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Tübinger Chronik. Nr. 13. [Tübingen (Württemberg)], 29. Januar 1845.

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[Beginn Spaltensatz] wen ich auch fragte, Niemand konnte mir sagen, was
es mit dem Auflauf für eine Bewandtniß gehabt
habe.

Den Tag darauf zog mich ein neuer Lärm ans
Fenster. Meine Mutter war zum Notar gegangen,
der den Verkauf unserer Bäckerei besorgen sollte.
Es wogte wieder die Straße herauf, und Männer,
Weiber mit aufgeldstem Haar wurden mit fortgeris-
sen von dem Strome. Hie und da blitzte auch wohl
ein Gewehr der Sicherheitsmiliz, ein Bajonett; aber
der wilde Haufe kam wie ein Wirbelwind heran,
und die Gewehre wurden an den Häusern zerschla-
gen, die Soldaten verwundet und erdrückt. Bald
bemerkte ich, daß die ganze Schaar aus Landleuten
und zwar zumeist aus Weibern bestand. Jn ihrer
Mitte wurde ein Mann geschleppt, der ganz mit
Koth bedeckt war und aus mehreren Wunden blu-
tete; seine Kleider waren zerrissen und er selbst bleich,
wie der Tod. Der Unglückliche mühte sich umsonst,
diesen Furien zu entkommen; sie mißhandelten ihn
nur um so mehr. Endlich schrieen sie: hier ist's!
hier ist's! und ich erschrack, denn die rasende Menge
strömte gegen unser Haus. Jch war auf den Bal-
kon gestürzt und sah nun, wie man mit einer Zange
das Blech des Schlosses von der Laterne abriß, wie
das Seil losgeknüpft und die Laterne herabgelassen
wurde. Jn demselben Augenblicke war auch der
mißhandelte Mann statt der Laterne aufgeknüpft und
in die Höhe gezogen. Jch sah ihn heraufschweben
unter dem Geheul der Unmenschen, er kam mir nä-
her - seine Arme schlugen im Todeskampfe und
die Kniee zogen sich zur Brust hinauf - er drehte
sich, wie die Laterne und hing mir gegenüber - mit
dem verzerrten Todesgesicht, dem offenen Mund,
steif und starr - heiliger Gott! mein Blut stand
still, der Balkon schien hinabzustürzen, und ich sank
ohne Bewußtsein nieder. Der Erhängte war mein
Vater. Wie ich wieder zu mir kam, war unsere
Wohnung geplündert, verwüstet und zerschlagen, und
ich lag fiebernd im Bett. Die Leiche meines Vaters
war verschwunden, meine Mutter lag todt in der
Morgue ausgestellt; ich war ein Waise.

( Fortsetzung folgt. )

Schnacken und Schnurren.

Der Schlegelwirth ist ein Pfifficus, wie es we-
nige gibt, er sieht einige drollige Begebenheiten in
der Tübinger Chronik unter dem Artikel "Schnacken
und Schnurren" der Oeffentlichkeit übergeben, und
antwortet unter dem Artikel "Hiesiges" gleich nach
Diebs- und Schweinefleisch-Geschichten. Wie
versöhnlich der Schlegelwirth ist, beweißt er in sei-
nem
( ? ) Aufsatze selbst, wo er sagt: er nehme un-
schuldige Lügen ( ? ) nicht übel. Er beweißt es aber
noch vielmehr dadurch, daß er sich neuerer Zeit ei-
nen geheimen Sekretär hält, dem er wegen etlichen
lumpigen schuldigen Louisd'ors schon alle mögliche
hübsche Titel gab, von verwixtem Ehrenwort u. d. gl.
sprach. Doch sind solche Versöhnungen seine besten
Speculationen, indem er alte Pumpen durch Feder-
arbeiten abverdienen lassen kann. Der Schlegelwirth
ist nicht nur in Verwechslung von Worten, wie z. B.
beim directorischen sondern auch in Abkürzung
[Spaltenumbruch] sehr bewandert, er ruft seit einiger Zeit nicht mehr
"Johann, Johann" sondern "Jann, Jann"!

Woher weißt denn der Schlegelwirth, daß man
den Weisheitszahn nicht so gut einsetzen kann, wie
andere Zähne? Wahrscheinlich wollte er es probiren,
aber, wie er selbst sagt, gelang es nicht.

Ein gutes Gedächtniß hat der Schlegelwirth auch,
er erinnert sich sogar noch eines schon vor Jahr und
Tag verkauften Zuckerfügürles=Laden. Es möge ihm
aber zum Trost dienen, daß er dort auch noch nicht
vergessen ist, und nicht vergessen werden kann, weil
man dort ein Gedächtniß schwarz auf weiß führt.

Welch leidenschaftlicher Blumist er ist, selbst ohne
die Vorlesungen besucht zu haben, kann jeder selbst
sehen, denn er trägt das ganze Jahr eine thautröp-
felnde Chocoladeblume unter der Nase, deren Ge-
schmack freilich nicht in jeder Speise angenehm ist.

Allem Unrecht ist der Schlegelwirth todtfeind,
und wo er es wieder gut machen kann, thut er es,
das beweist er dadurch, daß er die Sage, als wäre
in Tübingen keine Geselligkeit und kein Humor zu
finden, hinlänglich wiederlegt, indem er an die Er-
richtung eines Narrentheaters erinnert, bei welchem
sehr viele Professoren und andere Honoratioren sub-
scribirt hatten.

So viel der Schlegelwirth gute Seiten und Tu-
genden hat, so ist er doch nicht ganz frei von Män-
geln und Schwächen, es ist ihm z. B. bis jetzt noch
nicht gelungen, das Publicum, wie er es an dem Blu-
misten rühmt, durch eigene Affendressur zu belustigen.

Dankbarkeit, die schönste Tugend, hat der Schle-
gelwirth ganz inne, er erwähnt nicht nur Personen,
mit oder ohne Uniform, die ihm schon Gefallen ge-
than haben, selbst das Andenken an einen Kochlöffel,
der schon so oft für ihn gekocht, bleibt ihm ewig im
Herzen.

Beharrlichkeit, eines Mannes und Familienva-
ters würdig, ist Eigenthum des Schlegelwirths. Wie
er sich durch nichts stören läßt, ein Vorhaben durch-
zusetzen, wird eine Kleinigkeit beweisen, bei größeren
Dingen ist sie natürlich noch mehr zu Hause. Als
er noch in der Residenz seine Wirthschaft trieb, gieng
er mit etlichen von seiner Brüderschaft, die zu ihm
zum Schoppen kamen, in ein anderes Wirths-
haus, und vertrieb sich mit ihnen die Zeit mit Spie-
len, um Käsperlen oder was es waren, und wäre
vielleicht noch lange dort gesessen, wenn nicht die lei-
dige Polizei, welche diesen Herrn nur bis nach Mit-
ternacht durch die Finger gesehen hatte, endlich ohne
Gnade abgeboten hätte. Doch so etwas kümmert ei-
nen großen Geist nicht, der weißt sich und andern
zu helfen, er ist gleich besonnen, und nimmt die An-
dern mit sich in sein Haus, getrunken hatten sie
ja schon in einem anderen. Jetzt aber gibt es
neue Schwierigkeiten, die Stube ist eiskalt. Da muß
geholfen werden, die Caroline soll aus dem Bett und
einbrennen, aber die schließt sich mit dem Holzkam-
merschlüssel ins Schlafzimmer, und ist in ihrer Art
so beharrlich, als der Herr Gemahl. Die Andern
glauben, jetzt sey eben nichts anderes zu machen, sie
wollen nach Hause, denn mit so krummen Fingern
kann man keine Karten mischen. Diese Kleinigkeit
läßt der Schlegelwirth nicht zu. Du hast ja einen
Winterrock an, sagt er zu dem Einen, und ich hole
meinen Mantel, und du, sagt er zum Dritten, nimmst
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] wen ich auch fragte, Niemand konnte mir sagen, was
es mit dem Auflauf für eine Bewandtniß gehabt
habe.

Den Tag darauf zog mich ein neuer Lärm ans
Fenster. Meine Mutter war zum Notar gegangen,
der den Verkauf unserer Bäckerei besorgen sollte.
Es wogte wieder die Straße herauf, und Männer,
Weiber mit aufgeldstem Haar wurden mit fortgeris-
sen von dem Strome. Hie und da blitzte auch wohl
ein Gewehr der Sicherheitsmiliz, ein Bajonett; aber
der wilde Haufe kam wie ein Wirbelwind heran,
und die Gewehre wurden an den Häusern zerschla-
gen, die Soldaten verwundet und erdrückt. Bald
bemerkte ich, daß die ganze Schaar aus Landleuten
und zwar zumeist aus Weibern bestand. Jn ihrer
Mitte wurde ein Mann geschleppt, der ganz mit
Koth bedeckt war und aus mehreren Wunden blu-
tete; seine Kleider waren zerrissen und er selbst bleich,
wie der Tod. Der Unglückliche mühte sich umsonst,
diesen Furien zu entkommen; sie mißhandelten ihn
nur um so mehr. Endlich schrieen sie: hier ist's!
hier ist's! und ich erschrack, denn die rasende Menge
strömte gegen unser Haus. Jch war auf den Bal-
kon gestürzt und sah nun, wie man mit einer Zange
das Blech des Schlosses von der Laterne abriß, wie
das Seil losgeknüpft und die Laterne herabgelassen
wurde. Jn demselben Augenblicke war auch der
mißhandelte Mann statt der Laterne aufgeknüpft und
in die Höhe gezogen. Jch sah ihn heraufschweben
unter dem Geheul der Unmenschen, er kam mir nä-
her – seine Arme schlugen im Todeskampfe und
die Kniee zogen sich zur Brust hinauf – er drehte
sich, wie die Laterne und hing mir gegenüber – mit
dem verzerrten Todesgesicht, dem offenen Mund,
steif und starr – heiliger Gott! mein Blut stand
still, der Balkon schien hinabzustürzen, und ich sank
ohne Bewußtsein nieder. Der Erhängte war mein
Vater. Wie ich wieder zu mir kam, war unsere
Wohnung geplündert, verwüstet und zerschlagen, und
ich lag fiebernd im Bett. Die Leiche meines Vaters
war verschwunden, meine Mutter lag todt in der
Morgue ausgestellt; ich war ein Waise.

( Fortsetzung folgt. )

Schnacken und Schnurren.

Der Schlegelwirth ist ein Pfifficus, wie es we-
nige gibt, er sieht einige drollige Begebenheiten in
der Tübinger Chronik unter dem Artikel „Schnacken
und Schnurren“ der Oeffentlichkeit übergeben, und
antwortet unter dem Artikel „Hiesiges“ gleich nach
Diebs- und Schweinefleisch-Geschichten. Wie
versöhnlich der Schlegelwirth ist, beweißt er in sei-
nem
( ? ) Aufsatze selbst, wo er sagt: er nehme un-
schuldige Lügen ( ? ) nicht übel. Er beweißt es aber
noch vielmehr dadurch, daß er sich neuerer Zeit ei-
nen geheimen Sekretär hält, dem er wegen etlichen
lumpigen schuldigen Louisd'ors schon alle mögliche
hübsche Titel gab, von verwixtem Ehrenwort u. d. gl.
sprach. Doch sind solche Versöhnungen seine besten
Speculationen, indem er alte Pumpen durch Feder-
arbeiten abverdienen lassen kann. Der Schlegelwirth
ist nicht nur in Verwechslung von Worten, wie z. B.
beim directorischen sondern auch in Abkürzung
[Spaltenumbruch] sehr bewandert, er ruft seit einiger Zeit nicht mehr
„Johann, Johann“ sondern „Jann, Jann“!

Woher weißt denn der Schlegelwirth, daß man
den Weisheitszahn nicht so gut einsetzen kann, wie
andere Zähne? Wahrscheinlich wollte er es probiren,
aber, wie er selbst sagt, gelang es nicht.

Ein gutes Gedächtniß hat der Schlegelwirth auch,
er erinnert sich sogar noch eines schon vor Jahr und
Tag verkauften Zuckerfügürles=Laden. Es möge ihm
aber zum Trost dienen, daß er dort auch noch nicht
vergessen ist, und nicht vergessen werden kann, weil
man dort ein Gedächtniß schwarz auf weiß führt.

Welch leidenschaftlicher Blumist er ist, selbst ohne
die Vorlesungen besucht zu haben, kann jeder selbst
sehen, denn er trägt das ganze Jahr eine thautröp-
felnde Chocoladeblume unter der Nase, deren Ge-
schmack freilich nicht in jeder Speise angenehm ist.

Allem Unrecht ist der Schlegelwirth todtfeind,
und wo er es wieder gut machen kann, thut er es,
das beweist er dadurch, daß er die Sage, als wäre
in Tübingen keine Geselligkeit und kein Humor zu
finden, hinlänglich wiederlegt, indem er an die Er-
richtung eines Narrentheaters erinnert, bei welchem
sehr viele Professoren und andere Honoratioren sub-
scribirt hatten.

So viel der Schlegelwirth gute Seiten und Tu-
genden hat, so ist er doch nicht ganz frei von Män-
geln und Schwächen, es ist ihm z. B. bis jetzt noch
nicht gelungen, das Publicum, wie er es an dem Blu-
misten rühmt, durch eigene Affendressur zu belustigen.

Dankbarkeit, die schönste Tugend, hat der Schle-
gelwirth ganz inne, er erwähnt nicht nur Personen,
mit oder ohne Uniform, die ihm schon Gefallen ge-
than haben, selbst das Andenken an einen Kochlöffel,
der schon so oft für ihn gekocht, bleibt ihm ewig im
Herzen.

Beharrlichkeit, eines Mannes und Familienva-
ters würdig, ist Eigenthum des Schlegelwirths. Wie
er sich durch nichts stören läßt, ein Vorhaben durch-
zusetzen, wird eine Kleinigkeit beweisen, bei größeren
Dingen ist sie natürlich noch mehr zu Hause. Als
er noch in der Residenz seine Wirthschaft trieb, gieng
er mit etlichen von seiner Brüderschaft, die zu ihm
zum Schoppen kamen, in ein anderes Wirths-
haus, und vertrieb sich mit ihnen die Zeit mit Spie-
len, um Käsperlen oder was es waren, und wäre
vielleicht noch lange dort gesessen, wenn nicht die lei-
dige Polizei, welche diesen Herrn nur bis nach Mit-
ternacht durch die Finger gesehen hatte, endlich ohne
Gnade abgeboten hätte. Doch so etwas kümmert ei-
nen großen Geist nicht, der weißt sich und andern
zu helfen, er ist gleich besonnen, und nimmt die An-
dern mit sich in sein Haus, getrunken hatten sie
ja schon in einem anderen. Jetzt aber gibt es
neue Schwierigkeiten, die Stube ist eiskalt. Da muß
geholfen werden, die Caroline soll aus dem Bett und
einbrennen, aber die schließt sich mit dem Holzkam-
merschlüssel ins Schlafzimmer, und ist in ihrer Art
so beharrlich, als der Herr Gemahl. Die Andern
glauben, jetzt sey eben nichts anderes zu machen, sie
wollen nach Hause, denn mit so krummen Fingern
kann man keine Karten mischen. Diese Kleinigkeit
läßt der Schlegelwirth nicht zu. Du hast ja einen
Winterrock an, sagt er zu dem Einen, und ich hole
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Wie er sich durch nichts stören läßt, ein Vorhaben durch- zusetzen, wird eine Kleinigkeit beweisen, bei größeren Dingen ist sie natürlich noch mehr zu Hause. Als er noch in der Residenz seine Wirthschaft trieb, gieng er mit etlichen von seiner Brüderschaft, die zu ihm zum Schoppen kamen, in ein anderes Wirths- haus, und vertrieb sich mit ihnen die Zeit mit Spie- len, um Käsperlen oder was es waren, und wäre vielleicht noch lange dort gesessen, wenn nicht die lei- dige Polizei, welche diesen Herrn nur bis nach Mit- ternacht durch die Finger gesehen hatte, endlich ohne Gnade abgeboten hätte. Doch so etwas kümmert ei- nen großen Geist nicht, der weißt sich und andern zu helfen, er ist gleich besonnen, und nimmt die An- dern mit sich in sein Haus, getrunken hatten sie ja schon in einem anderen. Jetzt aber gibt es neue Schwierigkeiten, die Stube ist eiskalt. Da muß geholfen werden, die Caroline soll aus dem Bett und einbrennen, aber die schließt sich mit dem Holzkam- merschlüssel ins Schlafzimmer, und ist in ihrer Art so beharrlich, als der Herr Gemahl. Die Andern glauben, jetzt sey eben nichts anderes zu machen, sie wollen nach Hause, denn mit so krummen Fingern kann man keine Karten mischen. Diese Kleinigkeit läßt der Schlegelwirth nicht zu. Du hast ja einen Winterrock an, sagt er zu dem Einen, und ich hole meinen Mantel, und du, sagt er zum Dritten, nimmst

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Zitationshilfe: Tübinger Chronik. Nr. 13. [Tübingen (Württemberg)], 29. Januar 1845, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_chronik013_1845/2>, abgerufen am 01.06.2024.