Czernowitzer Allgemeine Zeitung. Nr. 458, Czernowitz, 12.07.1905.Czernowitzer Allgemeine Zeitung. 12. Juli 1905. [Spaltenumbruch] ein Reformprogramm aufzuoktroieren, hat er nicht Ein Interview mit Gorki. Petersburg, 5. Juli. Die "Birschewija Wjedomosti" haben Gorki von Nach der künftigen Bolksvertretung gefragt, "Den Bauern und Arbeitern die Beteiligung an Auf den Einwand, daß die technische Seite der "Wie wird es aber mit den Fremdvölkern sein?" "Auch sie müssen unbedingt unter den Volksvertretern [Spaltenumbruch] "Aber es gibt doch zweifelsohne einen eingefleischten "Durchaus nicht, durchaus nicht," -- erwiderte Gorki. Ganz im Gegensatz zu allen Vermutungen will Gorki Interessant ist Gorkis Meinung über die Stellungnahme "Dieser Mensch, sagt nun Gorki, ist der Sklave seiner Ueber seinen Prozeß sprach sich Gorki dahin aus, Es braucht wohl kaum hinzugefügt zu werden, daß die [Spaltenumbruch] zwar aus mit seiner erloschenen Fackel; aber ihr Herren, der Der mächtige Trieb zum Leben -- die unabwendbare Und was so in den wenigen Fällen des im eigentlichsten Was hier das Krankheitsgift, bewirkt in anderen Fällen [Spaltenumbruch] jedoch in Grenzen, die den Chauvinismus gänzlich aus- Die Vorgänge in Rußland. Uebertritte zum Katholizismus. Miusk, 10. Juli (Meldung der St. Petersburger Telegraphen-Agentur). In vier Amtsbezirken sind über 8000 Die Uebergabe des "Potemkin". Bukarest, 9. Juli. Heute früh erschienen zwei russische Odessa, 10. Juli. Es wird hier amtlich bekannt ge- Bukarest, 10. Juli. Die Agence Roumaine meldet: Der Aufruhr im Kaukasus. Tiflis, 9. Juli. Als heute mehrere Arbeiter verhaftet Batum, 9. Juli. Die Schiffahrtsagenturen stellten den Unruhen. Kowno, 9. Juli. Etwa 400 Inden verursachten Czernowitzer Allgemeine Zeitung. 12. Juli 1905. [Spaltenumbruch] ein Reformprogramm aufzuoktroieren, hat er nicht Ein Interview mit Gorki. Petersburg, 5. Juli. Die „Birſchewija Wjedomoſti“ haben Gorki von Nach der künftigen Bolksvertretung gefragt, „Den Bauern und Arbeitern die Beteiligung an Auf den Einwand, daß die techniſche Seite der „Wie wird es aber mit den Fremdvölkern ſein?“ „Auch ſie müſſen unbedingt unter den Volksvertretern [Spaltenumbruch] „Aber es gibt doch zweifelsohne einen eingefleiſchten „Durchaus nicht, durchaus nicht,“ — erwiderte Gorki. Ganz im Gegenſatz zu allen Vermutungen will Gorki Intereſſant iſt Gorkis Meinung über die Stellungnahme „Dieſer Menſch, ſagt nun Gorki, iſt der Sklave ſeiner Ueber ſeinen Prozeß ſprach ſich Gorki dahin aus, Es braucht wohl kaum hinzugefügt zu werden, daß die [Spaltenumbruch] zwar aus mit ſeiner erloſchenen Fackel; aber ihr Herren, der Der mächtige Trieb zum Leben — die unabwendbare Und was ſo in den wenigen Fällen des im eigentlichſten Was hier das Krankheitsgift, bewirkt in anderen Fällen [Spaltenumbruch] jedoch in Grenzen, die den Chauvinismus gänzlich aus- Die Vorgänge in Rußland. Uebertritte zum Katholizismus. Miusk, 10. Juli (Meldung der St. Petersburger Telegraphen-Agentur). In vier Amtsbezirken ſind über 8000 Die Uebergabe des „Potemkin“. Bukareſt, 9. Juli. Heute früh erſchienen zwei ruſſiſche Odeſſa, 10. Juli. Es wird hier amtlich bekannt ge- Bukareſt, 10. Juli. Die Agence Roumaine meldet: Der Aufruhr im Kaukaſus. Tiflis, 9. Juli. Als heute mehrere Arbeiter verhaftet Batum, 9. Juli. Die Schiffahrtsagenturen ſtellten den Unruhen. Kowno, 9. Juli. Etwa 400 Inden verurſachten <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0002" n="2"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Czernowitzer Allgemeine Zeitung. 12. Juli 1905.</hi> </fw><lb/> <cb/> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div xml:id="revolution2" prev="#revolution1" type="jArticle" n="2"> <p>ein Reformprogramm aufzuoktroieren, hat er nicht<lb/> mehr; er kann einzig noch vorbeugen, daß die<lb/> Straße von Peterhof nach Petersburg für ihn nicht<lb/> zu der furchtbaren Bedeutung ſich erhebt, die der<lb/> Weg von Verſailles nach Paris für den ſechzehnten<lb/> Ludwig hatte.</p> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div xml:id="gorki1" next="#gorki2" type="jArticle" n="2"> <head> <hi rendition="#aq"> <hi rendition="#b">Ein Interview mit Gorki.</hi> </hi> </head><lb/> <dateline><hi rendition="#g">Petersburg,</hi> 5. Juli.</dateline><lb/> <p>Die „Birſchewija Wjedomoſti“ haben <hi rendition="#g">Gorki</hi> von<lb/> einem ihrer Mitarbeiter über aktuelle Probleme befragen laſſen<lb/> und geben in ihrer heutigen Abendnummer den Inhalt der<lb/> Unterredung mit dem Schriftſteller wieder. Wir entnehmen<lb/> derſelben die intereſſanteren Stellen.</p><lb/> <p>Nach der künftigen <hi rendition="#g">Bolksvertretung</hi> gefragt,<lb/> antwortete <hi rendition="#g">Gorki:</hi> </p><lb/> <p>„Den <hi rendition="#g">Bauern</hi> und <hi rendition="#g">Arbeitern</hi> die Beteiligung an<lb/> der erwarteten Volksvertretung zu verweigern oder zu be-<lb/> ſchneiden, wäre zum mindeſten töricht... Was kann das<lb/> für eine Volksvertretung ſein, wenn das Volk ſelbſt in ihr<lb/> die letzte Stelle einnehmen wird? Diejenigen begehen einen<lb/> groben Fehler, die den Bauern vom Standpunkte eines Land-<lb/> ſchaftshauptmannes betrachten. Das ruſſiſche Volk, der ruſſiche<lb/> Bauer und Arbeiter, ſteht in mehr als einer Hinſicht höher,<lb/> als die, welche eben über ſein Schickſal entſcheiden. Sein<lb/> politiſcher Horizont iſt keineswegs ein enger. Vor ein paar<lb/> Tagen noch waren Bauern und Arbeiter hier bei mir und<lb/> ihre Geſpräche haben mich wiederum davon überzeugt, daß<lb/> ſie in Staats- und ſozial-ökonomiſchen Fragen nicht weniger<lb/> begreifen als ein beliebiger Petersburger Beamter. Leute, die<lb/> die Bauern für unbefähigt halten, ſich am öffentlichen<lb/> politiſchen Leben des Landes zu beteiligen — kennen die<lb/> Bauern nicht.</p><lb/> <p>Auf den Einwand, daß die <hi rendition="#g">techniſche</hi> Seite der<lb/> Wahlen, in Anbetracht der Ausbildung und mangelnden<lb/> Vorbereitung in dieſen Schichten der Bevölkerung große<lb/> Schwierigkeiten machen dürfte, erwiderte <hi rendition="#g">Gorki:</hi> „Im Ge-<lb/> genteil.... Ich bin tief überzeugt, daß dem ruſſiſchen Volke<lb/> das <hi rendition="#g">Wahlprinzip</hi> auf hiſtoriſchem Wege zu eigen ge-<lb/> worden iſt. Denken Sie an die „Wetſche“, (eine Art Volks-<lb/> verſammlung, die in den freien Städten Nowgorod und<lb/> Pſkow exiſtierte), an die Gemeindeverſammlungen in den<lb/> Dörfern ...“ Die auch hier immer wieder vorgekommenen<lb/> Fahrläſſigkeiten ſchreibt <hi rendition="#g">Gorki</hi> nicht der Schuld der Bauern,<lb/> ſondern den verſchiedenen Beamten der Adminiſtration zu,<lb/> die immer wieder einen Druck auf das Gewiſſen der Bauern<lb/> ausüben. „Das ruſſiſche Volk wird, bei garantierter In-<lb/> tegrität der Perſönlichkeit und Freiheit, in der Perſon ſeiner<lb/> Vertreter ſein richtiges, entſcheidendes Wort ſprechen, das<lb/> allein dem Wohle Rußlands entſprechen kann.“</p><lb/> <p>„Wie wird es aber mit den <hi rendition="#g">Fremdvölkern</hi> ſein?“<lb/> fragte der Interviewer.</p><lb/> <p>„Auch ſie müſſen unbedingt unter den Volksvertretern<lb/> ſein. Was für eine ſonderbare Stellung hat man in Rußland<lb/> zu ihnen! Leute, die nicht ein einzigesmal einen Vertreter<lb/> eines Fremdvolkes geſehen hatten, entſchieden theoretiſch, auf<lb/> dem Papier, über ihre Schickſale. Ich bin auf Fabriken ge-<lb/> weſen und habe geſehen, daß der Ruſſe, der Finne, der<lb/> Tatar, der Jude, der Pole vorzüglich mit einander aus-<lb/> kommen. Es iſt nur nötig, daß ſie nicht durch gewiſſe Be-<lb/> griffe der Vorherrſchaft einer Konfeſſion und Nationalität<lb/> getrennt werden. Und hauptſächlich darf es keine heuchleriſchen<lb/> Reden von Leuten geben, die ihr Wohlergehen auf der Iſo-<lb/> lierung des Volkes von der Intelligenz aufbauen. Ich ent-<lb/> ſinne mich des guten, brüderlichen gegenſeitigen Verhältniſſes,<lb/> das auf jenen Betrieben und Fabriken herrſchte, wo die<lb/> Vertreter der verſchiedenen Nationalitäten in Kontakt gerieten.<lb/> Es ſingt z. B. da ein Jude, man ſtimmt gerne mit ein.<lb/> Auch nicht der Schatten vom Spott. Man ſpürt die Fried-<lb/> fertigkeit der Arbeit.“</p><lb/> <cb/> <p>„Aber es gibt doch zweifelsohne einen eingefleiſchten<lb/><hi rendition="#g">Haß</hi> zwiſchen dem ruſſiſchen Volke und den Inden?“ meinte<lb/> der Interviewer.</p><lb/> <p>„Durchaus nicht, durchaus nicht,“ — erwiderte Gorki.<lb/> „Der Teufel mag wiſſen, wer ſich das ausgedacht hat. Das<lb/> echte ruſſiſche Volk ſteht allen Nationalitäten ſehr gutmütig<lb/> gegenüber. Die ſollten ſich ſchämen, die den Ruſſen gegen<lb/> die Fremdvölker und Juden aufhetzen. Wenn die Juden ge-<lb/> prügelt werden, ſo prügelt ſie nicht das Volk, ſondern die<lb/> „Oberhausknechte“ (die bekanntlich in Rußland ein Mittel-<lb/> ding zwiſchen Schutzleuten und Spitzeln ſind). Der Anti-<lb/> ſemitismus iſt dem ruſſiſchen Volke nicht eigen. Und ſelbſt<lb/> das Gefühl nationaler Selbſtgefälligkeit iſt ihm fremd.“</p><lb/> <p>Ganz im Gegenſatz zu allen Vermutungen will Gorki<lb/> von einem baldigen Frieden <hi rendition="#g">nichts</hi> wiſſen. „Ich bin un-<lb/> bedingt für die Fortſetzung des Krieges,“ erklärte er kate-<lb/> goriſch. „Er hat diejenigen, die ihn hervorgerufen haben,<lb/> vieles gelehrt. Der beſte Beweis dafür ſind die Aenderungen,<lb/> welche eben bei uns vor ſich gehen.“ Als der Interviewer<lb/> auf die vielen unſchuldigen Opfer hinwies, fragte <hi rendition="#g">Gorki:</hi><lb/> „Ja, iſt ihr Leben denn hier ſüß? Iſt denn das Land vor<lb/> dem Kriege nicht ruiniert worden? Und wenn es keinen<lb/> Krieg gegeben hätte, würde dieſe Bevölkerung nicht durch<lb/> gewiſſe Umſtände auch künftig ruiniert werden? ... Der<lb/> jetzige Krieg hilft uns, vom Drucke anderer Feinde freizu-<lb/> werden, und um den ſchweren Preis des Krieges werden<lb/> wir jene Garantien erobern, die unſerem Volke die Mög-<lb/> lichkeit geben werden, ſich frei zu entwickeln und das ruſſiſche<lb/> Land zu neuem Leben emporblühen zu laſſen.... Ich bin<lb/> für den Krieg!“</p><lb/> <p>Intereſſant iſt Gorkis Meinung über die Stellungnahme<lb/><hi rendition="#g">Tolſtois</hi> zur gegenwärtigen freiheitlichen Bewegung ſeiner<lb/> Heimat. Bekanntlich hat ſich Tolſtoi kategoriſch und gering-<lb/> ſchätzig gegen die konſtitutionaliſtiſche Strömung ausgeſprochen.<lb/> „Werdet ſelber beſſer, dann wird auch das Leben beſſer<lb/> werden. Die Regierungsform iſt Nebenſache.“ Das war ſo<lb/> ziemlich die Quinteſſenz von Tolſtois Meinung.</p><lb/> <p>„Dieſer Menſch, ſagt nun Gorki, iſt der Sklave ſeiner<lb/> Idee geworden. Er hat ſich ſchon längſt vor dem ruſſiſchen<lb/> Leben verſchloſſen und hat nicht mit der gehörigen Aufmerk-<lb/> ſamkeit der Stimme dieſes Lebens gelauſcht. Ich war zu-<lb/> gegen, als eine Gruppe von Bauern zu Tolſtoi kam, um<lb/> ſich über einige Fragen ihres Lebens zu beraten ... Anſtatt<lb/> die Bauern anzuhören, ihnen eine praktiſche Autwort zu<lb/> geben, begann Tolſtoi ihnen ſeine Meinungen auszuſprechen,<lb/> jene Ideen zu entwickeln, zu denen nicht nur der Bauer,<lb/> ſondern ſelbſt der ruſſiſche Gebildete noch nicht herangereift<lb/> iſt. Man darf ſeinen Worten über das heutige Rußland<lb/> keinen beſonderen Wert beimeſſen. Er ſteht ihm heute<lb/> ſehr fern.“</p><lb/> <p>Ueber ſeinen <hi rendition="#g">Prozeß</hi> ſprach ſich <hi rendition="#g">Gorki</hi> dahin aus,<lb/> daß alle in die Oeffentlichkeit gedrungenen Nachrichten,<lb/> denen zufolge er niedergeſchlagen werden könnte, nicht richtig<lb/> ſeien. Einige Zeugen ſind bereits vernommen worden. In<lb/> nächſter Zeit werden wahrſcheinlich auch die übrigen verhört<lb/> werden. Der Prozeß wird zu Anfang des Herbſtes zur Ver-<lb/> handlung gelangen.</p><lb/> <p>Es braucht wohl kaum hinzugefügt zu werden, daß die<lb/> ruſſiſche freiheitlich bewegte Geſellſchaft, die vom <hi rendition="#g">Kriege<lb/> überhaupt</hi> nichts wiſſen will, ſich mit der Argumentation<lb/><hi rendition="#g">Gorkis</hi> nicht einverſtanden erklären wird, ſelbſt wenn ſie<lb/> ihre relative Richtigkeit anerkennt. Was die Gutmütigkeit<lb/> des ruſſiſchen Volkes fremden Nationalitäten gegenüber an-<lb/> betrifft, ſo gibt ſich <hi rendition="#g">Gorki</hi> ganz denſelben Täuſchungen<lb/> hin, wie es die geſamte Intelligenz tut. Nicht Gutmütigkeit<lb/> eignet dem Ruſſen, andern Völkerſchaften gegenüber, ſondern<lb/><hi rendition="#g">Gleichgültigkeit,</hi> die jedoch ein ſpöttiſches Verhalten,<lb/> ſagen wir beiſpielsweiſe gegenüber dem „verfluchten<lb/><hi rendition="#g">Deutſchen,</hi> der alles beſſer macht“, keineswegs aus-<lb/> ſchließen. Alle großen ruſſiſchen Schriftſteller, auch Turgenjew<lb/> und Tolſtoi haben dieſe mitleidig-ſpöttiſche Nuance, wenn ſie<lb/> auf den Deutſchen zu ſprechen kommen. Selbſt die Intelligenz<lb/> löſt dieſe Frage im Grunde genommen doch nur theoretiſch,<lb/> für die anderen Nationalitäten günſtig. Das alles hält ſich</p> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <cb/> <div type="jFeuilleton" n="1"> <div xml:id="sterben2" prev="#sterben1" type="jArticle" n="2"> <p>zwar aus mit ſeiner erloſchenen Fackel; aber ihr Herren, der<lb/> Tod iſt ſo äſthetiſch doch nicht“ — ihm ſelbſt nahte er den-<lb/> noch im Glanze der untergehenden Sonne, deren Schönheit<lb/> den ſterbenden Schiller erquickte.</p><lb/> <p>Der mächtige Trieb zum Leben — die unabwendbare<lb/> Notwendigkeit des Sterbens, wie überbrückt die Natur dieſe<lb/> flammenden, dieſe harten Gegenſätze? <gap reason="lost"/>e iſt eine bewun-<lb/> derungswürdige Künſtlerin! Käme ihr Walten ſtets rein zur<lb/> Geltung, würde ſie nicht zu allermeiſt gewaltſam in ihrem<lb/> Wirken unterbrochen, ſo würde uns dieſe ihre Größe und<lb/> Güte noch viel eindrucksvoller zum Bewußtſein kommen. Denn<lb/> wie ſterben Menſchen, die an das naturgemäße Ende ihres<lb/> durch keine Krankheit abgekürzten Daſeins gelangen? Sie<lb/> ſchlafen ein, ohne Kampf, ohne Schmerz, ohne Leid. Der<lb/> Schrift von Varigny über den Tod entnehme ich Folgendes:<lb/> „Was empfinden Sie?“ fragte man den ſterbenden hundert-<lb/> jährigen Fontenelle. „Gar nichts, als daß es mir ſchwer<lb/> wird, zu leben.“ Und als Brillat-Savarie einer ſterbenden<lb/> dreiundneunzigjährigen Verwandten ein Glas Waſſer reichte,<lb/> ſagte dieſe: „Vielen Dank für dieſen letzten Dienſt. Wenn du<lb/> je ſo alt werden ſollteſt wie ich, ſo wirſt du einſehen, daß<lb/> der Tod für den Menſchen ebenſo ſehr ein Bedürfnis iſt wie<lb/> der Schlaf.“ Die Organe werden alt atrophiſch; alle Funktionen<lb/> werden träger, müder; und damit wird der Trieb zum Leben<lb/> ſchwächer, erliſcht völlig. Das iſt das Geheimnis, warum wir<lb/> beim wirklich naturgemäßen Ablauf des Daſeins ſanft und<lb/> friedvoll entſchlafen; es bedarf hier nicht einmal ethiſche Ein-<lb/> flüſſe und religiöſer Vorſtellungen, um das Sterben aller<lb/> Schrecken zu entkleiden.</p><lb/> <p>Und was ſo in den wenigen Fällen des im eigentlichſten<lb/> und engeren Wortſinne natürlichen Sterbens durch die Rück-<lb/> bildung der Organe, der Altersinvolution auf der geiſtigen<lb/> und gemütlichen Energie erzielt wird, das ſehen wir in den<lb/><cb/> allermeiſten Fällen des natürlichen durch Krankheit herbeige-<lb/> führten vorzeitigen Sterbens auf andere Weiſe erreicht. Bei<lb/> vielen akut fieberhaften Krankheiten ruft die bakterielle Gift-<lb/> wirkung eine ſo ſchwere Depreſſion des Nervenſyſtems, bei<lb/> ſelbſt freiem Intellekt eine ſo hochgradige Apathie hervor, daß<lb/> es dem Kranken tatſächlich gar keinen Eindruck macht, ob er<lb/> ſterben werde oder nicht. Wer je ſelbſt, zum Beiſpiele einen<lb/> ſchweren Typhus durchgemacht hat, wird dies beſtätigen können.<lb/> Mit der gelaſſenſten Ruhe denkt man an die Möglichkeit des<lb/> Todes; der Trieb zum Leben kann ganz erlöſchen, und das<lb/> Sterben tritt phyſiſch und pſychiſch klaglos ein.</p><lb/> <p>Was hier das Krankheitsgift, bewirkt in anderen Fällen<lb/> die Abmagerung aller Gewebe, die allgemeine Erſchöpfung,<lb/> welche die Erregbarkeit des Gehirns immer mehr herabſetzt.<lb/> Seine Funktionen erlahmen, der Kranke wird ſchlummerſüchtig;<lb/> das geſchwächte Herz führt den nervöſen Zentralſtellen weniger<lb/> Blut zu, und ſchließlich erliſcht das Leben in Bewußtloſigkeit.<lb/> Vorher aber ſchon iſt der Lebenswunſch und die Lebensenergie<lb/> geringer geworden. In analoger Weiſe vollzieht ſich das<lb/> Sterben bei den Erkrankungsformen, die mit Atemnot einher-<lb/> gehen, und bei noch einer langen Reihe anderer Affektionen.<lb/> Die Erregbarkeit der Nervenzellen und Faſern wird wegen<lb/> verringerten Sauerſtoffgehaltes immer ſchwächer. Damit nimmt<lb/> die Itenſität aller Eindrücke, nimmt ſelbſt vorher heftiger<lb/> Schmerz und quälende Atemnot ab. Alle Affekte werden milder,<lb/> Sorge und Angſt weichen vor dem gemarterten Gemüte, ebenſo<lb/> wie die Fähigkeit zu denken, aus dem ſchöpferiſcheſten Geiſte.<lb/> Auch das heiligſte und hehrſte aller menſchlichen Gefühle, die<lb/> Liebe, verſinkt allmählich in den traumloſen, ſanften, weichen<lb/> Umfangen des Sterbens. Ein unſagbar wehmütiger Gedanke<lb/> für die Zurückbleibenden, eine unausſprechliche Wohltat für<lb/> den Scheidenden.</p> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <cb/> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div xml:id="gorki2" prev="#gorki1" type="jArticle" n="2"> <p>jedoch in Grenzen, die den Chauvinismus gänzlich aus-<lb/> ſchließen. Fanatiſche Ausbrüche des Haſſes gegen ein Fremd-<lb/> volk ſind immer auf Agitation und Hetzerei dunkler Elemente<lb/> zurückzuführen, denn der Ruſſe muß immer erſt aus ſeiner<lb/> Gleichgültigkeit aufgerüttelt werden; ſeine paſſive Averſion<lb/> den Fremdvölkern gegenüber geht nicht leicht in Aktivität<lb/> über. Wie der Deutſche über ſein Bier ſchimpft, es aber<lb/> dennoch trinkt, ſo macht es auch der Ruſſe, mag er noch ſo<lb/> viel höhnen und lachend ſchimpfen, ohne Juden, ohne Deutſche<lb/> kann er nun einmal nicht leben.</p> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <head> <hi rendition="#aq"> <hi rendition="#b">Die Vorgänge in Rußland.</hi> </hi> </head><lb/> <div type="jArticle" n="2"> <head> <hi rendition="#b">Uebertritte zum Katholizismus.</hi> </head> <dateline><hi rendition="#b">Miusk,</hi> 10. Juli</dateline> <bibl>(Meldung der St. Petersburger<lb/> Telegraphen-Agentur).</bibl> <p>In vier Amtsbezirken ſind über 8000<lb/> Orthodoxe und Uniierte zum Katholizismus übergetreten. Die<lb/> Wolhyniſche-orthodoxe Pfarrgemeinde hat mangels an Mit-<lb/> gliedern zu beſtehen aufgehört. Die orthodoxe Geiſtlichkeit<lb/> plant Maßnahmen, um weiteren Uebertritten von Uniierten<lb/> vorzubeugen.</p> </div><lb/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b">Die Uebergabe des „Potemkin“.</hi> </head><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <dateline><hi rendition="#b">Bukareſt,</hi> 9. Juli.</dateline> <p>Heute früh erſchienen zwei ruſſiſche<lb/> Panzerſchiffe, von denen eins die Admiralsflagge führte,<lb/> ſowie vier Torpedoboote und ein Torpedobootszerſtörer des<lb/> Schwarzmeer-Geſchwaders in den Gewäſſern von Konſtanza<lb/> und gaben Salutſchüſſe ab. Der rumäniſche Kreuzer „Eli-<lb/> ſabeth“ erwiderte den Salut und ſalutierte die Admirals-<lb/> flagge. Der Marinekommandant Koslinski ſtattete dem ruſſi-<lb/> ſchen Konteradmiral einen Beſuch ab; letzerer erklärte, daß<lb/> er erſchienen ſei, um das Panzerſchiff „Potemkin“ zu ſuchen.<lb/> Darauf erwiderte der Marinekommandant, der „Potemkin“<lb/> habe zweimal in den rumäniſchen Gewäſſern Anker ge-<lb/> worfen; er ſei mit Rückſicht auf die Eigentümlichkeit der<lb/> Lage aufgefordert werden, den Hafen zu verlaſſen oder ab-<lb/> zurüſten. Die Mannſchaft des „Potemkin“ ſei ans Land<lb/> gebracht worden; die rumäniſchen Behörden hätten von dem<lb/> Schiffe Beſitz ergriffen und es einer Wache anvertraut, die<lb/> es unter den Schutz der auf dem „Potemkin“ gehißten<lb/> rumäniſchen Flagge ſtellte. Der Marinekommandant fügte<lb/> hinzu, der König habe angeordnet, daß das Schiff dem<lb/> Kaiſer Nikolaus zu übergeben ſei. Nach dieſer Mitteilung<lb/> wurden alle Maßnahmen getroffen, damit die rumäniſche<lb/> Wache den „Potemkin“ verlaſſen und der ruſſiſche Admiral<lb/> das Schiff übernehmen könne.</p> </div><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <dateline><hi rendition="#b">Odeſſa,</hi> 10. Juli.</dateline> <p>Es wird hier amtlich bekannt ge-<lb/> macht, daß eine Flottenabteilung unter dem Kommando des<lb/> Admirals Piſſarewsky, zwei Panzerſchiffe und einige Torpedo-<lb/> boote in Konſtanza angekommen ſind. Die rumäniſchen Be-<lb/> hörden übergaben den „Potemkin“ an Piſſarewsky.</p> </div><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <dateline><hi rendition="#b">Bukareſt,</hi> 10. Juli.</dateline> <p>Die Agence Roumaine meldet:<lb/> Die Löſung, welche die Angelegenheit des „Knjäs Potemkin“<lb/> gefunden hat, wird allgemein als eine ſehr glückliche ange-<lb/> ſehen und man beglückwünſcht einmütig die rumäniſche Re-<lb/> gierung, daß ſie es verſtanden habe, unter Beobachtung der<lb/> Vorſchriften des Völkerrechtes und ohne zu Gewaltmaßregeln<lb/> ſchreiten zu müſſen, der überaus peinlichen Lage ein Ende<lb/> zu machen. Es wird betont, daß die Anweſenheit des „Po-<lb/> temkin“ in den Gewäſſern des Schwarzen Meeres eine<lb/> ſtändige Gefahr in ſich barg, insbeſondere deshalb, weil er<lb/> ſich an den ruſſiſchen Küſten zu verproviantieren ſuchte.<lb/> Uebrigens vermochte er bekanntlich nahezu eine Woche das<lb/> Schwarze Meer zu durchkreuzen, ohne einem Widerſtande zu<lb/> begegnen. Allem Anſcheine nach wäre es ſchwer geweſen, ihn<lb/> mit Gewalt zu erzwingen. Die ruſſiſche Flotte hat denn<lb/> auch keine diesbezüglichen Verſuche gemacht, und das ruſſiſche<lb/> Stationsſchiff „Pſeſuape“ dankte ſeine Sicherheit nur der<lb/> energiſchen Haltung der rumäniſchen Regierung, durch die ſie<lb/> das ruſſiſche Panzerſchiff bei deſſen erſten Anweſenheit in<lb/> Konſtanza zu verhalten wußte, dieſen fremdländiſchen Hafen<lb/> zu reſpektieren.</p> </div> </div><lb/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b">Der Aufruhr im Kaukaſus.</hi> </head><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <dateline><hi rendition="#b">Tiflis,</hi> 9. Juli.</dateline> <p>Als heute mehrere Arbeiter verhaftet<lb/> werden ſollten, wurde eine Bombe geworfen, wodurch ein<lb/> Polizeioffizier getötet und zwei andere verletzt wurden. In der<lb/> Stadt herrſcht Erregung; ſämtliche Läden ſind geſchloſſen. Die<lb/> Zeitungen ſtellten ihr Erſcheinen ein. Der Geſchäftsverkehr iſt<lb/> unterbrochen.</p> </div><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <dateline><hi rendition="#b">Batum,</hi> 9. Juli.</dateline> <p>Die Schiffahrtsagenturen ſtellten den<lb/> Dienſt ein. Die Läden ſind geſchloſſen. Heute früh ſind die<lb/> Perſonenzüge unter Bewachung von Truppen abgegangen.</p> </div> </div><lb/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b">Unruhen.</hi> </head><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <dateline><hi rendition="#b">Kowno,</hi> 9. Juli.</dateline> <p>Etwa 400 Inden verurſachten<lb/> Straßenunruhen und warfen die Fenſter mehrerer Häuſer ein.<lb/> Truppen ſtellten die Ordnung wieder her.</p> </div><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [2/0002]
Czernowitzer Allgemeine Zeitung. 12. Juli 1905.
ein Reformprogramm aufzuoktroieren, hat er nicht
mehr; er kann einzig noch vorbeugen, daß die
Straße von Peterhof nach Petersburg für ihn nicht
zu der furchtbaren Bedeutung ſich erhebt, die der
Weg von Verſailles nach Paris für den ſechzehnten
Ludwig hatte.
Ein Interview mit Gorki.
Petersburg, 5. Juli.
Die „Birſchewija Wjedomoſti“ haben Gorki von
einem ihrer Mitarbeiter über aktuelle Probleme befragen laſſen
und geben in ihrer heutigen Abendnummer den Inhalt der
Unterredung mit dem Schriftſteller wieder. Wir entnehmen
derſelben die intereſſanteren Stellen.
Nach der künftigen Bolksvertretung gefragt,
antwortete Gorki:
„Den Bauern und Arbeitern die Beteiligung an
der erwarteten Volksvertretung zu verweigern oder zu be-
ſchneiden, wäre zum mindeſten töricht... Was kann das
für eine Volksvertretung ſein, wenn das Volk ſelbſt in ihr
die letzte Stelle einnehmen wird? Diejenigen begehen einen
groben Fehler, die den Bauern vom Standpunkte eines Land-
ſchaftshauptmannes betrachten. Das ruſſiſche Volk, der ruſſiche
Bauer und Arbeiter, ſteht in mehr als einer Hinſicht höher,
als die, welche eben über ſein Schickſal entſcheiden. Sein
politiſcher Horizont iſt keineswegs ein enger. Vor ein paar
Tagen noch waren Bauern und Arbeiter hier bei mir und
ihre Geſpräche haben mich wiederum davon überzeugt, daß
ſie in Staats- und ſozial-ökonomiſchen Fragen nicht weniger
begreifen als ein beliebiger Petersburger Beamter. Leute, die
die Bauern für unbefähigt halten, ſich am öffentlichen
politiſchen Leben des Landes zu beteiligen — kennen die
Bauern nicht.
Auf den Einwand, daß die techniſche Seite der
Wahlen, in Anbetracht der Ausbildung und mangelnden
Vorbereitung in dieſen Schichten der Bevölkerung große
Schwierigkeiten machen dürfte, erwiderte Gorki: „Im Ge-
genteil.... Ich bin tief überzeugt, daß dem ruſſiſchen Volke
das Wahlprinzip auf hiſtoriſchem Wege zu eigen ge-
worden iſt. Denken Sie an die „Wetſche“, (eine Art Volks-
verſammlung, die in den freien Städten Nowgorod und
Pſkow exiſtierte), an die Gemeindeverſammlungen in den
Dörfern ...“ Die auch hier immer wieder vorgekommenen
Fahrläſſigkeiten ſchreibt Gorki nicht der Schuld der Bauern,
ſondern den verſchiedenen Beamten der Adminiſtration zu,
die immer wieder einen Druck auf das Gewiſſen der Bauern
ausüben. „Das ruſſiſche Volk wird, bei garantierter In-
tegrität der Perſönlichkeit und Freiheit, in der Perſon ſeiner
Vertreter ſein richtiges, entſcheidendes Wort ſprechen, das
allein dem Wohle Rußlands entſprechen kann.“
„Wie wird es aber mit den Fremdvölkern ſein?“
fragte der Interviewer.
„Auch ſie müſſen unbedingt unter den Volksvertretern
ſein. Was für eine ſonderbare Stellung hat man in Rußland
zu ihnen! Leute, die nicht ein einzigesmal einen Vertreter
eines Fremdvolkes geſehen hatten, entſchieden theoretiſch, auf
dem Papier, über ihre Schickſale. Ich bin auf Fabriken ge-
weſen und habe geſehen, daß der Ruſſe, der Finne, der
Tatar, der Jude, der Pole vorzüglich mit einander aus-
kommen. Es iſt nur nötig, daß ſie nicht durch gewiſſe Be-
griffe der Vorherrſchaft einer Konfeſſion und Nationalität
getrennt werden. Und hauptſächlich darf es keine heuchleriſchen
Reden von Leuten geben, die ihr Wohlergehen auf der Iſo-
lierung des Volkes von der Intelligenz aufbauen. Ich ent-
ſinne mich des guten, brüderlichen gegenſeitigen Verhältniſſes,
das auf jenen Betrieben und Fabriken herrſchte, wo die
Vertreter der verſchiedenen Nationalitäten in Kontakt gerieten.
Es ſingt z. B. da ein Jude, man ſtimmt gerne mit ein.
Auch nicht der Schatten vom Spott. Man ſpürt die Fried-
fertigkeit der Arbeit.“
„Aber es gibt doch zweifelsohne einen eingefleiſchten
Haß zwiſchen dem ruſſiſchen Volke und den Inden?“ meinte
der Interviewer.
„Durchaus nicht, durchaus nicht,“ — erwiderte Gorki.
„Der Teufel mag wiſſen, wer ſich das ausgedacht hat. Das
echte ruſſiſche Volk ſteht allen Nationalitäten ſehr gutmütig
gegenüber. Die ſollten ſich ſchämen, die den Ruſſen gegen
die Fremdvölker und Juden aufhetzen. Wenn die Juden ge-
prügelt werden, ſo prügelt ſie nicht das Volk, ſondern die
„Oberhausknechte“ (die bekanntlich in Rußland ein Mittel-
ding zwiſchen Schutzleuten und Spitzeln ſind). Der Anti-
ſemitismus iſt dem ruſſiſchen Volke nicht eigen. Und ſelbſt
das Gefühl nationaler Selbſtgefälligkeit iſt ihm fremd.“
Ganz im Gegenſatz zu allen Vermutungen will Gorki
von einem baldigen Frieden nichts wiſſen. „Ich bin un-
bedingt für die Fortſetzung des Krieges,“ erklärte er kate-
goriſch. „Er hat diejenigen, die ihn hervorgerufen haben,
vieles gelehrt. Der beſte Beweis dafür ſind die Aenderungen,
welche eben bei uns vor ſich gehen.“ Als der Interviewer
auf die vielen unſchuldigen Opfer hinwies, fragte Gorki:
„Ja, iſt ihr Leben denn hier ſüß? Iſt denn das Land vor
dem Kriege nicht ruiniert worden? Und wenn es keinen
Krieg gegeben hätte, würde dieſe Bevölkerung nicht durch
gewiſſe Umſtände auch künftig ruiniert werden? ... Der
jetzige Krieg hilft uns, vom Drucke anderer Feinde freizu-
werden, und um den ſchweren Preis des Krieges werden
wir jene Garantien erobern, die unſerem Volke die Mög-
lichkeit geben werden, ſich frei zu entwickeln und das ruſſiſche
Land zu neuem Leben emporblühen zu laſſen.... Ich bin
für den Krieg!“
Intereſſant iſt Gorkis Meinung über die Stellungnahme
Tolſtois zur gegenwärtigen freiheitlichen Bewegung ſeiner
Heimat. Bekanntlich hat ſich Tolſtoi kategoriſch und gering-
ſchätzig gegen die konſtitutionaliſtiſche Strömung ausgeſprochen.
„Werdet ſelber beſſer, dann wird auch das Leben beſſer
werden. Die Regierungsform iſt Nebenſache.“ Das war ſo
ziemlich die Quinteſſenz von Tolſtois Meinung.
„Dieſer Menſch, ſagt nun Gorki, iſt der Sklave ſeiner
Idee geworden. Er hat ſich ſchon längſt vor dem ruſſiſchen
Leben verſchloſſen und hat nicht mit der gehörigen Aufmerk-
ſamkeit der Stimme dieſes Lebens gelauſcht. Ich war zu-
gegen, als eine Gruppe von Bauern zu Tolſtoi kam, um
ſich über einige Fragen ihres Lebens zu beraten ... Anſtatt
die Bauern anzuhören, ihnen eine praktiſche Autwort zu
geben, begann Tolſtoi ihnen ſeine Meinungen auszuſprechen,
jene Ideen zu entwickeln, zu denen nicht nur der Bauer,
ſondern ſelbſt der ruſſiſche Gebildete noch nicht herangereift
iſt. Man darf ſeinen Worten über das heutige Rußland
keinen beſonderen Wert beimeſſen. Er ſteht ihm heute
ſehr fern.“
Ueber ſeinen Prozeß ſprach ſich Gorki dahin aus,
daß alle in die Oeffentlichkeit gedrungenen Nachrichten,
denen zufolge er niedergeſchlagen werden könnte, nicht richtig
ſeien. Einige Zeugen ſind bereits vernommen worden. In
nächſter Zeit werden wahrſcheinlich auch die übrigen verhört
werden. Der Prozeß wird zu Anfang des Herbſtes zur Ver-
handlung gelangen.
Es braucht wohl kaum hinzugefügt zu werden, daß die
ruſſiſche freiheitlich bewegte Geſellſchaft, die vom Kriege
überhaupt nichts wiſſen will, ſich mit der Argumentation
Gorkis nicht einverſtanden erklären wird, ſelbſt wenn ſie
ihre relative Richtigkeit anerkennt. Was die Gutmütigkeit
des ruſſiſchen Volkes fremden Nationalitäten gegenüber an-
betrifft, ſo gibt ſich Gorki ganz denſelben Täuſchungen
hin, wie es die geſamte Intelligenz tut. Nicht Gutmütigkeit
eignet dem Ruſſen, andern Völkerſchaften gegenüber, ſondern
Gleichgültigkeit, die jedoch ein ſpöttiſches Verhalten,
ſagen wir beiſpielsweiſe gegenüber dem „verfluchten
Deutſchen, der alles beſſer macht“, keineswegs aus-
ſchließen. Alle großen ruſſiſchen Schriftſteller, auch Turgenjew
und Tolſtoi haben dieſe mitleidig-ſpöttiſche Nuance, wenn ſie
auf den Deutſchen zu ſprechen kommen. Selbſt die Intelligenz
löſt dieſe Frage im Grunde genommen doch nur theoretiſch,
für die anderen Nationalitäten günſtig. Das alles hält ſich
zwar aus mit ſeiner erloſchenen Fackel; aber ihr Herren, der
Tod iſt ſo äſthetiſch doch nicht“ — ihm ſelbſt nahte er den-
noch im Glanze der untergehenden Sonne, deren Schönheit
den ſterbenden Schiller erquickte.
Der mächtige Trieb zum Leben — die unabwendbare
Notwendigkeit des Sterbens, wie überbrückt die Natur dieſe
flammenden, dieſe harten Gegenſätze? _ e iſt eine bewun-
derungswürdige Künſtlerin! Käme ihr Walten ſtets rein zur
Geltung, würde ſie nicht zu allermeiſt gewaltſam in ihrem
Wirken unterbrochen, ſo würde uns dieſe ihre Größe und
Güte noch viel eindrucksvoller zum Bewußtſein kommen. Denn
wie ſterben Menſchen, die an das naturgemäße Ende ihres
durch keine Krankheit abgekürzten Daſeins gelangen? Sie
ſchlafen ein, ohne Kampf, ohne Schmerz, ohne Leid. Der
Schrift von Varigny über den Tod entnehme ich Folgendes:
„Was empfinden Sie?“ fragte man den ſterbenden hundert-
jährigen Fontenelle. „Gar nichts, als daß es mir ſchwer
wird, zu leben.“ Und als Brillat-Savarie einer ſterbenden
dreiundneunzigjährigen Verwandten ein Glas Waſſer reichte,
ſagte dieſe: „Vielen Dank für dieſen letzten Dienſt. Wenn du
je ſo alt werden ſollteſt wie ich, ſo wirſt du einſehen, daß
der Tod für den Menſchen ebenſo ſehr ein Bedürfnis iſt wie
der Schlaf.“ Die Organe werden alt atrophiſch; alle Funktionen
werden träger, müder; und damit wird der Trieb zum Leben
ſchwächer, erliſcht völlig. Das iſt das Geheimnis, warum wir
beim wirklich naturgemäßen Ablauf des Daſeins ſanft und
friedvoll entſchlafen; es bedarf hier nicht einmal ethiſche Ein-
flüſſe und religiöſer Vorſtellungen, um das Sterben aller
Schrecken zu entkleiden.
Und was ſo in den wenigen Fällen des im eigentlichſten
und engeren Wortſinne natürlichen Sterbens durch die Rück-
bildung der Organe, der Altersinvolution auf der geiſtigen
und gemütlichen Energie erzielt wird, das ſehen wir in den
allermeiſten Fällen des natürlichen durch Krankheit herbeige-
führten vorzeitigen Sterbens auf andere Weiſe erreicht. Bei
vielen akut fieberhaften Krankheiten ruft die bakterielle Gift-
wirkung eine ſo ſchwere Depreſſion des Nervenſyſtems, bei
ſelbſt freiem Intellekt eine ſo hochgradige Apathie hervor, daß
es dem Kranken tatſächlich gar keinen Eindruck macht, ob er
ſterben werde oder nicht. Wer je ſelbſt, zum Beiſpiele einen
ſchweren Typhus durchgemacht hat, wird dies beſtätigen können.
Mit der gelaſſenſten Ruhe denkt man an die Möglichkeit des
Todes; der Trieb zum Leben kann ganz erlöſchen, und das
Sterben tritt phyſiſch und pſychiſch klaglos ein.
Was hier das Krankheitsgift, bewirkt in anderen Fällen
die Abmagerung aller Gewebe, die allgemeine Erſchöpfung,
welche die Erregbarkeit des Gehirns immer mehr herabſetzt.
Seine Funktionen erlahmen, der Kranke wird ſchlummerſüchtig;
das geſchwächte Herz führt den nervöſen Zentralſtellen weniger
Blut zu, und ſchließlich erliſcht das Leben in Bewußtloſigkeit.
Vorher aber ſchon iſt der Lebenswunſch und die Lebensenergie
geringer geworden. In analoger Weiſe vollzieht ſich das
Sterben bei den Erkrankungsformen, die mit Atemnot einher-
gehen, und bei noch einer langen Reihe anderer Affektionen.
Die Erregbarkeit der Nervenzellen und Faſern wird wegen
verringerten Sauerſtoffgehaltes immer ſchwächer. Damit nimmt
die Itenſität aller Eindrücke, nimmt ſelbſt vorher heftiger
Schmerz und quälende Atemnot ab. Alle Affekte werden milder,
Sorge und Angſt weichen vor dem gemarterten Gemüte, ebenſo
wie die Fähigkeit zu denken, aus dem ſchöpferiſcheſten Geiſte.
Auch das heiligſte und hehrſte aller menſchlichen Gefühle, die
Liebe, verſinkt allmählich in den traumloſen, ſanften, weichen
Umfangen des Sterbens. Ein unſagbar wehmütiger Gedanke
für die Zurückbleibenden, eine unausſprechliche Wohltat für
den Scheidenden.
jedoch in Grenzen, die den Chauvinismus gänzlich aus-
ſchließen. Fanatiſche Ausbrüche des Haſſes gegen ein Fremd-
volk ſind immer auf Agitation und Hetzerei dunkler Elemente
zurückzuführen, denn der Ruſſe muß immer erſt aus ſeiner
Gleichgültigkeit aufgerüttelt werden; ſeine paſſive Averſion
den Fremdvölkern gegenüber geht nicht leicht in Aktivität
über. Wie der Deutſche über ſein Bier ſchimpft, es aber
dennoch trinkt, ſo macht es auch der Ruſſe, mag er noch ſo
viel höhnen und lachend ſchimpfen, ohne Juden, ohne Deutſche
kann er nun einmal nicht leben.
Die Vorgänge in Rußland.
Uebertritte zum Katholizismus. Miusk, 10. Juli (Meldung der St. Petersburger
Telegraphen-Agentur). In vier Amtsbezirken ſind über 8000
Orthodoxe und Uniierte zum Katholizismus übergetreten. Die
Wolhyniſche-orthodoxe Pfarrgemeinde hat mangels an Mit-
gliedern zu beſtehen aufgehört. Die orthodoxe Geiſtlichkeit
plant Maßnahmen, um weiteren Uebertritten von Uniierten
vorzubeugen.
Die Uebergabe des „Potemkin“.
Bukareſt, 9. Juli. Heute früh erſchienen zwei ruſſiſche
Panzerſchiffe, von denen eins die Admiralsflagge führte,
ſowie vier Torpedoboote und ein Torpedobootszerſtörer des
Schwarzmeer-Geſchwaders in den Gewäſſern von Konſtanza
und gaben Salutſchüſſe ab. Der rumäniſche Kreuzer „Eli-
ſabeth“ erwiderte den Salut und ſalutierte die Admirals-
flagge. Der Marinekommandant Koslinski ſtattete dem ruſſi-
ſchen Konteradmiral einen Beſuch ab; letzerer erklärte, daß
er erſchienen ſei, um das Panzerſchiff „Potemkin“ zu ſuchen.
Darauf erwiderte der Marinekommandant, der „Potemkin“
habe zweimal in den rumäniſchen Gewäſſern Anker ge-
worfen; er ſei mit Rückſicht auf die Eigentümlichkeit der
Lage aufgefordert werden, den Hafen zu verlaſſen oder ab-
zurüſten. Die Mannſchaft des „Potemkin“ ſei ans Land
gebracht worden; die rumäniſchen Behörden hätten von dem
Schiffe Beſitz ergriffen und es einer Wache anvertraut, die
es unter den Schutz der auf dem „Potemkin“ gehißten
rumäniſchen Flagge ſtellte. Der Marinekommandant fügte
hinzu, der König habe angeordnet, daß das Schiff dem
Kaiſer Nikolaus zu übergeben ſei. Nach dieſer Mitteilung
wurden alle Maßnahmen getroffen, damit die rumäniſche
Wache den „Potemkin“ verlaſſen und der ruſſiſche Admiral
das Schiff übernehmen könne.
Odeſſa, 10. Juli. Es wird hier amtlich bekannt ge-
macht, daß eine Flottenabteilung unter dem Kommando des
Admirals Piſſarewsky, zwei Panzerſchiffe und einige Torpedo-
boote in Konſtanza angekommen ſind. Die rumäniſchen Be-
hörden übergaben den „Potemkin“ an Piſſarewsky.
Bukareſt, 10. Juli. Die Agence Roumaine meldet:
Die Löſung, welche die Angelegenheit des „Knjäs Potemkin“
gefunden hat, wird allgemein als eine ſehr glückliche ange-
ſehen und man beglückwünſcht einmütig die rumäniſche Re-
gierung, daß ſie es verſtanden habe, unter Beobachtung der
Vorſchriften des Völkerrechtes und ohne zu Gewaltmaßregeln
ſchreiten zu müſſen, der überaus peinlichen Lage ein Ende
zu machen. Es wird betont, daß die Anweſenheit des „Po-
temkin“ in den Gewäſſern des Schwarzen Meeres eine
ſtändige Gefahr in ſich barg, insbeſondere deshalb, weil er
ſich an den ruſſiſchen Küſten zu verproviantieren ſuchte.
Uebrigens vermochte er bekanntlich nahezu eine Woche das
Schwarze Meer zu durchkreuzen, ohne einem Widerſtande zu
begegnen. Allem Anſcheine nach wäre es ſchwer geweſen, ihn
mit Gewalt zu erzwingen. Die ruſſiſche Flotte hat denn
auch keine diesbezüglichen Verſuche gemacht, und das ruſſiſche
Stationsſchiff „Pſeſuape“ dankte ſeine Sicherheit nur der
energiſchen Haltung der rumäniſchen Regierung, durch die ſie
das ruſſiſche Panzerſchiff bei deſſen erſten Anweſenheit in
Konſtanza zu verhalten wußte, dieſen fremdländiſchen Hafen
zu reſpektieren.
Der Aufruhr im Kaukaſus.
Tiflis, 9. Juli. Als heute mehrere Arbeiter verhaftet
werden ſollten, wurde eine Bombe geworfen, wodurch ein
Polizeioffizier getötet und zwei andere verletzt wurden. In der
Stadt herrſcht Erregung; ſämtliche Läden ſind geſchloſſen. Die
Zeitungen ſtellten ihr Erſcheinen ein. Der Geſchäftsverkehr iſt
unterbrochen.
Batum, 9. Juli. Die Schiffahrtsagenturen ſtellten den
Dienſt ein. Die Läden ſind geſchloſſen. Heute früh ſind die
Perſonenzüge unter Bewachung von Truppen abgegangen.
Unruhen.
Kowno, 9. Juli. Etwa 400 Inden verurſachten
Straßenunruhen und warfen die Fenſter mehrerer Häuſer ein.
Truppen ſtellten die Ordnung wieder her.
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