ganzes
Leben und das Gedächtniß meines Lebens.

Jch war noch sehr jung und etwa sieben Jahre
alt, als die Revolution ausbrach. Mein Vater
wohnte zu Saint=Denis und hielt einen Bäckerladen
daselbst. Wir hatten viele Feinde; diese Beobachtung
drang sich mir auf eine sehr schmerzliche Weise auf,
ohne daß ich die Ursache davon begriff. Allein auf
den Spaziergängen, auf den Wiesen und andern
Spielplätzen hatte ich alle Knaben der Stadt gegen
mich; sie schalten meinen Vater einen Kornjuden,
und prügelten mich. Sie sagten wahrscheinlich, was
sie von ihren Aeltern gehört hatten, und ich entgeg-
nete, was ich von den meinigen vernommen; aber
das geschah ohne Erfolg. Eines Tages brachte man
mich ohnmächtig und blutend nach Hause; mein
Vater war allein daheim und verbot mir, nachdem
ich wieder zu mir selbst gekommen war, der Mutter
etwas von den Reden der Knaben zu entdecken. Am
andern Tage befand ich mich mit meiner Mutter auf
dem Wege nach Paris. Es war in der Straße
Montorgueil eine Wohnung gemiethet worden. Mein
Vater besuchte uns gewöhnlich nur des Nachts und
kehrte dann wieder nach Saint=Denis zurück. Er
hätte den Ort ganz verlassen und sich bei uns nie-
derlassen sollen, und meine Mutter drang deßhalb
sehr in ihn. Das geschah auch eines Abends - ich
werde ihn nie vergessen: es war der erste August.
Meine Mutter bat, er möchte seinen Laden in der
Straße aufschlagen, wo wir wohnten, aber mein
Vater antwortete ihr ganz zerstreut. Als sie ihn
darauf aufmerksam machte, ging ein bitteres Lächeln
über seine Züge. Er verließ uns.

Er war nicht lange fort, so erhob sich in der
Straße ein fürchterliches Getöse. Wir traten an
das Fenster, konnten aber in der Finsterniß wenig
oder nichts unterscheiden. Ein Haufe tobender Men-
schen wälzte sich durch die Straße bis in die Nähe
unseres Hauses, und als sie sich uns näherten, un-
terschied ich in dem Gewimmel zwei Menschen, welche
einen heftigen Wortwechsel mit einander hatten und
Alle überschrieen; ja, mir schien es, als ob die
Stimme des Einen ganz die unseres Nachbars in
Saint=Denis wäre, dessen Sohn mir mit einem
Steine das Loch in den Kopf geworfen. Als der
Lärm eine Weile gedauert hatte, hörte er allmählig
wieder auf. Jch ging hinab in die Straße, aber
[Ende Spaltensatz]

Tübinger
[Abbildung] Chronik.
Eine Zeitschrift für Stadt und Land.


Nro 13.
[Spaltenumbruch] Mittwoch den 29. Januar.[Spaltenumbruch] 1845.


[Beginn Spaltensatz]
Die Laterne.

Während der Julitage traf eine der Patrouillen,
welche die Straßen von Paris säuberten, in der
Straße Moutorgueil spät Abends einen Mann, wie
er eine Laterne herabschlug, um sie hinwegzuschlep-
pen. Ehe er sie jedoch hinwegschaffen konnte, war
er umringt und mußte mit der Laterne in die Wach
stube wandern, um am andern Morgen vor der Be-
hörde Rechenschaft zu geben. Der Mann ließ sich
willig von dannen führen, hielt sich aber immer in
der Nähe der Laterne, auf die er von Zeit zu Zeit
einen schmerzlichen Blick warf. Umsonst hefteten
sich alle Augen der Soldaten mit Verwunderung auf
ihn und „seine Laterne“, wie er sie nannte; er blieb
traurig, als ginge er neben der Leiche eines Kindes
her. Sein Aeußeres gab keinen Schlüssel zu diesem
Benehmen. Er schien etwa fünfzig Jahre alt, hatte
das Gesicht eines Ehrenmannes und ganz militä-
rischen Anstand; ein Dieb konnte er nicht seyn. Als
man mit ihm auf der Wache angelangt war, frag-
ten ihn mehrere Soldaten, ob er die Laterne aus
Noth gestohlen habe? – „Nein!“ gab er zur Ant-
wort, und ein Thränenstrom stürzte über sein Gesicht.
Man kam, da man ihn so leiden sah, still überein,
ihm die Flucht bequem zu machen, und gab ihm das
unter die Hand. Er blieb, als wüßte er nichts da-
von, und war auch wirklich so vertieft in seinen
Gram, daß er von allen dahin gehenden Andeutun-
gen keine zu verstehen schien. Es wurde ihm nun
deutlich gesagt, daß er sich davon machen könne; er
erhob sich auch wirklich von dem Sessel und ging
einige Schritte auf die Straße hinaus. Doch, ehe
man es sich versah, kehrte er zurück und bat mit be-
wegter Stimme, ihm das Wegtragen der Laterne zu
erlauben. Die Soldaten staunten und fragten nach
dem Beweggrunde dieser sonderbaren Bitte, und der
Mann gab seine Antwort in folgender Erzählung:

„Sie staunen über meine Bitte“, sagte er, „Sie
werden sie natürlich finden, wenn Sie erst wissen,
was ich Jhnen mittheilen will. Ein Bild, ein Ring
mit Haaren, eine verwelkte Blume und andere nich-
tige Dinge machen ja oft ein Blatt aus in dem Le-
ben eines Menschen: sie sind für denselben der Ge-
danke eines geschwundenen Glücks, das Vermächtniß
einer theuern Person, welche nicht mehr ist. Alle
Dinge erhalten ihren Werth nur dadurch, was der
Mensch sich dabei denkt und fühlt, und Jeder hat
[Spaltenumbruch] seine eigenen theuren Reliquien der Art. Und so
ist's mit der Laterne. Sie hat für Andere keinen
Werth und für mich den höchsten; sie ist kein ein-
zelnes Blatt in meinem Leben, sondern mein ganzes
Leben und das Gedächtniß meines Lebens.

Jch war noch sehr jung und etwa sieben Jahre
alt, als die Revolution ausbrach. Mein Vater
wohnte zu Saint=Denis und hielt einen Bäckerladen
daselbst. Wir hatten viele Feinde; diese Beobachtung
drang sich mir auf eine sehr schmerzliche Weise auf,
ohne daß ich die Ursache davon begriff. Allein auf
den Spaziergängen, auf den Wiesen und andern
Spielplätzen hatte ich alle Knaben der Stadt gegen
mich; sie schalten meinen Vater einen Kornjuden,
und prügelten mich. Sie sagten wahrscheinlich, was
sie von ihren Aeltern gehört hatten, und ich entgeg-
nete, was ich von den meinigen vernommen; aber
das geschah ohne Erfolg. Eines Tages brachte man
mich ohnmächtig und blutend nach Hause; mein
Vater war allein daheim und verbot mir, nachdem
ich wieder zu mir selbst gekommen war, der Mutter
etwas von den Reden der Knaben zu entdecken. Am
andern Tage befand ich mich mit meiner Mutter auf
dem Wege nach Paris. Es war in der Straße
Montorgueil eine Wohnung gemiethet worden. Mein
Vater besuchte uns gewöhnlich nur des Nachts und
kehrte dann wieder nach Saint=Denis zurück. Er
hätte den Ort ganz verlassen und sich bei uns nie-
derlassen sollen, und meine Mutter drang deßhalb
sehr in ihn. Das geschah auch eines Abends – ich
werde ihn nie vergessen: es war der erste August.
Meine Mutter bat, er möchte seinen Laden in der
Straße aufschlagen, wo wir wohnten, aber mein
Vater antwortete ihr ganz zerstreut. Als sie ihn
darauf aufmerksam machte, ging ein bitteres Lächeln
über seine Züge. Er verließ uns.

Er war nicht lange fort, so erhob sich in der
Straße ein fürchterliches Getöse. Wir traten an
das Fenster, konnten aber in der Finsterniß wenig
oder nichts unterscheiden. Ein Haufe tobender Men-
schen wälzte sich durch die Straße bis in die Nähe
unseres Hauses, und als sie sich uns näherten, un-
terschied ich in dem Gewimmel zwei Menschen, welche
einen heftigen Wortwechsel mit einander hatten und
Alle überschrieen; ja, mir schien es, als ob die
Stimme des Einen ganz die unseres Nachbars in
Saint=Denis wäre, dessen Sohn mir mit einem
Steine das Loch in den Kopf geworfen. Als der
Lärm eine Weile gedauert hatte, hörte er allmählig
wieder auf. Jch ging hinab in die Straße, aber
[Ende Spaltensatz]

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Zitationshilfe: Tübinger Chronik. Nr. 13. [Tübingen (Württemberg)], 29. Januar 1845, S. [49]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_chronik013_1845/1>, abgerufen am 17.05.2024.