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Conversations-Blatt zur Unterhaltung und Belehrung für alle Stände. Nr. 4. Burg/Berlin, 1836.

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59 Conversations=Blatt. 60
[Beginn Spaltensatz] "Aber sind das Angelegenheiten, die man auf
offener Straße verhandeln muß? - Meine Woh-
nung ist nicht weit von hier, du darfst es mir nicht
abschlagen, bei mir einzukehren und dort wenigstens
zu übernachten, wenn dir die Zeit verbietet, länger
bei mir zu bleiben. Jm ruhigen Stübchen und bei
einer Flasche Wein werden wir uns bald verständigen."

Dieser Vorschlag fand Beifall und Bernhard traf
alsobald die nöthigen Vorkehrungen. Anton, der nun
wieder Augen für seine Umgebung hatte, erblickte einen
Zug von sechs Wagen, die sämmtlich mit großen Ki-
sten bepackt waren; er gab einem jungen Manne, der
sich bei ihm einfand, den Befehl, im nächsten Flecken
einzukehren und so lange dort zu warten, bis er ihn
dort aufsuche; dann ging er mit dem Freunde wald-
einwärts.

Beide Männer saßen in dem behaglichen Stübchen
einander gegenüber; das Abendessen war verzehrt und
eine neue Flasche angepfropft. Jhre gegenseitigen Aben-
theuer hatten sie sich bald erzählt. Anton hatte die
Akademie verlassen und die Stelle als Förster im Wan-
gersleber Forst erhalten; Bernhard hatte auf Kosten
eines Onkels nach Jtalien gehen und dort sich in sei-
ner Kunst vervollkommnen sollen, aber der Onkel starb
und sein Nachlaß war so geringe, daß sich das Unter-
nehmen nicht ausführen ließ. Bernhard hatte den
Muth, einer Kunst zu entsagen, worin er es unter
solchen Umständen nur bis zur trostlosen Halbheit brin-
gen konnte. Er verstand außerordentlich gut zu for-
men und ein menschliches Gesicht in Wachs oder andern
Stoff zu bossiren. Er gab sich dieser Beschäftigung
hin, betrieb sie mit vielem Glücke und stand bald als
Eigenthümer an der Spitze eines großen Wachssiguren-
kabinets, mit welchem er von einem Orte zum andern
zog, und eben auf dem Wege zu einer nahen nicht
unansehnlichen Handelsstadt war. "Mir gefällt dies
unstäte flüchtige Leben," setzte er hinzu, "ich fühle
mich glücklich darin. An einem Orte auszudauern,
bin ich nicht im Stande, die Welt steht mir offen und
ich verstehe sie zu genießen; ich habe mein reichliches
Auskommen und mitunter auch wohl etwas mehr, du
darfst also meinetwegen ganz unbesorgt sein. Aber du,
wie steht es mit dir? du siehst sehr traurig und nie-
dergeschlagen aus. Hast du irgend einen Kummer und
bist der Hülfe bedürftig, so rede! -"

    (Fortsetzung folgt.)



Die Zwillinge.

Zu den glücklichsten Menschen konnte man wohl
den Pastor Walter in Emmersdorf rechnen, denn er
hatte nur noch einen einzigen Wunsch gekannt, näm-
lich ein Paar Zwillinge, und das Schicksal war gut
genug gelaunt, ihm bei der siebenten Niederkunft sei-
ner Frau auch diese Kleinigkeit zu gewähren.

Es waren ein Paar schöne Knaben, zugleich aber
von solcher Aehnlichkeit der Gestaltung, daß sie die
eigene Mutter nicht wohl zu unterscheiden vermochte
[Spaltenumbruch] und die Namen Karl und Wilhelm wohl zehnmal
unter ihnen wechselten, bis endlich der eine an dem
Einen so entschieden haftete, daß nicht mehr Beide
demselben Ruf folgten. Die Knaben wuchsen gedeihlich
heran, lernten brav und der Vater freute sich an der
gleichen Gesinnung und dem gleichen Streben der bei-
den Kinder. Vater Walter ließ die Knaben für den
Gelehrtenstand erziehen, beide zeigten gleich viel und
nicht gewöhnliches Talent, durchliefen zugleich Schule
und Gymnasium und bezogen auch zu gleicher Zeit die
Universität.

Als sie hier ein halbes Jahr ihren Studien ob-
gelegen, lernte Karl bei einem Spaziergange eine junge
Dame kennen, welche sogleich den tiefsten Eindruck auf
ihn machte. Die Bekanntschaft war nur flüchtig ge-
macht, aber für beide Theile entscheidend. Karl's
blonde Locken hatten Rosa eben so sehr gefesselt, als
deren schwarze Flechten sein Herz in Banden gelegt
hatten.

Kaum war Karl von seinem Spaziergange zu sei-
nem Bruder zurückgekehrt, als er auch von seinem
Abentheuer erzählte, und zugleich mit einer solchen
Ueberschwenglichkeit der Gefühle, daß der Bruder wohl
sah, das Herz seines lieben Karl war ganz von der
schönen Rosa erfüllt. "Nun wirst du mich wohl nicht
mehr so lieb haben?" fragte Wilhelm mit etwas mehr
als scherzendem Tone. - "Warum das nicht?" er-
wiederte Karl, "und vielleicht hat Rosa eine Schwe-
ster." -

Wenige Tage darauf mußte Wilhelm einen neu
angekommenen Landsmann zu den Professoren, bei wel-
chen er Kollegien zu hören gedachte, herumführen.
Bei einem derselben fand sich eine so liebenswürdige
Pförtnerin, mit eben so glänzend schwarzen Flechten,
daß Wilhelm keinen Augenblick zweifeln konnte, es sei
Rosa's Schwester oder Rosa selbst. Der Name Rosa
entschlüpfte halbleise seinen Lippen. "Zu dienen, ich
bin es!" erwiederte lächelnd das Mädchen, "treten
Sie ein, Herr Walter, Sie werden meine Mutter
sehr erfreuen."

Wilhelm wurde für seinen Bruder genommen,
aber er hatte nicht den Muth, die schöne Täuschung
zu zerstören. Die Frau Professorin empfing ihn sehr
wohlwollend; den Freund überließ er dem Famulus.

Nach einigen Anspielungen auf den früheren
Spaziergang, in welchem Wilhelm aus den Erzählun-
gen des Bruders gut Bescheid wußte, konnte Wilhelm
die Frage wagen, ob Rosa eine Schwester habe? Ja!
sagte Rosa freundlich. "Sie haben eine Schwester!
O wie glücklich bin ich," rief Wilhelm aus, "kann
ich sie nicht sehen, nicht sprechen?" - "Recht gern",
sagte die Mutter, welcher dieses sonderbare Verlangen
nicht wenig auffiel; sie klingelte und zu einem kleinen
verschrumpften, buckeligen Wesen, welches hereintrat,
äußerte die Hausfrau: "Der junge Herr dort hat dich
zu sehen und zu sprechen verlangt. Herr Walter,
dies ist meine älteste Tochter, Rosa's Schwester."

Man kann sich Wilhelms Verlegenheit denken.
Der krasseste Gegensatz stand neben seinem Jdeal, denn
[Ende Spaltensatz]

59 Conversations=Blatt. 60
[Beginn Spaltensatz] „Aber sind das Angelegenheiten, die man auf
offener Straße verhandeln muß? – Meine Woh-
nung ist nicht weit von hier, du darfst es mir nicht
abschlagen, bei mir einzukehren und dort wenigstens
zu übernachten, wenn dir die Zeit verbietet, länger
bei mir zu bleiben. Jm ruhigen Stübchen und bei
einer Flasche Wein werden wir uns bald verständigen.“

Dieser Vorschlag fand Beifall und Bernhard traf
alsobald die nöthigen Vorkehrungen. Anton, der nun
wieder Augen für seine Umgebung hatte, erblickte einen
Zug von sechs Wagen, die sämmtlich mit großen Ki-
sten bepackt waren; er gab einem jungen Manne, der
sich bei ihm einfand, den Befehl, im nächsten Flecken
einzukehren und so lange dort zu warten, bis er ihn
dort aufsuche; dann ging er mit dem Freunde wald-
einwärts.

Beide Männer saßen in dem behaglichen Stübchen
einander gegenüber; das Abendessen war verzehrt und
eine neue Flasche angepfropft. Jhre gegenseitigen Aben-
theuer hatten sie sich bald erzählt. Anton hatte die
Akademie verlassen und die Stelle als Förster im Wan-
gersleber Forst erhalten; Bernhard hatte auf Kosten
eines Onkels nach Jtalien gehen und dort sich in sei-
ner Kunst vervollkommnen sollen, aber der Onkel starb
und sein Nachlaß war so geringe, daß sich das Unter-
nehmen nicht ausführen ließ. Bernhard hatte den
Muth, einer Kunst zu entsagen, worin er es unter
solchen Umständen nur bis zur trostlosen Halbheit brin-
gen konnte. Er verstand außerordentlich gut zu for-
men und ein menschliches Gesicht in Wachs oder andern
Stoff zu bossiren. Er gab sich dieser Beschäftigung
hin, betrieb sie mit vielem Glücke und stand bald als
Eigenthümer an der Spitze eines großen Wachssiguren-
kabinets, mit welchem er von einem Orte zum andern
zog, und eben auf dem Wege zu einer nahen nicht
unansehnlichen Handelsstadt war. „Mir gefällt dies
unstäte flüchtige Leben,“ setzte er hinzu, „ich fühle
mich glücklich darin. An einem Orte auszudauern,
bin ich nicht im Stande, die Welt steht mir offen und
ich verstehe sie zu genießen; ich habe mein reichliches
Auskommen und mitunter auch wohl etwas mehr, du
darfst also meinetwegen ganz unbesorgt sein. Aber du,
wie steht es mit dir? du siehst sehr traurig und nie-
dergeschlagen aus. Hast du irgend einen Kummer und
bist der Hülfe bedürftig, so rede! –“

    (Fortsetzung folgt.)



Die Zwillinge.

Zu den glücklichsten Menschen konnte man wohl
den Pastor Walter in Emmersdorf rechnen, denn er
hatte nur noch einen einzigen Wunsch gekannt, näm-
lich ein Paar Zwillinge, und das Schicksal war gut
genug gelaunt, ihm bei der siebenten Niederkunft sei-
ner Frau auch diese Kleinigkeit zu gewähren.

Es waren ein Paar schöne Knaben, zugleich aber
von solcher Aehnlichkeit der Gestaltung, daß sie die
eigene Mutter nicht wohl zu unterscheiden vermochte
[Spaltenumbruch] und die Namen Karl und Wilhelm wohl zehnmal
unter ihnen wechselten, bis endlich der eine an dem
Einen so entschieden haftete, daß nicht mehr Beide
demselben Ruf folgten. Die Knaben wuchsen gedeihlich
heran, lernten brav und der Vater freute sich an der
gleichen Gesinnung und dem gleichen Streben der bei-
den Kinder. Vater Walter ließ die Knaben für den
Gelehrtenstand erziehen, beide zeigten gleich viel und
nicht gewöhnliches Talent, durchliefen zugleich Schule
und Gymnasium und bezogen auch zu gleicher Zeit die
Universität.

Als sie hier ein halbes Jahr ihren Studien ob-
gelegen, lernte Karl bei einem Spaziergange eine junge
Dame kennen, welche sogleich den tiefsten Eindruck auf
ihn machte. Die Bekanntschaft war nur flüchtig ge-
macht, aber für beide Theile entscheidend. Karl's
blonde Locken hatten Rosa eben so sehr gefesselt, als
deren schwarze Flechten sein Herz in Banden gelegt
hatten.

Kaum war Karl von seinem Spaziergange zu sei-
nem Bruder zurückgekehrt, als er auch von seinem
Abentheuer erzählte, und zugleich mit einer solchen
Ueberschwenglichkeit der Gefühle, daß der Bruder wohl
sah, das Herz seines lieben Karl war ganz von der
schönen Rosa erfüllt. „Nun wirst du mich wohl nicht
mehr so lieb haben?“ fragte Wilhelm mit etwas mehr
als scherzendem Tone. – „Warum das nicht?“ er-
wiederte Karl, „und vielleicht hat Rosa eine Schwe-
ster.“ –

Wenige Tage darauf mußte Wilhelm einen neu
angekommenen Landsmann zu den Professoren, bei wel-
chen er Kollegien zu hören gedachte, herumführen.
Bei einem derselben fand sich eine so liebenswürdige
Pförtnerin, mit eben so glänzend schwarzen Flechten,
daß Wilhelm keinen Augenblick zweifeln konnte, es sei
Rosa's Schwester oder Rosa selbst. Der Name Rosa
entschlüpfte halbleise seinen Lippen. „Zu dienen, ich
bin es!“ erwiederte lächelnd das Mädchen, „treten
Sie ein, Herr Walter, Sie werden meine Mutter
sehr erfreuen.“

Wilhelm wurde für seinen Bruder genommen,
aber er hatte nicht den Muth, die schöne Täuschung
zu zerstören. Die Frau Professorin empfing ihn sehr
wohlwollend; den Freund überließ er dem Famulus.

Nach einigen Anspielungen auf den früheren
Spaziergang, in welchem Wilhelm aus den Erzählun-
gen des Bruders gut Bescheid wußte, konnte Wilhelm
die Frage wagen, ob Rosa eine Schwester habe? Ja!
sagte Rosa freundlich. „Sie haben eine Schwester!
O wie glücklich bin ich,“ rief Wilhelm aus, „kann
ich sie nicht sehen, nicht sprechen?“ – „Recht gern“,
sagte die Mutter, welcher dieses sonderbare Verlangen
nicht wenig auffiel; sie klingelte und zu einem kleinen
verschrumpften, buckeligen Wesen, welches hereintrat,
äußerte die Hausfrau: „Der junge Herr dort hat dich
zu sehen und zu sprechen verlangt. Herr Walter,
dies ist meine älteste Tochter, Rosa's Schwester.“

Man kann sich Wilhelms Verlegenheit denken.
Der krasseste Gegensatz stand neben seinem Jdeal, denn
[Ende Spaltensatz]

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An einem Orte auszudauern, bin ich nicht im Stande, die Welt steht mir offen und ich verstehe sie zu genießen; ich habe mein reichliches Auskommen und mitunter auch wohl etwas mehr, du darfst also meinetwegen ganz unbesorgt sein. Aber du, wie steht es mit dir? du siehst sehr traurig und nie- dergeschlagen aus. Hast du irgend einen Kummer und bist der Hülfe bedürftig, so rede! –“ (Fortsetzung folgt.) Die Zwillinge. Zu den glücklichsten Menschen konnte man wohl den Pastor Walter in Emmersdorf rechnen, denn er hatte nur noch einen einzigen Wunsch gekannt, näm- lich ein Paar Zwillinge, und das Schicksal war gut genug gelaunt, ihm bei der siebenten Niederkunft sei- ner Frau auch diese Kleinigkeit zu gewähren. 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Der Name Rosa entschlüpfte halbleise seinen Lippen. „Zu dienen, ich bin es!“ erwiederte lächelnd das Mädchen, „treten Sie ein, Herr Walter, Sie werden meine Mutter sehr erfreuen.“ Wilhelm wurde für seinen Bruder genommen, aber er hatte nicht den Muth, die schöne Täuschung zu zerstören. Die Frau Professorin empfing ihn sehr wohlwollend; den Freund überließ er dem Famulus. Nach einigen Anspielungen auf den früheren Spaziergang, in welchem Wilhelm aus den Erzählun- gen des Bruders gut Bescheid wußte, konnte Wilhelm die Frage wagen, ob Rosa eine Schwester habe? Ja! sagte Rosa freundlich. „Sie haben eine Schwester! O wie glücklich bin ich,“ rief Wilhelm aus, „kann ich sie nicht sehen, nicht sprechen?“ – „Recht gern“, sagte die Mutter, welcher dieses sonderbare Verlangen nicht wenig auffiel; sie klingelte und zu einem kleinen verschrumpften, buckeligen Wesen, welches hereintrat, äußerte die Hausfrau: „Der junge Herr dort hat dich zu sehen und zu sprechen verlangt. 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Zitationshilfe: Conversations-Blatt zur Unterhaltung und Belehrung für alle Stände. Nr. 4. Burg/Berlin, 1836, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_conversationsblatt04_1836/6>, abgerufen am 23.11.2024.