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Conversations-Blatt zur Unterhaltung und Belehrung für alle Stände. Nr. 2. Burg/Berlin, 1838.

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19 Conversations=Blatt. 20
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Dies Alles hat seinen Urgrund in der Religion,
denn Geschichte und Statistik des türkischen Reiches be-
urkunden und bekunden es, daß der Jslam die Seele
dieses gewaltigen Körpers war und ist, zur Zeit des
Barbarismus ihn mächtig hob und zur Zeit der Civi-
lisation seinen Fortschritt hemmte. Denn der Coran ist
das Buch der unantastbaren Religion und Staatsgesetze,
so daß die Priesterschaft=, Rechts= und Reichsverwe-
sung zusammen schmolzen. Ein Glück für uns, denn es
ist nicht so sehr die Zertheilung der sarazenischen Volks-
kraft, als die unverbesserte Vermorschung alter Funda-
mente ihres Staatslebens, wodurch der Sturm des Js-
lams auf die Christenheit mehr und mehr erlahmte, und
durch welchen sich jene kräftigen Menschen, aus einer klei-
nen Horde entsprossen, zu den Herren aller Nationen hät-
ten machen können. An Mohameds Wiege ist der histori-
sche Faden aus dem wirren Knäuel asiatischer Kriegs-
horden aufzunehmen und durch die furchtbaren, blutigen
Labyrinthe, durch die er sich fortspann, zu verfolgen, bis
zum heutigen Tage, wo Mahmud II. ihn abzuschneiden,
und die einzelnen Fasern an die Civilisation des moder-
nen Europas anzuknüpfen sucht, um neben den übrigen
Staaten die politische Existenz zu sichern, und das alte
morsche Gebäude mit neuen kräftigen Säulen durch sich
selbst zu stützen, damit es sein Dasein nicht mehr der
Eifersucht der großen Mächte der Christenheit unterein-
ander, dankt. - Vieles, Unglaubliches ist im Orient
geschehen, hat Mahmud vollbracht, noch mehr, fast
Unmögliches ist noch zu thun ihm vorbehalten. Eine
nur der sinnlichen Natur des Menschen zusagende Re-
ligion ist die der Türken, sie hat als ein von den Vä-
tern stammender strenger Glaube, der alles Klügeln
nach Wissen verbietet in so fern es Aenderungen
und Meinungen betrifft, dem Fanatismus und Fatalis-
mus das Feld geräumt. Jede Neuerung mußte sie
antasten. Mahmud hat daran gerüttelt und die sprü-
henden Funken mit Blut gelöscht. Das Feuer glüht
unter der Asche. Ein Grundstein nach dem andern,
weise gelegt, kann aus den Trümmern die neuen Säu-
len wachsen lassen. Ein Hauch des Schicksals kann
die alte Gluth anblasen zur lodernden Flamme, die über
die Neuerung zusammenschlägt. Noch sitzt Sultan Mah-
mud auf einem schweigenden Vulkan. Am besten läßt
sich dieser große Mann mit seiner Nation, die er zu
bekämpfen hat, beurtheilen, wenn man näher in das
Staats = und Privat=Leben blickt. Aus mannigfachen
Einrichtungen, Sitten und Gebräuchen, die uns oft
sonderbar, absurd, ja lächerlich erscheinen, doch in so
manchen Dingen wieder einen überwiegenden Vorzug vor
den unsrigen haben, läßt auf das Ganze sich leicht aus
den Einzelnheiten schließen, die nun hier in einigen
aphoristischen Skizzen folgen mögen.



Geographisch = statistische Uebersicht.

Das Türkische Reich hat die glücklichste Lage un-
ter dem gemäßigten Himmelsstrich, und taucht mit sei-
nen weiten unbestimmten Grenzen bis in die heiße Zone,
indem es die schönsten Länder der alten Welt, wo ihre
drei Theile zusammen stoßen, in sich faßt. Kein Reich
[Spaltenumbruch] der Erde hat so viele und so große Küstenstrecken und
Buchten und Hafenplätze und daher so triftigen Grund
und doch so vernachlässigte Einrichtungen zur Schifffahrt
auf den Meeren der alten Welt. Das Rothe=, Ae-
geische = und Marmor=, so wie das halbe Mittelländi-
sche=Meer, sind von dem Reiche umschlossen. Die Do-
nau und der Dnister in Europa, der Euphrat und Ti-
gris in Asien und der Nil in Afrika, sind die gewalti-
gen Wasseradern des Staatskörpers, so wie die Jnseln
des Archipelagus die Nerven und Bänder nautischer
Kraft darbieten. Es kann keine mächtigere, herrschendere
Position geben als Constantinopel, es ist der Schlüssel zu
drei Welttheilen. Aber es ist auch nirgend so wenig
der Vortheil, den die Natur hier in jeder Hinsicht bie-
tet, durch die Kunst zu irgend einem Staatszwecke be-
nutzt. Der Boden ist fruchtbar, das Klima milde.
Ueber die romantischen Gegenden hat sich der heiterste
Himmel in tiefer Bläue ausgespannt. - Die Größe des
Landes und die Zahl der Einwohner sind unbestimmt,
namentlich von den asiatischen und afrikanischen Thei-
len. Man hat weder Karten noch Tabellen. Die von
Selim III. angeordnete Landesvermessung und Seelen-
zählungen, gingen mit noch andern ersprießlichen Neuerun-
gen und dem unglücklichen Monarchen selbst zu Grunde.
Aus den unvollständigen Angaben kann man nur ein
Calcül ziehen, bei dem es ein großer Treffer ist, wenn
man sich nur um 500 Quadratmeilen und einer hal-
ben Million Menschen irrt, denn noch nicht allzulange
ist es, her, daß Beauchamps Messungen in Klein = Asien
einen Flächenraum von fast 800 Q. M. als Land er-
mittelte, welche die Kartenmacher früher dem schwarzen
Meere zutheilten, während man die Einwohnerzahl,
nach Vergleichungen mit der Bevölkerung anderer Land-
striche feststellte. Viele Geographen und Statistiker
schätzen den ganzen Flächeninhalt des türkischen Reichs
auf 42,400 Q. M. mit23 1 / 2 Million Einwohner,
wobei sie auf Europa 9,300 Q. M. mit 9 Millionen
Ew., auf Asien 24,300 Q. M. mit 11 Millionen
Ew. (die arabische Halbinsel ausgeschlossen) und auf
Afrika 8,800 Q. M. mit3 1 / 2 Million Ew. (die Bar-
baresken Staaten ausgeschlossen) rechnen. Andere ge-
ben dem gesammten Staat nur 38,320 O. M., aber
darauf 28,164,000 Ew. Von der europäischen
Türkei nimmt Büsching ohngefähr 10,000 Q. M.,
Maltebrun 9360 Q. M., Stein ganz genau
10,906 Q. M., Gaspari 9925 Q. M. und Lind-
ner
10,400 Q. M. an und rechnen darin zwischen
8 und 10 Millionen Einwohner. Wer von den ge-
lehrten Herren hat Recht? - Wahrscheinlich keiner.
Nichts ist gewiß, als die Ungewißheit. Der Osmann
selbst, der seit 500 Jahren auf diese Trophä seines
Sieges in Europa, das er sein Vaterland nennt, mit
dem Schwerdte ruht, weiß nur, daß er nichts weiß.
Sultan Mahmud selbst hat sich vor Messung und
Zählung bisher gescheut, da unter seiner Regierung,
sich ein Theil der alten Eroberungen, als jetziges grie-
chisches Königreich losriß, und seine Macht über die
Moldau und Wallachei so beschränkt ist, daß man nicht
weiß, wozu diese Landstriche zu zählen sind.

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19 Conversations=Blatt. 20
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Dies Alles hat seinen Urgrund in der Religion,
denn Geschichte und Statistik des türkischen Reiches be-
urkunden und bekunden es, daß der Jslam die Seele
dieses gewaltigen Körpers war und ist, zur Zeit des
Barbarismus ihn mächtig hob und zur Zeit der Civi-
lisation seinen Fortschritt hemmte. Denn der Coran ist
das Buch der unantastbaren Religion und Staatsgesetze,
so daß die Priesterschaft=, Rechts= und Reichsverwe-
sung zusammen schmolzen. Ein Glück für uns, denn es
ist nicht so sehr die Zertheilung der sarazenischen Volks-
kraft, als die unverbesserte Vermorschung alter Funda-
mente ihres Staatslebens, wodurch der Sturm des Js-
lams auf die Christenheit mehr und mehr erlahmte, und
durch welchen sich jene kräftigen Menschen, aus einer klei-
nen Horde entsprossen, zu den Herren aller Nationen hät-
ten machen können. An Mohameds Wiege ist der histori-
sche Faden aus dem wirren Knäuel asiatischer Kriegs-
horden aufzunehmen und durch die furchtbaren, blutigen
Labyrinthe, durch die er sich fortspann, zu verfolgen, bis
zum heutigen Tage, wo Mahmud II. ihn abzuschneiden,
und die einzelnen Fasern an die Civilisation des moder-
nen Europas anzuknüpfen sucht, um neben den übrigen
Staaten die politische Existenz zu sichern, und das alte
morsche Gebäude mit neuen kräftigen Säulen durch sich
selbst zu stützen, damit es sein Dasein nicht mehr der
Eifersucht der großen Mächte der Christenheit unterein-
ander, dankt. – Vieles, Unglaubliches ist im Orient
geschehen, hat Mahmud vollbracht, noch mehr, fast
Unmögliches ist noch zu thun ihm vorbehalten. Eine
nur der sinnlichen Natur des Menschen zusagende Re-
ligion ist die der Türken, sie hat als ein von den Vä-
tern stammender strenger Glaube, der alles Klügeln
nach Wissen verbietet in so fern es Aenderungen
und Meinungen betrifft, dem Fanatismus und Fatalis-
mus das Feld geräumt. Jede Neuerung mußte sie
antasten. Mahmud hat daran gerüttelt und die sprü-
henden Funken mit Blut gelöscht. Das Feuer glüht
unter der Asche. Ein Grundstein nach dem andern,
weise gelegt, kann aus den Trümmern die neuen Säu-
len wachsen lassen. Ein Hauch des Schicksals kann
die alte Gluth anblasen zur lodernden Flamme, die über
die Neuerung zusammenschlägt. Noch sitzt Sultan Mah-
mud auf einem schweigenden Vulkan. Am besten läßt
sich dieser große Mann mit seiner Nation, die er zu
bekämpfen hat, beurtheilen, wenn man näher in das
Staats = und Privat=Leben blickt. Aus mannigfachen
Einrichtungen, Sitten und Gebräuchen, die uns oft
sonderbar, absurd, ja lächerlich erscheinen, doch in so
manchen Dingen wieder einen überwiegenden Vorzug vor
den unsrigen haben, läßt auf das Ganze sich leicht aus
den Einzelnheiten schließen, die nun hier in einigen
aphoristischen Skizzen folgen mögen.



Geographisch = statistische Uebersicht.

Das Türkische Reich hat die glücklichste Lage un-
ter dem gemäßigten Himmelsstrich, und taucht mit sei-
nen weiten unbestimmten Grenzen bis in die heiße Zone,
indem es die schönsten Länder der alten Welt, wo ihre
drei Theile zusammen stoßen, in sich faßt. Kein Reich
[Spaltenumbruch] der Erde hat so viele und so große Küstenstrecken und
Buchten und Hafenplätze und daher so triftigen Grund
und doch so vernachlässigte Einrichtungen zur Schifffahrt
auf den Meeren der alten Welt. Das Rothe=, Ae-
geische = und Marmor=, so wie das halbe Mittelländi-
sche=Meer, sind von dem Reiche umschlossen. Die Do-
nau und der Dnister in Europa, der Euphrat und Ti-
gris in Asien und der Nil in Afrika, sind die gewalti-
gen Wasseradern des Staatskörpers, so wie die Jnseln
des Archipelagus die Nerven und Bänder nautischer
Kraft darbieten. Es kann keine mächtigere, herrschendere
Position geben als Constantinopel, es ist der Schlüssel zu
drei Welttheilen. Aber es ist auch nirgend so wenig
der Vortheil, den die Natur hier in jeder Hinsicht bie-
tet, durch die Kunst zu irgend einem Staatszwecke be-
nutzt. Der Boden ist fruchtbar, das Klima milde.
Ueber die romantischen Gegenden hat sich der heiterste
Himmel in tiefer Bläue ausgespannt. – Die Größe des
Landes und die Zahl der Einwohner sind unbestimmt,
namentlich von den asiatischen und afrikanischen Thei-
len. Man hat weder Karten noch Tabellen. Die von
Selim III. angeordnete Landesvermessung und Seelen-
zählungen, gingen mit noch andern ersprießlichen Neuerun-
gen und dem unglücklichen Monarchen selbst zu Grunde.
Aus den unvollständigen Angaben kann man nur ein
Calcül ziehen, bei dem es ein großer Treffer ist, wenn
man sich nur um 500 Quadratmeilen und einer hal-
ben Million Menschen irrt, denn noch nicht allzulange
ist es, her, daß Beauchamps Messungen in Klein = Asien
einen Flächenraum von fast 800 Q. M. als Land er-
mittelte, welche die Kartenmacher früher dem schwarzen
Meere zutheilten, während man die Einwohnerzahl,
nach Vergleichungen mit der Bevölkerung anderer Land-
striche feststellte. Viele Geographen und Statistiker
schätzen den ganzen Flächeninhalt des türkischen Reichs
auf 42,400 Q. M. mit23 1 / 2 Million Einwohner,
wobei sie auf Europa 9,300 Q. M. mit 9 Millionen
Ew., auf Asien 24,300 Q. M. mit 11 Millionen
Ew. (die arabische Halbinsel ausgeschlossen) und auf
Afrika 8,800 Q. M. mit3 1 / 2 Million Ew. (die Bar-
baresken Staaten ausgeschlossen) rechnen. Andere ge-
ben dem gesammten Staat nur 38,320 O. M., aber
darauf 28,164,000 Ew. Von der europäischen
Türkei nimmt Büsching ohngefähr 10,000 Q. M.,
Maltebrun 9360 Q. M., Stein ganz genau
10,906 Q. M., Gaspari 9925 Q. M. und Lind-
ner
10,400 Q. M. an und rechnen darin zwischen
8 und 10 Millionen Einwohner. Wer von den ge-
lehrten Herren hat Recht? – Wahrscheinlich keiner.
Nichts ist gewiß, als die Ungewißheit. Der Osmann
selbst, der seit 500 Jahren auf diese Trophä seines
Sieges in Europa, das er sein Vaterland nennt, mit
dem Schwerdte ruht, weiß nur, daß er nichts weiß.
Sultan Mahmud selbst hat sich vor Messung und
Zählung bisher gescheut, da unter seiner Regierung,
sich ein Theil der alten Eroberungen, als jetziges grie-
chisches Königreich losriß, und seine Macht über die
Moldau und Wallachei so beschränkt ist, daß man nicht
weiß, wozu diese Landstriche zu zählen sind.

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Aus den unvollständigen Angaben kann man nur ein Calcül ziehen, bei dem es ein großer Treffer ist, wenn man sich nur um 500 Quadratmeilen und einer hal- ben Million Menschen irrt, denn noch nicht allzulange ist es, her, daß Beauchamps Messungen in Klein = Asien einen Flächenraum von fast 800 Q. M. als Land er- mittelte, welche die Kartenmacher früher dem schwarzen Meere zutheilten, während man die Einwohnerzahl, nach Vergleichungen mit der Bevölkerung anderer Land- striche feststellte. Viele Geographen und Statistiker schätzen den ganzen Flächeninhalt des türkischen Reichs auf 42,400 Q. M. mit23 1 / 2 Million Einwohner, wobei sie auf Europa 9,300 Q. M. mit 9 Millionen Ew., auf Asien 24,300 Q. M. mit 11 Millionen Ew. (die arabische Halbinsel ausgeschlossen) und auf Afrika 8,800 Q. M. mit3 1 / 2 Million Ew. (die Bar- baresken Staaten ausgeschlossen) rechnen. Andere ge- ben dem gesammten Staat nur 38,320 O. M., aber darauf 28,164,000 Ew. 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Zitationshilfe: Conversations-Blatt zur Unterhaltung und Belehrung für alle Stände. Nr. 2. Burg/Berlin, 1838, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_conversationsblatt02_1838/2>, abgerufen am 23.11.2024.