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Czernowitzer Allgemeine Zeitung. Nr. 1069, Czernowitz, 06.08.1907.

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Redaktion u. Administration:
Rathausstraße 16.




Telephon-Nummer 161.




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Für Czernowitz
(mit Zustellung ins Haus):
monatl. K 1.80, vierteljähr. K 5.40,
halbj. K 10.80, ganzjähr. K 21.60.
(mit täglicher Postversendung)
monatl. K 2, vierteljähr. K 6,
halbjähr. K 12, ganzjähr. K 24.

Für Deutschland:
vierteljähr ..... 7 Mark.

Für Rumänien und den Balkan:
vierteljährig ..... 10 Lei.




Telegramme: Allgemeine, Czernowitz.


[Spaltenumbruch]
Czernowitzer
Allgemeine Zeitung

[Spaltenumbruch]

Ankündigungen:
Es kostet im gewöhnlichen Inse-
ratenteil 12 h die 6mal gespaltene
Petitzeile bei einmaliger, 9 h bei
mehrmaliger Einschaltung, für Re-
klame 40 h die Petitzeile. Inserate
nehmen alle in- und ausländischen
Inseratenbureaux sowie die Ad-
ministration entgegen. -- Einzel-
exemplare sind in allen Zeitungs-
verschleißen, Trafiken, der k. k. Uni-
versitätsbuchhandlung H. Pardini
und in der Administration (Rat-
hausstr. 16) erhältlich. In Wien
im Zeitungsburean Goldschmidt,
Wollzeile 11.

Einzelexemplare
10 Heller für Czernowitz.






Nr. 1069. Czernowitz, Dienstag, den 6. August. 1907.



[Spaltenumbruch]
Uebersicht.

Vom Tage.

Fürst Ferdinand von Bulgarien ist in Ischl von Kaiser
Franz Joseph empfangen worden. -- In Casablanca herrscht
Panik. Die Europäer fliehen.

Bunte Chronik.

Bei Angres ist ein Eisenbahnzug entgleist und in den
Fluß gestürzt.

Letzte Telegramme.

In Florenz versuchten antiklerikale Demonstranten eine
Kirche in Brand zu stecken. -- Bei dem Eisenbahnunglück bei
Angers find 50 Personen getötet und 16 verwundet worden.




Das garantierte Chaos. (Orig.-Korr.)

Bekanntlich haben die Großstaaten Europas die Aufrecht-
erhaltung des Status quo auf dem Balkan garantiert. Die
internationale Diplomatie ist sehr stolz darauf, daß sie diese
Einigung erzielt hat, und jeder Unkundige muß glauben, daß
der Zustand, den die Mächte mit so angestrengter Mühe-
waltung und so aufrichtiger Genugtuun[g] konservieren, ein
geradezu paradiesischer Zustand sei. Diese Annahme wäre aber
ein arger Irrtum, denn auf dem Balkan herrscht nach wie
vor eine wüste Unordnung, und was dort durch die Mächte
garantiert ist, das ist lediglich das Chaos. Gewiß soll nicht
verkannt werden, daß wenigstens der Ausbruch einer verheerenden
Feuersbrunst verhindert worden ist, aber diese Leistung ist
doch nur eine negative; den positiven Erfolg, die streitenden
Nationalitäten beruhigt, ihre Ansprüche befriedigt, eine dauernde
Ordnung geschaffen zu haben, diesen Erfolg haben die Groß-
mächte nicht zu erzielen vermocht.

Nach wie vor wütet in Mazedonien der Kampf aller
gegen alle, und die verschiedenen Völkerstämme arbeiten rüstig
an der Propaganda der Tat. Der Bandenkrieg dauert fort,
nur mit der neuen Nuance, daß jetzt immer eine bestimmte
Nation sich der Führung bemächtigt, während die andern sich
ein wenig verschnaufen, um alsbald wieder mit frischen Kräften
in den patriotischen Wettbewerb einzutreten. Eine Zeitlang
[Spaltenumbruch] waren es vor allem die Bulgaren, die die landsässige
Bevölkerung mit der sanften Gewalt von Blut und Brand
für sich zu gewinnen suchten. Dann aber entzog die bulgarische
Regierung den Banden ihre Unterstützung, weil Fürst Ferdinand
sich lieber bei seinen Untertanen als bei den Großmächten
diskreditieren wollte. Wenn auch heute noch bulgarische Banden
in Mazedonien ihr Unwesen treiben, so geschieht dies doch
nur inoffiziell, auf eigene Rechnung und Gefahr, und Fürst
Ferdinand kann seine Hände in Unschuld waschen. Neben den
Bulgaren ließen sich auch die Serben nicht lumpen, indessen scheinen
sie augenblicklich ein wenig erschöpft zu sein. Sie haben auch im
eigenen Lande so viel Zerstreuung, daß sie sich nicht außer-
halb der Grenzen Motion zu machen brauchen. Unter solchen
Umständen war es für die Griechen eine Ehrensache, die
Lücke auszufüllen und in Mazedonien den Guerillakrieg da
fortzusetzen, wo die Bulgaren und Serben ihn abgebrochen
hatten. Griechische Banden unter griechischen Offizieren
nationalisieren jetzt mit Feuer und Schwert die mazedonische
Bevölkerung. Diesem Treiben ist nun die Pforte in einer
sehr bestimmt gehaltenen Note entgegengetreten.

Die Türkei kann ziemlich sicher sein, daß die Mächte
sie in dieser Angelegenheit unterstützen werden; selbst die
enragiertesten Türkenfeinde sind längst zu der Ueberzeugung
gekommen, daß es unmöglich ist, die Bestrebungen der
christlichen Balkanvölker zu fördern. Niemand weiß, wie die
Dinge geordnet werden sollten, wenn die türkische Herrschaft
zusammenbräche, und alle sind darin einig, das Leben des
kranken Mannes so lange wie irgend möglich hinzufristen
So unzulänglich der jetzige Zustand ist, jede Aenderung
scheint eine Verschlimmerung zu bedeuten. Die Note der
Türkei wird daher vermutlich die Zustimmung sämtlicher
Mächte finden, ja, man kann annehmen, daß sie der Ini-
tiative der europäischen Diplomatie ihre Entstehung verdankt.
Der Dreibund will eo ipso, daß auf dem Balkan Ruhe
gehalten wird und der status quo aufrecht bleibt, und auch
die anderen Mächte haben ein starkes Interesse daran, daß
jetzt in dem Wetterwinkel Europas nicht etwa eine ernste
Komplikation eintritt. Sie sind ja alle auf dem Balkan mehr
oder weniger interessiert, aber angesichts der Serie neuer
Ententen, die in jüngster Zeit abgeschlossen wurden, kann
[Spaltenumbruch] ihnen jede durchgreifende Aenderung der europäischen Kon-
stellation, wie sie eine Aufrollung der Balkanfrage notwendiger-
weise nach sich ziehen müßte, nur unbequem sein; einstweilen
braucht Europa Ruhe, damit die Verbündeten, deren Freund-
schaft noch so überaus grün ist, sich mit einander einleben.
Später läßt sich ja vielleicht eher über die Balkanangelegen-
heiten reden.

Ganz offenkundig ist jetzt das Bestreben der Großmächte
dahin gerichtet, in den Balkanfragen allen Konfliktsstoff aus
dem Wege zu schaffen. Die leitenden Minister Italiens und
und Oesterreich-Ungarns haben sich eben erst in Desio wieder
dahin geeinigt, daß unter allen Umständen der status quo
auf dem Balkan aufrecht erhalten werden müsse, und die
Note der Türkei ist vermutlich ein Nachhall dieser Begegnung.
Die Audienz des Fürsten Ferdinand bei Kaiser Fanz Joseph
steht offenbar damit in Verbindung, und den Schlußstein
wird dem ganzen der Besuch Eduards in Ischl aufsetzen. Die
Mächte sind sich also einig darüber, daß auf dem Balkan
Frieden herrschen soll -- und daß sie sich nicht die Finger
an dem Feuerchen, daß dort geschürt wird, verbrennen wollen.
Das gilt insbesondere von Oesterreich, dessen balkanische
Interessen und Aspirationen vielfach falsch beurteilt werden.
Man sagt uns Anexionsabsichten nach. Nun, es könnte uns
wirklich nichts Schlimmeres passieren, als wenn uns jemand
ganz Mazedonien schenken wollte. Unsere Interessen auf dem
Balkan sind vorwiegend kommerzielle; es ist also von Wert für
uns, daß dort stabile Verhältnisse hergestellt werden, die unserer
Handelswelt eine sichere Kalkulation gestatten. Politisch müssen
wir wünschen, das wir uns mit Italien oder einer anderen Macht
nicht um diverser Balkanaspirationen willen in die Haare ge-
raten, daß uns aber auch niemand dort unsere fried-
lichen
Kreise stört. Damit ist aber unser Interesse an der
Sache auch vollständig umgrenzt. Oesterreich kann sich der
Aufgabe nicht unterziehen, aus dem Balkanchaos einen
Kosmos zu gestalten, und beschränkt sich daher darauf allen
Maßregeln beizustimmen, die zwar keine [ideal]e Ordnung
schaffen, aber wenigstens das Schlimmste verhüten können.




[Spaltenumbruch]
Feuilleton.
Gefährliche Fahrt.

Nachdruck verboten.

Unmutig saß die neuengagierte Berichterstatterin vo[r]
ihrem Schreibtisch und faltete die Hände müßig im Schoß.
Das erregte die Aufmerksamkeit des lokalen Chefredakteurs;
in seinem Bureau durfte niemand feiern.

"Fräulein Meister'" rief er scharf, nachdem er einige
Sekunden in seinem Notitzbuch geblättert hatte.

"Ja, Herr Lauten'" erwiderte sie rasch und trat zu ihm.
Schon im nächsten Augenblick, noch während sie ein paar
Papiere in ihr braunes Ledertäschchen stopfte, war sie aus
der Tür.

"Wo hast Du sie hingeschickt, Walter?" fragte ihn sein
Freund und Gehilfe und sah von seiner Arbeit auf.

"Entführung -- nach dem Osten!" kam die knappe
Antwort. "Es wird nicht viel Interessantes dabei heraus-
kommen, aber wenigstens hat sie Beschäftigung. Hätte ich sie
nur dem Alten, der sie mir schickte, wieder zurückgesendet.
Mädchen sind in unserem Berufe nichts wert -- sie haben
keinen Mut und keine Grütze! Was ist denn los, Stahl?"

Dieser war erregt aufgesprungen und schlug jetzt mit
der Faust auf den Tisch.

"Großer Gott, Lauten, was hast Du angerichtet!" rief
er heftig, "im Osten streiken ja die Arbeiter. Und sie gerät
mitten unter sie!"

"Da haben wir's," gab der andere stirnrunzelnd zurück,
"warum habe ich auch das Frauenzimmer genommen! Ein
Mann kann für sich selbst sorgen. Ah bah, sie ist ein Neu-
ling, sie wird sich ängstigen und die Geschichte laufen lassen.
Kein Grund zur Besorgnis, Max."

"Du kennst sie nich, Walter" entgegnete dieser, dem
das zarte junge Geschöpf ein ihm selbst unerklärliches In-
teresse eingeflößt hatte, noch immer beunruhigt. "Sie nimmt
[Spaltenumbruch] die Sache ernst. Sie stammt aus einer Zeitungsfamilie und
ist mit deren Traditionen aufgewachsen. Die weicht vor dem
Streik nicht zurück. Und wenn ihr etwas zustößt?"

"Ach, unke doch nicht so," brummte der Freund unwirsch.
"Es wird ihr schon kein Leids geschehen. Zur Chaperone bin
ich nicht engagiert worden. Bringe lieber Dein "Buntes
Allerlei" zu Ende."

Stahl schwieg hierauf und versuchte eine nervöse Auf-
regung zu beschwichtigen.

Das gleiche versuchte auch Fräulein Meister. Sie hatte
nicht den Streik vergessen und wußte, daß er bedeutend
ernsthafter war, als ihn die Morgenblätter darstellten. Sie
wußte auch, daß sie sich mitten hinein wagen müsse, aber an
feigen Rückzug dachte sie nicht.

Es dauerte lange, bis sie eine Elektrische nach dem
Osten fand, und als endlich eine kam, waren deren Fenster-
scheiben zerbrochen und der Führer hatte ein blutiges
Taschentuch um das Handgeleng geschlungen.

Ein Polizist sah, wie sie sich auf das Trittbrett hinauf-
schwang und wollte sie warnen.

Aber sie schüttelte nur den Kopf.

"Ich fürchte mich nicht," sagte sie lächelnd, "ich bin
Berichterstatterin und muß das Neueste zu erfahren suchen."

Achselzuckend ließ er ihr ihren Willen und entfernte
sich ein ähnliches Gefühl wie Stahl im Herzen.

"Prachtmädel," murmelte er, "hoffentlich passiert ihr
nichts."

Annies Unruhe wuchs, als sie von dem Schaffner, der
ihrer Gesellschaft froh war, erfuhr, wie aufgeregt das Volk
im Streikrevier sei. An einer Straßenecke warfen einige
halbwüchsige Jungen mit Steinen nach ihr. Dem Rat des
Schaffners folgend, hockte sie sich im Innern auf dem Boden
nieder, doch sich ihrer Furcht schämend, sprang sie bald wie-
der auf.

Als sie die Markthalle im Osten erreichten, versuchten
einige Männer den Wagen aufzuhalten, wüstes Geschrei und
Gejohle tönte um sie her, und verdorbenes Obst und Gemüse
flog zu ihr hinein. Eine unreife Pflaume traf empfindlich
[Spaltenumbruch] ihre Nase, und eine faule Tomate überspritzte sie mit ihrem
Saft, und rohe Redensarten trieben ihr das Blut in die
Wangen.

Aber es geschah für ihre Zeitung, und der Rest der
Fahrt verlief verhältnismäßig ruhig. Ganz stolz und erhaben
fühlte sie sich, als sie jetzt an ihrer Haltestelle abstieg.

Der Chefredakteur würde schon eines Tages hören, wie es
ihr gelungen war, alle Details der Entführung zu erhalten.
Denn sie erhielt sie, und eine Photographie der Entflohenen
mit in den Kauf.

Es war nur ein kleines Bildchen, eine Momentaufnahme
von einer Landpartie, aber von unschätzbarem Wert für die
Berichterstattung.

Ueberglücklich machte sie sich auf den Heimweg.

Es war jetzt spät am Nachmittag und währte geraume
Zeit, bis eine Straßenbahn kam. Natürlich war sie leer, und
der Führer schaute Annie betroffen an, als sie vorne zu ihm
aufsprang.

"Wollen Sie denn wirklich mit, Fräulein?" fragte er
erstaunt, "es kann unangenehm werden."

"Ich muß," erwiderte sie lächelnd, "der Hinweg war
nicht schlimm, der Rückweg wird es wohl auch nicht sein."

Der Mann gefiel ihr, er sah kräftig, stark und gutmütig
aus. Anders wie der Schaffner, der ein unangenehmes,
mürrisches Wesen hatte.

In den Gassen drängte sich das Volk, und wieder tönten
Schimpfworte, dieses Mal aus dem Munde von Frauen, dem
jungen Mädchen in das Ohr, während sie an der erregten
Menge vorbeifuhr.

Aber man warf nicht nach ihr, und schon hoffte Annie,
ungefährdet nach Hause gelangen zu können. Da bogen sie
um eine Ecke, die Markthalle lag vor ihnen, und sofort wußte
sie, daß sie sich zu früh in Sicherheit gewähnt hatte.

Der ganze Platz war schwarz von Menschen. Dicht vor
der Elektrischen, quer über den Schienen, stand ein Bierwagen
und versperrte den Weg. Der Fahrer riß an seiner Klingel,
aber der Kutscher rührte sich nicht von der Stelle, und die
Menge brüllte und johlte.


[Spaltenumbruch]

Redaktion u. Adminiſtration:
Rathausſtraße 16.




Telephon-Nummer 161.




Abonnementsbedingungen:

Für Czernowitz
(mit Zuſtellung ins Haus):
monatl. K 1.80, vierteljähr. K 5.40,
halbj. K 10.80, ganzjähr. K 21.60.
(mit täglicher Poſtverſendung)
monatl. K 2, vierteljähr. K 6,
halbjähr. K 12, ganzjähr. K 24.

Für Deutſchland:
vierteljähr ..... 7 Mark.

Für Rumänien und den Balkan:
vierteljährig ..... 10 Lei.




Telegramme: Allgemeine, Czernowitz.


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Czernowitzer
Allgemeine Zeitung

[Spaltenumbruch]

Ankündigungen:
Es koſtet im gewöhnlichen Inſe-
ratenteil 12 h die 6mal geſpaltene
Petitzeile bei einmaliger, 9 h bei
mehrmaliger Einſchaltung, für Re-
klame 40 h die Petitzeile. Inſerate
nehmen alle in- und ausländiſchen
Inſeratenbureaux ſowie die Ad-
miniſtration entgegen. — Einzel-
exemplare ſind in allen Zeitungs-
verſchleißen, Trafiken, der k. k. Uni-
verſitätsbuchhandlung H. Pardini
und in der Adminiſtration (Rat-
hausſtr. 16) erhältlich. In Wien
im Zeitungsburean Goldſchmidt,
Wollzeile 11.

Einzelexemplare
10 Heller für Czernowitz.






Nr. 1069. Czernowitz, Dienſtag, den 6. Auguſt. 1907.



[Spaltenumbruch]
Uebersicht.

Vom Tage.

Fürſt Ferdinand von Bulgarien iſt in Iſchl von Kaiſer
Franz Joſeph empfangen worden. — In Caſablanca herrſcht
Panik. Die Europäer fliehen.

Bunte Chronik.

Bei Angres iſt ein Eiſenbahnzug entgleiſt und in den
Fluß geſtürzt.

Letzte Telegramme.

In Florenz verſuchten antiklerikale Demonſtranten eine
Kirche in Brand zu ſtecken. — Bei dem Eiſenbahnunglück bei
Angers find 50 Perſonen getötet und 16 verwundet worden.




Das garantierte Chaos. (Orig.-Korr.)

Bekanntlich haben die Großſtaaten Europas die Aufrecht-
erhaltung des Status quo auf dem Balkan garantiert. Die
internationale Diplomatie iſt ſehr ſtolz darauf, daß ſie dieſe
Einigung erzielt hat, und jeder Unkundige muß glauben, daß
der Zuſtand, den die Mächte mit ſo angeſtrengter Mühe-
waltung und ſo aufrichtiger Genugtuun[g] konſervieren, ein
geradezu paradieſiſcher Zuſtand ſei. Dieſe Annahme wäre aber
ein arger Irrtum, denn auf dem Balkan herrſcht nach wie
vor eine wüſte Unordnung, und was dort durch die Mächte
garantiert iſt, das iſt lediglich das Chaos. Gewiß ſoll nicht
verkannt werden, daß wenigſtens der Ausbruch einer verheerenden
Feuersbrunſt verhindert worden iſt, aber dieſe Leiſtung iſt
doch nur eine negative; den poſitiven Erfolg, die ſtreitenden
Nationalitäten beruhigt, ihre Anſprüche befriedigt, eine dauernde
Ordnung geſchaffen zu haben, dieſen Erfolg haben die Groß-
mächte nicht zu erzielen vermocht.

Nach wie vor wütet in Mazedonien der Kampf aller
gegen alle, und die verſchiedenen Völkerſtämme arbeiten rüſtig
an der Propaganda der Tat. Der Bandenkrieg dauert fort,
nur mit der neuen Nuance, daß jetzt immer eine beſtimmte
Nation ſich der Führung bemächtigt, während die andern ſich
ein wenig verſchnaufen, um alsbald wieder mit friſchen Kräften
in den patriotiſchen Wettbewerb einzutreten. Eine Zeitlang
[Spaltenumbruch] waren es vor allem die Bulgaren, die die landſäſſige
Bevölkerung mit der ſanften Gewalt von Blut und Brand
für ſich zu gewinnen ſuchten. Dann aber entzog die bulgariſche
Regierung den Banden ihre Unterſtützung, weil Fürſt Ferdinand
ſich lieber bei ſeinen Untertanen als bei den Großmächten
diskreditieren wollte. Wenn auch heute noch bulgariſche Banden
in Mazedonien ihr Unweſen treiben, ſo geſchieht dies doch
nur inoffiziell, auf eigene Rechnung und Gefahr, und Fürſt
Ferdinand kann ſeine Hände in Unſchuld waſchen. Neben den
Bulgaren ließen ſich auch die Serben nicht lumpen, indeſſen ſcheinen
ſie augenblicklich ein wenig erſchöpft zu ſein. Sie haben auch im
eigenen Lande ſo viel Zerſtreuung, daß ſie ſich nicht außer-
halb der Grenzen Motion zu machen brauchen. Unter ſolchen
Umſtänden war es für die Griechen eine Ehrenſache, die
Lücke auszufüllen und in Mazedonien den Guerillakrieg da
fortzuſetzen, wo die Bulgaren und Serben ihn abgebrochen
hatten. Griechiſche Banden unter griechiſchen Offizieren
nationaliſieren jetzt mit Feuer und Schwert die mazedoniſche
Bevölkerung. Dieſem Treiben iſt nun die Pforte in einer
ſehr beſtimmt gehaltenen Note entgegengetreten.

Die Türkei kann ziemlich ſicher ſein, daß die Mächte
ſie in dieſer Angelegenheit unterſtützen werden; ſelbſt die
enragierteſten Türkenfeinde ſind längſt zu der Ueberzeugung
gekommen, daß es unmöglich iſt, die Beſtrebungen der
chriſtlichen Balkanvölker zu fördern. Niemand weiß, wie die
Dinge geordnet werden ſollten, wenn die türkiſche Herrſchaft
zuſammenbräche, und alle ſind darin einig, das Leben des
kranken Mannes ſo lange wie irgend möglich hinzufriſten
So unzulänglich der jetzige Zuſtand iſt, jede Aenderung
ſcheint eine Verſchlimmerung zu bedeuten. Die Note der
Türkei wird daher vermutlich die Zuſtimmung ſämtlicher
Mächte finden, ja, man kann annehmen, daß ſie der Ini-
tiative der europäiſchen Diplomatie ihre Entſtehung verdankt.
Der Dreibund will eo ipso, daß auf dem Balkan Ruhe
gehalten wird und der status quo aufrecht bleibt, und auch
die anderen Mächte haben ein ſtarkes Intereſſe daran, daß
jetzt in dem Wetterwinkel Europas nicht etwa eine ernſte
Komplikation eintritt. Sie ſind ja alle auf dem Balkan mehr
oder weniger intereſſiert, aber angeſichts der Serie neuer
Ententen, die in jüngſter Zeit abgeſchloſſen wurden, kann
[Spaltenumbruch] ihnen jede durchgreifende Aenderung der europäiſchen Kon-
ſtellation, wie ſie eine Aufrollung der Balkanfrage notwendiger-
weiſe nach ſich ziehen müßte, nur unbequem ſein; einſtweilen
braucht Europa Ruhe, damit die Verbündeten, deren Freund-
ſchaft noch ſo überaus grün iſt, ſich mit einander einleben.
Später läßt ſich ja vielleicht eher über die Balkanangelegen-
heiten reden.

Ganz offenkundig iſt jetzt das Beſtreben der Großmächte
dahin gerichtet, in den Balkanfragen allen Konfliktsſtoff aus
dem Wege zu ſchaffen. Die leitenden Miniſter Italiens und
und Oeſterreich-Ungarns haben ſich eben erſt in Deſio wieder
dahin geeinigt, daß unter allen Umſtänden der status quo
auf dem Balkan aufrecht erhalten werden müſſe, und die
Note der Türkei iſt vermutlich ein Nachhall dieſer Begegnung.
Die Audienz des Fürſten Ferdinand bei Kaiſer Fanz Joſeph
ſteht offenbar damit in Verbindung, und den Schlußſtein
wird dem ganzen der Beſuch Eduards in Iſchl aufſetzen. Die
Mächte ſind ſich alſo einig darüber, daß auf dem Balkan
Frieden herrſchen ſoll — und daß ſie ſich nicht die Finger
an dem Feuerchen, daß dort geſchürt wird, verbrennen wollen.
Das gilt insbeſondere von Oeſterreich, deſſen balkaniſche
Intereſſen und Aſpirationen vielfach falſch beurteilt werden.
Man ſagt uns Anexionsabſichten nach. Nun, es könnte uns
wirklich nichts Schlimmeres paſſieren, als wenn uns jemand
ganz Mazedonien ſchenken wollte. Unſere Intereſſen auf dem
Balkan ſind vorwiegend kommerzielle; es iſt alſo von Wert für
uns, daß dort ſtabile Verhältniſſe hergeſtellt werden, die unſerer
Handelswelt eine ſichere Kalkulation geſtatten. Politiſch müſſen
wir wünſchen, das wir uns mit Italien oder einer anderen Macht
nicht um diverſer Balkanaſpirationen willen in die Haare ge-
raten, daß uns aber auch niemand dort unſere fried-
lichen
Kreiſe ſtört. Damit iſt aber unſer Intereſſe an der
Sache auch vollſtändig umgrenzt. Oeſterreich kann ſich der
Aufgabe nicht unterziehen, aus dem Balkanchaos einen
Kosmos zu geſtalten, und beſchränkt ſich daher darauf allen
Maßregeln beizuſtimmen, die zwar keine [ideal]e Ordnung
ſchaffen, aber wenigſtens das Schlimmſte verhüten können.




[Spaltenumbruch]
Feuilleton.
Gefährliche Fahrt.

Nachdruck verboten.

Unmutig ſaß die neuengagierte Berichterſtatterin vo[r]
ihrem Schreibtiſch und faltete die Hände müßig im Schoß.
Das erregte die Aufmerkſamkeit des lokalen Chefredakteurs;
in ſeinem Bureau durfte niemand feiern.

„Fräulein Meiſter’“ rief er ſcharf, nachdem er einige
Sekunden in ſeinem Notitzbuch geblättert hatte.

„Ja, Herr Lauten’“ erwiderte ſie raſch und trat zu ihm.
Schon im nächſten Augenblick, noch während ſie ein paar
Papiere in ihr braunes Ledertäſchchen ſtopfte, war ſie aus
der Tür.

„Wo haſt Du ſie hingeſchickt, Walter?“ fragte ihn ſein
Freund und Gehilfe und ſah von ſeiner Arbeit auf.

„Entführung — nach dem Oſten!“ kam die knappe
Antwort. „Es wird nicht viel Intereſſantes dabei heraus-
kommen, aber wenigſtens hat ſie Beſchäftigung. Hätte ich ſie
nur dem Alten, der ſie mir ſchickte, wieder zurückgeſendet.
Mädchen ſind in unſerem Berufe nichts wert — ſie haben
keinen Mut und keine Grütze! Was iſt denn los, Stahl?“

Dieſer war erregt aufgeſprungen und ſchlug jetzt mit
der Fauſt auf den Tiſch.

„Großer Gott, Lauten, was haſt Du angerichtet!“ rief
er heftig, „im Oſten ſtreiken ja die Arbeiter. Und ſie gerät
mitten unter ſie!“

„Da haben wir’s,“ gab der andere ſtirnrunzelnd zurück,
„warum habe ich auch das Frauenzimmer genommen! Ein
Mann kann für ſich ſelbſt ſorgen. Ah bah, ſie iſt ein Neu-
ling, ſie wird ſich ängſtigen und die Geſchichte laufen laſſen.
Kein Grund zur Beſorgnis, Max.“

„Du kennſt ſie nich, Walter“ entgegnete dieſer, dem
das zarte junge Geſchöpf ein ihm ſelbſt unerklärliches In-
tereſſe eingeflößt hatte, noch immer beunruhigt. „Sie nimmt
[Spaltenumbruch] die Sache ernſt. Sie ſtammt aus einer Zeitungsfamilie und
iſt mit deren Traditionen aufgewachſen. Die weicht vor dem
Streik nicht zurück. Und wenn ihr etwas zuſtößt?“

„Ach, unke doch nicht ſo,“ brummte der Freund unwirſch.
„Es wird ihr ſchon kein Leids geſchehen. Zur Chaperone bin
ich nicht engagiert worden. Bringe lieber Dein „Buntes
Allerlei“ zu Ende.“

Stahl ſchwieg hierauf und verſuchte eine nervöſe Auf-
regung zu beſchwichtigen.

Das gleiche verſuchte auch Fräulein Meiſter. Sie hatte
nicht den Streik vergeſſen und wußte, daß er bedeutend
ernſthafter war, als ihn die Morgenblätter darſtellten. Sie
wußte auch, daß ſie ſich mitten hinein wagen müſſe, aber an
feigen Rückzug dachte ſie nicht.

Es dauerte lange, bis ſie eine Elektriſche nach dem
Oſten fand, und als endlich eine kam, waren deren Fenſter-
ſcheiben zerbrochen und der Führer hatte ein blutiges
Taſchentuch um das Handgeleng geſchlungen.

Ein Poliziſt ſah, wie ſie ſich auf das Trittbrett hinauf-
ſchwang und wollte ſie warnen.

Aber ſie ſchüttelte nur den Kopf.

„Ich fürchte mich nicht,“ ſagte ſie lächelnd, „ich bin
Berichterſtatterin und muß das Neueſte zu erfahren ſuchen.“

Achſelzuckend ließ er ihr ihren Willen und entfernte
ſich ein ähnliches Gefühl wie Stahl im Herzen.

„Prachtmädel,“ murmelte er, „hoffentlich paſſiert ihr
nichts.„

Annies Unruhe wuchs, als ſie von dem Schaffner, der
ihrer Geſellſchaft froh war, erfuhr, wie aufgeregt das Volk
im Streikrevier ſei. An einer Straßenecke warfen einige
halbwüchſige Jungen mit Steinen nach ihr. Dem Rat des
Schaffners folgend, hockte ſie ſich im Innern auf dem Boden
nieder, doch ſich ihrer Furcht ſchämend, ſprang ſie bald wie-
der auf.

Als ſie die Markthalle im Oſten erreichten, verſuchten
einige Männer den Wagen aufzuhalten, wüſtes Geſchrei und
Gejohle tönte um ſie her, und verdorbenes Obſt und Gemüſe
flog zu ihr hinein. Eine unreife Pflaume traf empfindlich
[Spaltenumbruch] ihre Naſe, und eine faule Tomate überſpritzte ſie mit ihrem
Saft, und rohe Redensarten trieben ihr das Blut in die
Wangen.

Aber es geſchah für ihre Zeitung, und der Reſt der
Fahrt verlief verhältnismäßig ruhig. Ganz ſtolz und erhaben
fühlte ſie ſich, als ſie jetzt an ihrer Halteſtelle abſtieg.

Der Chefredakteur würde ſchon eines Tages hören, wie es
ihr gelungen war, alle Details der Entführung zu erhalten.
Denn ſie erhielt ſie, und eine Photographie der Entflohenen
mit in den Kauf.

Es war nur ein kleines Bildchen, eine Momentaufnahme
von einer Landpartie, aber von unſchätzbarem Wert für die
Berichterſtattung.

Ueberglücklich machte ſie ſich auf den Heimweg.

Es war jetzt ſpät am Nachmittag und währte geraume
Zeit, bis eine Straßenbahn kam. Natürlich war ſie leer, und
der Führer ſchaute Annie betroffen an, als ſie vorne zu ihm
aufſprang.

„Wollen Sie denn wirklich mit, Fräulein?“ fragte er
erſtaunt, „es kann unangenehm werden.“

„Ich muß,“ erwiderte ſie lächelnd, „der Hinweg war
nicht ſchlimm, der Rückweg wird es wohl auch nicht ſein.“

Der Mann gefiel ihr, er ſah kräftig, ſtark und gutmütig
aus. Anders wie der Schaffner, der ein unangenehmes,
mürriſches Weſen hatte.

In den Gaſſen drängte ſich das Volk, und wieder tönten
Schimpfworte, dieſes Mal aus dem Munde von Frauen, dem
jungen Mädchen in das Ohr, während ſie an der erregten
Menge vorbeifuhr.

Aber man warf nicht nach ihr, und ſchon hoffte Annie,
ungefährdet nach Hauſe gelangen zu können. Da bogen ſie
um eine Ecke, die Markthalle lag vor ihnen, und ſofort wußte
ſie, daß ſie ſich zu früh in Sicherheit gewähnt hatte.

Der ganze Platz war ſchwarz von Menſchen. Dicht vor
der Elektriſchen, quer über den Schienen, ſtand ein Bierwagen
und verſperrte den Weg. Der Fahrer riß an ſeiner Klingel,
aber der Kutſcher rührte ſich nicht von der Stelle, und die
Menge brüllte und johlte.


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Bulgaren ließen &#x017F;ich auch die Serben nicht lumpen, inde&#x017F;&#x017F;en &#x017F;cheinen<lb/>
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Einzelexemplare 10 Heller für Czernowitz. Nr. 1069. Czernowitz, Dienſtag, den 6. Auguſt. 1907. Uebersicht. Vom Tage. Fürſt Ferdinand von Bulgarien iſt in Iſchl von Kaiſer Franz Joſeph empfangen worden. — In Caſablanca herrſcht Panik. Die Europäer fliehen. Bunte Chronik. Bei Angres iſt ein Eiſenbahnzug entgleiſt und in den Fluß geſtürzt. Letzte Telegramme. In Florenz verſuchten antiklerikale Demonſtranten eine Kirche in Brand zu ſtecken. — Bei dem Eiſenbahnunglück bei Angers find 50 Perſonen getötet und 16 verwundet worden. Das garantierte Chaos. Wien, 4. Auguſt. (Orig.-Korr.) Bekanntlich haben die Großſtaaten Europas die Aufrecht- erhaltung des Status quo auf dem Balkan garantiert. Die internationale Diplomatie iſt ſehr ſtolz darauf, daß ſie dieſe Einigung erzielt hat, und jeder Unkundige muß glauben, daß der Zuſtand, den die Mächte mit ſo angeſtrengter Mühe- waltung und ſo aufrichtiger Genugtuung konſervieren, ein geradezu paradieſiſcher Zuſtand ſei. Dieſe Annahme wäre aber ein arger Irrtum, denn auf dem Balkan herrſcht nach wie vor eine wüſte Unordnung, und was dort durch die Mächte garantiert iſt, das iſt lediglich das Chaos. Gewiß ſoll nicht verkannt werden, daß wenigſtens der Ausbruch einer verheerenden Feuersbrunſt verhindert worden iſt, aber dieſe Leiſtung iſt doch nur eine negative; den poſitiven Erfolg, die ſtreitenden Nationalitäten beruhigt, ihre Anſprüche befriedigt, eine dauernde Ordnung geſchaffen zu haben, dieſen Erfolg haben die Groß- mächte nicht zu erzielen vermocht. Nach wie vor wütet in Mazedonien der Kampf aller gegen alle, und die verſchiedenen Völkerſtämme arbeiten rüſtig an der Propaganda der Tat. Der Bandenkrieg dauert fort, nur mit der neuen Nuance, daß jetzt immer eine beſtimmte Nation ſich der Führung bemächtigt, während die andern ſich ein wenig verſchnaufen, um alsbald wieder mit friſchen Kräften in den patriotiſchen Wettbewerb einzutreten. Eine Zeitlang waren es vor allem die Bulgaren, die die landſäſſige Bevölkerung mit der ſanften Gewalt von Blut und Brand für ſich zu gewinnen ſuchten. Dann aber entzog die bulgariſche Regierung den Banden ihre Unterſtützung, weil Fürſt Ferdinand ſich lieber bei ſeinen Untertanen als bei den Großmächten diskreditieren wollte. Wenn auch heute noch bulgariſche Banden in Mazedonien ihr Unweſen treiben, ſo geſchieht dies doch nur inoffiziell, auf eigene Rechnung und Gefahr, und Fürſt Ferdinand kann ſeine Hände in Unſchuld waſchen. Neben den Bulgaren ließen ſich auch die Serben nicht lumpen, indeſſen ſcheinen ſie augenblicklich ein wenig erſchöpft zu ſein. Sie haben auch im eigenen Lande ſo viel Zerſtreuung, daß ſie ſich nicht außer- halb der Grenzen Motion zu machen brauchen. Unter ſolchen Umſtänden war es für die Griechen eine Ehrenſache, die Lücke auszufüllen und in Mazedonien den Guerillakrieg da fortzuſetzen, wo die Bulgaren und Serben ihn abgebrochen hatten. Griechiſche Banden unter griechiſchen Offizieren nationaliſieren jetzt mit Feuer und Schwert die mazedoniſche Bevölkerung. Dieſem Treiben iſt nun die Pforte in einer ſehr beſtimmt gehaltenen Note entgegengetreten. Die Türkei kann ziemlich ſicher ſein, daß die Mächte ſie in dieſer Angelegenheit unterſtützen werden; ſelbſt die enragierteſten Türkenfeinde ſind längſt zu der Ueberzeugung gekommen, daß es unmöglich iſt, die Beſtrebungen der chriſtlichen Balkanvölker zu fördern. Niemand weiß, wie die Dinge geordnet werden ſollten, wenn die türkiſche Herrſchaft zuſammenbräche, und alle ſind darin einig, das Leben des kranken Mannes ſo lange wie irgend möglich hinzufriſten So unzulänglich der jetzige Zuſtand iſt, jede Aenderung ſcheint eine Verſchlimmerung zu bedeuten. Die Note der Türkei wird daher vermutlich die Zuſtimmung ſämtlicher Mächte finden, ja, man kann annehmen, daß ſie der Ini- tiative der europäiſchen Diplomatie ihre Entſtehung verdankt. Der Dreibund will eo ipso, daß auf dem Balkan Ruhe gehalten wird und der status quo aufrecht bleibt, und auch die anderen Mächte haben ein ſtarkes Intereſſe daran, daß jetzt in dem Wetterwinkel Europas nicht etwa eine ernſte Komplikation eintritt. Sie ſind ja alle auf dem Balkan mehr oder weniger intereſſiert, aber angeſichts der Serie neuer Ententen, die in jüngſter Zeit abgeſchloſſen wurden, kann ihnen jede durchgreifende Aenderung der europäiſchen Kon- ſtellation, wie ſie eine Aufrollung der Balkanfrage notwendiger- weiſe nach ſich ziehen müßte, nur unbequem ſein; einſtweilen braucht Europa Ruhe, damit die Verbündeten, deren Freund- ſchaft noch ſo überaus grün iſt, ſich mit einander einleben. Später läßt ſich ja vielleicht eher über die Balkanangelegen- heiten reden. Ganz offenkundig iſt jetzt das Beſtreben der Großmächte dahin gerichtet, in den Balkanfragen allen Konfliktsſtoff aus dem Wege zu ſchaffen. Die leitenden Miniſter Italiens und und Oeſterreich-Ungarns haben ſich eben erſt in Deſio wieder dahin geeinigt, daß unter allen Umſtänden der status quo auf dem Balkan aufrecht erhalten werden müſſe, und die Note der Türkei iſt vermutlich ein Nachhall dieſer Begegnung. Die Audienz des Fürſten Ferdinand bei Kaiſer Fanz Joſeph ſteht offenbar damit in Verbindung, und den Schlußſtein wird dem ganzen der Beſuch Eduards in Iſchl aufſetzen. Die Mächte ſind ſich alſo einig darüber, daß auf dem Balkan Frieden herrſchen ſoll — und daß ſie ſich nicht die Finger an dem Feuerchen, daß dort geſchürt wird, verbrennen wollen. Das gilt insbeſondere von Oeſterreich, deſſen balkaniſche Intereſſen und Aſpirationen vielfach falſch beurteilt werden. Man ſagt uns Anexionsabſichten nach. Nun, es könnte uns wirklich nichts Schlimmeres paſſieren, als wenn uns jemand ganz Mazedonien ſchenken wollte. Unſere Intereſſen auf dem Balkan ſind vorwiegend kommerzielle; es iſt alſo von Wert für uns, daß dort ſtabile Verhältniſſe hergeſtellt werden, die unſerer Handelswelt eine ſichere Kalkulation geſtatten. Politiſch müſſen wir wünſchen, das wir uns mit Italien oder einer anderen Macht nicht um diverſer Balkanaſpirationen willen in die Haare ge- raten, daß uns aber auch niemand dort unſere fried- lichen Kreiſe ſtört. Damit iſt aber unſer Intereſſe an der Sache auch vollſtändig umgrenzt. Oeſterreich kann ſich der Aufgabe nicht unterziehen, aus dem Balkanchaos einen Kosmos zu geſtalten, und beſchränkt ſich daher darauf allen Maßregeln beizuſtimmen, die zwar keine ideale Ordnung ſchaffen, aber wenigſtens das Schlimmſte verhüten können. Feuilleton. Gefährliche Fahrt. Novelette nach dem Engliſchen von Sophie Spiegel. Nachdruck verboten. Unmutig ſaß die neuengagierte Berichterſtatterin vor ihrem Schreibtiſch und faltete die Hände müßig im Schoß. Das erregte die Aufmerkſamkeit des lokalen Chefredakteurs; in ſeinem Bureau durfte niemand feiern. „Fräulein Meiſter’“ rief er ſcharf, nachdem er einige Sekunden in ſeinem Notitzbuch geblättert hatte. „Ja, Herr Lauten’“ erwiderte ſie raſch und trat zu ihm. Schon im nächſten Augenblick, noch während ſie ein paar Papiere in ihr braunes Ledertäſchchen ſtopfte, war ſie aus der Tür. „Wo haſt Du ſie hingeſchickt, Walter?“ fragte ihn ſein Freund und Gehilfe und ſah von ſeiner Arbeit auf. „Entführung — nach dem Oſten!“ kam die knappe Antwort. „Es wird nicht viel Intereſſantes dabei heraus- kommen, aber wenigſtens hat ſie Beſchäftigung. Hätte ich ſie nur dem Alten, der ſie mir ſchickte, wieder zurückgeſendet. Mädchen ſind in unſerem Berufe nichts wert — ſie haben keinen Mut und keine Grütze! Was iſt denn los, Stahl?“ Dieſer war erregt aufgeſprungen und ſchlug jetzt mit der Fauſt auf den Tiſch. „Großer Gott, Lauten, was haſt Du angerichtet!“ rief er heftig, „im Oſten ſtreiken ja die Arbeiter. Und ſie gerät mitten unter ſie!“ „Da haben wir’s,“ gab der andere ſtirnrunzelnd zurück, „warum habe ich auch das Frauenzimmer genommen! Ein Mann kann für ſich ſelbſt ſorgen. Ah bah, ſie iſt ein Neu- ling, ſie wird ſich ängſtigen und die Geſchichte laufen laſſen. Kein Grund zur Beſorgnis, Max.“ „Du kennſt ſie nich, Walter“ entgegnete dieſer, dem das zarte junge Geſchöpf ein ihm ſelbſt unerklärliches In- tereſſe eingeflößt hatte, noch immer beunruhigt. „Sie nimmt die Sache ernſt. Sie ſtammt aus einer Zeitungsfamilie und iſt mit deren Traditionen aufgewachſen. Die weicht vor dem Streik nicht zurück. Und wenn ihr etwas zuſtößt?“ „Ach, unke doch nicht ſo,“ brummte der Freund unwirſch. „Es wird ihr ſchon kein Leids geſchehen. Zur Chaperone bin ich nicht engagiert worden. Bringe lieber Dein „Buntes Allerlei“ zu Ende.“ Stahl ſchwieg hierauf und verſuchte eine nervöſe Auf- regung zu beſchwichtigen. Das gleiche verſuchte auch Fräulein Meiſter. Sie hatte nicht den Streik vergeſſen und wußte, daß er bedeutend ernſthafter war, als ihn die Morgenblätter darſtellten. Sie wußte auch, daß ſie ſich mitten hinein wagen müſſe, aber an feigen Rückzug dachte ſie nicht. Es dauerte lange, bis ſie eine Elektriſche nach dem Oſten fand, und als endlich eine kam, waren deren Fenſter- ſcheiben zerbrochen und der Führer hatte ein blutiges Taſchentuch um das Handgeleng geſchlungen. Ein Poliziſt ſah, wie ſie ſich auf das Trittbrett hinauf- ſchwang und wollte ſie warnen. Aber ſie ſchüttelte nur den Kopf. „Ich fürchte mich nicht,“ ſagte ſie lächelnd, „ich bin Berichterſtatterin und muß das Neueſte zu erfahren ſuchen.“ Achſelzuckend ließ er ihr ihren Willen und entfernte ſich ein ähnliches Gefühl wie Stahl im Herzen. „Prachtmädel,“ murmelte er, „hoffentlich paſſiert ihr nichts.„ Annies Unruhe wuchs, als ſie von dem Schaffner, der ihrer Geſellſchaft froh war, erfuhr, wie aufgeregt das Volk im Streikrevier ſei. An einer Straßenecke warfen einige halbwüchſige Jungen mit Steinen nach ihr. Dem Rat des Schaffners folgend, hockte ſie ſich im Innern auf dem Boden nieder, doch ſich ihrer Furcht ſchämend, ſprang ſie bald wie- der auf. Als ſie die Markthalle im Oſten erreichten, verſuchten einige Männer den Wagen aufzuhalten, wüſtes Geſchrei und Gejohle tönte um ſie her, und verdorbenes Obſt und Gemüſe flog zu ihr hinein. Eine unreife Pflaume traf empfindlich ihre Naſe, und eine faule Tomate überſpritzte ſie mit ihrem Saft, und rohe Redensarten trieben ihr das Blut in die Wangen. Aber es geſchah für ihre Zeitung, und der Reſt der Fahrt verlief verhältnismäßig ruhig. Ganz ſtolz und erhaben fühlte ſie ſich, als ſie jetzt an ihrer Halteſtelle abſtieg. Der Chefredakteur würde ſchon eines Tages hören, wie es ihr gelungen war, alle Details der Entführung zu erhalten. Denn ſie erhielt ſie, und eine Photographie der Entflohenen mit in den Kauf. Es war nur ein kleines Bildchen, eine Momentaufnahme von einer Landpartie, aber von unſchätzbarem Wert für die Berichterſtattung. Ueberglücklich machte ſie ſich auf den Heimweg. Es war jetzt ſpät am Nachmittag und währte geraume Zeit, bis eine Straßenbahn kam. Natürlich war ſie leer, und der Führer ſchaute Annie betroffen an, als ſie vorne zu ihm aufſprang. „Wollen Sie denn wirklich mit, Fräulein?“ fragte er erſtaunt, „es kann unangenehm werden.“ „Ich muß,“ erwiderte ſie lächelnd, „der Hinweg war nicht ſchlimm, der Rückweg wird es wohl auch nicht ſein.“ Der Mann gefiel ihr, er ſah kräftig, ſtark und gutmütig aus. Anders wie der Schaffner, der ein unangenehmes, mürriſches Weſen hatte. In den Gaſſen drängte ſich das Volk, und wieder tönten Schimpfworte, dieſes Mal aus dem Munde von Frauen, dem jungen Mädchen in das Ohr, während ſie an der erregten Menge vorbeifuhr. Aber man warf nicht nach ihr, und ſchon hoffte Annie, ungefährdet nach Hauſe gelangen zu können. Da bogen ſie um eine Ecke, die Markthalle lag vor ihnen, und ſofort wußte ſie, daß ſie ſich zu früh in Sicherheit gewähnt hatte. Der ganze Platz war ſchwarz von Menſchen. Dicht vor der Elektriſchen, quer über den Schienen, ſtand ein Bierwagen und verſperrte den Weg. Der Fahrer riß an ſeiner Klingel, aber der Kutſcher rührte ſich nicht von der Stelle, und die Menge brüllte und johlte.

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Zitationshilfe: Czernowitzer Allgemeine Zeitung. Nr. 1069, Czernowitz, 06.08.1907, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_czernowitzer1069_1907/1>, abgerufen am 21.11.2024.