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Tübinger Chronik. Nr. 90. [Tübingen (Württemberg)], 28. Juli 1845.

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woch u. Freitag u. kostet hier
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bezogen halbjährlich 1 fl. Ein-
rückungsgebühr f. 1 Linie aus
gewöhnlicher Schrift 1 kr. Für
Tübingen u. Umgegend abon-
nirt man bei d. Redaction in d.
langen Gasse nächst d. Stifts-
kirche, wo auch Ankündigun-
gen und Aufsätze aller Art
abgegeben werden können.

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Tübinger [Abbildung] Chronik.
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Briefkästen sind aufgestellt:
bei Hrn. Messerschmidt Busse
nächst d. Rathhaus, bei Hrn.
Bürstenfabrikant Klein beim
Hirsch, bei Fr. Messrschm[unleserliches Material]Wlh[unleserliches Material]. Fack in d. neuen Straße
bei Hrn. - - am
Neckarsthor u. bei Hrn -

- in der Neckarhalde, in
welche Ankündigungen aller
Art eingelegt werden können.
Diese Briefkästen werden je-
den Tag geleert.

[Ende Spaltensatz]
Eine Zeitschrift für Stadt und Land.


Nro 90. Montag den 28. Juli. 1845.


[Beginn Spaltensatz]
Louise Dalmar.
Fortsetzung.

Jch gebrauchte alle mögliche Vorsicht, damit
er meinen Zufluchtsort nicht entdecken konnte und
es gelang mir. Jch schrieb an meine Mutter und
verließ zwei Tage nach meinem Briefe allein und
zu Fuße Paris. Mein Gott! ich sollte meine Mut-
ter nicht wiedersehen! als ich ankam, begegnete ich
in unserem Hause nichts als Trauerkleidern und
auf einem Tische lag mein Brief, den Niemand
geöffnet hatte. - Meine Mutter war todt! ohne
die Tochter umarmt, ohne ihr vielleicht verziehen
zu haben!

Bei diesen letzten Worten war die junge Frau
niedergekniet und indem sie ihre Hände gefaltet zum
Himmel erhob, flehte sie:

- Ach! meine Mutter, verzeih' mir, ich habe
Dich verlassen, die Du mich nährtest, deren Liebe
und Erfahrung mich durch das Leben leitete; ich
habe Deine Stimme verkannt und Dich getäuscht.
O verzeihe, meine Mutter! Deine Tochter wurde
grausam genug gestraft, daß sie fern von Dir war;
sie träumte eine glänzende Zukunft und nun hat sie
nichts als Thränen. - Verzeihe! Deine Tochter
kam leidend und unglücklich mit gebrochenem Herzen
und ihre Mutter war nicht mehr da, ihre Mutter,
die ihr verziehen haben würde, die sie in ihrem letz-
ten Augenblicke gesegnet hätte. Meine gute Mut-
ter! Du hast Deine Tochter im Himmel, wo Du
mit den Engeln zusammen bist, nicht vergessen, Du
hast für sie gefleht und Gott hat ihr einen Be-
schützer, einen Freund gesandt, der ihr, der Armen,
Verlassenen, seine Hand reichte und sie erhob, um
Alles mit ihr zu theilen.

Der alte Bankier war aufgestanden; sein ehr-
würdiges Gesicht hatte in diesem Augenblicke einen
unvergleichlichen Ausdruck von Ruhe und Güte.
Er legte seine zitternden Hände auf das Haupt
Louisens und sagte:

- Ja, Louise, Deine Thränen, Deine Leiden
waren eine hinreichende Sühne für Deinen ersten
und einzigen Fehler.

Dann hob er sie sanft empor und schloß sie in
seine Arme; sie legte ihr Haupt an die Schulter des
Greises und erst nach langer Zeit, nachdem sie sich
wieder gesammelt hatte, deutete sie auf das Fenster
und sagte:

[Spaltenumbruch]

- So eben saß ich hier und sah gleichgültig
auf die Straße hinab, als ich plötzlich - das Ge-
sicht dieses Mannes sah, hier unter dem Fenster
vorübergehen. Das ist der Grund, warum ich Dir
Alles sagen und meine Beichte vollenden wollte,
welche ich früher an heiliger Stätte begann. -
Nun scheint es mir, als habe ich Alles vergessen,
als könnte ich ihn ohne Verwirrung wiedersehen,
ich würde ihn vielleicht nicht mehr kennen.

- Du hast mir nicht Alles gesagt, Louise, un-
terbrach sie der Greis; wie war der Name dieses
Mannes?

- Wie, sagte Louise erstaunt, ich hätte seinen
Namen in dieser langen Erzählung nicht einmal ge-
nannt? Es ist -

Jn diesem Augenblick öffnete sich die Thür und
ein Diener meldete den Grafen Mirmont an.

Der Bankier konnte einen Ruf der Freude nicht
unterdrücken und lief dem Eintretenden entgegen,
dem er beide Hände mit ungemeiner Herzlichkeit
zum Willkommen drückte.

Der junge Mann, welcher mittlerweile in die
Mitte des Zimmers getreten war, hatte ein schönes,
edles Gesicht, aber es war blaß, ernst und traurig.
Wenn man ihn genau betrachtete, schien es, als
hätte er, bevor er eintrat, mit einer gewaltigen
Bewegung gekämpft, welche er vor allen Blicken
verbergen wollte. Aber sie war stärker als seine
Willenskraft, und wenn Herr Granville weniger
durch die Vorgänge der letzten Tage beschäftigt ge-
wesen wäre, würde er bald die Verwirrung bemerkt
haben, welche sich in dem ganzen Auftreten des
jungen Mannes aussprach.

Jn dem Augenblick, als der Diener den Na-
men des Grafen Mirmont aussprach, war Louise
schnell aufgesprungen; dann blieb sie aufrecht stehen,
aber unbeweglich, wie eine Statue. Das Blut
war aus ihren Wangen und Lippen gewichen und
der Athem schien ihr in der Brust stecken zu bleiben.
Jnstinktmäßig erwiderte sie die Verbeugung des Gra-
fen, aber dann fiel sie in die frühere Leblosigkeit zu-
rück. Nur während Hr. Granville mit dem Grafen
Mirmont sprach, blitzten ein Paar Thränen, welche
sie nicht zurückhalten konnte, in ihren Augen und
sie sagte halblaut zu sich selbst:

- Ach! mein Gott, ich danke Dir, daß ich
nicht die Zeit hatte, seinen Namen zu sagen.

( Fortsetzung folgt. )


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langen Gasse nächst d. Stifts-
kirche, wo auch Ankündigun-
gen und Aufsätze aller Art
abgegeben werden können.

[Spaltenumbruch]
Tübinger [Abbildung] Chronik.
[Spaltenumbruch]

Briefkästen sind aufgestellt:
bei Hrn. Messerschmidt Busse
nächst d. Rathhaus, bei Hrn.
Bürstenfabrikant Klein beim
Hirsch, bei Fr. Messrschm[unleserliches Material]Wlh[unleserliches Material]. Fack in d. neuen Straße
bei Hrn. – – am
Neckarsthor u. bei Hrn –

– in der Neckarhalde, in
welche Ankündigungen aller
Art eingelegt werden können.
Diese Briefkästen werden je-
den Tag geleert.

[Ende Spaltensatz]
Eine Zeitschrift für Stadt und Land.


Nro 90. Montag den 28. Juli. 1845.


[Beginn Spaltensatz]
Louise Dalmar.
Fortsetzung.

Jch gebrauchte alle mögliche Vorsicht, damit
er meinen Zufluchtsort nicht entdecken konnte und
es gelang mir. Jch schrieb an meine Mutter und
verließ zwei Tage nach meinem Briefe allein und
zu Fuße Paris. Mein Gott! ich sollte meine Mut-
ter nicht wiedersehen! als ich ankam, begegnete ich
in unserem Hause nichts als Trauerkleidern und
auf einem Tische lag mein Brief, den Niemand
geöffnet hatte. – Meine Mutter war todt! ohne
die Tochter umarmt, ohne ihr vielleicht verziehen
zu haben!

Bei diesen letzten Worten war die junge Frau
niedergekniet und indem sie ihre Hände gefaltet zum
Himmel erhob, flehte sie:

– Ach! meine Mutter, verzeih' mir, ich habe
Dich verlassen, die Du mich nährtest, deren Liebe
und Erfahrung mich durch das Leben leitete; ich
habe Deine Stimme verkannt und Dich getäuscht.
O verzeihe, meine Mutter! Deine Tochter wurde
grausam genug gestraft, daß sie fern von Dir war;
sie träumte eine glänzende Zukunft und nun hat sie
nichts als Thränen. – Verzeihe! Deine Tochter
kam leidend und unglücklich mit gebrochenem Herzen
und ihre Mutter war nicht mehr da, ihre Mutter,
die ihr verziehen haben würde, die sie in ihrem letz-
ten Augenblicke gesegnet hätte. Meine gute Mut-
ter! Du hast Deine Tochter im Himmel, wo Du
mit den Engeln zusammen bist, nicht vergessen, Du
hast für sie gefleht und Gott hat ihr einen Be-
schützer, einen Freund gesandt, der ihr, der Armen,
Verlassenen, seine Hand reichte und sie erhob, um
Alles mit ihr zu theilen.

Der alte Bankier war aufgestanden; sein ehr-
würdiges Gesicht hatte in diesem Augenblicke einen
unvergleichlichen Ausdruck von Ruhe und Güte.
Er legte seine zitternden Hände auf das Haupt
Louisens und sagte:

– Ja, Louise, Deine Thränen, Deine Leiden
waren eine hinreichende Sühne für Deinen ersten
und einzigen Fehler.

Dann hob er sie sanft empor und schloß sie in
seine Arme; sie legte ihr Haupt an die Schulter des
Greises und erst nach langer Zeit, nachdem sie sich
wieder gesammelt hatte, deutete sie auf das Fenster
und sagte:

[Spaltenumbruch]

– So eben saß ich hier und sah gleichgültig
auf die Straße hinab, als ich plötzlich – das Ge-
sicht dieses Mannes sah, hier unter dem Fenster
vorübergehen. Das ist der Grund, warum ich Dir
Alles sagen und meine Beichte vollenden wollte,
welche ich früher an heiliger Stätte begann. –
Nun scheint es mir, als habe ich Alles vergessen,
als könnte ich ihn ohne Verwirrung wiedersehen,
ich würde ihn vielleicht nicht mehr kennen.

– Du hast mir nicht Alles gesagt, Louise, un-
terbrach sie der Greis; wie war der Name dieses
Mannes?

– Wie, sagte Louise erstaunt, ich hätte seinen
Namen in dieser langen Erzählung nicht einmal ge-
nannt? Es ist –

Jn diesem Augenblick öffnete sich die Thür und
ein Diener meldete den Grafen Mirmont an.

Der Bankier konnte einen Ruf der Freude nicht
unterdrücken und lief dem Eintretenden entgegen,
dem er beide Hände mit ungemeiner Herzlichkeit
zum Willkommen drückte.

Der junge Mann, welcher mittlerweile in die
Mitte des Zimmers getreten war, hatte ein schönes,
edles Gesicht, aber es war blaß, ernst und traurig.
Wenn man ihn genau betrachtete, schien es, als
hätte er, bevor er eintrat, mit einer gewaltigen
Bewegung gekämpft, welche er vor allen Blicken
verbergen wollte. Aber sie war stärker als seine
Willenskraft, und wenn Herr Granville weniger
durch die Vorgänge der letzten Tage beschäftigt ge-
wesen wäre, würde er bald die Verwirrung bemerkt
haben, welche sich in dem ganzen Auftreten des
jungen Mannes aussprach.

Jn dem Augenblick, als der Diener den Na-
men des Grafen Mirmont aussprach, war Louise
schnell aufgesprungen; dann blieb sie aufrecht stehen,
aber unbeweglich, wie eine Statue. Das Blut
war aus ihren Wangen und Lippen gewichen und
der Athem schien ihr in der Brust stecken zu bleiben.
Jnstinktmäßig erwiderte sie die Verbeugung des Gra-
fen, aber dann fiel sie in die frühere Leblosigkeit zu-
rück. Nur während Hr. Granville mit dem Grafen
Mirmont sprach, blitzten ein Paar Thränen, welche
sie nicht zurückhalten konnte, in ihren Augen und
sie sagte halblaut zu sich selbst:

– Ach! mein Gott, ich danke Dir, daß ich
nicht die Zeit hatte, seinen Namen zu sagen.

( Fortsetzung folgt. )


[Ende Spaltensatz]
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[[361]/0001] Dieses Blatt erscheint wö- chentl. 3mal, Montag, Mitt- woch u. Freitag u. kostet hier und durch Boten bezogen mo- natlich 9 kr. Durch die Post bezogen halbjährlich 1 fl. Ein- rückungsgebühr f. 1 Linie aus gewöhnlicher Schrift 1 kr. Für Tübingen u. Umgegend abon- nirt man bei d. Redaction in d. langen Gasse nächst d. Stifts- kirche, wo auch Ankündigun- gen und Aufsätze aller Art abgegeben werden können. Tübinger [Abbildung] Chronik. Briefkästen sind aufgestellt: bei Hrn. Messerschmidt Busse nächst d. Rathhaus, bei Hrn. Bürstenfabrikant Klein beim Hirsch, bei Fr. Messrschm_ Wlh_ . Fack in d. neuen Straße bei Hrn. – – am Neckarsthor u. bei Hrn – – in der Neckarhalde, in welche Ankündigungen aller Art eingelegt werden können. Diese Briefkästen werden je- den Tag geleert. Eine Zeitschrift für Stadt und Land. Nro 90. Montag den 28. Juli. 1845. Louise Dalmar. Fortsetzung. Jch gebrauchte alle mögliche Vorsicht, damit er meinen Zufluchtsort nicht entdecken konnte und es gelang mir. Jch schrieb an meine Mutter und verließ zwei Tage nach meinem Briefe allein und zu Fuße Paris. Mein Gott! ich sollte meine Mut- ter nicht wiedersehen! als ich ankam, begegnete ich in unserem Hause nichts als Trauerkleidern und auf einem Tische lag mein Brief, den Niemand geöffnet hatte. – Meine Mutter war todt! ohne die Tochter umarmt, ohne ihr vielleicht verziehen zu haben! Bei diesen letzten Worten war die junge Frau niedergekniet und indem sie ihre Hände gefaltet zum Himmel erhob, flehte sie: – Ach! meine Mutter, verzeih' mir, ich habe Dich verlassen, die Du mich nährtest, deren Liebe und Erfahrung mich durch das Leben leitete; ich habe Deine Stimme verkannt und Dich getäuscht. O verzeihe, meine Mutter! Deine Tochter wurde grausam genug gestraft, daß sie fern von Dir war; sie träumte eine glänzende Zukunft und nun hat sie nichts als Thränen. – Verzeihe! 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Der Bankier konnte einen Ruf der Freude nicht unterdrücken und lief dem Eintretenden entgegen, dem er beide Hände mit ungemeiner Herzlichkeit zum Willkommen drückte. Der junge Mann, welcher mittlerweile in die Mitte des Zimmers getreten war, hatte ein schönes, edles Gesicht, aber es war blaß, ernst und traurig. Wenn man ihn genau betrachtete, schien es, als hätte er, bevor er eintrat, mit einer gewaltigen Bewegung gekämpft, welche er vor allen Blicken verbergen wollte. Aber sie war stärker als seine Willenskraft, und wenn Herr Granville weniger durch die Vorgänge der letzten Tage beschäftigt ge- wesen wäre, würde er bald die Verwirrung bemerkt haben, welche sich in dem ganzen Auftreten des jungen Mannes aussprach. Jn dem Augenblick, als der Diener den Na- men des Grafen Mirmont aussprach, war Louise schnell aufgesprungen; dann blieb sie aufrecht stehen, aber unbeweglich, wie eine Statue. 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Zitationshilfe: Tübinger Chronik. Nr. 90. [Tübingen (Württemberg)], 28. Juli 1845, S. [361]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_chronik090_1845/1>, abgerufen am 21.11.2024.